Drei opulente Historiensagas November 2023 - Alfred Bekker - E-Book

Drei opulente Historiensagas November 2023 E-Book

Alfred Bekker

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Romane: Der Medicus von Konstantinopel (Alfred Bekker/Silke Bekker) Gestatten, D'artagnan! (H.Bedford-Jones) Das Gewand (Lloyd C. Douglas) Konstantinopel Mitte des 15. Jahrhunderts: Das byzantinische Reich zerfällt, und die Türken rücken näher. Die Kaiser werden Opfer von Intrigen – oder der Pest. Mit dem Wüten des Schwarzen Todes übernehmen Angst und Aberglaube die Herrschaft. Auch der Bruder Maria di Lorenzos hat sich einer Sekte angeschlossen, und die junge Frau muss das Handelshaus der Familie alleine führen. Als sie dem Arzt Wolfhart begegnet, entspinnt sich eine leidenschaftliche Liebe. Wolfhart ist in der Stadt, um Fausto Cagliari zu treffen, den berühmtesten Pest-Arzt seiner Zeit. Doch er muss erkennen, dass Cagliari einen wahrhaft teuflischen Plan verfolgt …

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Lloyd C. Douglas, Alfred Bekker, Silke Bekker, H.Bedford-Jones

Drei opulente Historiensagas November 2023

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Inhaltsverzeichnis

Drei opulente Historiensagas November 2023

Copyright

Der Medicus von Konstantinopel: Historischer Roman

Gestatten, D‘Artagnan! Historischer Roman

Das Gewand: Historischer Roman

KAPITEL I

KAPITEL II

KAPITEL III

KAPITEL IV

KAPITEL V

KAPITEL VI

KAPITEL VII

KAPITEL VIII

KAPITEL IX

KAPITEL X

KAPITEL XI

KAPITEL XII

KAPITEL XIII

KAPITEL XIV

KAPITEL XV

KAPITEL XVI

KAPITEL XVII

KAPITEL XVIII

KAPITEL XIX

KAPITEL XX

KAPITEL XXI

KAPITEL XXII

Teil dein Geld mit ihnen und sieh zu, wie du zurechtkommst, brummte Kaeso.

KAPITEL XXIII

KAPITEL XXIV

KAPITEL XXV

Drei opulente Historiensagas November 2023

Alfred Bekker, Silke Bekker, Lloyd C. Douglas, H. Bedford-Jones

Dieser Band enthält folgende Romane:

Der Medicus von Konstantinopel (Alfred Bekker/Silke Bekker)

Gestatten, D'artagnan! (H.Bedford-Jones)

Das Gewand (Lloyd C. Douglas)

Konstantinopel Mitte des 15. Jahrhunderts: Das byzantinische Reich zerfällt, und die Türken rücken näher. Die Kaiser werden Opfer von Intrigen – oder der Pest. Mit dem Wüten des Schwarzen Todes übernehmen Angst und Aberglaube die Herrschaft. Auch der Bruder Maria di Lorenzos hat sich einer Sekte angeschlossen, und die junge Frau muss das Handelshaus der Familie alleine führen. Als sie dem Arzt Wolfhart begegnet, entspinnt sich eine leidenschaftliche Liebe. Wolfhart ist in der Stadt, um Fausto Cagliari zu treffen, den berühmtesten Pest-Arzt seiner Zeit. Doch er muss erkennen, dass Cagliari einen wahrhaft teuflischen Plan verfolgt …

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

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Alles rund um Belletristik!

Der Medicus von Konstantinopel: Historischer Roman

Alfred Bekker und Silke Bekker

Alfred Bekker und Silke Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 498 Taschenbuchseiten.

Konstantinopel Mitte des 15. Jahrhunderts: Das byzantinische Reich zerfällt, und die Türken rücken näher. Die Kaiser werden Opfer von Intrigen – oder der Pest. Mit dem Wüten des Schwarzen Todes übernehmen Angst und Aberglaube die Herrschaft. Auch der Bruder Maria di Lorenzos hat sich einer Sekte angeschlossen, und die junge Frau muss das Handelshaus der Familie alleine führen. Als sie dem Arzt Wolfhart begegnet, entspinnt sich eine leidenschaftliche Liebe. Wolfhart ist in der Stadt, um Fausto Cagliari zu treffen, den berühmtesten Pest-Arzt seiner Zeit. Doch er muss erkennen, dass Cagliari einen wahrhaft teuflischen Plan verfolgt …

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Anno Domini 1448 – 1453

Die letzten Tage des Neuen Roms…

Erstes Kapitel: Das Unheil ist nah

Pera bei Konstantinopel...

Das flackernde Licht Dutzender Fackeln ließ unzählige Schatten tanzen. Flammen loderten auf und dunkler Rauch quoll aus den Fenstern des zweistöckigen, herrschaftlichen Hauses an der Via del Piero in Pera, der Genueser Kolonie bei Konstantinopel.

Maria di Lorenzo zitterte und murmelte dabei ein Gebet. Das lange, kastanienbraune Haar fiel ihr unfrisiert und angegraut durch die Asche, die man ihr aufs Haupt gestreut hatte, über die Schultern. Die Lippen der jungen Frau bewegten sich flüsternd.

„Oh Herr, was haben wir getan“, flüsterte ihr Bruder Marco, gerade 22 Jahre alt und damit anderthalb Jahre älter als Maria. „Der jüngste Tag ist nahe und das Tier Satan wütet über die Erde...“

Die Pestknechte mit ihren schweren Umhängen und den Schnabelmasken riefen durcheinander und luden dabei zwei menschliche Körper auf den Karren. Es waren die bleichen, von Beulen gezeichneten Leiber von Marias Eltern, die der faulige Pesthauch befallen und innerhalb kürzester Zeit dahingerafft hatte. Getrocknetes Blut war ihnen aus Mund und Nase geronnen. Maria wollte sich dem Wagen nähern, aber einer der Pestknechte hielt sie auf und stieß sie grob zurück. Tränen rannen ihr über das Gesicht.

„Bleibt, wo Ihr seid und freut Euch der Zeit, die der Herr Euch noch gelassen hat!“

Der Blick hinter den Augenlöchern der Schnabelmaske wirkte unruhig.

Maria schluckte. Sie hätte schreien mögen und konnte es doch nicht. Ein dicker Kloß steckte ihr im Hals und schien sie daran zu hindern, auch nur einen einzigen Ton herauszubringen. Nicht einmal ein Gebet wollte jetzt mehr über ihre Lippen kommen.

Ein kühler Wind wehte über das Goldene Horn, jenen Meeresarm, in dem der von einer gewaltigen Eisenkette geschützte kaiserliche Kriegshafen lag. Diese Kette wurde bei Gefahr hochgezogen, um fremde Schiffe an der Einfahrt zu hindern und die eigene Flotte zu schützen. Aber das Wasser des Goldenen Horns, das Pera von der eigentlichen Stadt trennte, schützte keineswegs vor dem Miasma, dem Hauch des Bösen, der aus den Tiefen der Erde hervorquoll und so viel Leid und Verzweiflung über die Menschen brachte. Wenn irgendwo zwischen den rattenverseuchten Straßen Konstantinopels mit ihren verwinkelten Fachwerkhäusern der Schwarze Tod umging, dann zogen die Wolken der Fäulnis und des Übels einfach über das Wasser und selbst eine Quarantäne war oft genug ohne Wirkung geblieben. Konstantinopel war in den letzten hundert Jahren mehr als ein Dutzend mal von der Pestilenz heimgesucht worden. Manche sagten, dass der böse Hauch die Ratten im Schlamm der unterirdischer Kanäle wachsen ließ und unsichtbare Insekten nähre, die in Mund und Nase der Menschen eindrangen und sowohl Körper als auch die Seele verdarben.

Aus dem Halbdunkel waren Gesänge zu hören. Eine Prozession von Büßern zog durch die Straßen von Pera. Die Teilnehmer trugen graue Gewänder und flehten darum, vor dem jüngsten Gericht Gnade zu finden.

Die Flammen schlugen jetzt immer höher aus den Fenstern.

Die Luft war erfüllt von den scharfen, ätherischen Dämpfen. Es sollte nicht nur alles verbrennen, was sich im Haus befand, sondern es musste darüber hinaus auch ausgeräuchert werden. Die scharfen Dämpfe bestimmter Öle konnte das Übel vielleicht für lange Zeit zurück in die niederen Erdspalten und Sümpfe vertreiben, aus denen es gekrochen sein mochte.

Knarrend setzte sich der Wagen in Bewegung.

„Wir werden alle sterben und der Verdammnis anheimfallen“, murmelte Marco neben ihr. Seine Augen wirkten glasig. „Satan ist mächtiger als Gott, sonst könnte das alles nicht geschehen!“

„Was redest du?“, fragte Maria entsetzt.

Marco sah sie an. Das Licht der Fackeln spiegelte sich in seinen dunklen Augen.

„Wie könnte es sonst sein, dass es kein Mittel gegen das Übel gibt, das uns heimsucht.“

„Du versündigst dich!“

Maria schlug ein Kreuzzeichen. Marco di Lorenzo neigte schon seit ein paar Jahren immer wieder zu Äußerungen, die der Ketzerei nahe kamen und anderswo vielleicht auch entsprechend verfolgt worden wären. Aber bis hier her, in den Herrschaftsbereich des Kaisers von Konstantinopel, reichte die Macht der römischen Kurie nicht – allen Gerüchten um eine bevorstehenden Wiedervereinigung von Ost- und Westkirche zum trotz, die immer dann von Neuem aufkamen, wenn die Truppen des osmanischen Sultans dem schrumpfenden Kaiserreich mal wieder irgendeinen Zipfel Land wegnahmen oder gar vor die Mauern der Stadt selbst vorrückten. Insgeheim hoffte so mancher, dass ein Heer der Vereinigten Christenheit Konstantinopel vor den Osmanen rettete. Aber diese Hoffnung schien genauso trügerisch zu sein wie jene, dass die Pestilenz die Stadt in Zukunft verschonte.

„Satan siegt! Das Tier des Unheils ist überall!“, rief Marco und übertönte damit sogar die Gesänge.

Marias Augen waren tränenblind. Sie murmelte ihre Gebete vor sich bin, so als würde eine geheime Kraft ihre Lippen bewegen und die Worte formen. Es schien von selbst zu geschehen.

