Die Reise ins Jenseits - Orte der Ewigkeit - E-Book

Die Reise ins Jenseits E-Book

Orte der Ewigkeit

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Beschreibung

Was bleibt von einem Leben, wenn die letzte Seite geschrieben ist? Was flüstert der Wind, wenn der Atem längst versiegt ist? Und wohin gehen die Worte, die nie ausgesprochen wurden? In diesen dreizehn kunstvoll miteinander verwobenen Geschichten folgen wir jenen Momenten, in denen das Leben leise Abschied nimmt - und doch nicht endet. Wir begegnen alten Männern, die im Keller einer Bibliothek den letzten Geschichten lauschen, jungen Frauen, die sich mutig gegen ihr Schicksal stemmen, Glücksrittern, die erkennen, dass nicht Sieg, sondern Reue Erlösung bringt, und schließlich sogar dem Tod selbst, der erfährt, was Verlust bedeutet. Jede Erzählung steht für sich - und doch spinnt ein unsichtbarer Faden ein großes Ganzes: eine Reise durch Abschied, Hoffnung, Schuld und Liebe. Mit lyrischer Sprache, leiser Melancholie und feiner Menschenkenntnis erzählt dieses Buch von den Orten, an denen Ewigkeit und Vergänglichkeit einander berühren. "Die Reise ins Jenseits" ist keine düstere Sammlung von Geschichten über den Tod - sondern ein zartes, warmes, zutiefst menschliches Buch über das Leben, das in Erinnerungen weiterstrahlt. Für alle, die wissen, dass jedes Ende zugleich ein neuer Anfang ist.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

EINS

Kennst du diese Regentage im November, an denen alles stillzustehen scheint? In jener Kleinstadt, in der unsere Geschichte beginnt, ist er angebrochen: ein Morgen im November, an dem der Himmel wie ein graues Tuch über den Dächern liegt – schwer, fast schwarz, ohne Kontur, ohne Licht. Ein kalter, böiger Wind fegt durch die leeren Gassen, als wolle er das Vergangene forttragen. Der Regen fällt unermüdlich. Nicht heftig, doch mit einer Beharrlichkeit, die keinen Zweifel daran lässt: er wird bleiben. Die Straßen sind fast menschenleer. Nur vereinzelt huschen Gestalten mit hochgeschlagenen Krägen, eingezogenen Köpfen, unter Schirmen vorbei. Die Scheibenwischer der Autos vollziehen ihren hektischen Tanz, um den Fahrern die nötige Sicht gewährleisten zu können. Das Licht der Laternen und Scheinwerfer verliert sich im Nebel der Nässe, doch verirrt sich im feuchten dunkelgrau, erreicht kaum die Dämmerung der Straßen, kann kaum die graue Tristigkeit durchdringen. Die Gärten und Parks – still, durchnässt, verlassen. Ein paar letzte Blätter hängen erschöpft an den Ästen, als hätten sie den Herbst längst aufgegeben. Bänke glänzen nass im schummrigen Licht, unberührt, unbesessen. Innen, hinter den Scheiben, ist es warm und gemütlich. Man hört das Ticken der Uhren, das leise Prasseln des Regens, das Summen von Kaffeemaschinen und Stimmen, gedämpft. Ein trüber Morgen, gewiss – aber auch ein Morgen der Sammlung. Der Rückzüge. Der Nähe.

Lilly ist an diesem Morgen eine der wenigen, die draußen unterwegs sind. Der schwarze Regenschirm spannt sich wie ein Schild über ihr, während sie mit ruhigen Schritten durch das Grau geht – auf dem Weg zu einem Termin, der schwer auf ihrem Herzen liegt. Lilly ist Anfang zwanzig, mit langen, dunklen Haaren und Augen, die so viel Tiefe haben, als trügen sie die Schatten ganzer Nächte in sich – und doch ein Licht, das nicht versiegt. Ihre Erscheinung ist ruhig, aufrecht, fast wie die eines Menschen, der gelernt hat, zwischen den Welten zu gehen. Sie trägt eine Leidenschaft in sich, die nicht laut ist, sondern wie ein inneres Feuer – glühend, nicht brennend. Sie entdeckt lieber, als dass sie erobert. Ihr Herz: offen. Ihre Sinne: wach für das Unausgesprochene. In schwierigen Situationen ist sie mutig und entschlossen. Sie trägt bequeme Kleidung, die sich mit ihr bewegt, nicht gegen sie. In ihrer Jackentasche klackert leise ein kleiner Rosenquarz, den sie heute Morgen aus der Schale am Fenster nahm – ein stiller Talisman. Sie ist eine Naturliebhaberin und verbringt gerne Zeit im Freien, ob wandern oder campen.

Ihr Großvater wird in ca. einer Stunde beerdigt. Für Lilly war ihr Großvater die wichtigste Person in ihrem bisherigen Leben. Lillys Eltern waren bei einem Unfall gestorben als Lilly vier Jahre alt war. Seit dem Tod ihrer Eltern, als sie vier war, hatte ihr Großvater sie allein aufgezogen. Er war für sie nicht nur Familie – er war Ursprung, Anker, vielleicht auch der letzte Beweis dafür, dass Liebe etwas ist, das bleibt. Die Großmutter war verschwunden, kurz nach dem Unfall. Sie sagte, sie müsse noch zu Rosi, Gemüse holen – kam nie zurück. Die Polizei suchte nicht nach ihr: Der Reisepass fehlte, ein Koffer, ein Teil der Kleidung, das halbe Konto war leer. So wuchs Lilly auf zwischen alten Büchern, Teegeschirr und Geschichten über ferne Länder, die ihr Großvater nie besucht hatte.

Und heute – geht sie allein durch den Regen.

Zwei Häuser von ihrer Wohnung entfernt biegt Lilly in eine kleine Nebenstraße ein. Auf dem Weg zum Friedhof ist das ein Umweg – ein kleiner Bogen nur –, doch in dieser Straße liegt Oma Rosies Gemüseladen. Rosie arbeitet noch immer, obwohl sie längst in Rente ist. Nach dem Verschwinden von Lillys Großmutter wurde sie zu einer Art Ersatzoma. Oma Rosie ist vielleicht Ende sechzig, vielleicht schon über siebzig – niemand weiß das so genau. Ihre kurzen grauen Haare kräuseln sich wie feines Nebelgras, und ihre blauen Augen leuchten noch immer wie zwei Bergseen im frühen Sommerlicht. Man kennt sie in der Stadt: als freundliches Gesicht, als Hüterin alter Weisheiten, als Frau mit einem offenen Ohr – und einem reichen Herzen. Sie trägt fließende Kleider und Tücher in leuchtenden Farben, geht mit einer Ruhe, als lausche sie dem Atem der Erde. Rosie kennt sich aus mit Kräutern, mit Tieren, mit Dingen, die wachsen – und Dingen, die heilen. Lilly und ihre beste Freundin Simone hielten Rosie früher für eine Hexe. Und vielleicht war sie das auch – auf eine gute Weise. Sie braute Tees, verteilte kleine Fläschchen mit Ölen und schien immer zu wissen, wenn jemand Trost brauchte. Sie war nie nur die nette Verkäuferin im Laden. Sie war immer mehr – eine Freundin, eine Mahnerin, eine Kraft. Vor allem für Lilly und Simone. Heute nimmt Lilly diesen Umweg, weil sie Rosie sehen muss – bevor sie Abschied nimmt. Und weil Markus, ihr Freund, schon dort auf sie wartet, um gemeinsam mit ihr zum Friedhof zu gehen.

