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Wo endet das Leben - und wo beginnt das, was danach kommt? In zweimal dreizehn fein gezeichneten Kurzgeschichten erzählt Orte der Ewigkeit vom Übergang zwischen Leben und Tod. Mal zart und poetisch, mal schmerzhaft direkt, führen diese Erzählungen durch Krankenhausflure, Gerichtsäle des Jenseits, einsame Waldlichtungen und stille Zimmer voller Erinnerung. Es geht um Menschen, die am Scheideweg stehen - wortwörtlich zwischen Atemzug und Abschied - und um Seelen, die sich weigern zu vergessen, was ihnen heilig war. Zwischen schwarzem Humor und stiller Melancholie, zwischen Licht und Schatten, entfaltet sich ein literarischer Reigen über Schuld, Vergebung und die Frage, ob der Tod wirklich das Ende ist. Ein Sammelband, der nicht nur liest, sondern nachhallt - wie das letzte Wort eines geliebten Menschen. "Sag mir Tod, wo führst du mich hin?" und "Du hast noch nicht gesagt, wo du mich hinführst" Zwei Fragen. Ein Versprechen. Ein Flüstern zwischen den Welten.
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Seitenzahl: 413
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Vorwort
Teil 1 Sag mir Tod, wo führst du mich hin
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
Teil 2 Du hast noch nicht gesagt, wo du mich hinführst
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
Vor etwas längerer Zeit habe ich zwei „Bücher“ mit Kurzgeschichten zum Thema Tod geschrieben. Ich habe diese als kostenlose Downloads veröffentlicht. In diesen Büchern waren jeweils 13 Kurzgeschichten. Warum 13? Ich fand und finde, dass die Zahl 13 irgendwie zum Thema passt. Jetzt habe ich mich entschieden, diese 2 mal 13 Kurzgeschichten zu überarbeiten und in einem Buch wirklich zu veröffentlichen. Wenn du das hier nun also liest, dann habe ich dieses Vorhaben tatsächlich in die Tat umgesetzt.
Warum das Thema Tod?
Nun, „Orte der Ewigkeit“ ist ein Kunstprojekt von mir. Angefangen, daher auch der Name des Projektes, hat alles damit, dass ich Friedhöfe als Orte entdeckt habe, wo ich (innerliche) Kraft tanken kann. Friedhöfe strahlen eine Ruhe aus, die sich sofort auf mich überträgt. Friedhöfe haben eine fast magische Eigenschaft: Man geht durch das Tor und sofort wird es ruhig. Selbst wenn der Friedhof an einer viel befahrenen Straße liegt. Man geht durch das Tor, macht nur zwei Schritte, und der Straßenlärm ist leiser. Nicht ganz weg, aber sehr viel leiser. Physikalisch ist das natürlich Quatsch. Durch diese zwei oder auch drei Schritte wird der Straßenlärm nicht so viel leiser sein, dass man das überhaupt wahrnehmen würde. Aber trotzdem. Die Aura dieser Orte stellt mit einem etwas an. Der Straßenlärm ist, obwohl physikalisch so nicht möglich, einfach für einen selbst leiser. In dieser Ruhe kann ich meine Gedanken einfach kreisen lassen. Aber bevor ich versuche, das hier sachlich zu erklären, verweise ich einfach auf die erste Geschichte. Ich denke, die erklärt das ganz gut.
Ich begann dann, mein Hobby, die Fotografie, mit auf die Friedhöfe zu nehmen, also die Friedhöfe fotografisch festzuhalten. Weil ich schon andere Fotos von mir bei Facebook und Instagram zeigte, kam ich auf den Gedanken, dass die Friedhofsfotos jeweils in einem eigenen Kanal auf beiden Plattformen eine bessere Wirkung entfalten. Diese beiden Kanäle bekamen den Namen „Orte der Ewigkeit“. Zuerst schrieb ich zu den Fotos nur, auf welchem Friedhof sie aufgenommen wurden. Nach einiger Zeit fügte ich Aphorismen und Zitate verschiedenster Berühmtheiten hinzu. Aber immer auf Texte von anderen zurückgreifen zu müssen, gefiel mir schnell nicht mehr und ich schrieb eigene kurze Texte, die ich mal hochtrabend als Aphorismen bezeichne. Das Kunstprojekt „Orte der Ewigkeit“ war geboren.
Nach einem Unfall war ich mehrere Wochen arbeitsunfähig. Meine rechte Hand war nach einer kleinen OP am kleinen Finger ruhiggestellt. Da ich als so etwas Ähnlichem wie Schichtleiter in einem Büro arbeite, wo ich viel telefonieren und gleichzeitig Eingaben an einem Computer machen muss, ging das eben nicht. Wie soll ich mit der linken Hand den Telefonhörer halten und gleichzeitig mit eben dieser linken Hand etwas auf der Tastatur tippen? Auch der Versuch, ein Headset zu benutzen, war nicht wirklich gut ausgegangen. Jetzt hatte ich zwar die linke Hand frei, konnte damit aber nicht schnell genug tippen, während ich telefonierte. Als Rechtshänder fiel die Option, mir das erst auf einen Schmierzettel zu notieren und nach dem Telefonat einzugeben, auch weg. Die Zeit, die ich nun zu Hause hatte, musste ja aber auch irgendwie sinnvoll verbracht werden. Ich fing also an, mit der linken Hand Kurzgeschichten in den Computer zu tippen. Ich fing einige an und brachte diese aber nicht zu Ende. Es machte mir aber Spaß und ich kam auf die Idee, mein Kunstprojekt „Orte der Ewigkeit“ um Kurzgeschichten zu erweitern.
Ich hoffe, du kannst mir gelegentliche Tippfehler und Holprigkeiten in der Grammatik verzeihen und dass diese nicht zu sehr von meinen kurzen Geschichten ablenken. Aber es ist, wie es ist. Das ganze Projekt ist ein reines Hobbyprojekt und ich kann es mir finanziell einfach nicht leisten, einen Lektor über mein Geschreibsel lesen zu lassen. Ich hoffe, dass Word und Co. mit ihren Rechtschreibkorrekturen die schlimmsten Fehler ausgebügelt haben.
An einem sonnigen Tag im Herbst machte ich mich auf den Weg zum Friedhof meiner Heimatstadt. Es war recht frisch, aber die Sonne schien durch die bunten Blätter der Bäume, die der Herbst in diese wunderschönen Farben langsam verwandelt hatte. Seit Wochen war ich von einer inneren Unruhe befallen und ich hatte von einem Freund gehört, dass Friedhöfe Orte seien, die eine ganz besondere Ruhe ausstrahlen. Diese Ruhe und Stille wollte ich selbst erleben und herausfinden, ob das wirklich so ist und diese Ruhe, wie mein Freund zu mir meinte, sich wirklich auf mich überträgt und eine Wirkung auf mich haben würde.
Mich traf eine echte Überraschung, als ich den Friedhof betrat. Mich überraschte die tiefe Ruhe, die hier herrschte. Der Straßenlärm war kaum mehr zu hören, obwohl ich nur fünf Schritte durch das Friedhofstor gemacht hatte. Ich hörte fast nur noch das Rauschen des Windes, das das Rauschen der Straße fast vollständig überlagerte, und das gelegentliche Zwitschern der Vögel. Es hatte den Anschein, als ob jemand am Lautstärkeregler der Welt gedreht hätte oder als ob ich in eine andere Welt übergetreten war. Ich spürte, dass mein Freund völlig recht hatte, dass die Ruhe und die Stille in meinen Körper einsickerten und sich auf meinen Geist legten, sodass er sich beruhigte. Dabei stand ich immer noch am Eingang und nur fünf Schritte hinter mir pulsierte das Leben einer Hauptverkehrsstraße.