Undeutlich hörte sie einen der Pestknechte etwas sagen, während sich der Zug, einem schaurigen Totentanz gleich, vorwärts bewegte. „Die Erben der Familie di Lorenzo haben Glück“, murmelte der Pestknecht unter seine Maske. „Das Haus ist aus Stein und wenn es ausgeräuchert ist, werden wenigstens die Mauern noch stehen...“

Ein leichter Regen setzte ein und sehr bald schon klebten Maria die Haare im Gesicht.

Sie folgte dem Wagen durch die Gassen. An viele Türen war eine umgedrehte 4 mit schwarzer Farbe aufgemalt worden – ein Kreuz, das ohne dabei abzusetzen mit einem einzigen Strich aufgetragen worden war. Ein Zeichen gegen den Schwarzen Tod, diese Geißel, die Gott einfach nicht von den Menschen Konstantinopels nehmen wollte. Er allein musste wissen, weshalb. An manchen dieser Türen war nicht Farbe, sondern Blut verwendet worden. Schafblut – so wie das Volk Israel vor seinem Aufbruch aus Ägypten seine Häuser gezeichnet hatte, damit der Todesengel vorüberging, den Gott gesandt hatte, um die Erstgeburt der Ägypter zu töten. Aber dieser alte Zauber schien nicht mehr zu wirken. Maria kannte mindestens ein Dutzend Häuser, in die der Schwarze Tod trotz dieser schützenden Zeichen Einzug gehalten hatte. Der Todesengel schlug scheinbar wahllos zu und holte sich, wen immer er wollte. Und es schien einfach keine Macht zu geben, die der Willkür seiner unberechenbaren Kraft hätte Einhalt gebieten können.

Der Regen war stärker geworden, als sie den Gebeinacker vor den Mauern von Pera erreichten, wo die Toten von den Pestknechten in Gruben geworfen wurden. Es gab keine Särge mehr zu kaufen und schon vor Wochen nahm man weder auf Konfession noch Stand Rücksicht. Selbst die mehrfach benutzbaren Pestsärge, an deren Unterseite eine Klappe angebracht war, sodass die Toten herausfielen, wenn man sie löste und der Sarg wieder aus der Grube hob, wurden nicht mehr verwendet. Ihr Holz war dunkel geworden vom blutigen, fauligen Auswurf, der den Toten noch aus dem Mund und anderen Körperöffnungen oder den aufgeplatzten Beulen rann, sodass die Pestilenz längst darin wohnte. Der Regen, der in diesem Jahr so stark wie selten war, hatte das Holz zusätzlich mit Fäulnis geschlagen und die häufig schon jahrelang verwendeten Pestsärge morsch und brüchig werden lassen, sodass die rostigen Nägel aus ihnen herausbrachen. Und es gab kaum noch Zimmerleute, die bereit und in der Lage gewesen wären, sie zu ersetzen. Die einen waren selbst vom Pesthauch geschlagen und lagen darnieder, die anderen hatte das Miasma der Furcht sich verkriechen lassen, denn manche Handwerker glaubten, dass ihnen das Anfertigen eines Pestsargs Unglück brächte und vielleicht sogar die Pestilenz erst anlockte.

Der Regen fiel jetzt in dicken Tropfen. Der Boden zu Marias Füßen war aufgeweicht. Das Wasser sammelte sich in Pfützen und trieb überall die Ratten aus ihren Löchern, die völlig die Furcht verloren hatten und wie trunken über den Acker schlichen – so wie man sie in den Straßen antreffen konnte.

Pater Matteo da Creto versuchte diesem Augenblick einen letzten Rest von Würde zu geben. Er sprach ein Gebet, hatten doch die meisten der Toten schon keine heiligen Sakramente mehr empfangen können, bevor sie dahingeschieden waren. Pater Matteo war der letzte Priester der römischen Kirche, den es zurzeit in Pera noch gab. Alle anderen waren entweder geflohen, oder in Ausübung ihrer Pflichten gestorben. Matteo war ein Mann in den Vierzigern. Sein Gesicht war fleckig und von Narben entstellt. Man sagte, er habe in seiner Kindheit als einziger eine Pestepedemie in dem Dorf Creto, unweit des gleichnamigen Berges bei Genua überlebt. Während der Schwarze Tod das ganze Dorf hinweggerafft hatte, war der Junge nach am leben gewesen. Reisende Mönche nahmen ihn mit – trotz der Tatsache, dass der kleine Matteo jene Geschwüre trug, wie sie der Schwarze Tod häufig mit sich brachte. Aber die Mönche nahmen ihn dennoch zu sich und pflegten ihn. Dass er gesundete, werteten sie als ein Wunder. Es musste ein Zeichen sein, mit dem der Herr ihre Menschlichkeit und Nächstenliebe belohnt hatte.

Seitdem, so verkündete es Matteo da Creto immer wieder von der Kanzel, wenn er die Messe las, kannte er keine Furcht. Nicht vor dem Schwarzen Tod und auch nicht vor den osmanischen Heiden, die der Lehre Mohammeds folgte und deren Kanonenschläge selbst aus meilenweiter Ferne die Mauern Konstantinopels erzittern ließen.

Und so stand Matteo nun da und sprach unbeirrbar seine Gebete. Genauso unbeirrbar deckten die Pestknechte die Toten mit Erde zu, auf das mit ihnen das Böse dorthin verschwände, wo es hergekommen war.

„Der Beweis ist erbracht“, hörte Maria ihren Bruder Marco mit schreckensbleichem Gesicht und weit aufgerissenen Augen sagen. „Satan ist mächtiger als Gott es je war!“

„Hör auf, so zu reden!“, widersprach Maria.

„Es ist die Wahrheit, Schwester! Auch wenn du sie vielleicht nicht ertragen kannst! Wohin du auch siehst, siegt das Böse!“

Sie gingen jetzt um das Grab herum, während der Karren bereits wieder fortgerollt wurde und die Pestknechte aufs Neue ihrer schauerlichen Arbeit nachgingen. Von der anderen Seite der Begräbnisstätte hörte man lautes, hemmungsloses Wehklagen. Schreie, von Männern, Frauen und Kindern, die in ihrer Trauer nicht einmal mehr zu einem Gebet fähig waren und das Vertrauen in den Herrn offenbar verloren hatten wie es bei Marco der Fall war.

„Der Herr hat das Übel geschaffen, um die Gläubigen zu prüfen“, sagte Matteo da Creto, der Marcos Worte sehr wohl gehört hatte.

„Ach ja? Und im Moment prüft er wohl gerade uns?“

„Vertraue auf seine Führung, wie es dein Vater und deine Mutter getan hätten!“

„Man sieht, was ihnen das gebracht hat!“, rief Marco so laut, dass sich einer der unter seiner Maske wie ein unmenschliches, grauenvolles Fabelwesen der Hölle aussehender Pestknecht noch einmal umdrehte, bevor er den anderen folgte.

Matteo legte Marco eine Hand auf die Schulter.

In diesen Tagen, da sonst so gut wie niemand es wagte, einen anderen zu berühren, aus Angst sich anstecken zu können und in der es manche Geistliche sogar vermieden, das Abendmahl zu reichen, war Pater Matteo eine Ausnahme. Ein menschgewordenes Zeichen der Furchtlosigkeit; jemand, der allein dadurch, dass er noch lebte, zu beweisen schien, dass der Herr auf seiner Seite sein musste und das, was er sagte, offenbar durch ihn inspiriert war.

Pater Matteos Blick ruhte für einige Momente nachdenklich auf dem jungen Mann.

„Du und deine Schwester, ihr braucht jetzt einander“, sagte der Geistliche schließlich. „Es wird schwer genug werden, das Handelshaus di Lorenzo zu erhalten...“

Marco lachte heiser. „Sorgt Ihr Euch um die Stiftungen, die mein Vater der Kirche überließ? Um das Krankenhaus von Pera, in dem Christen, Juden und Muslime zusammen mit den Armen von der Straße behandelt werden?“

Pater Matteos von Narben übersätes Gesicht blieb unbewegt. Seine dunklen Augen musterten Marco eindringlich. „Für die Toten können wir nichts mehr tun. Sie sind in der Hand des Herrn. Aber ich sorge mich um dein Seelenheil, Marco!“

„Und um das Geld unserer Familie!“

„Ich kenne dich beinahe von Geburt an, mein Junge! Ich habe dich getauft und habe deiner Mutter geraten, dir den Namen eines Evangelisten zu geben! Wenn du mir Geldgier unterstellst, bist du wirklich im Irrtum. Ich will euch nur helfen!“

„Ach, ja?“

„Marco!“, fuhr Maria dazwischen.

„Du bist zu arglos, Maria!“ Er drehte sich um und ging davon.

Maria sah ihm nach.

„Sieh nicht auf das, was ihr verloren habt, sondern auf das, was noch blieb“, sagte der Pater. „Denn nur letzteres führt dazu, dem Herrn zu danken, anstatt ihn unbedachterweise zu verfluchen, was auf den ersten Blick so viel näherliegend zu sein scheint.“

„Ja“, flüsterte Maria. „Wenn ich in ein paar Wochen noch lebe, dann will ich das gerne tun...“

Tage später...

Eine Barkasse legte im Eutherios-Hafen von Konstantinopel an. Gleichmäßig tauchten die Ruderblätter in das dunkle Wasser. Nebelschwaden hingegen in diesen letzten dunklen Stunden der Nacht über dem Wasser und quollen wie ein unheimlicher Hauch die Uferböschungen empor und hüllten die Schutzmauern ein. Die Lichter von Laternen waren nur als helle, verwaschene Flecke zu sehen.

Maria saß am Bug und blickte der Einfahrt zu diesem größten Hafen Konstantinopels entgegen. Unter Justinian oder Basileios II. war Eutherios der größte Handelshafen der Welt gewesen, aber auf diesen Glanz war ein immer größerer Schatten gefallen. Dass Konstantinopel so viel häufiger als andere Städte von der Pest heimgesucht wurde, war dabei nur einer der Gründe. Ein noch entscheidenderer Umstand war wohl die militärisch zunehmend verzweifelte Lage, in der sich das bis auf ein paar kleine Landgebiete in unmittelbarer Nähe der Stadt und einigen Exklaven auf dem Peloponnes und in paar griechischen Inseln geschrumpfte Imperium befand. Eines konnte allerdings niemand der Stadt nehmen: ihre Lage am Eingang zum Bosporus. Und der Schiffsverkehr zu den Ländern am pontischen Meer hatten nichts an Bedeutung verloren. Allerdings war Konstantinopel weit davon entfernt, den Schiffsverkehr dorthin noch allein kontrollieren zu können. Der größte Teil dieser Meerenge war längst im Besitz des osmanischen Sultans und sämtliche Besitzungen am Asiatischen Ufer hatte der Kaiser schon vor Jahren verloren.