Der Laden ist noch geschlossen. Also geht Lilly durch die alte Toreinfahrt neben dem Schaufenster, über den gepflasterten Hof, hinein durch den Hintereingang – direkt in Oma Rosis Wohnküche. „Guten Morgen, meine Liebe“, begrüßt Rosi sie und zieht sie für einen kräftigen Knuddler in die Arme. „Nimm dir einen Kaffee“, sagt sie und deutet auf die blaue Emaillekanne, die am Rand des Herdes steht. Der Herd ist ein Relikt aus anderen Zeiten: eine Hälfte elektrisch, die andere von Holz und Kohle befeuert – im Winter wird hier nicht nur gekocht, sondern gewärmt, gedacht, getröstet. Lilly kennt die Wohnküche nur so.

„Markus ist also noch nicht da“, stellt sie fest und schenkt sich das aromatische koffeinhaltige Heißgetränk in eine der passenden, leicht abgeschlagenen Emailletassen.

„Er hat mir hoch und heilig versprochen, pünktlich hier zu sein.“ Ihre Stimme klingt enttäuscht. Dabei hätte sie es wissen müssen – Markus und die Zeit waren noch nie enge Verbündete.

Markus ist Mitte zwanzig, hochgewachsen, mit kurzen dunklen Haaren und grauen Augen, die einen prüfenden, beinahe kühlen Blick tragen. In seinem Gesicht liegt etwas Unnahbares – eine Festigkeit, als wäre da eine Tür, die nur selten geöffnet wird. Er ist ein Mann, der sich lieber an Zahlen hält als an Stimmungen, lieber an logische Schlüsse als an vage Gefühle.

Entscheidungen trifft er mit dem Verstand, nicht mit dem Herzen – eine Gabe, die ihm im Beruf nützt, aber in der Liebe manchmal zum Stolperstein wird. In seiner Freizeit spielt er Tennis oder Golf – Spiele mit klaren Regeln, überschaubaren Bahnen, vorhersehbaren Bewegungen. Wenn er liest, dann philosophiert er mit Kant, zweifelt mit Camus oder staunt mit Hawking. Und doch – irgendwo in ihm, tief unter den Schichten aus Klarheit und Kalkül – liegt etwas, das nicht ganz greifbar ist. Vielleicht ein Zweifel. Vielleicht ein Schmerz, den er selbst nicht benennen kann.

„Du weißt doch, wie er ist, Kind“, sagt Rosi sanft. „Er hat die Zeit sicher wieder falsch eingeschätzt – bei dem Wetter kann er ja nicht mit dem Motorrad fahren.“ Sie will Lilly beruhigen, doch ihr eigener Ärger über Markus schimmert durch. In ihren Augen passen die beiden ohnehin nicht zusammen. Zu verschieden, zu gegensätzlich. Sie hätte einen anderen im Auge für ihre Lilly. Aber Rosi sagt nichts. Nicht diesmal. Ihre Ansichten über Lillys Freunde und wer zu Lilly passt, behält sie für sich. Vor über zwanzig Jahren hatte sie ihren Sohn gewarnt: Diese Frau sei nicht die Richtige. Doch er wollte davon nichts wissen, verbat sich jede Einmischung. Rosi aber konnte nicht schweigen. Sie sprach aus, was sie sah – aus Sorge, aus Mutterliebe. Es kam, wie es kommen musste: Erst zog ihr Sohn in einen anderen Stadtteil, dann in eine andere Stadt. Und auch als die Ehe nur drei Jahre später zerbrach, kehrte er nicht zurück. Seitdem herrscht Funkstille. Es tut ihr weh, sehr sogar. Aber mit Lilly – mit Lilly wird sie es anders machen. Sie denkt sich ihren Teil, ja. Doch sie schweigt. Und wenn das Herz bricht, wird sie da sein. Mehr braucht es nicht.

„Ach, der kann mich …“ „… mal in den Arm nehmen“, beendet Markus den Satz und schiebt sich zur Tür herein. „Guten Morgen, Schatz“, sagt er, während er Lilly in die Arme nimmt – ein kurzer, kontrollierter Griff. Rosi bekommt ein knappes Nicken, nicht mehr. „Bist du fertig? Können wir los?“ „Ich warte nur auf dich“, antwortet Lilly und greift nach ihrem Schirm. „Peter und Simone warten schon am Friedhof.“ Bei dem Namen Peter muss Rosi schmunzeln – Markus hingegen verzieht das Gesicht, fast unmerklich, aber deutlich genug. Er mag Peter nicht. Er hält ihn für zu weich, zu unklar, zu emotional – für jemanden, der sich zu sehr von Gefühlen leiten lässt, besonders, wenn es um Lilly geht. Für Markus zählen Argumente. Für ihn muss auch das Herz nach Gründen schlagen. Und Peter – Peter ist für ihn Chaos. Gefahr.

Peter ist Anfang, vielleicht Mitte zwanzig, mit kurzen blonden Haaren und blauen Augen, in denen Zärtlichkeit und Mut nebeneinander wohnen. Er ist von großer Statur, athletisch gebaut, und hat ein freundliches, offenes Gesicht. Sein Herz trägt er nicht hinter Mauern – es schlägt sichtbar, spürbar, für Lilly. Er liebt sie mit einer stillen Hingabe, die nicht fordert, sondern wartet. Peter ist treu, verlässlich, geduldig. Er versteht, dass Lilly ihren eigenen Weg geht – und er geht ein Stück davon mit, ohne sich aufzudrängen. Er ist gerne draußen, bewegt sich mit Leichtigkeit durch Wald und Stadt, spielt Basketball, geht wandern, greift manchmal zur Gitarre, wenn die Worte fehlen. Auch er hat eine spirituelle Seite – noch unausgereift, suchend, tastend. Er bewundert Lillys Tiefe, nicht aus Neid, sondern mit echtem Wunsch zu verstehen. Für Rosi ist es keine Frage: Wenn ihr Herz zu entscheiden hätte, wäre Peter der Richtige für ihre Lilly.

„Nun macht, dass ihr loskommt“, mahnt Rosi mit einem Blick auf die Uhr. „Sonst kommt ihr noch zu spät!“ Markus seufzt – nicht wegen der Zeit, sondern wegen der Dringlichkeit. Hektik ist ihm zuwider, obwohl er selbst sie oft verursacht. Lilly stellt ihre Tasse ins Spülbecken, wirft Rosi ein letztes, stilles Lächeln zu und zieht Markus mit sich hinaus in den Regen.

Simone und Peter warten vor dem Eingang des Friedhofs. Simone – Mitte zwanzig, langes, rotes Haar, grüne Augen mit einem Schimmer von Frühlingslicht. Ihre Locken tanzen im Wind, als wüssten sie nichts von Trauer.

Sie ist nicht auffällig, nicht laut – aber in ihrer Nähe fühlen sich Menschen gesehen. Gehört. Willkommen. Seit Kindertagen ist sie Lillys engste Freundin – und geblieben, was viele nur versprechen: immer da. Sie kennt Lillys Schweigen und ihre Tränen, weiß, wann Trost genügt und wann ein Rat gefragt ist. Simone lacht oft. Ein Lachen, das bleibt. Sie ist kreativ, voller kleiner Ideen und liebevoller Gesten. Kocht mit Hingabe, bastelt mit Geduld, malt mit einem Herz, das über die Ränder geht. In ihrem Blick liegt manchmal etwas, das sie selbst kaum wahrhaben will: Gefühle für Peter – warm, leise, echt. Und dann, daneben, ein anderer Funke: ein stilles Schwärmen für Markus, das sie sich nicht eingesteht. Noch nicht.