Ich ging weiter, es macht ja keinen Sinn, hier am Eingang stehen zu bleiben. Zuerst auf dem breiten Hauptweg. Von diesem zweigten die Wege mit den Grabreihen ab und er war gesäumt mit mächtigen alten Bäumen, von denen ab und an ein buntes Blatt herunterschwebte und dabei im leichten Wind einen sanften Tanz vollführte. Beim dritten oder vierten Abzweig bog ich in die Reihen der Gräber ein. Ich betrachtete die Grabsteine und immer mal wieder las ich die Inschriften und Namen, die darauf eingraviert waren. Einige Gräber waren sehr gepflegt. Andere sahen aus, als ob schon lange niemand mehr da gewesen war. Immer wieder lagen Blumen auf einem Grab oder standen in einer kleinen Vase aus dunkelgrünem Kunststoff mit einer langen, dünnen Spitze am Ende, um diese in die Erde stecken zu können, neben oder vor dem Grabstein. Immer wieder wurden die Reihen meist schlichter Gräber durch größere, aufwendiger gestaltete oder gar opulente Gräber unterbrochen. Einige mit wunderschönen Statuen darauf, die ich sehr bewunderte. Ich musste an die Menschen denken, die hier begraben lagen. Wie hatten sie gelebt? Was hatten sie ihr Leben lang so getan? Wie waren sie gestorben? Ich musste auch an die Menschen denken, die die Bewohner der kleinen Grundstücke mit den kleinen fensterlosen Häusern hinterlassen haben. Würden sie die hier liegenden vermissen? Die meisten sicherlich. Einigen Gräbern sah man das Vermissen an. Und nach der zweiten oder dritten Reihe fing ich an, eine tiefe Verbundenheit mit all den Menschen zu spüren, obwohl ich sie niemals kennengelernt hatte.
So spazierte ich weiter über den Friedhof. Die Bäume mit ihren vom Herbst bunt gefärbten Blättern erzeugten im Zusammenspiel mit der Sonne ein wunderbar warmes Licht. Der leichte Wind erzeugte zudem ein regelrecht lebendiges Spiel aus Licht und Schatten obendrauf. Ich bemerkte, wie die Ruhe und Stille, das sanfte Licht und das daraus resultierende Schattenspiel ganz allmählich eine tiefe Trauer in mir auslöste. Mit jedem Schritt kamen weitere Gedanken an den Verlust, den der Gevatter Tod bei den Menschen verursacht haben muss und welche Lücken er gerissen haben muss. Wenn ich einen Grabstein sah, wo Geburtsdatum und Todestag nur ein kurzes Leben auswiesen, musste ich an unerfüllte Träume und Wünsche denken. Die Trauer sickerte in mein Herz ein und durchdrang dann meinen ganzen Körper. Anfangs versuchte ich sie mit anderen Gedanken zu verdrängen. Ich dachte daran, dass ich meine Kamera hätte mitnehmen sollen, aber die Trauer war stärker und setzte sich durch.
Ich kam zu einer Bank, die direkt unter einem großen, alten und ehrwürdigen Baum und neben einer Statue von einem sanft lächelnden Engel stand, und setzte mich darauf. Ich ließ den Blick in einem Halbkreis über den von hier aus sichtbaren Teil des Friedhofs gleiten. Betrachtete die Gräber, die Blumen darauf, die Bäume zwischen den Gräbern und wie ab und an ein Eichhörnchen dazwischen umherflitzte oder eine Katze langsam eine Pfote vor die andere setzend regelrecht dahinschritt. Ich lächelte kurz und dachte, daher kommt der Begriff Catwalk. Jetzt fing die Trauer an, sich mit der Ruhe in mir zu vermischen und ein seltsam angenehmes, aber ansonsten nicht beschreibbares Gefühl erzeugte. Langsam reifte in mir die Erkenntnis, dass ein Friedhof mehr ist als ein Ort der Trauer, sondern ebenso ein Ort der Erinnerungen, der Hoffnung und des Friedens.
Ich saß schon eine ganze Weile auf der Bank und ging meinen Gedanken nach. Ich war so sehr in Gedanken versunken, dass ich nichts anderes mehr wahrgenommen habe. Die Stimme einer alten Frau riss mich aus meinen Gedanken. „Entschuldigen Sie bitte, junger Mann, aber was machen und suchen Sie hier?“, fragte sie mich. Ich erwachte aus meinen Tagträumen und konnte nur „Wie bitte?“ zurückfragen. „Ich frage Sie, was Sie hier machen“, antwortete sie. Ich erklärte ihr, wie mein Freund mir geraten hatte, mal auf einen Friedhof zu gehen, weil es hier so schön ruhig ist und ich nun die Stille und die Ruhe hier genieße und wie mich die Atmosphäre des Friedhofes gefangen hat. Sie nickte und drückte damit ein Verständnis aus, wie es nur alte Frauen tun können, und setzte sich neben mich auf die Bank. Obwohl sie nun neben mir saß, stützte sie sich auf ihren Gehstock und schaute über den Friedhof.
Nach einiger Zeit, ich kann bis heute nicht sagen, wie lange wir schweigend nebeneinandergesessen haben, fing sie an zu erzählen. Zuerst einfach so vor sich hin, mit der Zeit aber immer direkter an mich gerichtet. Sie erzählte, dass sie sehr oft, fast täglich, es sei denn, es regnet oder sie hat einen Termin, hierherkommt, um ihren verstorbenen Ehemann zu besuchen. Ihre Erinnerungen sprudelten nur so aus ihr heraus. Dass sie ihren Mann sehr vermisste, sagte sie zwar, hätte sie aber nicht tun müssen, denn das spürte ich anhand ihrer Erzählungen. Sie erzählte mir, einem völlig fremden Menschen, von ihrem Leben und den Erfahrungen, die sie gemacht hat.
Sie erzählte mir von Erwin, ihrem verstorbenen Ehemann. Mit ihm war sie viele Jahre verheiratet gewesen. Viele glückliche Jahre, betonte sie, auch wenn es schwierige Zeiten gab. Ein langes Leben – viele Erinnerungen. Sie erzählte mir, wie sie und ihr Erwin sich kennengelernt haben und von der Hochzeit in einem kleinen Dorf ganz in der Nähe von hier. Vor allem, wie glücklich sie gewesen sind an diesem Tag und wie sehr sie sich liebten. Von den gemeinsamen Reisen, die sie beide unternommen hatten. Wie er den Kronenkorken des ersten Bieres, was sie sich bei der ersten Reise nach dem Mauerfall nach Italien gekauft haben, als Schatz aufgehoben hat. Ich bemerkte, dass sie den Gehstock neben sich gestellt hatte und mit einem kleinen runden Gegenstand in ihrer Hand spielte. Bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass es ein alter, aber sehr bunter Kronenkorken war.