Maria dachte darüber nach, ob es nicht vielleicht das beste war der Stadt den Rücken zukehren. Seit Generationen waren die di Lorenzos hier ansässig. Vor fast zwei Jahrhunderten hatten Genueser dabei geholfen, die Stadt zurückzuerobern und Niccolo Andrea di Lorenzo, ein Vorfahre Marias, hatte sich mit seinem Schwert und seinem Geld an diesem Unternehmen beteiligt und war dafür reich belohnt worden. Das war die Grundlage für den Reichtum der Familie und den Aufbau des Geschäfts gewesen. Die Privilegien, die man Niccolo Andrea gewährte, hatten das Handelshaus schnell wachsen lassen. Jede Generation hatte ihren Beitrag dazu geleistet, seinen Reichtum und seinen Einfluss zu mehren. Genua, die alte Heimat, blieb der wichtigste Herkunftsort der Waren, mit denen das Haus di Lorenzo handelte. Maria und Marco hatten beide ein paar Jahre bei Genueser Verwandten verbracht und dort den Unterricht von Hausgelehrten genossen. Aber als ihre eigentliche Heimat hatte Maria immer die Straßen von Pera empfunden und jenes Haus, das jetzt nur noch eine rauchende Ruine war.

Marco saß in der Mitte der Barkasse. Er wirkte völlig in sich versunken und blickte starr ins Nichts. Seitdem die Barkasse sie beide am Galata-Turm an Bord genommen und mit ihnen die Altstadt umfahren hatte, war er vollkommen schweigsam gewesen. Er brütete finster vor sich hin und schien die neue Situation einfach nicht annehmen zu können.

Eigentlich hatte Marco die Führung des Handelshauses übernehmen sollen. Maria klangen noch gut die Worte ihres Vaters im Ohr, die sein Bedauern darüber widerspiegelten, dass Marco sich nie mit jener Intensität für das Geschäft interessiert hatte, die sein Vater sich gewünscht hätte. Oft genug war deswegen Streit zwischen den beiden aufgeflammt. Schlussendlich aber hatte sich dann wohl die Erkenntnis durchgesetzt, dass Marco di Lorenzos aufbrausende, zur Unberechenbarkeit neigende Art die Zukunft des Handelshauses gefährdete. Nicht zuletzt deswegen war im Testament die alleinige Verfügungsgewalt nicht auf ihn übertragen worden. Marco sah darin eine nachträgliche Bestrafung dafür, dass er oft so unbotmäßig gewesen war, während sein Vater nichts anderes als die Bewahrung dessen im Sinn gehabt hatte, was mehrere Generationen von di Lorenzos mit Schweiß und Blut aufgebaut hatten. Dass der Handelsherr seinen letzten Willen bereits zu Lebzeiten und in bester Gesundheit öffentlich gemacht hatte, musste Marco als zusätzliche Schmähung empfinden. Nach Marias Eindruck war es dadurch zum endgültigen und nicht wieder gut zu machenden innerliche Bruch zwischen Vater und Sohn gekommen.

Was jetzt werden würde, war nicht gewiss.

Fest stand nur, dass Maria und ihr Bruder zu gleichen Teilen das Vermögen und die Besitztümer ihrer Eltern geerbt hatten und dass es deren sehnlichster Wunsch gewesen wäre, wenn sich in der nächsten Generation dieser Besitz erhalten und mehren würde, sodass er die Lebensgrundlage ihrer Nachkommen sein konnte.

Die sechs kräftigen Ruderer, die die Barkasse jetzt mit ihren Ruderschlägen in die offene, durch Leuchtfeuer gekennzeichnete Einfahrt des Eutherios-Hafens trieben, waren griechische Tagelöhner, die für ein paar Münzen angeheuert worden waren, um Marco und Maria di Lorenzo unter Umgehung aller Quarantäne-Bestimmungen in den Eutherios-Hafen zu bringen. Niemand, der aus Pera kam, hatte im Moment irgendeine Möglichkeit, den Meeresarm zu überqueren, den man das Goldene Horn nannte und dieses Viertel vom eigentlichen Konstantinopel trennte. Jener Stadtteil, der von der Pest betroffen waren, sollten isoliert bleiben. Aber es gab nicht genug Kräfte, um das wirklich kontrollieren zu können. Und die wenigen Männer, die der Kaiser unter Waffen hatte, waren vorrangig für andere Aufgaben vorgesehen - zum Beispiel dafür, die große theodosische Mauer zu besetzen, die schon Hunnen und Goten getrotzt hatte und nun, seit geraumer Zeit auch als letztes Bollwerk gegen die türkischen Osmanen diente.

Davon abgesehen verfügte das Haus di Lorenzo über beste Beziehungen zur Hafenverwaltung. Das war nicht nur in Zeiten der Pest eine Überlebensfrage für jeden, der in größerem Stil in jener Stadt, die man auch das neue Rom nannte, Handel treiben wollte.

Die Barkasse legte schließlich an. Einer der Griechen sprang an Land und vertäute sie.

„Eure Fahrt ist zu Ende, Herrin“, sagte der Steuermann an Maria gerichtet. Er sprach Griechisch. Maria beherrschte diese Sprache ebenso gut wie ihren Genueser Dialekt oder das Lateinische, das sie in seiner reinen und klaren Form hatte erlernen müssen, da es noch immer die Lingua Franca der christlichen Länder war.

Maria stieg an Land. Sie fühlte sich so schwach wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Ein flaues, drückendes Gefühl machte sich in ihrer Magengegend bemerkbar. Sie hatte in den letzten Tagen nichts gegessen und sehr wenig getrunken. Dieses Fasten war noch nicht einmal Teil der Bußgebete gewesen, die sie in Kapelle am Ende der Via del Piero in Pera absolviert hatte. Vielmehr hatte sich einfach keine Gelegenheit gefunden. Und davon abgesehen konnte jeder Laib Brot, jeder Schluck Wasser und alles, was sonst in den Körper drang, auch die Pestilenz mit sich bringen, von der bisher niemand wirklich wusste, was sie auslöste und verbreitete. Sie war wie die Pfeile eines Armbrustschützen, der im Hinterhalt lauerte. Nur er allein wusste, auf wen er zielte, aber für diejenigen, deren Körper von den Bolzen zerschmettert wurden, war es wie ein Schlag aus heiterem Himmel. Etwas, gegen das es keine Verteidigung geben konnte. Das vor allem machte es so grauenvoll.

Marco folgte seiner Schwester.

In der Nähe der Kaimauer war der Schatten eines zweispännigen Wagens zu sehen, der sich aus dem aufkommenden Nebel abhob. Eine hochgewachsene Gestalt trat auf Maria und Marco zu. Eine der wenigen Öllaternen, die die ganze Nacht über den Bereich in unmittelbarer Nähe der Kaimauer erhellten, beschien das stark konturierte Gesicht eines Mannes von unbestimmtem Alter. Das Haar an seinen Schläfen war grau, ebenso der Bart, der sein ohnehin sehr spitz zulaufendes Kinn noch stärker hervorhob.

Er trug eine Lederkappe mit Fasanenfeder und einen langen Rock. An dem breiten Gürtel hing neben einer Geldbörse auch ein kurzes Seitschwert, wie es viele Händler und Kaufleute mit sich führten – zumeist mehr zur Zierde als um sich im Ernstfall tatsächlich damit zu verteidigen.

„Davide!“, stieß Maria hervor.

„Kommt! Wir sollten hier kein unnötiges Aufsehen erregen!“

„Sind die Hafenwächter nicht immer mit ausreichenden Zuwendungen bedacht worden?“, fragte Marco höhnisch.

Davide wandte den Blick an Marco. „Ihr könnt sicher sein, dass uns die Hafenwache treu ergeben ist. Trotzdem ist es besser, wenn man euch nicht im Bußgewand und mit Asche auf dem Haupt sieht.“

„Muss man sich jetzt schon für seine Bereitschaft zur Buße schämen?“, spottete Marco.

„Wo gebüßt wird, ist auch der Grund für die Buße zu Hause – und das ist die Sünde“, erwiderte Davide ruhig. „Und die wiederum lockt das unsichtbare Fliegengeschmeiß an, das die Pestilenz verbreitet, in dem es in Nasen und Ohren hineinkriecht.“

„Ach so ist das!“

„Ja, so ist das!“

Nur mit Mühe schien Davide den Ärger über Marcos herablassenden Tonfall beherrschen zu können. Vielleicht ahnte Davide auch, dass Marcos Überheblichkeit gegenüber Bediensteten nach dem Tod der Eltern wohl vollkommen ungehemmt zum Vorschein kommen würde, sodass jeder, der für das Haus di Lorenzo arbeitete, schwierige Zeiten zu erwarten hatte.

Davide führte die beiden Geschwister zum Wagen. Sie stiegen auf und der Kutscher trieb die Pferde voran. In halsbrecherischer Geschwindigkeit jagte der Wagen die Gassen entlang und erreichte wenig später die Mese, jene große Ost-West-Straße in Konstantinopel, die vom Goldenen Tor am Südende der theodosischen Mauer über das Forum Tauri vorbei am ehemaligen Hippodrom führte, das inzwischen zu einem unkrautüberwachsenen Ruinenfeld und Steinbruch verkommen war. Die Mese endete schließlich vor dem Kaiserpalast.

Der Wagen nahm die Mese in westliche Richtung, während im Osten, jenseits der unübersehbaren großen Kuppelbauten und des gewaltigen Hippodroms das verwaschene Licht des neuen Tages im Nebeldunst heraufdämmerte.

„Ich habe die Gästeräume des Kontors herrichten lassen. Dort werdet ihr bis auf Weiteres wohnen“, erklärte Davide in der ihm eigenen, ruhigen Art.

„Habt Dank, Davide“, sagte Maria. „Wir wüssten nicht, was wir ohne Euch tun sollten!“

„Ich habe Eurem Vater und sogar noch Eurem Großvater treu gedient“, erklärte Davide. „Und es ist für mich eine Selbstverständlichkeit, jetzt dazu beizutragen, dass das Handelshaus di Lorenzo diesen schwersten Schlag seiner Geschichte überlebt... Es geht um die Zukunft, Maria!“

Ein mattes, schwaches Lächeln glitt über Marias Gesicht. „Das sind auch die letzten Worte, die Vater zu uns sagte, kurz bevor das Leben ihn verließ...“

„So sollten wir alles tun, um sein Vermächtnis zu bewahren! Und Euer Vater hat mir dazu die Vollmachten über seinen Tod hinaus gegeben.“

Davide entstammte einer traditionsreichen levantinischen Familie von arabischen Christen, die ursprünglich in Alexandria ansässig gewesen war. Für das Haus di Lorenzo war er seit langem als Schreiber und Prokurist beschäftigt gewesen.

