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Eine Meeresbiologin, die eine schwierige Schwangerschaft alleine bewältigen muss. Eine abenteuerlustige Jugendliche, die sich ihrer erfolgreichen Mutter beweisen will. Eine Forscherin, die im Wald Antworten auf drängende Fragen sucht. Alle vereint die Liebe zu Schildkröten. Nach einem Familienunglück stürzt die Meeresbiologin Anna Hoareau sich in ihre Forschungsarbeit an einem Institut in Eilat, um Auswege aus dem ökologisch-genetischen Kollaps zu explorieren. Inmitten sozialer Unruhen kämpfen Anna, Nisha und Lokapi für ihren Platz in einer Welt, die dem Untergang geweiht ist. Und dann taucht auch noch eine wilde Meeresschildkröte auf, die Annas rationales Weltbild ins Wanken bringt. Drei Generationen, drei miteinander verwobene Schicksale, die die Grenzen zwischen Traum und Realität verschieben und neu definieren, was es bedeutet, Mensch zu sein. Kann ein Mensch sich verändern, und trotzdem Mensch bleiben und einen Platz in der Welt finden?
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Seitenzahl: 600
Veröffentlichungsjahr: 2022
IMPRESSUM
1. Auflage 2022
© Wortschatten Verlag
In der Verlagsgruppe Mainz
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Germany
Wortschatten Verlag
Verlagsgruppe Mainz
Süsterfeldstraße 83
52072 Aachen
0049 (0)241 87343400
www.wortschatten.de
Gestaltung, Druck und Vertrieb:
Druckerei und Verlagshaus Mainz
Süsterfeldstraße 83
52072 Aachen
www.verlag-mainz.de
Lektorat:
Kim Colling
Umschlaggestaltung:
Dietrich Betcher
Abbildungsnachweis (Umschlag):
© RantGoil / stock.adobe.com
Buch:ISBN-10: 3-96964-028-8
ISBN-13: 978-3-96964-028-9
E-Book:ISBN-10: 3-96964-029-6
ISBN-13: 978-3-96964-029-6
Inhaltswarnungen
Fehlgeburt
Zerstörung der Heimat
Flucht
Ertrinken
Verlust von Familie durch eine Naturkatastrophe
Diskriminierung aufgrund von Herkunft
Wenn ich eine Schildkröte wäre, dann wäre ich frei.
Ich würde meine Flossen ausbreiten und fliegen. Hinein in das tiefe Blau würde ich fliegen und nichts würde mich aufhalten. Ich würde keine Angst kennen, denn mein Panzer wäre hart und meine Lungen stark. Nichts und niemand würde mich davon abhalten, tief und immer tiefer zu tauchen, weit und immer weiter zu schwimmen.
Bis zu den Sternen würde ich schwimmen, bis in die tiefsten Tiefen. Der ganze Ozean wäre mein Zuhause, nirgends wäre ich fremd.
Wenn ich eine Schildkröte wäre, müsste ich mich nicht erinnern. Ich müsste die Vergangenheit nicht mit mir tragen, wohin ich auch gehe. Sie würde nicht unerträglich auf meinen Schultern lasten und mir jede Bewegung erschweren. Ich würde sie hinter mir lassen wie die Küste, von der ich aufgebrochen bin, bis sie nichts wäre als eine ferne Erinnerung.
Was ist ein Mensch? Was ist ein Tier? Was liegt in dem Raum dazwischen? Diese Fragen wären mir egal. Ich würde lautlos lachen, meine Flossen würden die Strömung fangen und mit den Wellen spielen. Mein runder Körper würde sich in die tiefe Weite schrauben, bis die Welt über Wasser nicht mehr ist als ein Traumbild, das ich vergesse.
Der Rhythmus meiner Flossenschläge gäbe den Takt vor. Langsam würde ich meine Flossen auf und ab bewegen, auf und ab, auf und ab, auf und ab, bis es nur noch einen Rhythmus gibt: Meinen Herzschlag.
Wenn ich eine Schildkröte wäre, wäre ich frei.