Ich unterbrach die alte Dame nicht, hörte aber aufmerksam zu. Ab und zu nickte ich ihr zu, sodass sie erkennen konnte, dass ich weiterhin ihr zuhörte. Ich hatte aber das Gefühl, dass sie das gar nicht bemerkte. Sie war in ihren Erinnerungen, die einfach aus ihr heraussprudelten. Sie erzählte aber nicht nur von den schönen Erinnerungen, sondern auch von schweren Zeiten. Davon, wie sie im Krieg ständig Angst um ihren Erwin hatte. Davon, wie sie beide ihr ältestes Kind, einen Sohn, bei einem Motorradunfall verloren haben. Ich merkte, dass sie zum Ende ihrer Erinnerungen kam, als sie davon erzählte, wie ihr Erwin schwer krank wurde und wie sie zwar alles in ihrer Macht Stehende getan hat, das aber eben nicht ausreichend war, um ihren Erwin zu retten. Und dann schloss sich der Kreis. Sie erzählte davon, dass sie ihn immer noch in ihrem Herzen trägt und wie sehr sie ihn vermisst und deshalb fast jeden Tag hierher auf den Friedhof kommt, weil sie hier Frieden und Trost finden kann. Sie erzählte, dass sie glücklich ist, diesen Ort zu haben.
Ich habe der alten Dame die ganze Zeit sehr aufmerksam zugehört. Ihre Worte haben mich berührt. In mir reifte die Erkenntnis, wie wichtig Friedhöfe sind. Weniger als Ort, wo wir unsere Toten lassen, dafür gäbe es sicher andere Wege, sogar welche, die sehr viel weniger Platz bräuchten, sondern viel mehr, weil hier die Liebe, die Erinnerungen und die Verbundenheit auf ganz besondere Weise belebt werden. Aber auch, denn Friedhöfe sind Orte, auf denen Menschen Ruhe und damit Kraft tanken können. Ich war tief beeindruckt von der alten Dame. Von ihrer Stärke, von ihrem Mut, von ihrer Liebe über den Tod hinaus. Ich dankte ihr, dass sie mir ihre Geschichte erzählt hat. „Junger Mann, ich danke Ihnen, dass Sie so geduldig waren und sich das Gefasel einer alten Frau angehört haben“, war ihre Antwort darauf. Wir betrieben noch ein wenig Smalltalk, dann verabschiedete sich die alte Dame, stand auf und ging. Ich schaute ihr nach, bis sie aus meinem Sichtfeld verschwunden war.
Es dauerte dann auch nicht mehr lange, da stand auch ich auf, um den Friedhof zu verlassen. Ich hatte langsam Hunger bekommen. Auf dem Weg zum Ausgang überkam mich eine tiefe Dankbarkeit. Dankbarkeit für die Begegnung mit der alten Frau und dass sie mich an ihren Erinnerungen teilhaben lassen hat. Dankbarkeit für die Erholung, die meine Seele hier durch die Ruhe und Stille bekommen hat. Dankbar für die Erkenntnis, wie und warum Friedhöfe so wichtig sind. Als ich durch den Ausgang auf die Straße trat, traf mich wieder die Lautheit und Hektik der Welt. Ich konnte nur schwer dem Impuls entgegenwirken, sofort wieder umzukehren, um die Stille zu genießen. In dem kleinen Café gegenüber dem Friedhof aß ich eine Bockwurst und trank einen Kaffee. Und wie ich da so saß und durch das Fenster den Eingang zum Friedhof auf der anderen Seite der Straße sah, da wusste ich, dass ich diesen Ort schon bald und oft besuchen werde. Er schenkt mir innere Ruhe und verschafft mir Zeit, meine Gedanken zu ordnen. Die innerliche Zwiesprache mit den Verstorbenen, auch wenn es alles mir völlig unbekannte Menschen sind, ist mir dabei extrem hilfreich. Beim nächsten Mal werde ich aber auch meine Kamera mitnehmen, entschloss ich mich in diesem Moment. Das tat ich dann auch. Und ich besuche seitdem nicht nur Friedhöfe in meiner Stadt, sondern in vielen, vielen anderen Städten.
An einem frühen Nachmittag im Sommer sitzt in einem kleinen Café am Rande einer kleinen Stadt, genau zwischen dem Friedhof und einem Wald, eine Gruppe von Menschen bei einer kleinen Feier. Es werden Kaffee und Kuchen serviert und die Menschen unterhalten sich. Zu dieser Gruppe von Menschen gehört auch Sarah. Eine junge Frau. Sie sitzt etwas abseits und schaut den Menschen bei ihrer Feier zu. Es ist keine Geburtstagsfeier oder ein anderer glücklicher Anlass. Es ist die Trauerfeier für Sarahs Oma. Es ist keine dreißig Minuten her, da standen die Menschen noch bei der Beerdigung von Sarahs Großmutter auf dem Friedhof am offenen Grab. Die Menschen, die Sarah beobachtet, essen den Kuchen, trinken den Kaffee, tauschen Erinnerungen aus und lachen über diese. Sarah kann nicht verstehen, warum ihre Familie an einem Tag wie diesem lachen kann und sich mit Kaffee und Kuchen vollstopft. Der Kaffee vor ihr ist schon lange kalt geworden und das Stück Kuchen steht immer noch unangerührt vor ihr. Ihr Onkel verfällt in ein besonders herzhaftes Lachen. Das war der Zeitpunkt, an dem Sarah nicht mehr konnte. Sie stand auf. Ihre Mutter blickte Sarah fragend an und Sarah machte eine Handgeste in Richtung der Tür zu den Toiletten und ging dann in diese Richtung. Doch statt ins WC zu gehen, nahm Sarah den Hinterausgang und ging in den Wald.
Sarah spazierte durch den Wald und war tieftraurig. Sie hatte so viele Fragen. Warum müssen Menschen sterben? Wo ist ihre Großmutter nun? Würde sie ihre geliebte Oma jemals wiedersehen? Und während sie so durch den Wald ging und diese Fragen sie quälten, beschloss sie, genau diese Fragen an den Tod zu richten. Sie setzte sich unter eine majestätische Eiche und schloss die Augen, um zu meditieren. Wie man das macht, hatte ihr ihre liebe Oma beigebracht. Sie atmete ruhig und tief. Sie konzentrierte sich auf den einen einzigen Gedanken, den Tod zu treffen, um ihn zu fragen. Und plötzlich wachte sie auf. Sie ärgerte sich, dass es nicht geklappt hatte, den Tod zu treffen, und stand auf, um zurück zum Café zu gehen. Doch dann bemerkte sie, dass sich etwas verändert hatte. Sie ist zwar noch in diesem Wald an der majestätischen Eiche, aber das Licht ist ein anderes. Es ist warm und sanft. Wie lange hatte sie unter der Eiche gesessen, fragte sie sich, dass die Sonne schon untergeht? Doch der Sonnenstand deutete nicht darauf hin, dass es langsam Abend werden würde. Die Sonne stand hoch am Himmel. Wie kann dann aber dieses sanfte Licht herrschen? Sie wandte sich in die Richtung zum Café, um dorthin zurückzugehen, da bemerkte sie, dass ein alter Mann nur wenige Meter neben ihr stand.