„Wo bleibt Lilly bloß?“, fragt Peter ungeduldig. „Markus wird mal wieder auf den letzten Hosenknopf erschienen sein“, meint Simone trocken. „Danke, dass du mich daran erinnern musst“, motzt Peter. Simone lächelt schief. „Ach Peter, du bist zu lieb für diese Welt. Du kannst warten, so lange du willst – Lilly wird nie frei für dich sein. Ich weiß nicht, was sie an Typen wie Markus findet. Aber schlag sie dir aus dem Kopf.“ Peter öffnet den Mund – will etwas sagen, vielleicht widersprechen, vielleicht hoffen. Da stupst Simone ihn mit dem Ellenbogen an. „Da kommen sie doch.“

Die Beerdigung von Lillys Großvater findet an einem kalten, regennassen Novembervormittag statt. Die Luft ist schwer – durchzogen vom Geruch feuchter Erde, nasser Mäntel und verwelkter Blumen. Regenschirme reihen sich wie stumme schwarze Segel entlang der schmalen Wege. Die vier stehen beisammen, doch jeder für sich. Lilly – im schwarzen Mantel, blass, still, mit Blick auf den dunklen Fleck in der Erde, der bald geschlossen wird. Neben ihr Markus, das Gesicht fest, beinahe abwesend – als wolle er dem Moment nicht mehr Raum geben als nötig. Simone hält Lillys Hand, ihre Augen sind rot, und immer wieder fährt sie sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Peter steht etwas abseits – zu nah, um gleichgültig zu wirken, zu fern, um wirklich da zu sein. In seinem Blick liegt ein Satz, der nicht gesagt werden kann. Der Pfarrer tritt vor. Seine Stimme ist fest und ruhig – wie ein Lied, das man schon oft gehört hat, aber nun doch anders klingt. Er spricht von Leben, von Tod, von der Hoffnung auf ein Wiedersehen jenseits der Zeit. Die Trauernden hören zu, doch nicht alle Worte erreichen ihr Inneres. Der Regen spricht lauter. Dann der Segen. Lilly und Markus heben die Urne gemeinsam. Ihre Hände berühren sich flüchtig, kühl, wie zwei fremde Steine. Simone und Peter folgen schweigend. Ein kurzer Zug durch das Gras, ein feuchter Wind im Rücken – dann senken sie das Gefäß hinab. Stille. Kein Wort. Kein Schluchzen. Nur das leise Rauschen des Regens, das alles zudeckt. Es ist ein trauriger Moment – ja. Aber auch ein würdiger. Ein letzter Blick zurück. Ein Abschied, der mehr sagt, weil niemand spricht.

Der Regen hat nicht nachgelassen, während Lilly, Simone, Markus und Peter langsam den Weg zurück zu Rosis Laden antreten.

Vorne gehen Lilly und Simone. Lilly hat sich bei ihrer Freundin eingehakt, wie früher – als Kinder, auf dem Weg zur Schule. Eine Armlänge hinter ihnen läuft Markus. Er ist nicht begeistert davon, dass der sogenannte Leichenschmaus bei Rosi stattfinden soll.

Er weiß, dass Rosi ihn nicht leiden kann – und dass sie Peter lieber an Lillys Seite sähe, daran lässt sie kaum einen Zweifel. Aber das ist verständlich, denkt Markus. Rosi ist für ihn eine Hexe. Nicht im Sinne der Märchen, sondern eher wie jene Frauen, die im Mittelalter verbrannt wurden – weil sie zu viel wussten, zu viel fühlten. Wie Lilly. Vielleicht sogar noch mehr. Rosi lebt in einer Welt voller Zeichen, Ahnungen, Kreisläufe. Markus aber glaubt an Logik, an Beweise, an klare Ursachen. Und Rosi? Sie torpediert seine Versuche, Lilly davon zu überzeugen, dass die Welt rein wissenschaftlich zu erklären ist – mit einer leisen Macht, der er kaum etwas entgegensetzen kann. Wenn Lilly nicht so eine Sahneschnitte wäre, denkt Markus, und nicht so viel Leidenschaft ins Leben legte – auch ins Bett – hätte er sie vielleicht längst verlassen. Aber da ist ja auch noch Peter. Noch so ein „Gefühlsmensch“. Allein um diesem Weichei nicht das Feld zu überlassen, bleibt Markus. Peter läuft einige Meter hinter ihm. Er sagt nichts – denkt aber viel. Was Lilly nur an Markus findet? Gewiss, er ist klug, ehrgeizig, wird es weit bringen. Aber das „weit“ bezieht sich auf Kontostände, nicht auf Seelenräume. Für Markus ist Liebe ein biochemischer Prozess. Hormone, Dopamin, Serotonin – alles erklärbar, messbar, vorhersehbar. Und das Leben? Nur eine Anhäufung noch nicht entschlüsselter Formeln. Peter blickt nach vorn. Sollte Markus nicht an Lillys Seite sein? Gerade jetzt, nach dem Abschied von ihrem Großvater? Er weiß, wie sehr sie an ihm hing. Und dann hat dieser Mann auch noch etwas dagegen, dass sie zu Rosi zurückkehren – zu der einzigen, die für Lilly noch Familie ist. Wie kann jemand so kalt sein? Und so blind? Aber Peter schweigt. Noch.

Rosi ist gerade dabei, eine letzte Kundin zu verabschieden, als sie das Geräusch der Hintertür hört – ein leises Quietschen, gefolgt von Schritten auf dem alten Küchenboden. Das müssen Lilly und die anderen sein, denkt sie. Mit ruhiger Selbstverständlichkeit begleitet sie die Kundin zur Tür, wartet, bis diese draußen ist, und dreht den Schlüssel zweimal im Schloss. Dann hängt sie das kleine, vorbereitete Schild an die Tür: „Geschlossen – wegen Todesfall.“

„Kinder, was steht ihr denn so herum?“ fragt Rosi, als sie die Wohnküche betritt. „Wir können doch nicht einfach in deine gute Stube latschen“, entgegnet Markus – die Stimme neutral, der Ton daneben. Simone und Peter werfen ihm gleichzeitig einen giftigen Blick zu. „Was denn?“ fragt Markus mit unschuldigem Gesicht. „Ist doch wahr!“ Lilly antwortet mit leiser Stimme, traurig und weich: „Nein… wir bleiben hier in der Küche. Großvater hat hier immer gern gesessen.“ „Richtig, Kindchen“, pflichtet Rosi ihr bei und fügt schmunzelnd hinzu: „Vor allem, weil er nur hier seine stinkenden Zigarren rauchen durfte.“ Lilly muss kichern. Oma Rosi – sie hat einfach eine Gabe: Sie kann den Regen für einen Moment vergessen machen. Markus verdreht die Augen. Er versteht es nicht – will es auch nicht. Dass ausgerechnet in dieser unscheinbaren, leicht chaotischen Küche Abschied genommen werden soll, während die ordentliche Wohnstube leer bleibt – das geht ihm gegen den Strich. Für ihn wäre es nur anständig, wenn man wenigstens das feine Porzellan aufdeckt. Oder besser noch – im Café am Friedhof speist, wo sich solche Dinge gehören. Peter, der neben ihm steht, weiß genau, was Markus denkt. Und er schluckt seine Worte mit Mühe hinunter. Jetzt ist nicht die Zeit für Streit. Aber gern hätte er Markus ins Gesicht gesagt, dass es hier nicht um Anstand geht. Sondern um das, was in Markus fehlt. Nicht um gute Manieren – sondern um eine verkümmerte Seele, die nach außen glänzen will, während innen alles stumm bleibt.