Sein eigentlicher arabischer Name, unter dem er geboren worden war, lautete Daud al-Kaatib - „David der Schreiber“.

Gegenüber den Genuesern und Venezianern in Konstantinopel nannte er er sich hingegen Davide Scrittore, während er unter der griechischsprachigen Mehrheit Konstantinopels seinen Namen in David Syngraféas übersetzte.

Für Maria war er von klein auf einfach nur 'Davide' gewesen – ein Mann, der mehr als nur ein treuer Freund des Hauses war. Abgesehen von ihren Eltern vertraute sie allenfalls noch Pater Matteo da Creto auf ähnliche Weise. Und was die Zukunft des Hauses di Lorenzo anging, würden dessen Erben auf die Hilfe und den Beistand des Levantiners mehr angewiesen sein denn je.

„Ein Arzt wird Euch gleich nach Eurer Ankunft beide eingehend untersuchen“, erklärte Davide.

„Ein Arzt?“, echote Maria und in ihrem Tonfall schwang durchaus mit, dass ihr diese Aussicht nicht allzu sehr behagte. Wie hilflos hatte sie doch schon allzu oft die Ärzteschaft im Angesicht dieser furchtbaren Krankheit gesehen. Nicht einmal die fortgeschrittene Medizin der Araber schien gegen die Pest ein Heilmittel zu kennen. Und vielleicht gab es das auch gar nicht. Vielleicht hatten alle diejenigen Recht, die in dieser Seuche eine Geißel Gottes sahen, der man nur durch Frömmigkeit und ein gottgefälliges Leben, aber nicht durch Heilgetränke von beißendem Duft entgehen konnte, deren Dämpfe nur in den Augen brannten, aber das Übel nicht aus den Körper herauszubrennen vermochten.

„Es handelt sich um den fähigsten Pestarzt der ganzen Christenheit. Angeblich hat sogar der große Paracelsus von ihm gelernt und er soll die polnische Stadt Warschau mit seinen Maßnahmen vor einer drohenden Pestepedemie bewahrt haben. Der Doge von Venedig soll ihn angeblich als Berater zu halten versucht haben, aber nicht einmal die gut gefüllten Schatzkammern Venedigs waren ausreichend, um diesen außergewöhnlichen Mann weiter bezahlen zu können!“

„Wenn er Reichtum sucht – was will er dann in dem elend heruntergekommenen Konstantinopel?“, fragte Maria. „Und in wessen Dienste steht er hier, wenn schon der Doge ihn nicht zu bezahlen vermag?“

Davide lächelte nachsichtig. Er stieß ein Stoßgebet in arabischer Sprache aus. Diese Angewohnheit hatte er schon gehabt, solange Maria sich zurückerinnern konnte und gewiss hatte man ihn deshalb mehr als einmal verdächtigt, ein Anhänger des Propheten Mohammed zu sein, obwohl er in Wahrheit ein so tiefgläubiger Christ war, wie es sich nur von wenigen Lateinern oder Griechen sagen ließ.

„Vielleicht habe ich mich missverständlich ausgedrückt“, erklärte er. „Wenn ich gesagt habe, dass Geld ihn nicht in seiner venezianischen Heimat halten konnte, dann nicht, weil ich damit andeuten wollte, es käme ihm in erster Linie auf Reichtum und Profit an. Er ist Arzt und kein Kaufmann. Und er ist seit vielen Jahren von dem Gedanken besessen, die Pest zu erforschen. Und wenn man mehr darüber erfahren will, dann tut man gut daran, sich dorthin zu begeben, wo man dem Objekt der eigenen Wissbegier mit möglichst großer Wahrscheinlichkeit auch begegnet.“

„Er ist Venezianer?“, wunderte sich Maria. „Wie heißt er?“

„Fausto Cagliari. Erschreckt Euch nicht, wenn er Euch gegenübersteht oder wenn er Euch auffordert, eigenartige Dinge zu tun. Er weiß sehr genau, was er tut. Der Kaiser vertraut ihm seit vielen Jahren.“

Maria sah Davide fragend an. Eine Falte hatte sich auf ihrer glatten, aber von Ruß befleckten Stirn gebildet. „Ist es nicht ein Risiko, sich von einem Arzt des Kaisers untersuchen zu lassen? Davide, was ist, wenn sich die Befunde bei Hof herumsprechen und sie von den falschen Schranzen benutzt werden, um Intrigen zu spinnen?“

„Ein gutes Argument, Schwesterlein“, mischte sich nun Marco ein, der sich bisher zurückgehalten und so gewirkt hatte, als würde ihn weder das Gespräch, noch die bevorstehende Begegnung mit einem Arzt in irgendeiner Weise besonders interessieren. „Zumal er doch Venezianer ist – und wir wissen doch beide, mit welch üblen Tricks uns die Venezianer lieber heute als morgen aus dem Geschäft drängen würden!“

„Ihr habt nicht Unrecht“, gestand Davide ein. „Aber was Fausto Cagliari angeht, so sind Eure Bedenken unbegründet, Marco. Wie gesagt, Kaiser Johannes vertraut ihm seit vielen Jahren. Er berief ihn in seine Dienste, nachdem seine Frau an der Pest gestorben war.“

„Ein weiterer Beweis dafür, dass die Macht Satans inzwischen überall zu Hause ist – auch und vor allem im Palast des Kaisers!“, meinte Marco.

„Du redest wirres Zeug, Marco!“, sagte Maria.

„Ach ja? Hast du den Tag nicht mehr in Erinnerung, als die Kaiserin starb, die deinen Namen trug? Jedem muss spätestens von da an doch klar gewesen ein, dass die Macht des Übels selbst die fugenlosen Wände des kaiserliche Palastes hindurchgedrungen ist!“ Marco schüttelte energisch den Kopf. „Ich werde mich von diesem Quacksalber nicht untersuchen lassen!“, entschied er. „Es besteht kein Anlass dazu!“

„Es ist unumgänglich, sich untersuchen zu lassen!“, erwiderte Davide in einem Tonfall, der eine wohlwollende Bestimmtheit ausdrückte, die keinen Widerspruch duldete. „Nur, wenn Euch Meister Cagliari als jemand einstuft, der nicht in der Gefahr steht, die Krankheit zu verbreiten, werdet Ihr noch damit rechnen können, Eure Anliegen bei Hof vortragen zu dürfen. Und darauf sind wir angewiesen, wie ich Euch erinnern darf, Marco!“

„Ihr redet wie mein Vater!“, maulte Marco. „Aber bildet Euch nur nicht ein, dass Ihr dieselben Rechte mir gegenüber hättet oder dass nun alles beim alten bliebe, Levantiner! Das Testament mag Euch die eine oder andere Befugnis über die Geschäfte geben, aber mehr nicht!“

„Marco, seid vernünftig! Sonst setzt Ihr alles aufs Spiel, was Generationen vor Euch aufgebaut haben! Und das könnt Ihr unmöglich wollen!“

Marco antwortete nicht. Während der Wagen weiter die Straße entlang fuhr, die immer häufiger von Schlaglöchern unterbrochen wurde.

Davide wandte sich an Maria. „Vielleicht habt Ihr den nötigen Einfluss auf Euren Bruder, um ihm zu erklären, weshalb ihm und Euch unbedingt eine völlige Freiheit von jeglichen Symptomen des Schwarzen Todes bescheinigt werden muss. Andernfalls wird man Euch auch geschäftlich auf eine Weise meiden, die den Ruin mit sich bringen kann.“

„Vielleicht überschätzt Ihr meinen Einfluss“, sagte Maria bescheiden und mit einem leicht resignierten Tonfall. Früher hatten sie sich sehr nahe gestanden und Marco hatte all die Zweifel mit ihr geteilt, die ihn innerlich zerrissen. Fragen nach dem Sinn des Lebens im Angesicht einer Welt, die aus den Fugen zu geraten schien, Fragen nach der Macht Gottes, der doch angeblich allmächtig war und trotzdem das Leid und den allgemeinen Verfall nicht zu verhindern vermochte und seine Macht so schrecklich selten erkennen ließ, dass man darüber vom Glauben abfallen mochte. All diese Dinge hatten ihn zum Leidwesen seines Vaters immer schon mehr interessiert, als die Belange des Geschäftes und die Pflege guter Handelsbeziehungen. Geld und Gut bedeuteten ihm nicht viel, denn für ihn waren sie selbstverständliche Attribute seines bisherigen Lebens und stets im Überfluss vorhanden gewesen. Schon diese gleichgültige Haltung den materiellen Dingen gegenüber hatte ihn in einen schier unüberbrückbaren Gegensatz zu seinem nun der Pest erlegenen Vater gebracht. Am liebsten wäre Marco seinerzeit in Italien geblieben und einem Orden beigetreten, um sich ganz dem Studium der letzten Fragen widmen zu können. Aber sein Vater hatte dafür nicht das geringste Verständnis aufgebracht und es war immer deutlicher geworden, wie grundverschieden der alte Handelsherr Luca di Lorenzo und sein Sohn doch waren. Einzig die Tatsache, dass sie beide nach Aposteln benannt waren, schien sie zu verbinden. Oft genug hatte Maria mitangesehen wie ihre Mutter Catarina vergeblich versucht hatte, zwischen den beiden zu vermitteln. Letztlich hatte sich Marco scheinbar dem Willen seines Vaters gebeugt. Zumindest dem äußeren Anschein nach.