Lächelnd stand der alte Mann da. Er war eine ganz mysteriöse Gestalt. Er hatte ein dunkles, längliches Gewand an. Einem Mönchsgewand sehr ähnlich. Die Kapuze tief in das Gesicht gezogen. Sarah konnte das Gesicht nicht erkennen, nur dass der Alte lächelte. Jetzt fiel Sarah aber auch auf, was der Mann in seiner rechten Hand hielt: eine Sense. Schlagartig wird ihr klar, dass ihre Meditation doch funktioniert hat und vor ihr der Gevatter Tod höchstpersönlich steht. Als ob er ihre Gedanken lesen konnte, sagte er: „Ah, hast du mich also doch erkannt?“ und grinste dabei. „Woran hat es gelegen? An meiner Sense?“, scherzte er. Sarah trat mit mutigen Schritten auf den Tod zu, als sie ihm ihre Fragen stellen wollte, versagte ihr der Mut wieder. Der Sensenmann sprach dafür und erklärte ihr, dass sie keine Angst vor ihm haben müsse, denn ihre Zeit wäre noch lange nicht gekommen. Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich. Zuerst folgte Sarah ihm etwas widerwillig, aber aus irgendeinem Grund verspürte sie schnell eine ganz besondere Güte, die von ihrem Führer ausging, und ging freiwillig mit ihm mit. „Sag mir, Tod, wohin führst du mich?“, fragte Sarah. „Ich führe dich in die jenseitige Welt zu deiner Großmutter. In die Welt, wo es keine Schmerzen mehr gibt. Wenn du bereit bist, können wir jetzt die Schwelle übertreten.“ Der Tod blickte Sarah direkt ins Gesicht und war ihr so nahe, dass sie jetzt trotz der Kapuze das Gesicht sehen konnte. Seine Augen strahlten eine Wärme aus und waren voller Mitgefühl. Sarah nickte. „Dann soll es so sein“, sagte der Alte mit seiner weichen und warmen Stimme. Nach nur einem weiteren Schritt waren sie in einer völlig anderen Welt.
Sarah stand auf einer Wiese mitten auf einem Hügel. Die Gegend, in der Sarah stand, war eine Hügellandschaft mit vielen Wiesen und kleinen Wäldchen. Auf den Wiesen blühten viele Blumen in allen Farben, die ein Mensch sich jemals ausdenken konnte. Überhaupt waren die Farben das Auffälligste hier. Sie leuchteten in einer Art, wie Sarah es noch nie gesehen hatte. Das Wie kann man kaum beschreiben. Es schien so, als ob alles aus sich heraus selbst leuchten würde. Als Sarah den Tod fragen wollte, wo sie nun sind, bemerkte sie, dass der Gevatter nicht mehr da war. Dafür räusperte sich jetzt hinter ihr eine Frau. Sarah drehte sich um und brauchte eine Weile, in der jungen und wunderschönen Frau, die sie nun erblickte, ihre Großmutter zu erkennen. Und plötzlich, ohne dass irgendeine Verwandlung sichtbar gewesen wäre, war aus der jungen Frau Sarahs Großmutter geworden, wie sie Sarah in ihrer letzten Erinnerung hatte. Ihre Großmutter begrüßte sie mit einer langen und liebevollen Umarmung und in diesem Moment trieb es Sarah die Tränen in die Augen.
Die Großmutter trocknete Sarahs Tränen und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sarah konnte es kaum glauben. Sie konnte ihre geliebte Oma noch einmal sehen. Doch plötzlich erschrak die Oma. Warum ist Sarah hier? Dieses junge und lebenslustige Mädchen wird doch nicht …? Sie schaute sich suchend um und sah den Gevatter hinter einem Baum hervorsehen. Dieser schüttelte kaum merklich mit dem Kopf, machte aber auch eine Geste, als würde er auf seine Armbanduhr zeigen und bedeutete so der Großmutter, dass die Zeit drängt. „Kind, was machst du hier?“, brach sie die schweigende Wiedersehensfreude. Und nun sprudelte es aus Sarah heraus. Sie erklärte, dass sie ihre Oma so sehr vermisste. Sie erzählte, dass sie nicht verstehen kann, wie die anderen lachend bei der Trauerfeier sitzen. Und sie stellte all ihre Fragen. Warum denn nur der Tod sein müsse, wie es ihr gehen würde, ob sie sich wiedersehen würden und und und. Die Großmutter beantwortete die Fragen und erklärte Sarah, dass sie ein erfülltes Leben hatte, dass es bald sehr voll sein würde, wenn niemand mehr in das Jenseits gehen müsse und dass die anderen lachen würden, um ihre Trauer ertragen zu können. Und dass es doch schön wäre, sich gemeinsam an gemeinsam Erlebtes zu erinnern, vor allem an die schönen und lustigen Erlebnisse. Dann redeten beide über genau das. Über gemeinsame Erlebnisse, vor allem über die lustigen und schönen. Beide mussten dabei herzhaft und aus vollem Herzen lachen. So sehr, dass wieder Tränen in Sarahs Augen waren, jetzt aber statt Tränen der Traurigkeit Lachtränen.
Der Gevatter Tod trat leise und langsam hinter dem Baum hervor, wo er die ganze Zeit stand, um mit seiner Sanduhr die Zeit abzumessen, die er Sarah und ihrer Großmutter geben konnte. Sarahs Großmutter bemerkte das und nickte dem Tod unmerklich zu. Sarah schüttelte sich gerade vor Lachen, weil ihre Oma gerade erzählt hatte, wie Sarah als kleines Kind Angst vor dem Rasensprenger gehabt hätte. Die Großmutter nahm ihre Sarah in den Arm und drückte sie noch einmal fest an sich. Da wusste auch Sarah, dass die Zeit nun gekommen war. Aber Sarah wusste auch, dass sie nicht traurig sein muss, denn sie würde ihre Oma wiedersehen. Mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete sich Sarahs Oma von ihr und verschwand. Also sie löste sich wie Nebel einfach auf. Nur wenige Augenblicke stand der Tod neben Sarah und nahm wieder ihre Hand, um sie wieder in die Welt der Lebenden zu führen. Sarah wusste nun, dass sie keine Angst mehr vor dem Tod haben muss. Ja, sie würde traurig sein, wenn jemand, den sie liebt, vom Gevatter geholt wird. Das ist normal, denn man würde sich, zumindest für Sarah, eine lange Zeit nicht mehr sehen, aber man würde sich wiedersehen. Nach nur wenigen Schritten versank die Landschaft um sie herum in Dunkelheit. Also nicht so, wie wenn es Nacht wird, sondern in absoluter Dunkelheit.
Sarah schreckte auf. Wie lange hatte sie hier unter dem Baum gesessen? Den Schmerzen in ihren steifen Gliedern nach muss es sehr lange gewesen sein. Doch dem Licht der Sonne nach, welches durch die Baumkronen ein lebendiges Schattenspiel auf den Waldboden veranstaltete, kann es nicht sehr lange gewesen sein. Sarah stand auf und lockerte Arme und Beine, bevor sie wieder zurück zu dem kleinen Café ging. Sie benutzte den Hintereingang, so würde jeder annehmen, sie sei von der Toilette wiedergekommen. Die anderen waren immer noch in ihre Gespräche und Erinnerungen vertieft. Sarah setzte sich wieder auf ihren Platz und beobachtete die anderen. Sie trank einen Schluck von dem kalten Kaffee und fing an, ihr Stück Kuchen zu essen. Mit besorgtem Blick schaute Sarahs Mutter zu ihr herüber. Sarah stand lächelnd auf und setzte sich neben ihre Mutter. „Erinnerst du dich, dass Oma erzählt hat, wie ich als kleines Mädchen Angst vor dem Rasensprenger hatte?“, fragte Sarah ihre Mutter. Diese musste laut und herzhaft lachen. „Ja“, antwortete diese, „Es sah auch urkomisch aus, wie du vor dem Wasserstrahl immer wieder im Kreis weggelaufen bist“.