Rosi holt sechs Tassen aus dem Schrank und stellt sie auf den Tisch. Für jeden eine. Nur eine Tasse bleibt unberührt – die Lieblingstasse von Lillys Großvater. Sie stellt sie an den Platz neben dem Herd, dort, wo er immer gesessen hatte. Als sie den Kaffee einschenkt, bemerkt sie natürlich Markus’ angewiderten Blick. Aber wie Peter sagt auch sie nichts. Zu viel gesagt wurde in anderen Zeiten. Jetzt ist nicht der Moment für Streit. Sie sagt auch nichts dazu, dass Markus nicht neben Lilly sitzt, sie nicht tröstet, nicht einmal ihre Nähe sucht. Ist wohl besser so, denkt sie nur und gießt weiter ein. Nachdem jeder eine dampfende Tasse vor sich hat, öffnet Rosi den Backofen. Der Duft von warmem Gugelhupf zieht durch die Küche – süß, schwer, vertraut. Sie schneidet jedem ein großes Stück ab und verteilt es mit Bedacht. Markus schüttelt kaum merklich den Kopf. Kaffee aus groben Pötten, wie für Bauarbeiter – und ein Stück Sandkuchen auf die Hand. Das soll eine Trauerfeier sein? Er versteht es nicht. Will es nicht verstehen. Peter hingegen sieht die Szene – und versteht. Nicht, weil es ihm erklärt wurde, sondern weil er es fühlt. Dass ein schöner Abschied nichts mit Porzellan zu tun hat. Sondern mit dem Menschen, um den man trauert. Und der am Herd saß, nicht im Café. Mit der Tasse in der Hand – und dem Leben im Gesicht.

Lillys Großvater hatte oft hier gesessen – in dieser Küche, auf genau diesem Stuhl neben dem Herd, mit dieser Tasse. Vor allem seit dem Verschwinden seiner Frau. So oft, dass in der Nachbarschaft ein Gerücht die Runde machte: Rosi und er hätten etwas miteinander gehabt. Peter hört es noch – das Flüstern zwischen den Fenstern, das Tuscheln hinter den Gardinen.

Viele Menschen haben eine schmutzige Fantasie, denkt er. Ja, es gab eine Verbindung zwischen den beiden. Aber nicht die, die man ihnen nachsagte. Es war die gemeinsame Sorge um Lilly – das stille Bündnis zweier Menschen, die wollten, dass dieses Mädchen trotz allem Verlust eine Kindheit hat, die man ihr nicht nehmen kann. Und wenn da doch noch etwas anderes war…? Peter schüttelt den Kopf. Daran will ich gar nicht denken.

Rosi und Lilly bemerken Peters Kopfschütteln. Rosi schaut ihn belustigt an, Lilly eher fragend. „So!“ Rosi durchbricht das Schweigen mit fester Stimme. „Jetzt will ich euch mal was sagen – ihr seid alt genug und glaubt doch schon lange nicht mehr an den Osterhasen.“ Sie dreht sich leicht zur Seite und spricht mit gesenkter Stimme: „Gustav – so hieß Lillys Großvater übrigens mit Vornamen –“ Dann, wieder lauter, mit fast feierlichem Ton: „Also ja. Gustav und ich hatten was miteinander, wie ihr jungen Leute das heute so schön nennt.“ - Stille. - „Und wieso auch nicht?“ fährt sie fort. „Gustav war ein schöner, leidenschaftlicher Mann. Er hatte Bedürfnisse – und ich auch. Warum hätte ich ihn also von der Bettkante schubsen sollen?“ „Omaaaa!“ zischte Lilly, sichtlich verlegen. „Kindchen, so ist das Leben. Da ist nichts dabei. Wir mochten uns eben – ein bisschen mehr.“ Rosi zwinkert Lilly verschmitzt zu. Lilly kann nicht anders – sie grinst, erst schüchtern, dann offen. Simone und Peter sitzen da mit offenem Mund. Und Markus? Der kann seinen angewiderten Gesichtsausdruck nicht verbergen. „Also, was habt ihr denn?“ fragt Rosi trocken. „Heutzutage treibt ihr’s doch auch schon vor der Hochzeit mit jedem, der nicht bei drei auf dem Baum ist, oder?“ Jetzt bricht das Lachen los – laut, befreit, herzlich. Lilly, Simone, sogar Peter lachen. Nur Markus nicht. Er erklärt trocken und todernst: „So kann man das nicht sagen.“ Rosi und Peter müssen sich auf die Zunge beißen. Heute ist nicht der Tag für Streit. Nicht vor Lilly. Und doch: Gerade er will moralisch argumentieren? Er, der Lilly mit mindestens zwei anderen Frauen betrügt? Er, der von Treue redet – und nachts woanders schläft?

Damit Peter und sie sich nicht doch noch zu einem spitzen Kommentar hinreißen lassen, legt Rosi schnell nach: „Lilly, kannst du dich noch erinnern, wie Gustav dir erklärt hat, genau zu wissen, wann du lügst?“ Lilly muss sofort kichern. „Oh ja, natürlich.“ Sie dreht sich zu Simone. „Wir waren damals unten am Weiher, auf dem Eis – obwohl es verboten war. Erinnerst du dich?“ Simone nickt grinsend. Lilly fährt fort: „Ich kam zu spät nach Hause. Großvater fragte ganz ruhig: Wo kommst du denn so spät her, Kindchen? Und ich sagte: Ich hab mit Simone gelernt. Da hat er mich so eindringlich angeschaut – und gesagt: ’Soso. Gelernt? Das ist doch gelogen. Ihr wart doch auf dem Eis. Und ich hab es verboten. Das Eis ist noch viel zu dünn! Wenn du eingebrochen wärst…’“ Lilly ahmt seine Stimme liebevoll nach. „Und dann sagte er: ’Ich sehe immer, wenn du lügst – aber diesmal besonders.’ Ich war total erschrocken. Ich fragte mich: Wie kann er das nur wissen? Und dann sagte er: ’Weil du das Blaue vom Himmel lügst, Kindchen!’“ Lilly lacht. „Ich hab gesagt, das stimmt doch gar nicht! Aber er zeigte einfach zum Fenster – raus in die Dunkelheit – und meinte: ’Siehst du denn noch etwas Blaues am Himmel?’ Und ich hab rausgeschaut… und wirklich: Der Himmel war rabenschwarz.“ Alle lachen. Nicht laut, nicht schrill – aber herzlich. Und selbst Markus kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Rosi und Lilly erzählen – abwechselnd, einander ins Wort fallend, lachend, erinnernd.

Eine Geschichte jagt die nächste. Mal beginnt Lilly, mal Rosi, und manchmal beenden sie einander die Sätze. Es sind kleine Anekdoten, fast beiläufig, und doch voller Leben. Simone und Peter lachen mit – herzlich, laut, befreit. Es ist, als würde für einen Moment der Regen draußen schweigen. Nur Markus bleibt stumm. Er sitzt gerade, angespannt, die Hände um seine Tasse gelegt. Er lacht nicht. Nicht einmal, wenn es schwerfällt. Nicht einmal, wenn ihm ungewollt ein Grinsen über die Lippen huscht. Er unterdrückt es sofort. So etwas gehört sich nicht, denkt er. Man lacht nicht, wenn gerade jemand beerdigt wurde. Und wenn man schon nicht trauert – dann hat man es zumindest zu zeigen. Anstand. Würde. Fassade. Dass Lilly und Rosi gleichzeitig lachen und trauern können, ist ihm unbegreiflich. Für ihn ist das ein Widerspruch. Eine Störung im System. Dieser ganze spirituelle Kram, denkt er, bringt doch alles durcheinander.