„Wir hätten niemals in diese verfallende Ruinenfeld zurückkehren sollen, Schwester“, murmelte Marco an Maria gewandt, während er auf die dunklen Schatten der großen Häuser und Türme sah, die entlang der Mese standen. „Wie spärlich ist die Beleuchtung in der Stadt inzwischen! Früher soll Konstantinopel des Nachts einem Sternenmeer geglichen haben. Jetzt hausen in manchen Vierteln nur noch die verblassenden Schattengeschwister einer glorreichen und erhabenen Vergangenheit. Vielleicht ist es gut, dass die Straßen nicht mehr so hell erleuchtet sind, dass sich der Lichterschein in den goldenen Kuppeln der Kirchen spiegelt. Vielleicht es gut so, denn so sieht man mehr Schatten – und nicht das volle Ausmaß des Verfalls, wie es am Tag der Fall ist. Es ist ein langsamer, qualvoller Tod, den diese Stadt stirbt. Vielleicht ist sie sogar schon nichts weiter als ein großer, verwesender Leichnam und wir sind wie die Maden, die sich von seinen gerade noch genießbaren Überresten ernähren.“

„Was sollen diese Worte, Marco?“, fragte Maria. „Seien wir lieber froh, der Pest entronnen zu sein.“

Marco di Lorenzo schüttelte den Kopf.

„Es gibt hier keine Zukunft, Maria. Schon unser Großvater hätte seine Besitzungen am Goldenen Horn verkaufen sollen und dies vielleicht sogar noch mit Gewinn tun können! Und wie ist es jetzt? Eines Tages wird der osmanische Sultan die Stadt erobern. Mag sein, dass seine Kanonen den Mauern des große Theodosius heute noch nichts anhaben können. Aber wenn es so weitergeht, werden diese Mauern irgendwann von selbst verfallen, so wie alles andere auch! Es gibt nicht genug Handwerker, die sie erhalten und von dem Moos befreien könnten, dass sich in ihre Fugen setzt. Die Fäulnis dieses Niedergangs hat sich überall eingeschlichen und die aufsteigenden Dämpfe des Bösen zerfressen die Gemäuer von innen heraus!“

Seine Augen waren weit aufgerissen, als er diese Worte sprach und Maria wusste, dass es sinnlos war, ihn jetzt anzusprechen. Immer öfter steigerte er sich in einen Redefluss hinein, der sie an die fanatischen Prediger und Geißler erinnerte, die man inzwischen an jeder Straßenecke antreffen konnte und die nicht müde wurden, vom baldigen Ende der Welt zu reden.

Der Wagen erreichte das Außentor des Kontorgebäudes, das von einer hohen Mauer umgeben war. Immer zahlreicher wurde das Diebesgesindel, das die Straßen Konstantinopels unsicher machte. Man konnte sich kaum auf Hilfe durch die Söldner des Kaisers verlassen, wenn es darum ging, sein Eigentum zu schützen. Es kam sogar hin und wieder vor, dass Gardisten des Kaisers mit Dieben gemeinsame Sache machten und ihren Teil vom Erlös bekamen, den die Beute auf einem der wilden Hinterhofmärkte erbrachten, die von den Gilden der Kaufleute und Handwerker vergeblich bekämpft aber letztlich nie erfolgreich unterbunden worden waren.

Der Kutscher rief ein Losungswort auf Latein. Ein Wächter öffnete daraufhin das Tor. Der Wagen fuhr in den Innenhof. Davide hatte darauf geachtet, dass die Wächter, die für das Handelshaus di Lorenzo tätig waren, möglichst kein Wort Griechisch verstanden. Die Gefahr, dass sie sich dann mit verbrecherischen Elementen aus den Gassen Konstantinopels bestechen ließen, und für ein paar Silberstücke wertvolle Hinweise an Diebe und Einbrechergesindel herausgaben, war dann geringer. So zumindest hatte die Ansicht des alten Luca di Lorenzo gelautet. Natürlich lernten auch diese Männer, die zumeist von Davide angeheuert worden waren, irgendwann die Sprache, die in dieser Stadt am meisten gesprochen wurde und sich auch als Amtssprache durchgesetzt hatte – zumal inzwischen der Hass auf die sogenannten Lateiner, worunter man sämtliche Angehörige der römischen Kirche ebenso zusammenfasste wie alle Sprecher eines der inzwischen recht zahlreich gewordenen lateinischen Mundarten.

Der Wagen hielt nicht vor dem Hauptgebäude, sondern vor einem der Nebenhäuser. Davide stieg aus und Marco wollte ihm folgen. Aber Maria hielt ihn zurück. „Ich bitte dich, tu was Davide verlangt und lass dich von diesem Cagliari untersuchen! Du wirst sonst nur Misstrauen säen und womöglich werden sich selbst unsere Angestellten vor dir fürchten, weil sie glauben, dass auch du den Keim des Bösen in dir trägst!“

„Ach, Schwester, ist das nicht alles so furchtbar gleichgültig! Was spielt es schon für eine Rolle, was mit dem Handelshaus di Lorenzo oder sogar mit dieser Stadt wird? Wir sind doch alle nur Sandkörner, die durch übermächtige Hände rieseln, ohne sich dagegen wehren zu können. Wir haben geglaubt, dass es die Hände Gottes sind, die das tun, aber vielleicht sind es nur die Hände achtlos spielender Kinder, die überhaupt nichts mit der Welt im Sinn haben, außer dass sie sie auf eine Weise verändern, die ihnen Abwechslung und Erlösung aus ihrer Langeweile verspricht...“

„Ich hoffe, dass du das nie einen Mann der Kirche hören lässt – ganz gleich welcher Kirche übrigens!“, gab Maria zurück. „Und im übrigen geht es hier zur Abwechslung um die kleinen, praktischen Dinge des Lebens und nicht um die Frage, wann der jüngste Tag anbricht und welche Kräfte die Welt in ihrem Innersten bewegen. Tu einfach, was jetzt notwendig ist!Tu es im ehrenden Gedenken an deine Eltern!“

Marco lachte heiser und Maria erschrak, als sie die Bitterkeit erkannte, die aus dem Tonfall ihres Bruders überdeutlich herauszuhören war.

„Hat Vater vielleicht jemals auch nur einen Gedanken daran verschwendet, was wirklich wichtig ist? All das, was ihm wesentlich erschien - war es nicht nur hohler Tand? Was konnten sie nun davon mitnehmen, als die Pestknechte sie in die Dunkelheit ihres Grabes herabließen?“ Er schüttelte energisch den Kopf und gab die Antwort selbst. „Nichts, Maria! Gar nichts!“

„Dann tu es einfach, weil ich dich darum bitte, Marco“, erwiderte sie mit großem Nachdruck im Tonfall.

Ihre Blicke begegneten sich. Der flackernde Schein einer Laterne, die vor dem Eingang des Nebengebäudes brannte, spiegelte sich in seinen Augen, sodass es Maria vorkam, als wären sie von einem beinahe dämonischen Glanz erfüllt. Er atmete tief durch. „Also gut“, sagte er er schließlich. „Ich tu dir den Gefallen.“

Zweites Kapitel: Fausto Cagliari

Maria betrat wenig später einen von unzähligen Kerzen erleuchteten Raum. Stark riechendes Räucherwerk machte das Atmen schwer. Maria fühlte ein Kratzen im Hals. Ihr Herz schlug heftiger.

Auf einem hölzernen Stuhl hatte eine Gestalt platzgenommen, deren Anblick Maria zusammenfahren ließ. Auf den ersten Blick wirkte ihr Gegenüber wie eine Kreatur, die geradewegs dem Höllenschlund entwachsen oder sich ebenso im Schlamm der unterirdischen Abwasserkanäle der Stadt gebildet hatte, wie man es den Ratten nachsagte, da sie viel zu zahlreich geworden waren, als dass sie einem natürlichen Zyklus von Geburt, Vermehrung und Tod bei ihrer Ausbreitung folgten. Nein, andere Mächte mussten es sein, die sie aus dem Schlamm der Erde entstehen ließen und in erschreckenden Massen an sie Oberfläche trieben! Flackernde Schatten tanzten auf der an ein vogelähnliches Wesen gemahnenden Schnabelmaske nach Art der Pestknechte. Dumpf mischte sich der Atem ihres Trägers mit den Knistern des verbrennenden Räucherwerks, dessen freigesetzte Dämpfe Maria inzwischen Tränen in die Augen trieben. Der Körper jener Gestalt auf dem Stuhl war vollkommen von einer ledernen Kluft, die wie die runzelige Haut eines urtümlichen Krokodils wirkte, wie sie es sie am Nil gab. Maria hatte ihren Vater einmal auf eine Handelsreise nach Alexandria begleitet und dort die Tiere auf dem Markt gesehen – sowohl in ihrem furchteinflößenden lebendigen Zustand, als zu kostbarstem Leder verarbeitet, für das man in Genua ein Vermögen zahlen musste. Bisweilen wurden diese Geschöpfe aber auch als Mumien feilgeboten. Wie auch die Mumie von Menschen, Katzen und Ibissen, die man in Ägypten vor langer Zeit mit inzwischen unbekannten Verfahren vor der Verwesung zu bewahren gewusst hatten, waren sie als Rohstoff für Heilmittel aller Art in ganz Europa beliebt, so als könne die geheimnisvolle Lebenskraft, die diesen Artefakten innewohnte, übertragen werden, indem man die Mumie zu einem Pulver zerrieb, das dann als Beimengung von Arzneien und Heiltinkturen diente. Das Haus di Lorenzo hatte sich über Jahre hinweg immer wieder auch am Handel mit Mumien beteiligt, wenngleich der Anteil am Handelsumsatz der Familie bei weitem nicht so bedeutend war, wie der von Zucker, Seide und Seife, die man vornehmlich aus den levantinischen Küstenstädten bezog.

Damals in Alexandria hatte Maria zum ersten und einzigen Mal auch eine vollständig erhaltene menschliche Mumie zu Gesicht bekommen, deren Anblick ihr noch jahrelang in Form von Albträumen gegenwärtig gewesen war. Der Art und Weise, wie die Gestalt vor ihr auf dem Stuhl die Arme mit Binden umwickelt hatte, erinnerte Maria unwillkürlich an jenen Anblick. Unter diesen Binden, deren Sinn sich der jungen Frau in diesem Moment einfach nicht erschließen wollte, waren immer wieder freie Flächen zu sehen, die den Blick auf das eigentümliche Leder freigaben, aus denen der ganze Anzug bestand. Das erstaunlichste waren für Maria die Handschuhe, die bemerkenswert fein gearbeitet waren. Das Material schien fast hauteng anzuliegen und musste sehr dünn sein, denn die Konturen der Fingerglieder stachen deutlich hervor.

„Ihr seid Maria di Lorenzo?“, wisperte die Stimme unter der Schnabelmaske hervor. Er sprach Venezianisch.