In einer Wüste, die heißer war als jede Wüste, die je ein Mensch gesehen hat, die weiter war, als sich je ein Mensch erdenken kann, steht genau im Mittelpunkt ein Tor. Einfach so. Ein Tor aus Holz. Ein lebender Mensch, der zu diesem Tor kommt, wird sich darüber wundern, denn das Tor erscheint völlig nutzlos, denn man kann einfach darum herumgehen, denn es ist kein Durchgang in einem Zaun, einer Mauer oder etwas Ähnlichem. Es ist einfach ein Holztor, das da mitten in der Wüste steht. Ein recht schlichtes Tor, das auch nicht sehr groß und mächtig ist. Es war gerade groß genug, um einer Person Durchlass zu gewähren, wenn man es öffnet. Das Holz, aus dem das Tor gezimmert wurde, ist nur grob bearbeitet. Die Bretter zeigen Risse und man sieht ihnen an, dass sie uralt sind. Die kupfernen Bänder, mit denen die Bretter zusammengehalten werden, zeigen eine dicke Schicht der typisch grünen Patina. Die Angeln, die das Tor in seinem Rahmen halten, allerdings sind blitzblank, weil das Tor oft geöffnet und geschlossen wird. Das Messing glänzt wie Gold in der unbarmherzig sengenden Sonne der Wüste. Trotzdem die Wüste um das Tor herum sehr trocken und heiß ist, sprießen Gräser und Moose in den Fugen der unregelmäßig geformten Natursteinplatten, die ein stabiles Fundament für das Tor bilden. Ein wenig Efeu rankt an dem Rahmen des Tores hoch. Es gibt im Fundament auch einige Stellen ähnlich von Blumenrabatten, in denen die wunderschönsten Blumen in allen nur erdenklichen und leuchtenden Farben blühen. Das Tor umgibt eine Aura des Friedens. Hier ist eine Oase. Eine Oase der Friedlichkeit. Das Tor wird von einem alten Mann bewacht. Er strahlt eine Würde aus, die kaum zu beschreiben ist. Er hat tiefe Falten im Gesicht, welches einen gütig unter einem breitkrempigen Hut, der ihn vor der sengenden Sonne schützt, anschaut. Das Tor und sein Wächter existieren seit Äonen. Seit dem Zeitpunkt, wo es auf dieser Welt menschliches Leben gibt, gibt es dieses Tor und seinen Wächter, denn es ist das Tor zur Ewigkeit, zum Jenseits oder Totenreich, je nachdem, wie man die Welt nennen will, in die die Seelen nach dem Tod ihrer Körper wechseln.
Der Wächter ist ein weiser und gütiger Mann. Er behandelt die Seelen, die das Tor durchschreiten wollen, stets mit Respekt. Er ist ihnen gegenüber einfühlsam und findet immer die richtigen Worte. Den ängstlichen Seelen nimmt er die Angst, an die gehetzten richtet er Worte zur Beruhigung oder den unsicheren gibt er Sicherheit. Eines Tages, nur so zum Beispiel, trat die Seele einer jungen Frau vor das Tor. Sie war vor Gram, Traurigkeit und Einsamkeit gestorben, weil ihr geliebter Ehemann bei einem Unfall gestorben war. Unsicher schaute sie sich um. Wollte schon umkehren, ohne aber zu wissen, wohin sie soll. „Mein Kind, dreh nicht um, denn hier bist du richtig. Es gibt keinen anderen Ort, wohin du gehen kannst“, sagte der Wächter mit einer sanften, gütigen, beruhigenden und liebevollen Stimme zu der Seele der jungen Frau. „Auf der anderen Seite wartet dein geliebter Ehemann auf dich, um dich zu empfangen. Deine Seele wird dort Frieden finden.“ Erleichtert nickte die junge Frau, öffnete das Tor und ging hindurch. Der Wächter lächelte, denn er weiß, welch wundervolle Reise sie nun antreten wird. Viele Seelen kamen vor das Tor, um hindurchzugehen. Nicht alle Seelen, denn es gibt auch Menschen, die auf irgendeine Art und Weise eine Schuld auf sich geladen haben. Nur Seelen ohne Schuld oder welche ihre Schuld beglichen oder gebüßt haben, dürfen dieses Tor passieren.
Eines Tages erschien vor dem Tor die Seele eines Mannes. Zumindest dachte der Wächter, dass es die Seele eines Mannes ist. Ein einziger Blick des Wächters reichte, um zu erfassen, dass diese Seele nicht durch das Tor gehen darf. Sie war voller Hass und Rachegelüste. Denn er hatte ein sehr schweres und unglückliches Leben. Ihm war ständig und viel Unheil sowie Ungerechtigkeit angetan worden. Kaum Glück, dafür aber viel Leid war das Schicksal seines Lebens gewesen. Sanft sagte der Wächter zu der Seele: „Leider muss ich dir den Durchgang verwehren. Zuerst musst du dich von deinem Hass und der Lust nach Rache reinigen. Du bist noch nicht bereit für diese Reise.“ Statt umzudrehen oder zu versuchen, sich den Durchlass zu erflehen, fing die Seele an zu lachen. Es war ein krächzendes und boshaftes Lachen. Voller Hohn in der Stimme rief der Mann: „Du Narr! Glaubst du, klappriges Männchen, denn wirklich, dass du verhindern kannst, dass ich durch das Tor gehe? Ich bin keine Seele, ich bin ein Dämon, der direkt aus den Ringen des Inferno gekommen bin. Meine Macht ist nur unwesentlich geringer als die Macht dessen, der in der eisigen Mitte über das Inferno herrscht. Ich gehe durch dieses Tor, wann immer ich will, und du wirst nichts dagegen machen können.“ Traurig senkte der Wächter seinen Kopf. Immer noch mit einer unbeschreiblichen Güte antwortete der Wächter dem Dämon: „Du wirst eine sehr lange Zeit an dem Ort verbringen müssen, wo du hergekommen bist. Das macht mich traurig. Deine Reise durch neun Kreise und über den Berg der Läuterung wird sehr beschwerlich sein. Aber ich werde dich danach mit offenen Armen hier empfangen und persönlich durch das Tor führen.“ Die Antwort des Dämons war ein weiteres höhnisches Lachen und er setzte mit einem ersten festen Schritt an, durch das Tor treten zu wollen.