Mehrere Kannen Kaffee sind getrunken, der Gugelhupf längst verzehrt. Die Stunden sind vergangen, ohne dass jemand auf die Uhr geschaut hätte. Es ist früher Abend geworden, und die Müdigkeit liegt wie ein Schleier auf den Schultern. Lilly lehnt sich zurück, blickt still in ihre Tasse. „Für heute reicht es“, sagt sie leise. „Genug Geschichten von Großvater.“ „Soll ich dich nach Hause bringen?“ fragt Markus. Peter spürt, wie ihm die Luft heiß wird. So etwas fragt man nicht. Schon gar nicht an einem Tag wie diesem. Man(n) steht einfach auf und geht mit. Doch Lilly schüttelt den Kopf. „Nein, danke. Ich möchte heute allein sein. Es sind ja nur fünf Minuten zu Fuß.“ Ihre Stimme ist freundlich, aber bestimmt. Markus nickt – fast zu schnell. Er hatte es geahnt. Vielleicht sogar gehofft. Er hatte nur gefragt, weil Peter und Simone noch da waren – um den Schein zu wahren. In Wahrheit ist sein Verlangen längst woanders. Er denkt an andere Hände, andere Lippen. Lilly wird in den nächsten Tagen nicht verfügbar sein – emotional blockiert, wie er es nennt. Er umarmt sie kurz, fast mechanisch. „Schlaf gut“, sagt er – und verschwindet als Erster durch die Hintertür. Peter zieht hörbar die Luft ein – sein Ärger steht ihm ins Gesicht geschrieben. Aber bevor er etwas sagen kann, legt Rosi ihm sanft die Hand auf den Arm. Ein kaum merkliches Kopfschütteln. Jetzt nicht, Junge. Peter schaut sie an – und versteht. Mit einem stummen Blinzeln gibt er ihr recht.

Als Nächstes tritt Peter vor, um sich von Lilly zu verabschieden. Eigentlich will er ihr nur die Hand reichen. Doch Rosi und Simone – scheinbar ganz zufällig – stoßen ihn leicht an.

Ein Schritt zu viel, ein verlorenes Gleichgewicht – und schon liegt Lilly in seinen Armen. Rosi und Simone grinsen sich an, sagen kein Wort. „Pass gut auf dich auf, Lilly. Schlaf gut. Wir sehen uns ja nächste Woche auf der Arbeit. Und du kannst mich jederzeit anrufen, wirklich.“ Seine Stimme ist ruhig, aber seine Augen sprechen mehr. „Danke dir, Peter“, sagt Lilly leise. Peter nickt, verabschiedet sich von Rosi, will gerade zur Tür hinaus –

da ruft Simone: „Warte, ich komm mit. Wir haben ja ein Stück den gleichen Weg.“ Sie umarmt Lilly fest, wärmer als Worte, drückt Rosi zum Abschied die Hand. Dann geht sie mit Peter hinaus, durch die Hintertür, in den Hof, in den beginnenden Abend.

Rosi nimmt ihre Lilly still in den Arm. „Warte noch einen Moment“, sagt sie leise. „Lass die anderen erst verschwinden. Noch sind sie in der Nebenstraße.“ Und da, ohne Vorwarnung, bricht es aus Lilly hervor. Von einer Sekunde zur nächsten stürzen Tränen aus ihren Augen – wie ein Damm, der lange gehalten hat und nun nicht mehr kann. Rosi hält sie fest, sagt nichts, lässt sie einfach weinen. Streicht ihr über den Rücken, wie eine Mutter, wie eine Freundin, wie jemand, der nicht fragt. „Lass es raus, Kindchen“, flüstert sie ihr ins Ohr. „Tränen reinigen die Seele.“

Peter und Simone gehen langsam die kleine Nebenstraße hinunter. Simone hat sich bei ihm eingehakt – ganz selbstverständlich, ohne zu fragen. Normalerweise hätte Peter so etwas abgewehrt. Nicht, weil es ihn stört. Sondern weil er nicht möchte, dass Lilly etwas Falsches denkt. Aber Lilly ist nicht da. Sie sieht es nicht. Simone lehnt ihren Kopf gegen seine Schulter. Genau die richtige Größe, denkt sie. Es ist still. Nur ihre Schritte, der Regen, das entfernte Summen einer Straßenlaterne. Simone ist schon seit einiger Zeit in Peter verliebt – heimlich, wie sie glaubt. Doch sie weiß: Alle sehen es. Alle – außer Lilly. Also sagt sie nichts. Und weil sie schweigt, genießt sie diesen Augenblick umso mehr. Ein paar Minuten, die ihr gehören. Markus? Ja, auch er hat etwas. Er sieht gut aus – sehr gut sogar. Und was Lilly erzählt hat, klingt… verlockend. Simone errötet bei dem Gedanken. Markus ist fürs Bett. Peter – vielleicht fürs Leben.

Peter genießt den Spaziergang mit Simone. Der Regen hat nachgelassen, und ihr Kopf auf seiner Schulter hat etwas Wärmendes, Vertrautes. Für einen Moment fühlt es sich richtig an. Fast. Denn schöner – viel schöner – wäre es, wenn Lilly jetzt neben ihm ginge. Wenn es ihr Kopf wäre, der sich an ihn lehnt. Peter schämt sich für diesen Gedanken. Unfair, sagt er sich. Sie ist vergeben. Und Simone… Simone ist da. Er seufzt innerlich.

Vielleicht müsste er einfach nur warten. Geduldig. Still. Und während er sich das vorsagt, flackert eine Frage in ihm auf: Warum die Zwischenzeit nicht mit Simone füllen? Bei diesem Gedanken errötet Peter. Das wäre noch unfairer. Er kann sie nicht einfach… benutzen.

Nicht Simone. Nicht dieses warme, ehrliche Wesen an seiner Seite.

Sie erreichen die Kreuzung, an der sich ihre Wege trennen. Simone löst sich langsam von Peter, schaut ihm in die Augen, als wolle sie prüfen, ob der Moment hält. „Kommst du bitte noch mit zu mir? Ihre Stimme ist ruhig, aber ein wenig brüchig. „Ich möchte heute nicht allein sein.“ Bevor er etwas sagen kann, fügt sie schnell hinzu: „Ich weiß… Gustav war Lillys Großvater. Aber Lilly und ich – wir waren jeden Tag zusammen, seit wir uns kennen. Und Gustav war auch für mich wie ein Großvater.“ Sie sagt das, um Missverständnisse zu vermeiden. Damit Peter nicht denkt, es gehe um etwas anderes. Und doch – während sie das denkt, denkt sie auch: Man muss ja nichts ausschließen.

Peter ist hin- und hergerissen. Lilly sitzt allein in ihrer Wohnung – traurig, erschöpft, verletzt.

Und Markus, der eigentlich bei ihr sein sollte, verliert sich in den Armen einer anderen –

doch das wissen weder Lilly noch Simone. Peter spürt, wie ungerecht es wäre, heute Nacht nicht für Lilly da zu sein. Und doch – war es nicht sie, die gesagt hat, sie wolle allein sein?

War das nicht ihre Entscheidung? Peter, der sonst nie zögert, wenn ein Freund Hilfe braucht, steht still. Lilly braucht ihn. Simone bittet ihn. Aber er ist nur ein Mensch. Und man kann sich nicht in zwei Teile reißen. Er hebt den Blick – schaut Simone direkt in die Augen.

Flehend, offen, verletzlich. Ein Fehler. Ein einziger Blick – und der Widerstand bricht. „Ich bring dich auf jeden Fall nach Hause“, sagt er schließlich. Und in dem Moment weiß er bereits, dass er sie nicht allein lassen wird.

Simone und Peter biegen gemeinsam nach rechts ab, in Richtung Bushaltestelle.

Wortlos hakt sie sich wieder bei ihm unter, legt ihren Kopf an seine Schulter – wie zuvor. An der Haltestelle bleibt sie stehen, blickt auf den Fahrplan. „Wir können doch auch laufen“, sagt sie. „Der Bus kommt erst in fünfzehn Minuten – und es sind nur vier Stationen.“ Sie weiß nicht, ob Peter wirklich mitkommt – oder sich an ihrer Haustür verabschiedet. Aber jeder Schritt, den sie mit ihm teilen kann, zählt. Sie will den Moment strecken. Die Nähe halten. „Okay“, sagt Peter leise. „Dann laufen wir.“ Und sie gehen weiter – nebeneinander, schweigend, aber nicht stumm.