„Ja, die bin ich. Und Ihr müsst der berühmte Pestarzt Fausto Cagliari sein, dem selbst der Kaiser vertraut!“

„Ja, das ist wahr. Wo ist Euer Bruder?“

„Er wartet draußen vor der Tür. Es hieß, wir sollten einzeln eintreten.“

„Zieht Euch aus“, forderte Cagliaris wispernde Stimme. „Legt alle Kleidung, die Ihr am Leib tragt, ab! Ich muss Euren Körper nach den Zeichen der Krankheit untersuchen!“

„Ich trage keine Pestbeulen! Dann wäre ich in Pera geblieben und hätte den stillen Tod erwartet, so wie er meine Eltern ereilte!“

„Tut, was ich sage!“, forderte Cagliari. Seine Stimme war nur ein leises, krächzendes Flüstern und schien doch eine geradezu unheimliche Kraft in sich zu tragen. Eine Kraft, deren Einfluss man sich kaum entziehen konnte. „Es geht mir nicht nur um die Pestbeulen, deren Anfangsstadium Ihr vielleicht selbst gar nicht bemerken würdet. Es gibt noch weitere Zeichen. Und nun ziert Euch nicht länger oder sucht Euch jemand anderen, der Euch die Pestfreiheit bestätigen könnte. Jemanden, dem der Kaiser vertraut, was ja nicht ganz unwichtig ist. Schließlich sollt Ihr ja einige wesentliche Geschäfte mit dem Hof und der kaiserlichen Familie abmachen.“

Der Gedanke daran, sich vor Fausto Cagliari zu entkleiden, war ihr äußerst unangenehm. In seiner eigenartigen, ihn vollständig bedeckenden Kluft, wirkte er kaum noch wie ein Mann, sondern eher wie ein der Hölle entstiegener Tiermensch. Aber ihr war klar, dass sie keine andere Wahl hatte. Der Kaiser hatte seine Frau durch die Pest verloren und seitdem verfolgte ihn eine geradezu panische Furcht vor dieser Krankheit. Zugang zum Kaiserhof, ohne eine Bestätigung darüber, dass man frei von Zeichen des Übels war, schien undenkbar. Aber Geschäfte in Konstantinopel zu machen, ohne eine gute Verbindung zum Kaiserhaus war ebenfalls nicht vorstellbar. Das Urteil eines Arztes, dem der Kaiser vertraute, war für den Fortbestand des Handelshauses überlebenswichtig, dass durch die Erkrankung und den Tod seines Herrn schon bis an den Rand seiner Existenzfähigkeit gebeutelt war. Es kam einer besonderen Gnade des Hofs gleich, dass dieser Arzt des kaiserlichen Vertrauens die Untersuchung durchführte. Und Maria war das sehr wohl bewusst. Es war ein Akt des Vertrauens, der von Generationen di Lorenzos verdient worden war – angefangen mit Niccolo Andrea, der geholfen hatte, die Franken und Lateiner zu vertreiben, bis hin zu ihrem Vater. Was war dagegen ihre Scham? Wie hätte sie sich angesichts dessen zieren können – zumal sie fest entschlossen war, das Handelshaus weiterzuführen. Und dem musste sich alles andere unterordnen. So soll geschehen, was zu geschehen hat, dachte sie. Der Herr hat mich bisher beschützt, warum sollte er es nicht auch in Zukunft tun?

Maria ließ das graue Büßergewand herabgleiten und mehr hatte sie ohnehin nicht mehr am Leib getragen. Schließlich hatte sie ein aufrichtiges Zeichen der Buße zum Herrn senden wollen, wie Pater Matteo es ihr geraten hatte. Unter all den Mitteln, deren tatsächliche Wirkung gegen die Pest höchst zweifelhaft waren, erschien es ihr noch am vielversprechendsten sich auf diese Weise direkt an die höchste Macht selbst zu richten.

Eine Gänsehaut überzog ihren gesamten Körper, als der Arzt an sie herantrat und begann, sie zu untersuchen. Maria fühlte tiefe Scham, so den Blicken dieses Fremden ausgesetzt zu sein. Er kam ihr nahe genug, um die Farbe seiner Augen erkennen zu können. Sie waren eisgrau und der Blick wirkte so kalt, dass ihr Schauder über den Rücken jagte. Ein Blick, der alles zu durchdringen schien und vor dem man nichts verbergen konnte. Ein Blick aber auch, dem alles Menschliche zu fehlen schien. Maria schob diesen Umstand auf die optische Wirkung der Schnabelmaske, die Cagliari vielleicht so erscheinen ließ. Aber in ihrem tiefsten Inneren ahnte sie, dass es damit nichts zu tun hatte. Selbst wenn er ihren Körper mit Lüsternheit und Begierde gemustert hätte, wie sie zunächst befürchtet hatte, dann wäre darin zumindest eine Spur von Menschlichkeit zu finden gewesen. Die Art und Weise jedoch, wie diese grauen Augen sie betrachteten, war dermaßen unangenehm, dass sie keine Worte gefunden hätte, um es zu beschreiben. Die Tücher, mit denen seine Arme umwickelt waren, strömten den Duft ätherischer Öle aus, in die sie offenbar getränkt worden waren. Ein Geruch, der so stark war, dass Maria kaum noch atmen konnte und das Wasser aus Augen und Nase zu laufen begann. Cagliaris behandschuhte Hände tasteten unter ihre Achseln und an den Leistenbeugen. Er ging dabei ziemlich grob vor, sodass Maria beinahe schreiend zurückgewichen wäre. Aber sie beherrschte sich. So ähnlich musste es sein, wenn die nackte Menschenseelen in der Hölle von den tierhaften Dämonen gequält wurden. In Genua hatte sie Gemälde gesehen, die dies in aller drastischen Deutlichkeit darstellten. „Keine Schwellungen“, murmelte Cagliaris Stimme unter der Schnabelmaske hervor und der dumpfe, fast röchelnde Laut, der dann folgte, mochte vielleicht in Wahrheit ein Aufatmen sein. „Stellt Euch mehr ins Licht!“, verlangte er dann. „Hierhin!“ Er deutete mit dem Zeigefinger auf eine bestimmte Position. Maria schritt ein paar Schritte zur Seite, der helle Schein des Kerzenlichts erfasste sie nun noch deutlicher. Cagliari hob ihr Gewand vom Boden auf, ging dann mit schnellen Schritten zum Kamin und warf es hinein. Knisternd begann es zu verbrennen. Dann kehrte er zurück. Aus einer Tasche an seinem Gürtel holte er ein Vergrößerungsglas hervor. Damit begann er nun, ihren gesamten Körper eingehend zu betrachten. Fingerbreit für Fingerbreit schritt er voran und er musste dabei den Schnabel seiner Maske stets gesenkt halten, um eine der Augenöffnungen seiner Maske näher an das Glas halten zu. „Habt Ihr Stiche oder Bisse kleinster Tiere an Euch bemerkt?“, erkundigte er sich. „Von Flöhen zum Beispiel?“

„Nein, Meister Cagliari. Allerdings habe ich auch nicht sonderlich darauf geachtet, denn wie Ihr wisst, sind Flöhe überall und man kann ihnen nicht entweichen.“

„So wie der Pestilenz“, ergänzte der Arzt, während er mit seinem akribisch ausgeführten Handwerk fortfuhr. Dass die Pest häufig auftauchte, nachdem vermehrt Ratten auf den Straßen zu sehen gewesen waren, wusste Maria natürlich. Die Nager waren daher als Boten der Krankheit berüchtigt. Boten, die das Miasma im Schlamm urplötzlich entstehen und an die Oberfläche kriechen und einem unbändigen Drang zur unaufhörlichen Wanderung folgen ließ. Aber Flöhe? Die unsichtbaren Insekten, von denen gemunkelt wurde, dass sie die Krankheit vielleicht verursachten, hatte sich Maria jedenfalls anders vorgestellt.

„Ich habe keine Flohbisse bemerkt“, erklärte sie. „Allerdings gibt es so vieles winziges Getier, das sticht und zwickt.“

„Aber nur Flöhe beißen mehrfach in einer geraden Reihe“, erklärte der Arzt.

„Verzeiht, wenn ich Euch dies frage, aber die Ansicht, dass Flöhe etwas mit der Pest zu tun hätten, höre ich zum ersten Mal. Ich dachte, die unsichtbaren Insekten fliegen einem in Mund und Nase, wenn man den Pesthauch einatmet.“

„Achtet darauf, Euch von allen Tieren und Menschen fernzuhalten, die Flöhe an Euch übertragen könnten“, sagte Cagliari, ohne weiter auf Marias Frage einzugehen. „Ich kann keine Zeichen der Krankheit an Euch erkennen, und auch keine frischen Flohbisse, was nicht heißt, dass Ihr nicht vor kurzem noch solche Bisse an Euren Körper getragen habt und das krankmachende Dämonengift dieser Kreaturen in Euren Leib gedrungen ist. Vierzig Tage werdet Ihr nicht sicher sein, ob Ihr die Seuche nicht in Euch tragt. Meidet in dieser Zeit alle Kontakte, soweit dies irgend möglich ist. Auch untereinander, was Euren Bruder betrifft. Denn schließlich ist es durchaus möglich, dass einer von Euch die Krankheit in sich trägt und der andere nicht.“ Er drehte sich um und ging zur Seite. Dort stand ein Bottich, den Maria bisher nicht bemerkt hatte. Er bückte sich und holte ein großes, dünnes Tuch hervor. Es wirkte feucht und schwer. Damit kehrte er zurück und schlang dieses Tuch um Marias Körper. Es strömte einen unfassbar scharfen Geruch aus, der wie Feuer in Nase und Rachen brannte. Ihre Augen begannen so stark zu Tränen, dass sie kaum noch etwas sehen konnte. „Lasst dieses Tuch so lange Ihr es ertragen könnt auf Eurer Haut. In vierzig Tagen werde ich Euch erneut untersuchen. Und wenn Ihr dann ohne Befund seid, kann man davon ausgehen, dass Ihr nicht von der Krankheit befallen seid!“

Maria wollte antworten, aber der scharfe Geruch hinderte sie daran, auch nur ein einziges Wort herauszubringen.

„Und jetzt soll Euer Bruder zu mir kommen!“, fügte Cagliari noch hinzu. Er wandte sich in Richtung der Tür und rief plötzlich mit überraschender Stimmgewalt. „Bringt den anderen!“

Die nächsten Tage verbrachten Maria und Marco jeweils in der Abgeschiedenheit eines Zimmers, das man eigens hergerichtet hatte. Eine levantinische Dienerin brachte Maria die Mahlzeiten und frische Kleidung.