Die Entschlossenheit in den Augen des Wächters erzeugte einen kurzen Moment des Erschreckens in dem Dämon. Der Wächter wusste nur zu genau, dass dieser Dämon niemals durch das Tor gehen darf, bevor er nicht geläutert war. Der Hass und die Rache würden das Jenseits zerstören und alle darin befindlichen Seelen würden unwiderruflich in die neun Kreise des Inferno stürzen und selbst der, für viele erneute, Gang über den Läuterungsberg würde dann nichts bringen, denn es gäbe ja keine Welt mehr, wo der Weg des Berges der Läuterung enden kann. Der Wächter atmete tief ein. Er reckte die Arme gegen den Himmel. Er murmelte Worte, die der Dämon nicht verstand und dann erstrahlte ein Licht, das vom Himmel in die nach oben gestreckten Arme des alten Mannes strömte. Als das Licht erlosch, sah der Wächter anders aus. An den Gesichtszügen und der Kleidung, inklusive des Hutes mit der breiten Krempe, erkannte man, dass es derselbe Mann ist, aber anstatt alt auszusehen, stand nun ein Hüne da, der mit breiten Schultern nur so vor Kraft strotzte. Mit einer festen und bedrohlichen Bass-Stimme sprach der Wächter: „Kehre freiwillig um und gehe den Weg durch die neun Kreise und über den Berg der Läuterung! Ich will nicht mit dir kämpfen, aber ich werde es tun.“ Der Dämon stellte sich breitbeinig auf, um sich den Weg durch das Tor zu erzwingen. Doch er kam nicht einmal zum ersten Schlag! Der Wächter zeigte mit beiden Händen auf den Dämon und in diesem Augenblick schlugen Blitze, so grell wie das Licht aller Sonnen im Universum zusammen, gegen den Dämon und erfassten diesen. Der Dämon schrie vor Schmerzen auf. Er wand sich hin und her und versuchte schreiend, sich aus der Umklammerung der Blitze zu befreien. Doch er schaffte es nicht. Ganz im Gegenteil. Jeder Versuch, sich zu befreien, führte nur dazu, dass die Blitze und damit die Umklammerung dieser sich noch verstärkten. Unter dem Dämon entstand ein tiefes und schwarzes Loch. Sobald es groß genug war, dass der Dämon hindurchpasste, erloschen die Blitze und der Dämon stürzte hinein. Vor dem Tor stand der alte weise Mann und wartete auf die nächste Seele.
Auf einem Hügel mit saftig grünen Wiesen steht das einfache Blockhaus von Jack. Direkt hinter dem Haus beginnt der Wald. Unten im Tal liegt das kleine und idyllische Dorf, zu dem Jacks Hügel offiziell gehört. Die Menschen im Dorf besuchen Jack aber nicht, obwohl sie von hier einen der schönsten Ausblicke über das Tal und die hohen Berge hätten, deren Gipfel selbst im Sommer von Schnee bedeckt sind. Und wenn Jack, was sehr selten vorkommt, mal hinunter ins Dorf geht, dann meiden ihn die Menschen wie der Teufel das Weihwasser. Jack ist ein sehr kräftig gebauter Mann. Er überragt die meisten Einwohner des kleinen Ortes um mindestens einen, bei vielen sogar fast zwei Köpfe. Er hat so breite Schultern, dass er die Türfüllungen der
Häuser nicht durchschreiten kann, ohne sich leicht seitwärts zu drehen. An seinem Körper ist kein Gramm Fett zu viel und unter seinem Hemd sieht man bei jeder seiner Bewegungen das Spiel seiner sehr ausgeprägten Muskeln. Er wäre eigentlich der Traum eines jeden Mädchens und der Traum jeder Familie als Schwiegersohn. Wäre da nicht sein Gesicht. Auf der rechten Gesichtsseite zeigt sich eine lange und tiefe Narbe, die vom Kinn über die Wange und das Auge reicht. Sein rechtes Augenlid ist stets geschlossen, denn dort, wo sein rechtes Auge sein müsste, ist nur noch eine leere Augenhöhle. Als junger Kerl verletzte er sich durch das Abprallen seiner Axt beim Baumfällen so, dass er sein Auge verlor und sein heute so entstelltes Antlitz bekam. Da kein Mädel so einen entstellten Bräutigam haben wollte und darüber aber die Menschen langsam zu tuscheln begannen, denn es schickt sich eben nicht, dass ein gesunder, kräftiger junger Mann keine Familie gründet, zog sich Jack mehr und mehr zurück. So kaufte er von dem Geld, was ihm sein Vater, ein fleißiger und sparsamer Mann, vererbt hatte, den Hügel und errichtete sein Haus auf diesem. Seit langer Zeit lebt er nun allein dort und kommt nur ins Dorf, wenn er für seine Vorräte dringend etwas braucht, was er nicht selbst durch seiner Hände Arbeit erlangen kann, und um einmal im halben Jahr beim Pfarrer seine Beichte zu machen. Dass Jack allein und zurückgezogen lebt und der Umstand, dass viele Menschen im Dorf nicht verstehen können, wie Jack den schrecklichen Unfall überhaupt überleben konnte, und der Umstand, dass die alte Kräuterkundige, die Jacks schlimme Wunden behandelt hatte, selbst keinen besonders guten Leumund im Dorf hatte, führt mit der Zeit dazu, dass man den Verdacht hegte, dass Jack mit Geistern oder Dämonen, wenn nicht sogar mit dem Leibhaftigen selbst, im Bunde steht. Dass er regelmäßig zur Beichte geht, blenden die Dorfbewohner einfach aus, wenn sie wieder über Jack Klatsch verbreiten und teilen.
Jack war auf der Jagd und wurde während dieser von einem Unwetter überrascht. Hier in den Bergen wechselt das Wetter manchmal so schnell, dass selbst der erfahrene Jack von einem Wetterumschwung überrumpelt wird. Aber er kennt die Gegend um seinen Hügel und das Tal sehr genau und weiß, wo er Unterschlupf und Schutz finden kann in solch einem Fall. Als die ersten schweren Regentropfen ihn trafen, begab er sich zu einer Lichtung, die er in seiner Nähe wusste, und besah sich den Himmel. Instinktiv wusste er, dass ein schweres Unwetter mit Blitz und Donner im Anmarsch war. Wenn er vor dem wirklich heftigen Teil des Unwetters noch Schutz finden wollte, so musste er sich beeilen. Ausgerechnet heute war er nicht gerade in der Nähe eines ihm bekannten Ortes, wo er vor dem Unwetter sicher war. Gut eine halbe Stunde brauchte er bis dahin. Er schickte sich also an, diese, eine Höhle, zu erreichen. Er hatte den halben Weg hinter sich gebracht, als ein Farbtupfer, der nicht in diese Gegend gehörte und sich strahlend vom Dunkel des Waldes bei einem Unwetter abhob, seine Aufmerksamkeit eroberte. Er schaute genauer hin und sah, dass es ein Mensch war, der leblos an einem Baum gelehnt war. Einen weiteren Augenblick später wurde er gewahr, dass es eine junge Frau war. Sie würde sich, wenn nicht schon geschehen, den Tod holen, ließe er sie einfach zurück und mit dem Unwetter allein. So ging er die paar Schritte zu ihr. Sie atmete noch. Er hob sie mit seinen starken Armen auf und trug sie in die Höhle. Doch nun wusste Jack nicht weiter. Wie ein Tiger in Gefangenschaft lief er vor Nervosität Kreise in der Höhle. Sein Gewissen, seine Moral, schlug ihm einen gehörigen Streich, in dem es zwei Positionen gleichzeitig einnahm: Auf der einen Seite musste die junge Dame aus den nassen Kleidern, sonst erkältet sie sich und erkrankt womöglich schwer, und auf der anderen Seite kann er als Mann doch die junge Dame nicht entkleiden! Währenddessen schwächte sich das Gewitter ab. Jack, hin- und hergerissen, was er nun tun sollte, schaute sich das Mädchen genauer an. Er hatte schon bemerkt, dass sie nicht wirklich viel wog und wie sie jetzt so dalag, fiel ihm die zarte Figur auf. Wenn sie neben ihm stehen würde, würde sie ihm gerade so bis zur Schulter reichen. Trotzdem war ihre Bluse gut gefüllt. Bei dieser Erkenntnis schoss Jack das Blut ins Gesicht. Er spürte, wie ihm das Gesicht vor Röte brannte. Ihr Gesicht war fein geschnitten und wurde von blondem Haar eingerahmt. Auch ihre Hände waren sehr feingliedrig und zeugten eher davon, dass sie nicht schwer arbeiten musste. Auch ihr Kleid zeugte davon, dass sie nicht aus dem Dorf, sondern eher von einer Villa oder einem Schloss kommen müsste.