Lilly wischt sich – vorerst – die letzte Träne aus dem Augenwinkel. Dann löst sie sich aus Rosis Umarmung, tritt einen Schritt zurück. „Ich hab dich lieb“, sagt sie leise zum Abschied. „Bis morgen.“ Sie verschwindet durch die Tür in den Hof. Rosi bleibt stehen, blickt ihr nach – so lange, bis Lilly durch die Toreinfahrt aus dem Blickfeld verschwunden ist. Erst dann schließt sie die Hintertür. In der Küche ist es still. Tassen, Kuchenkrümel, der Duft von Kaffee – alles noch da, wie eingefroren im Moment. Rosi seufzt leise, geht zum Tisch, setzt sich auf den Platz neben dem Herd. Der Platz, auf dem Gustav immer saß. „Ach, Gustav…“, sagt sie in den Raum, als wäre er noch da. „Ich vermisse dich. Was soll ich nur machen? Viel Zeit bleibt mir nicht mehr – und wer passt dann auf unsere Lilly auf?“ Und dann – eine Stimme. Weich. Nah. Gustavs Stimme. „Na wir, Rosi. Wie wir’s immer gemacht haben.“

Lilly biegt von der kleinen Nebenstraße in die Hauptstraße ein. Nur noch zwei Blocks, dann ist sie zu Hause. In der Gegenrichtung sieht sie ein Paar auf sich zukommen. Sie hat sich bei ihm eingehakt, den Kopf an seine Schulter gelegt – vertraut, innig, wie ein gemeinsames Schweigen. Sind das etwa Simone und Peter, fragt sich Lilly. Nein, antwortet sie sich im nächsten Moment. Die müssten längst weiter sein – außer Sicht. Aber für Simone würde sie sich freuen. Natürlich weiß sie, dass ihre beste Freundin in Peter verschossen ist. Simone nennt es Liebe. Lilly ist sich da nicht so sicher. Für sie wirkt es eher wie Verliebtheit – dieses schnelle Herzklopfen, diese weichen Knie. Wo da genau der Unterschied liegt? Lilly weiß es in diesem Moment selbst nicht so genau.

Lilly liegt auf ihrem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und starrt an die Decke. Wieder und wieder fragt sie sich: Warum? Warum ist ihr Großvater fort? Warum hat er sie allein gelassen? In manchen Momenten – selten, aber intensiv – ist sie sogar wütend auf ihn. Warum ist er einfach gegangen? Er wusste doch, dass sie ihn braucht. Ihre Gedanken kreisen, schlagen Wellen, verlieren sich. Mit der Zeit wird sie müde. Es war ein langer Tag – zu viel für Herz und Kopf. Immer wieder fallen ihr die Augen zu. Sie versucht, wach zu bleiben – in der vagen Hoffnung, dass vielleicht eine Antwort kommt. Aber die Müdigkeit wird stärker. Das Grübeln verblasst. Die Fragen treten zurück – nicht gelöst, nur leiser. Es ist einfach zu anstrengend, sich weiter zu wehren. Lilly lässt los. Dreht sich auf die Seite. Und schläft ein.

Simone und Peter sind fast an ihrem Wohnhaus angekommen. Der Weg hierher – für sie ein stilles Geschenk. Sie war noch nie allein mit ihm unterwegs. Irgendjemand war immer dabei – meistens Lilly. Und wenn Lilly da ist, dann sieht Peter niemanden sonst. Simone versucht, einen Gedanken beiseitezuschieben. Einen, der ihr wehtut. Dass Peter in Lilly verliebt ist – so offensichtlich, so hoffnungsvoll – und dabei völlig übersieht, dass Lilly ihn zwar mag, aber ihn niemals lieben wird. Warum, das hat Simone nie verstanden. Lilly zieht Männer an, die nicht zu ihr passen. Und nach spätestens einem halben Jahr sitzt sie wieder weinend bei Simone – und Simone tröstet. Immer. Nein. Diese Gedanken stören. Sie zerstören den Moment. Den einzigen, der ihr gerade gehört. Weg damit. Nur jetzt zählen.

Peter merkt, wie Simone ihren Schritt verlangsamt. Immer langsamer. Er bleibt stehen und schaut sie an. „Warum bleibst du stehen?“, fragt sie. „Warum wirst du immer langsamer?“, entgegnet er. Simone schluckt – ertappt. „Lass mich bitte heute Abend nicht allein“, sagt sie erneut, leiser diesmal. Peter seufzt. Wieder breitet sich diese innere Zerrissenheit in ihm aus. Lilly braucht mich. Aber Simone auch. Ich kann doch nicht… beides. Er atmet tief durch.

„Mir ist kalt. Ich bin durchnässt. Hast du vielleicht einen Tee für mich? Kann ich mich kurz bei dir aufwärmen?“ Simone lächelt – verschmitzt, zärtlich. „Schwarzen, grünen, Hagebutte, Früchte – mit Zucker, mit Süßstoff, Zitrone oder Milch?“ Während sie ihm die Liste aufzählt, fällt sie ihm um den Hals. Peter muss lachen. „Genau in dieser Reihenfolge!“

Simone tänzelt fast durch ihre Küche. Sie stellt den Wasserkessel auf den Herd, schaltet die Platte ein. Dann „schwebt“ sie zum Hängeschrank, wo sie ihre Teevorräte aufbewahrt –

zieht Päckchen um Päckchen hervor und stellt sie alle auf den Tisch. „Wenn das Wasser kocht, gießt du uns bitte einen Tee deiner Wahl auf, ja?“ Peter nickt nur. „Ich leg mich derweil mal schnell etwas trocken.“ Auf dem Weg in ihr Zimmer dreht sie den Herd von Stufe sechs auf drei. Sie braucht mehr Zeit. Ihr Herz pocht wild. Peter ist in ihrer Wohnung.

Zum allerersten Mal. Seit sie bei ihren Eltern ausgezogen ist – und das ist nun fast zwei Jahre her.

Simone wirft ihre durchnässte Kleidung achtlos zu Boden. Stück für Stück, wie Gedanken, die sie loswerden will. Sie öffnet die Schranktür – und bleibt vor dem Spiegel stehen, der an der Innenseite angebracht ist. Was soll ich jetzt nur anziehen, schießt es ihr durch den Kopf. Sie hat – mal wieder – den zweiten vor dem ersten Schritt gemacht. Peter ist da. In ihrer Wohnung. Allein mit ihr. Und sie ist nicht vorbereitet. Nicht wirklich. Ich hätte das besser planen müssen, denkt sie. Doch sofort bremst sie sich. Nein! Nicht planen! Planen macht alles kaputt. Ihr fällt Thomas ein. Vor drei Monaten. Wie das damals lief...

Thomas war ihr im Supermarkt mit dem Einkaufswagen in die Seite gefahren. Zur Entschuldigung hatte er sie auf ein Eis eingeladen. Sie trafen sich danach noch ein paar Mal.

Gingen zusammen ins Kino, ins Freibad, lachten viel. Nach ein paar Wochen dachte Simone: Jetzt ist es so weit. Der nächste Schritt. Sie verabredete sich mit Thomas – und plante den Tag bis ins kleinste Detail. Es lief alles nach Plan. Am Abend saß Thomas auf ihrem Sofa, lächelnd, entspannt. Simone stand auf, knöpfte ihr Sommerkleid auf, ließ es zu Boden gleiten. Darunter: rote Dessous, eigens gekauft – für diesen Moment. Sie stellte ihren rechten Fuß neben ihn aufs Sofa, lehnte sich vor, hauchte – so verführerisch sie konnte:

„Gefällt dir, was du siehst?“ Thomas lächelte. „Ja. Du siehst gut aus. Besonders in dieser Wäsche – meine Lieblingsfarbe sogar.“ Dann hielt er kurz inne. Sein Blick wurde weich. „Aber für das, was du mit mir vorhast, müsstest du ein Mann sein.“ Er stand auf. Ging. Und Simone sah ihn nie wieder.