Sie kam nur bis zur Tür und legte alles auf den Boden und klopfte dann an.

Maria wartete dann, bis sie ein paar Schritte gehört hatte und öffnete schließlich.

Aber am zweiten Tag war die Dienerin an der Ecke des Korridors stehen geblieben. Sie hatte hatte blauschwarzes Haar und war sicher nicht älter als Maria selbst. Der Blick ihrer dunklen Augen senkte sich.

„Wie heißt du?“, fragte Maria. Eigentlich kannte sie jeden der zahlreichen Angestellten und die umfangreiche Dienerschaft, die im Dienst des Hauses di Lorenzo standen. Selbst viele der Tagelöhner, die nur für bestimmte Aufgaben und für die Dauern von ein paar Stunden angeheuert wurden, um Waren ins Kontor zu bringen, waren ihr zumindest dem Gesicht nach bekannt. Und von vielen wusste sie auch den Namen, denn die meisten dienten dem Handelshaus schon seit langem und wurden immer wieder angestellt. Früher, so hatte Maria noch die Erzählungen ihres längst verstorbenen Großvaters Francesco di Lorenzo im Ohr, hatten sich tausende von Arbeitswilligen im Hafen gedrängt und darauf gewartet, dass man ihnen für ein paar Kupfermünzen Arbeit gab. Aber diese Zeiten waren längst vorbei. Manchmal war es inzwischen schon schwierig geworden, genügend Träger zu einem bestimmten Termin zu bekommen. All diese Veränderungen hatten wohl damit zu tun, dass die wiederholte Rückkehr des Schwarzen Todes die Stadt regelrecht hatte ausbluten lassen und ihre Bevölkerung auf ein Minimum geschrumpft war. „Nenn mir deinen Namen!“, wiederholte Maria ihre Aufforderung in sehr deutlichem Griechisch, nachdem sie die junge Frau zunächst ganz selbstverständlich in ihrem Genueser Dialekt angesprochen hatte.

„Seriféa“, antwortete sie nun.

„Ich habe dich hier früher noch nie gesehen.“

„Euer Schreiber Davide hat mich angestellt. Ich bin die Tochter seines Neffen Walid und erst vor einigen Wochen nach Konstantinopel gekommen.“

„Und woher?“

„Aus einem Ort, der auf Griechisch Chrysopolis heißt. Ihr könnt ihn sehen, wenn Ihr über das Meer blickt.“

Natürlich kannte Maria Chrysopolis. Es lag am asiatischen Ufer und früher hatte es nicht nur eine Eisenkette gegeben, die den Zugang um Kriegshafen und dem Goldenen Horn versperrte, sondern auch noch eine zweite, die sich von der innerhalb des kaiserlichen Palastbezirks gelegenen Gotensäule bis zu dem Leanderleuchtturm kurz vor dem asiatischen Ufer spannte – und von dort aus dann weiter bis nach Chrysopolis. Auf diese Weise war es in besseren Zeiten des Kaiserreichs möglich gewesen, die Einfahrt in den Bosporus für sämtliche Schiffe vollkommen abzusperren und damit eine der wichtigsten Handelsstraßen unpassierbar zu machen. Aber inzwischen gehörte Chrysopolis zum Reich des Sultans. Er kontrollierte die Meerenge am Bosporus und an den Dardanellen. Zwar vermochten die Osmanen nicht, es den Rhomäern gleichzutun und Ketten über das Wasser zu spannen. Aber die Zahl ihrer Kriegsschiffe war der Konstantinopels überlegen und dasselbe galt für die Anzahl der Kanonen, die in den Festungen zu beiden Seiten des Bosporus stationiert waren. Konstantinopel hatte schon lange nicht mehr die Macht, den Bosporus zu verschließen, dazu fehlte dem Kaiser inzwischen schlicht und ergreifend ein wenn auch noch so kleiner Landstreifen am asiatischen Ufer. Der Sultan hingegen hatte diese Macht jederzeit. So hatten sich die Gewichte im Laufe der Zeit verschoben.

„Darf ich gehen?“, fragte Seriféa.

„Nein, warte noch einen Moment.“

„Ja, Herrin.“

„Was hat dir Davide über mich und meinen Bruder gesagt?“

„Ich fürchte die Pest nicht“, sagte sie. „Sie schlägt den, den der Herr damit schlagen will. Es liegt nicht in unserer Hand. Also habe ich nichts dagegen einzuwenden, Euch die Nahrung zu bringen. Davon abgesehen bin ich verschwiegen. Alles, was ich in Ihrem Haus höre oder sehe, bleibt in seinen Mauern.“

Anscheinend schien Davide umfassender mit Seriféa gesprochen zu haben, als Maria es im ersten Moment angenehm war. Aber vielleicht war es auch gut so. Wenn sich Davide Scrittore durch eine besondere Eigenschaft auszeichnete, dann war dies neben seiner absoluten Loyalität ganz gewiss seine gute Menschenkenntnis. Und wenn er jemanden seines Vertrauens für Wert hielt, dann lag er damit normalerweise richtig. Immer wieder hatte er Marias Vater Berater und Helfer empfohlen, deren Tätigkeit sich im nachhinein als äußerst wertvoll erwiesen hatte. Warum sollte ich ihm in dieser Sache also nicht auch trauen?, ging es Maria durch den Kopf.

„Erzähl mir etwas mehr über dich“, forderte Maria. „Dann weiß ich besser, ob und in wie weit ich dir trauen kann.“

„Meine Eltern und drei meiner Geschwister starben ebenfalls an der Pest, so wie es mit Euren Eltern geschah“, sagte Seriféa, ohne dabei den Blick zu heben. Sie sprach mit einer Stimme, die sehr gefasst und stark klang. Sie griff dabei mit einer schnellen Bewegung nach dem messingfarbenen Kreuz, das sie an einem Lederbad um den Hals trug. Vielleicht war es die Kraft des Glaubens, die ihr angesichts dieser Schicksalsschläge die nötige Kraft verlieh, um weiterleben zu können, ohne die Hoffnung zu verlieren.

„In den Ländern des Sultans wütet diese Krankheit anscheinend genauso wie innerhalb der Mauern unserer Stadt“, stellte Maria fest.

Seriféa nickte.

„Was wohl heißt, dass die Anhänger Mohammeds und die Christen Gott in gleichem Maße fern stehe müssen, denn sonst würde er sie nicht in derselben Weise geißeln!“ Ein Anflug von Bitterkeit klang jetzt in ihrem Tonfall mit. Aber davon ließ sie in ihren Gesichtszügen nichts erkennen.

„Es ist nicht so, dass ich über deine Dienste hier unglücklich wäre oder etwas daran auszusetzen hätte“, sagte Maria schließlich. „Aber ich weiß nicht, ob du dir wirklich einen Gefallen damit getan hast, in diese Stadt zu kommen, die langsam vor sich hin stirbt.“

„Ich hatte keine Wahl – und bin sehr froh, im Haus von Davide untergekommen zu sein. Ihr müsst nämlich wissen, dass mancherorts in den Ländern des Sultans die Christen für den Ausbruch der Seuche verantwortlich gemacht werden – so, wie es heißt, dass in den Städten der christlichen Kaiser eher die Juden als Sündenböcke herhalten müssen, obgleich wohl keine der beiden Gruppen irgendetwas mit dieser Plage zu tun hatte.“

„Nein, gewiss nicht.“

„Diese Geißel Gottes ist wie ein unsichtbarer Krieger, der seine Opfer blindwütig und scheinbar ohne Wahl erschlägt. Also sollten wir dem Herrn für jeden Tag danken, der uns bleibt.“

„Du scheinst dir viele Gedanken zu machen, Seriféa. Mehr, als ich dir zugetraut hatte.“

Tage waren in Abgeschiedenheit dahingegangen. Abgesehen von Seriféa suchte sie Davide fast jeden Tag auf. Es gab viele Dinge für das Handelshaus zu entscheiden und manche waren von einer so großen Tragweite, dass Davide sich dabei der Zustimmung der Erben sicher sein wollte. In dem letzten Willen, den Luca di Lorenzo lange vor seinem Ableben zu Papier in Anwesenheit seiner Kinder sowie Davide Scrittore und Pater Matteo schriftlich niedergelegt hatte, war unter anderem auch festgelegt worden, dass Davide für seine langjährigen treuen Dienste einige Anteile an dem Handelshaus erbte. Anteile, die ihn zum Zünglein an der Waage machten und, falls es zwischen den Erben zum Zerwürfnis kam, kam ihm die ausschlaggebende Stimme zu. Maria hatte dagegen nichts einzuwenden gehabt, schließlich war Davides Loyalität dem Haus und der Familie gegenüber außerhalb jeden Zweifels. Und dasselbe galt für seine Fähigkeiten als Geschäftsmann und Verwalter. Marco allerdings hatte an jenem Tag völlig die Fassung verloren. Diese Regelung war in seinen Augen nichts anderes als ein weiterer Beweis dafür, wie sehr sein Vater ihm und seinen Fähigkeiten letztlich misstraute und wie wenig er ihn verstand. Der heftige Streit, der dann folgte, war Maria bis zum heutigen Tag in lebhafter Erinnerung geblieben. Verletzende Worte waren dabei von beiden Seiten gefallen. Worte, die sich nicht mehr zurücknehmen und ungeschehen machen ließen.

Maria di Lorenzo saß kerzengerade vor dem aus dunklem Holz kunstvoll gedrechselten Tisch, der in ihrem Zimmer stand. Sie strich sich eine verirrte Strähne ihres kastanienbraunen Haares aus dem Gesicht, das sich irgendwie aus ihrer Frisur gestohlen hatte, nahm mit der Rechten den Stift aus Blei und trug damit sorgfältig Zahlen in die vorgezeichneten Spalten ein. Und hinter jeden dieser Beträge machte sie ein Zeichen, das für die jeweilige Münze stand – denn auf den Märkten und in den Häfen am Bosporus wurde in allen Währungen der Welt gezahlt.

Das Sonnenlicht fiel in ihr feingeschnittenes Gesicht und ihre blaugrauen Augen erinnerten an die Farbe des Meeres. Und trotz ihrer zierlichen Figur wirkte sie keineswegs zerbrechlich, sondern strahlte eine innere Stärke aus, die wohl nur ein aufrichtiger Glaube verlieh. Die Zeit, da sie ein Büßergewand getragen hatte, war vorbei. Aber nichtsdestotrotz war ihre Kleidung schlicht geblieben. Schlichter, als es sonst unter den Kaufleuten Konstantinopels üblich war - gerade wenn sie ihre Wurzeln in Italien hatten! Ihr erschien das in Anbetracht ihrer Trauer allerdings angemessen zu sein.