Der Regen hatte aufgehört und Jack nahm das Mädchen über seine Schulter, um es nach Hause zu tragen. Auch dort würde er sich nicht trauen, ihr die nassen Kleider auszuziehen, aber am Kamin würde sie sich wenigstens am Feuer wärmen können. Die Wärme am Kamin führte bei dem Mädchen zu mehr Farbe in ihrem Gesicht und kurze Zeit später dazu, dass sie aufwachte. Sie sah Jack und erschrak daraufhin sehr. Jack versteckte sein Gesicht und fuhr das Mädchen an, ihn nicht anzuschauen. Er sei hässlich und sie würde sich nur ekeln. Wortlos stand die junge Frau auf und legte Jack ihre zarte Hand auf die Schulter. Jack versuchte, über seine Schulter zu schauen, ohne ihr dabei sein Gesicht zu zeigen, doch die kleine Bewegung seines Kopfes reichte aus, dass sie seine Wange mit ihrer Hand berühren und streicheln konnte. Jack entzog sich ihrer Berührung und ging zu seiner Truhe, wo er Kleidung und Decken, eigentlich alles, was Textilien sind, aufbewahrte und öffnete diese. Verzweifelt schaute er in sie hinein. Er lebt allein. Keine Frau hatte sich je mit ihm abgegeben, geschweige denn war jemals in seinem Haus. Woher sollten Kleider in seine Truhe gekommen sein? Er griff eine Decke und reichte sie dem Mädel und begab sich vor die Tür. Die frische Luft tat Jack sehr gut. Sie roch nach feuchtem Gras und der starke Regen hatte den Staub aus der Luft gewaschen. Am Himmel waren kaum noch Wolken zu sehen. Jack grübelte. Er kann das Mädchen nicht wegschicken. Die Sonne ist fast schon untergegangen. Aus dem Dorf ist sie nicht und man würde sie dort zwar willkommen, aber nicht auf die freudige und freundliche Art, sondern eher widerwillig und duldend, heißen. Aber er konnte schlecht mit ihr in einem Raum übernachten. Das schickt sich nicht. Aber sein Haus hat nur diesen einen Raum. Ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als sich im Schuppen ein Nachtlager herzurichten. Gerade als er diesen Entschluss gefasst hatte und sich zum Schuppen begeben wollte, wurde von innen die Tür geöffnet. Jack trat ein. Die junge Frau hatte sich ihrer nassen Kleidung entledigt und das ihr gereichte Tuch zu einem Wickelkleid gemacht, um damit ihre Blöße zu bedecken. Ihr Kleid hing in der Nähe des Kamines. Und was nun, fragte sich Jack. Er fragte das Mädchen, wie sie denn heißt, erhielt aber keine Antwort. Er fragte mehrfach, ohne eine Antwort zu erhalten. Kurz vor einem Wutausbruch holte Jack tief Luft und fragte, warum sie nicht antworten würde. Ob sie nicht reden könnte. Das Mädchen nickte kaum merklich. Jack hat nichts zum Schreiben im Hause, da diese Utensilien ihm sowieso nichts genützt hätten. Schon als Kind spielte er lieber im Wald, statt in der Dorfschule zu sitzen und bei jeder falschen Antwort vom Lehrer eines mit dem Rohrstock drüber zu bekommen. Was sollte er machen? Er fragte also das Mädchen, ob sie Adelheit hieße. Sie verneinte mit einem Kopfschütteln. Dann fragte Jack sie, ob sie Michaela hieße. Wieder Kopfschütteln. Jack fragte sie nach allen Frauennamen, die ihm in den Sinn kamen und immer schüttelte das Mädel mit dem Kopf. Der letzte Name, der Jack einfiel, war Josefine. Da nickte das Mädel. Josefine sei ein Name, den er nicht mag, erklärte Jack ihr und fragte, ob sie etwas dagegen habe, wenn er sie Josi nenne. Wieder nickte die junge Dame.
Seit dem Gewitter, wo Jack Josi im Wald gefunden und gerettet hatte, ist ein Jahr vergangen. Josi hat sich ständig geweigert, Jack zu erklären, woher sie kam, und Jack brachte es nicht übers Herz, sie wegzuschicken. Sie lernte von Jack, wie man den Haushalt führt und kocht, dafür brachte sie Jack das Lesen und Schreiben sowie das Zählen und Rechnen bei. Die Kommunikation lief nun sehr viel besser zwischen beiden. Aber das Fragen und zur Antwort mit dem Kopf nicken oder diesen zu schütteln behielten sie trotzdem bei. Jack fragte etwas und sie antwortete meist mit einer Geste. Nur wenn sie etwas von ihm wissen wollte, schrieb sie es auf eine Schiefertafel und Jack antwortete ihr mündlich. Letzten Winter, es war ca. ein halbes Jahr nachdem Josi zu Jack kam, war das Feuer in der Nacht im Kamin ausgegangen. Josi fror sehr. Sie weckte Jack, der auf einer provisorischen Schlafstatt in der anderen Ecke des Raumes schlief. Er stellte schnell fest, dass er vergessen hatte, Feuerholz bereitzulegen. Als er nach draußen gehen wollte, um welches zu holen, fiel ihm ein, dass er sogar kein Feuerholz gehackt hatte. Josi sah ihn mit traurigen Augen an. Er brachte es nicht übers Herz, sie frieren zu lassen und so legte er sich zu ihr ins Bett, damit die Körper sich gegenseitig wärmen können.
Wie bereits erwähnt, seit dem Gewitter ist mehr als ein Jahr vergangen. Jack hat jetzt sehr viel zu tun, denn Josi kann keine schwere Arbeit mehr erledigen. Sie trägt die Frucht seiner Lenden und ihrer gemeinsamen Liebe unter dem Herzen.
Seit nunmehr neun Jahren lebt Josi bei Jack. Der kleine Jacky ist lebhaft und eine Freude für die Eltern. Doch Josi geht es seit mehreren Monaten nicht gut. Seit zwei Wochen liegt sie im Bett, kann nicht mehr aufstehen. Am Tag der Sonnenwende wachte Josi dann auch nicht mehr auf. Der Schnitter hatte sie geholt. Jack und Jacky waren unendlich traurig. Es war für beide, als wäre die Sonne für immer hinter den hohen Bergen verschwunden und würde nie mehr für sie aufgehen. Sie begruben Josi, Geliebte und Mutter, unter der Eiche neben dem Haus. Hier saß Josi gerne und blickte gerne ins Tal.