Simone schiebt die peinliche Erinnerung an Thomas zur Seite. Also… planen bringt auch nichts. Vielleicht lieber auf sich zukommen lassen? Aber was jetzt anziehen? Etwas besonders Sexy? Nein! – das wäre zu auffällig. Könnte Peter verschrecken. Okay, denkt sie. Die Zeit ist knapp. Sie greift ihre Kleidung vom Boden, trägt sie in die Wäschetruhe im Bad. Das bringt ihr ein paar Sekunden – Sekunden, um eine Entscheidung zu treffen. Was soll sie anziehen? Eigentlich liebt sie ihre Einraumwohnung. Aber in diesem Moment verflucht sie sie innerlich. Wäre das Bad wenigstens ein paar Schritte weiter entfernt… hätte ich vielleicht ein bisschen mehr Zeit zum Nachdenken.

Peter schaut sich in Simones kleiner Küche um. Was soll er auch anderes tun? Das Wasser kocht noch immer nicht – warum dauert das nur so lange? – und Simone ist in ihrem Zimmer verschwunden. Die Küche ist klein – viel kleiner als Oma Rosis Wohnküche. Und doch: Peter erkennt sofort, wie sehr Rosi hier noch mitkocht. Simones Küche wirkt wie eine verkleinerte Version von Rosis Reich. Auch Lillys Küche erinnert daran. Die Möbel – frühe Fünfziger. Kein Schnickschnack, keine modernen Geräte, nur ein Herd, eine Kaffeemaschine – und Wärme. Keine Spur von einem Kühlschrank. Wie machen die das bloß alle drei, fragt sich Peter. Er nimmt die Packung mit dem schwarzen Tee, entnimmt zwei Beutel, und stellt die anderen Teesorten sorgfältig in denselben Schrank zurück, aus dem Simone sie zuvor geholt hatte. Neben dem Spülbecken stehen zwei Tassen – kopfüber, sauber.

Die anderen, über die Küche verteilt, wirken benutzt, aber liebevoll stehen gelassen. Peter nimmt die beiden sauberen Tassen, trägt sie zum Tisch, hängt die Teebeutel hinein – und setzt sich. Warten. Nur noch warten. Und dann, endlich – das schrille Pfeifen des Wasserkessels. Peter steht auf, nimmt den Kessel von der Platte. Jetzt sieht er auch, warum es so lange gedauert hat: Die Herdplatte stand nur auf Stufe drei. Er gießt das heiße Wasser über den Tee, so, wie Simone es ihm aufgetragen hat. Und genau in dem Moment, in dem der Duft des Schwarztees aufsteigt, kommt Simone zurück in die Küche.

Simone kommt zurück in die Küche. Sie trägt eine rosafarbene Jogginghose, weit geschnitten, und ein passendes, bauchfreies Oberteil in derselben Farbe. „Entschuldige“, sagt sie und streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht. „In der kurzen Zeit hab ich nichts Besseres gefunden.“ Peter lacht – herzlich, ehrlich. Simone wird sofort unsicher. Doch Peter, der empathisch ist, spürt es – und spricht gleich weiter: „Du siehst gut aus darin. Aber mit kurz hast du’s ein bisschen übertrieben.“ Er zwinkert. Jetzt müssen beide lachen. Simone setzt sich zu ihm an den Küchentisch. Beide rühren in ihren Tassen, spielen mit dem Teebeutel. Ein Schweigen entsteht. Nicht feindlich – aber drückend, nervös, geladen. Plötzlich springt Simone auf, fast erschrocken vor sich selbst. Sie eilt zum Regal neben dem Herd, zieht den kleinen Vorhang zur Seite. „Zucker, Kandis, Zitrone, Milch?“ Ihre Stimme ist ein wenig zu laut, zu schnell. Wenn Simone aufgeregt ist, plappert sie. Und gerade ist sie sehr aufgeregt. Ihr Herz hämmert. So laut, dass sie glaubt, Peter müsse es sehen. Oder hören. Was passiert heute Nacht? Der Gedanke trifft sie wie ein Lichtblitz – Oh Gott… ich bin wie ein Teenie vor dem ersten Mal. Sie versucht sich zu beruhigen. Atmet flach. Zählt innerlich. Es klappt – mäßig. „Zucker reicht“, sagt Peter sanft.

Simone und Peter haben sich in Simones Zimmer zurückgezogen. Peter sitzt auf dem kleinen Sofa, in der Ecke zwischen Arm- und Rückenlehne, die Beine ausgestreckt, die Füße auf dem gegenüberstehenden Sessel. Simone hat sich mit dem Rücken an ihn gelehnt.

Beide halten ihre Teetassen in der Hand – warm, beruhigend. Simone beginnt zu erzählen.

Zwei, drei Anekdoten – aus Kindertagen, von ihr, Lilly und Gustav. Denn auch für sie war Lillys Großvater – genau wie „Oma“ Rosi – eine wichtige Figur. Ein Anker. Ein Vaterersatz. Dann wird sie leiser. Langsamer. Und sagt etwas, das sie bislang nur mit Lilly, Rosi und Gustav geteilt hat. Ein schreckliches Detail aus ihrem Leben.

„Gustav war auch für mich ein sehr wichtiger Mensch, genau wie Rosi und Lilly. Nur die drei wissen was wirklich dahinter steckt das sich meine Ma von meinem Vater getrennt hat. Wobei, das genau ärgert mich sehr und deshalb habe ich den Kontakt zu meiner Ma auch sehr reduziert, es war nur eine Trennung nach außen hin.“ Peter merkt das Simone leiser wird und das es ihr schwer fällt zu erzählen. „Du brauchst nichts erklären, Moni.“ Simone ignoriert den Satz von Peter und erzählt weiter. „Mein Vater hat mich nie wirklich als sein Kind akzeptiert. Also er hat nicht seine Vaterschaft angezweifelt. Aber er wünschte sich einen Sohn. Einen Stammhalter den er seine Firma“ sie betont das Wort Firma sarkastisch, den das Geschäft ihres Vaters war ein kleiner Laden für Werk-zeuge und Kleinteile, auch wenn ihr Vater immer so tat als habe er eine Baumarktkette, „übergeben könne. In seinen Augen war ich als Mädchen eine größere Katastrophe als eine Kinderlosigkeit. Liebe habe ich von ihm nie erfahren. Wenn ich Glück hatte, dann hat er mich einfach ignoriert. Bis ich 14 wurde. Plötzlich hat mein Erzeuger seine ´Liebe` für mich entdeckt.“ So wie Simone das Wort Liebe betonte läuft es Peter kalt den Rücken hinunter. Simone braucht nicht weitersprechen, er weiß, was Simone meint, aber er will Simone auch nicht unterbrechen, denn er weiß, wie wichtig es Simone ist dies ihm zu erzählen. „Am An-fang reichte es ihm“ erzählt Simone weiter, „wenn er mich beim Duschen beobachtet hat. Einige Zeit später hat er sich dabei einen heruntergeholt. Weitere Wochen später hat er sich dabei nicht mehr hinter der Badezimmertür versteckt, sondern stand dabei direkt im Bad und verbot mir die Duschkabinentür zu schließen. Auch das reichte ihm bald nicht mehr.“ Peter muss einen riesigen Frosch in seinem Hals herunterschlucken. Dabei kann er nicht vermeiden das er sich räusperte. Simone dreht sich so, dass sie Peter anschauen kann. „Keine Angst, bis zum alleräußersten ist es nicht gekommen.“ versucht Simone Peter zu beruhigen. „Aber welche Steigerung sollte es dann noch gegeben haben?“ fragte Peter nicht nur sich. Er hat seinen Ge-danken versehentlich laut ausgesprochen. „Nun, er befahl mir unter Androhung von schrecklicher Prügel, sollte ich seinem Befehl nicht folgen, das ich mich selbst an bestimmten Stellen ´liebevoll` berühre. Er merkte schnell das ich das zwar tat aber nur ekel empfand. Ich solle wenigstens so tun, als ob er mir ´Freude` bereitet, wenn ich nicht totgeschlagen werden wolle. Zu dieser Zeit hatte er keine Lust mehr auf meine Ma. Und nur das führte dazu, dass meine Ma sich eine Wohnung nahm und mit mir weggezogen ist. Ich merkte erst vor ca. 2 Jahren, dass sie das nicht tat um mich zu schützen, sondern damit er wieder mit ihr schlief. Darum bin ich auch so überstürzt bei ihr aus-gezogen.“