Sie hielt inne und ein leichter Zug von Wehmut trat in ihre Züge. Von draußen schien die über dem Bosporus stehende Abendsonne durch das Fenster, das mit echtem venezianischen Glas versehen war.

Das Gesicht ihres Vaters stand ihr plötzlich vor Augen, wie es so häufig geschah, wenn sie in Gedanken war. Ein Gesicht so bleich wie eine Totenmaske, die Augen von schwarzen Ringen umgeben und der Ausdruck so elend im Angesicht des sicheren Todes. So oft war der üble Hauch der Pest über Konstantinopel gekommen – mehr als zehn Mal in den letzten hundert Jahren. Und der schmale Meeresarm, den man das Goldene Horn nannte und der diese große und einstmals so ruhmreiche Stadt von Pera trennte, hatte Marias Eltern nicht davor bewahrt, von diesem bösen Hauch hinweggerafft zu werden, sodass sie und ihr Bruder Marco nun allein dastanden. „Du musst stark sein, Maria!“, hatte ihr Vater ihr auf dem Totenbett gesagt. Seine Frau war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr am Leben gewesen und auch ein ehemals am Hof beschäftigte griechischer Schreiber und Übersetzer namens Pétros Phorkias, war plötzlich gestorben. Er musste die Krankheit schon länger in sich getragen haben und war plötzlich Blut hustend während einem Treffen mit Händlern aus Aragon zusammengebrochen. „Du musst stark sein und das Erbe unseres Handelshauses bewahren“, so klangen ihr immer wieder die Worte ihres Vaters im Ohr. „Wir schaffen Reichtum nicht, um seiner selbst Willen, sondern um Gutes damit zu bewirken und das Leben künftiger Träger unseres Namens zu sichern...“

Wahrscheinlich war mein Vater der einzige, der diesem Gedanken in aller Ernsthaftigkeit folgte!, dachte Maria nicht zum ersten Mal. Es klopfte an der Tür.

„Herein!“, forderte Maria.

Davide Scrittore betrat im nächsten Moment den Raum. Er sah mit einem Blick, womit sie sich gerade beschäftigte und nickte zufrieden. „Wie ich sehe, widmet Ihr Euch den Dingen, die für unser Geschäft wichtig sind.“

„Ich bemühe mich darum, schnell zu lernen“, antwortete Maria. „Habt Ihr Neuigkeiten aus Pera?“

„Nach allem, was ich gehört habe, wütet die Seuche dort nicht mehr ganz so heftig. Und es gibt inzwischen auch schon gerüchteweise ein paar Pestleichen im Konstantin-Hafen. Es sollen aragonesische Seeleute gewesen sein!“

„Wer weiß, was davon wahr ist!“, meinte Maria. „Ihr wisst, wie wenig beliebt die Männer aus Aragon sind! Vielleicht hat man ihnen nur die Pest an den Hals gewünscht.“ Seit Jahren schon versuchte König Alfonso von Aragon in Konstantinopel Einfluss zu gewinnen und konkurrierte darin mit den Venezianern und Genuesern. Manche spotteten, der Kaiser hätte langfristig nur die Wahl, sich dem muslimischen Sultan oder dem katholischen König von Aragon zu ergeben. Und gerade in den Reihen der orthodoxen Kirche gab es nicht wenige, die es vorgezogen hätten, sich den Muslimen zu ergeben, anstatt sich den Katholiken unterzuordnen – ganz gleich, ob diese nun aus Italien, Spanien oder sonstwoher stammten.

„Eigentlich müsste Euer Bruder an dieser Unterredung teilnehmen“, erklärte Davide. „Es geht nämlich um wichtige Entscheidungen.“

„Entscheidungen?“

„Es gibt Schwierigkeiten mit einigen unserer Schiffe. Wie Ihr wisst, hat Euer Vater über einen Mittelsmann aus Chrysopolis dafür gesorgt, dass unsere Schiffe nicht von türkischen Kanonen beschossen werden, wenn sie das Marmarameer verlassen. Der Mann, der diese Art Geschäfte für uns abwickelt, heißt Andreas Lakonidas. Ich habe Euren Vater stets vor ihm gewarnt, denn ich halte ihn für einen der größten Halsabschneider rund um den Eutherios-Hafen.“

„Welcher Art sind die Probleme, die es mit ihm gibt“, fragte Maria.

„Er will plötzlich die doppelte Summe haben. Dagegen habe ich allerdings nicht den Eindruck, dass er seine Aufgabe besonders gut erfüllt und seine Kontakte zu den Türken wirklich so gut sind, wie er behauptet...“

Maria wusste, worauf Davide damit anspielte. Vor kurzem erst war ein dringend erwartetes Schiff aus dem an der Schwarzmeerküste gelegenen christlichen Kaiserreich Trapezunt bei seiner Durchfahrt durch den Bosporus schwer beschossen worden. Nur mit Mühe hatte es schließlich noch den Hafen von Konstantinopel erreichen können. Der Kapitän war ein Genueser gewesen, die Mannschaft hatte hingegen vorwiegend aus angeheuerten Dalmatiern, Ungarn und Serben bestanden. Das Schiff war mehrfach getroffen worden und fast ein Drittel der Besatzung war umgekommen. Davon abgesehen hatte man auch einen Großteil der Ladung verloren. Stoffballen waren verdorben worden und Fässer mit Wein oder Seife mussten über Bord geworfen werden, weil das Schiff sonst zu schwer gewesen wäre. Einige der durch die Kanonentreffer geschlagenen Löcher waren nämlich so dicht an der Wasserlinie, dass unweigerlich Wasser in so großer Menge eingedrungen wäre, dass es gekentert wäre. Also hatte man es notgedrungen leichter werden lassen müssen. Ein herber Verlust für das Haus di Lorenzo. Das sorgenvolle Gesicht ihres Vaters, als er die Nachricht von den Geschehnissen erhielt, war Maria noch lebhaft im Gedächtnis.

„Haben wir eine Alternative zu diesem Andreas Lakonidas?“, fragte Maria.

„Genau das ist das Problem. Ich fürchte, wir werden in Ermangelung anderer Optionen auf eine Zusammenarbeit mit ihm angewiesen sein, auch wenn seine Mittelsmänner offenbar nicht in der Lage sind, Schiffen, die in unserem Auftrag unterwegs sind, auch tatsächlich eine reibungslose Fahrt durch die von den Türken beherrschten Gewässer zu gewährleisten.“

„Ist es nicht möglich, diesen Andreas Lakonidas als Mittelsmann zu umgehen und selbst mit Männern in Verbindung zu kommen, die Einfluss auf die Kanoniere des Sultans haben?“, fragte Maria stirnrunzelnd. Das erschien ihr das Naheliegendste zu sein.

Davide lächelte mild. „Das versuchte ich Eurem Vater seit längerer Zeit schon anzuraten. Doch das ist nicht ganz so einfach, wie Ihr Euch das vielleicht vorstellt. Zudem ist es sehr risikoreich.“

„In wie fern?“

„Angenommen jemand erführe von einer solchen Verbindung, dann wäre es jederzeit möglich Euch und alle die davon wussten des Verrats zu bezichtigen.“

Maria zuckte mit den Schultern. „Aber kann denn irgendjemand glauben, dass auch nur einer unter denjenigen, die in Konstantinopel noch Fernhandel betreiben, dies tun kann, ohne sich auf irgendeine Weise mit den Türken zu arrangieren?“

„Nein, natürlich nicht. Das tun alle, auch wenn niemand darüber spricht. Aber wie gesagt, wenn wir Lakonidas übergehen, dann erhöhen wir das Risiko, das dies eventuell gegen uns verwendet wird. Euch wird doch auch bekannt sein, wie die Hofintrigen entstehen und wie sich hinter den erhabenen Mauern des Kaiserpalastes die unterschiedlichsten Gruppen bis auf das Messer bekriegen und vor nichts zurückschrecken.“

„Soweit mir bekannt ist, sind unsere Beziehungen zum Hof doch ausgesprochen gut“, erwiderte Maria. „Schließlich stammen wir von Andrea Niccolo di Lorenzo ab, dem das Imperium einiges schuldet!“

Imperium – dieses Wort kam Maria in diesem Zusammenhang fast wie Hohn vor. Aber genau so sah sich dieser Staat, dessen Grenzen inzwischen nahezu mit den Mauern ihrer Hauptstadt identisch waren.

„Nur, weil Euer Urahn geholfen hat, die Lateiner zu verjagen, solltet Ihr Euch der Loyalität des Kaiserhauses nicht auf Dauer zu sicher sein“, warnte Davide. „Das Haus di Lorenzo hat Konkurrenten, die ebenso gut auf den Saiten jener Laute zu spielen wissen, die man Hofdiplomatie nennt und die in Konstantinopel wichtiger ist, als alles andere, um Erfolg zu haben.“

„Und was schlagt Ihr vor?“

„Zunächst werden wir die Bedingungen von Andreas Lakonidas akzeptieren müssen. Aber langfristig bleibt uns keine andere Möglichkeit, als das Risiko einzugehen und selbst nach zuverlässigen Verbindungen zu den Türken zu suchen. Aber Gnade uns Gott, wenn davon jemand erfährt, für den dieses Wissen nicht bestimmt ist!“

Maria nickte. „Was ist mit Marco?“

„Ja, das ist auch etwas, was mir Sorgen bereitet. Wie ich schon erwähnte, hätte er an diesem Gespräch eigentlich teilnehmen sollen, wobei ich mir inzwischen gar nicht mehr sicher bin, ob es nicht besser so ist...“

„Was meint Ihr damit?“

„Marco ist nicht in seinem Zimmer. Seriféa will gestern noch Schritte in einem Zimmer gehört haben, also gehe ich davon aus, dass er zu diesem Zeitpunkt noch dort war.“

„Wo ist er hin?“, fragte Maria.

„Ich hatte eigentlich gehofft, dass Ihr mir das sagen könntet, Maria. Er ist Euer Bruder und wie ich weiß, steht Ihr ihm so nahe wie sonst wohl kaum jemand anderes.“

Maria schluckte. „Ich weiß nicht, wo Ihr ihn suchen solltet“, meinte sie, während ihr mit einem Mal bewusst wurde, dass sie ihren Bruder vielleicht doch weniger gut kannte, als sie es bisher geglaubt hatte.