Seit Jack und Jacky ihre Josi unter der Eiche neben dem Haus begraben haben, sind mit der Weile mehr als zwei Neumonde vergangen. Aber noch immer decken die beiden den Tisch für drei Personen. Es erzeugt in ihnen das Gefühl, dass Josi jeden Moment durch die Tür ins Haus kommt und alles so ist wie früher. Sie wissen, dass das nicht passieren wird, aber Gefühle und Wissen sind eben zwei verschiedene Dinge. Sie saßen am Tisch und aßen schweigend ihr Abendessen. Seit Josi nicht mehr da ist, wird sehr viel geschwiegen in dem Haus auf dem Hügel. Plötzlich klopfte es an der Tür. Jack rief, dass derjenige, der um Einlass wünscht, einfach ins Haus kommen soll, die Tür wäre nicht abgeschlossen. Ein altes Männlein tritt ein. Männlein ist die richtige Beschreibung, denn der ungebetene Gast ist noch kleiner und noch zierlicher, als Josi es war. Er sieht sehr, sehr alt aus, bewegt sich aber eher wie ein Mann in den besten Jahren. Er geht direkt auf den leeren Platz am Tisch zu und bedankt sich für die Einladung zum Abendessen und bemerkt, dass Jack oder Jacky wohl mit der Gabe des dritten Auges gesegnet sein müsste, weil für ihn schon gedeckt sei, er seinen Besuch doch aber gar nicht angekündigt hätte. Während Jacky dem Alten Suppe auftat und Jack ihm eine Scheibe Brot abschnitt, erklärte Jack dem Männchen, warum ein drittes Gedeck auf dem Tisch stand. Nachdem alle gegessen hatten, bot Jack dem alten Männchen an, vor der Tür den Ausblick zu genießen und ein Pfeifchen zu rauchen. Das Männlein nahm das Angebot an und Jack trug Jacky an, den Tisch abzuräumen.
Jack rauchte eine Weile lang schweigend mit dem Alten und beide genossen die Aussicht. Der alte Mann brach nach einer Weile das Schweigen und fragte Jack, ob er nicht seine Josi und Jacky nicht seine Mutter wieder haben wollten. Jack sah den Alten erstaunt an. Natürlich wollten er und Jacky, aber aus dem Reich der Toten wird nie jemand wiederkehren. Der Alte schaute Jack an und wuchs dabei zu einer Größe, die Jack sogar noch ein wenig übertraf. Dabei konnte Jack sehen, dass die ohnehin hagere Hand noch knochiger wurde. Ja, sogar im wahrsten Sinne des Wortes, denn Haut und Fleisch verschwanden und nur die Knochen blieben übrig. Vor Jack stand nun der Schnitter persönlich. Der Gevatter. Der Tod selbst stand da, in seiner Kutte, die Kapuze tief in das Gesicht gezogen, sodass man gerade noch so den Schädel ohne Haut und Knochen sah. Aus der dünnen und eher quietschenden Stimme des Männleins war auch eine sonore, tiefe und kräftige Stimme geworden:
„Ich bin der Herr des Reiches, wo die Toten ihr Dasein fristen, höchstpersönlich und es liegt allein in meiner Macht, diese wieder aus diesem Reiche gehen zu lassen und lebendig zu sein. Zumindest für eine Zeit lang.“
Jack musste seinen ganzen Mut aufbringen, um nicht zu flüchten.
„Du und dein Sohn habt mich, so frech ich auch war, nicht des Tisches verwiesen, habt mich bewirtet, das will ich euch nun vergelten und frage zum zweiten und zum letzten Mal: Wollt ihr beide, Mutter und Geliebte wieder haben? Sollte deine Antwort ja sein, so begleite mich.“
Natürlich wollte Jack und er brauchte Jacky nicht fragen, um zu wissen, dass auch er wollte. Aber er könne Jacky nicht allein lassen. Wenn das der einzige Grund für sein Zögern sei, so brauche er sich keine Gedanken zu machen, in der Zeit, die die Sanduhr zweimal umgedreht wird, sei Jack wieder hier und so klein sei Jacky nun auch wieder nicht, dass er nicht ein paar Stunden allein bleiben könnte, wenn Jack zur Jagd sei, wäre Jacky ja auch allein im Hause. Jack überlegte noch einen Augenblick und sagte zu, mit dem Gevatter zu gehen, um Josi wieder in die Welt der Lebenden zu holen. Er rief Jacky durch die Tür zu, dass er dem alten Männlein den Weg zeigen werde und zurück ist, wenn die Sanduhr zweimal gedreht worden ist und dass Jacky artig sein und ein wenig aufräumen solle. Dann folgte Jack dem Gevatter.
Jack erkannte die Höhle, in deren Eingang die Knochenhand des Gevatters zeigte. Es war die Höhle, in der er schon oft Schutz vor plötzlichem Wetterumschwung gesucht hatte und in die er Josi trug, als er sie im Wald fand. Er ging hinein. Sie sah aus wie immer. Nichts deutete darauf hin, dass dies der Eingang zum Reich des Todes ist. Der Sensenmann ging nun wieder vor und Jack folgte ihm. Es waren verschlungene Pfade, die sie gingen. So verschlungen, dass große Felsbrocken und Geröll vom Eingang der Höhle den Eindruck erweckten, dass es keinen Weg gäbe. Nach einer kurzen Weile öffnete sich der Pfad zu einer weiteren Höhle. Ein Raum, der so groß war, dass Jack trotz zahlreicher Fackeln, die dort brannten, mit Blicken nicht ermessen konnte, wie weit die Ausdehnung der Höhle wirklich ist. Der Tod führte Jack an eine Wand der Höhle, wo ein kleines Bächlein plätscherte. In diesem Bach schwammen kleine Boote und Flöße mit brennenden Talglichten. Einige noch recht hoch, andere fast abgebrannt und alle Stufen dazwischen. Der Tod wies mit seiner Hand auf die Lichter und erklärte, dass das die Lebenslichter aller lebenden Menschen seien. Er gab Jack ein Boot mit einer gänzlich heruntergebrannten und erloschenen Kerze und erklärte, dass das das Lebenslicht von Josi ist. Er braucht nur ein Licht aus dem Bach nehmen, um damit Josis Lebenslicht wieder zu verlängern und zu entzünden. Jack sah den Tod mit Entsetzen an. Der Tod fragte Jack, was ihn denn so entsetzen würde, er hätte jetzt die einmalige Chance, Josi, seine Geliebte und die Mutter von Jacky, wieder zu bekommen. Jack erklärte, dass dies aber nur auf Kosten eines anderen Menschen gehe. Wolle er Josi das Leben zurückgeben, so müsse er einem anderen Menschen das Leben nehmen. Der Tod erwiderte ihm, dass Jack das richtig erkannt hat, aber so ist es nun einmal. Nichts sei umsonst, nicht einmal der Tod, erklärte er mit einem sichtbaren breiten Grinsen, denn der Tod kostet das Leben. Außerdem, so fragte der Sensenmann, warum mache Jack sich da solche Gewissensbisse. Haben die Menschen ihm nicht immer und immer wieder gezeigt, dass sie nichts von ihm hielten? Warum lebe er denn einsam in einem Haus weit ab von den anderen im Dorf? Mit diesem Argument hatte der Tod Jack überzeugt. Bisher hatten die Menschen, bis auf Josi, nur Verachtung für ihn. Haben ihm sogar angedichtet, mit Dämonen im Bunde zu stehen. Warum solle er sich also um diese Gedanken machen? Er suchte sich ein Talglicht aus, welches gut die Hälfte heruntergebrannt war. Sein Gewissen ließ es nicht zu, einem Kind das Leben zu nehmen, außerdem solle Josi nicht lange zu leiden haben, wenn sein Licht heruntergebrannt war. Dieses Licht setzte er auf das erloschene Licht von Josi. Gevatter Tod sagte, dass das schon alles war. Er könne wieder nach Hause gehen und wird dort Josi gesund und lebendig finden. Bevor Jack noch etwas erwidern konnte, machte der Sensenmann eine ausladende Bewegung mit seinem Arm und Jack fand sich vor der Höhle wieder.