Peter will etwas sagen. Etwas Tröstliches. Aber jedes Wort, das ihm einfällt, klingt falsch – zu leer, zu klein. Also sagt er nichts. „Bei Gustav, Rosi und Lilly“, sagt Simone schließlich, „hatte ich immer das Gefühl, Teil einer wirklichen Familie zu sein.“ Ein Satz wie ein Schlussstein. Danach schweigen sie. Lange. „Peter?“, fragt Simone leise. „Ja?“, antwortet er – sanft. „Mir ist kalt… kannst du mich ein wenig wärmen?“ Peter nickt, auch wenn sie es nicht sehen kann. Er greift nach der Decke, die über der Sofalehne liegt. So gut es einarmig geht – denn Simone sitzt noch immer an ihn gelehnt, den Kopf auf seiner Schulter – legt er die Decke um sie beide. Dann schlingt er seinen freien Arm unter der Decke um sie. Sie sitzen eine Weile so. Eng. Still. Und sagen nichts mehr.

Da Simone ein bauchfreies Oberteil trägt, liegt Peters Hand direkt auf ihrer Haut. Weich. Warm. Lebendig. Peter spürt, wie ihm der Schweiß auf die Stirn tritt. Ungewollt reagiert sein Körper. Das Blut strömt dorthin, wo er es in diesem Moment am wenigsten haben will. Er erschrickt. Schämt sich. Simone hat ihm gerade eben von einem tiefen, schmerzhaften Missbrauch erzählt – und jetzt das. Er atmet ruhig. Konzentriert sich. Denkt an andere Dinge. Zwingt sich, zu vergessen, was sein Körper gerade zu fühlen glaubt. Und mit Erleichterung merkt er: Es funktioniert. Die Anspannung löst sich. Doch nun ist da eine andere Frage in ihm: Wie kann ich hier sitzen bleiben? Wie kann ich mit ihr reden, ohne dass etwas falsch klingt? Oder: Sollte ich vielleicht einfach gehen? Peter denkt angestrengt nach, wie er sich entweder aus der Situation lösen – oder sie vorsichtig in etwas anderes verwandeln kann.

Peters Gedanken, sein Bemühen um Kontrolle – alles wird jäh unterbrochen. Simone, die seine Hand auf ihrer Haut spürt, nimmt sie in die ihre. Zuerst sanft, dann bestimmter, führt sie seine Finger tiefer. In ihren Schoß. Peter erstarrt. Doch Simone lässt nicht locker. Sie will seine Berührung nicht nur spüren – sie will sie führen, fühlen. Ein leiser Laut entfährt ihr. Ein Seufzen, weich und zurückhaltend, aber voller Wärme. Peter spürt, wie ihm das Blut ins Gesicht steigt – und nicht nur dorthin. Simones Atem wird schneller. Und mit der gleichen Entschlossenheit zieht sie seine Hand weiter – nicht mehr nur über, sondern unter den Stoff. Peter zögert. Versucht, sich zurückzuziehen. Er weiß nicht, ob das hier richtig ist. Nicht jetzt. Nicht so. Doch dann, leise, kaum hörbar ihre Stimme: „Nicht aufhören… bitte.“

Lilly schreckt aus dem Schlaf. Verstört. Was war das für ein Traum? Noch ganz benommen tastet sie nach ihrem Handy, sucht nach einer Uhr. Fünf Uhr. Früh. Noch stockdunkel. Sie steht auf, geht in die Küche. Stellt den Wasserkocher an, zieht einen Teebeutel aus der Schachtel. Während sie in der Tasse rührt, versucht sie, die Fetzen des Traums zu greifen. Ein Gefühl ist geblieben – aber kein Bild. Kein Zusammenhang. Nur dieses Drängen in ihr,

etwas zu verstehen. Nur eine kann mir dabei helfen, denkt Lilly. Sie blickt auf die Küchenuhr.

Kurz nach sechs. Ob „Oma“ Rosi wohl schon wach ist? Natürlich ist sie das. Fährt es Lilly durch den Kopf. Um acht macht sie den Laden auf – Rosi wird längst wach sein.

Lilly steht im Hof, vor der Hintertür zu Rosis Laden. In der gemütlichen Wohnküche brennt Licht. Der Raum, der auch Lillys und Simones Küchen inspiriert hat, wirkt um diese frühe Stunde still und lebendig zugleich. Durch das leicht geöffnete Fenster dringt der Duft von frischem Kaffee nach draußen. Lilly klopft. Erst zögerlich – dann etwas fester. Rosi öffnet die Tür und schaut sie überrascht an. „Seit wann klopfst du, Kindchen? Komm rein.“ Lilly tritt ein und folgt Rosi in die Küche. „Möchtest du einen Kaffee? Ist gerade fertig. Lilly nickt nur – wortlos und setzt sich auf den Platz, auf dem sie gestern schon gesessen hat. Rosi mustert sie. Sorgsam. Still. Dann fragt sie: „Was hast du, Kindchen?“ Und in ihrer Stimme liegt schon Sorge. Echte, warme Sorge. Nicht neugierig. Nicht drängend. Nur: bereit zu hören.

Lilly ist fertig mit dem Erzählen ihres Traums. „Was bedeutet das?“, fragt sie leise. Rosi schüttelt den Kopf. Nicht, weil sie keine Antwort weiß – sondern, weil sie zweifelt, ob ihre Deutung stimmen kann. Sie hat davon gehört, ja. Von solchen Angeboten. Aber selbst erlebt hat sie es nie. Es gibt viele Geschichten, viele Legenden. Die meisten davon Fantasie. Aber ein paar… ein paar sind ernstzunehmend. Seltene Berichte. „Du kannst dir also keinen Reim darauf machen?“, interpretiert Lilly das Kopfschütteln. „Doch, kann ich“, sagt Rosi – und schaut Lilly an. „Leider.“ Lilly runzelt die Stirn. „Wie meinst du das?“ Rosi macht eine Pause, sucht nach den richtigen Worten. „Ich weiß nicht genau, ob ich meinem ‚Reim‘ trauen kann.“ Lilly schaut sie noch fragender an. Das Einzige, was ihr über die Lippen kommt, ist ein: „Hä?“ Rosi hebt die Augenbraue, schaut gespielt streng. „Kindchen, wie oft hab ich dir gesagt: Stell richtige Fragen – und gib nicht einfach nur Geräusche von dir!“ Lilly muss lachen, errötet leicht. „Wie meinst du das denn jetzt, Oma Rosi?“ „Genauso, wie ich’s gesagt hab!“ Rosi zwinkert. „Formulier eine Frage – und sag nicht bloß ‚Hä‘.“ „Ich meinte doch gar nicht das Hä“, sagt Lilly, „sondern: Warum, wie, weshalb bist du dir bei deinem ‚Reim‘ nicht sicher?“ Rosi nickt langsam. Natürlich hat sie das gemeint. Aber dieses kleine „Missverständnis“ hat ihr ein paar wertvolle Sekunden gegeben – um nachzudenken. Und um sich zu sammeln.