*
Teil I
Anna und die
Meeresschildkröte
WASSER
Weit weg von zu Hause
Der Mond taucht den Schreibtisch in silbernes Licht, das Meer rauscht leise durch das offene Fenster. Kleine Wellen brechen sich an Amphigebäuden, die seit dem Meeresspiegelanstieg unfreiwillig im salzigen Wasser des Golfs von Aqaba stehen wie steinerne Mangrovenbäume. Anna kneift die Augen zusammen und kratzt mit dem Füller über das Orgatek-Pergament. In Tinte so schwarz wie die Tiefsee korrigiert sie Sequenz um Sequenz, Zeile um Zeile. Anna schiebt ihr dickes rotes Haar von einer Schulter auf die andere und wischt sich kurz über die feuchte Stirn. Selbst die Nächte sind heiß in Eilat.
Sie ist kurz vor einem Durchbruch. Die Lösung wartet in greifbarer Nähe, sie spürt es. Ihre Finger zittern vor Anspannung. Ihr Holo hat die Nukleotidsequenzen des Gens TaT32 von Artiaster roseus auf das Pergament übertragen. Scharf und klar reiht sich Basenpaar an Basenpaar. Man muss nur den Fehler finden, der dafür verantwortlich ist, dass der Hybridseestern anstatt des geplanten Klebeproteins SfP32a das schwächere SfP32b produziert. Ein minimaler Unterschied, doch selbst ein minimaler Fehler ist ein Fehler. Ohne den richtigen Haftstoff versagen die Klebefüßchen des Seesterns. Er ist zu langsam, zu schwach, kann den Algenüberschuss des Riffs nicht abbauen, die Muschelpopulation nicht kontrollieren und damit auch das letzte Korallenriff der Welt nicht vor dem Zusammenbruch retten.
Aber so schnell wird Anna nicht aufgeben. Ihr Blick hat sich an den Sequenzen festgesaugt. Die Pergamentseiten sind vor ihr ausgebreitet. Der Druck der Füllerspitze regt die Mikroorganismen im Pergament an, Orga-Tinte zu produzieren. Meira würde sagen, es sei Verschwendung, so viele Seiten zu benutzen, anstatt eine einzelne Seite immer wieder zu überschreiben und alles automatisch in ihr Holo hochzuladen. Aber sie muss es vor sich sehen, muss die Abfolge der Sequenzen fühlen. Wenn sie nur so schnell schreiben könnte, wie sie denkt!
Ihre Augen fliegen über die Seite. Sie streicht Nukleotide und fügt andere hinzu. Eine falsche Aminosäure, eine falsche Faltung, und das Protein verliert seine Wirksamkeit. Aber sie hat keine Angst, Fehler zu machen. Ein bisschen Druck erhöht die Konzentration. Das Pergament füllt sich im Takt der Füllerspitze, als sie ganze Sequenzen löscht und neu schreibt. Vor ihrem inneren Auge sieht sie, wie sich Aminosäuren zu Peptidketten verbinden, wie sich Winkel an Winkel faltet und ein dreidimensionales Ganzes ergibt. Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei. Wie ein Schlüssel. Ein Schlüssel, dem Zacken fehlen. Anna kneift die Augen zusammen. Schweißtropfen laufen langsam ihre Stirn hinunter und sammeln sich über ihren Augenbrauen, rutschen am Haaransatz entlang bis in ihren Nacken. Wenn die Faltung des Proteins nicht zu den Klebefüßchen des Seesterns passt, muss sie eben andere Wege finden, kreative Wege. Wege, an die noch niemand gedacht hat. Sie schließt die Augen und konzentriert sich. Man muss den Nukleotiden zuhören. Die Sequenzen als Ganzes sehen. Muster erkennen. Und man darf sich einfach nicht beirren lassen.
Vor ihrem inneren Auge drehen sich Aminosäuren und anatomische Strukturen umeinander. Symmetrien verschmelzen, teilen sich und setzen sich wieder neu zusammen. Wenn man genau hinsieht, ist kein Objekt wirklich vom anderen getrennt. Nur eine dünne Hautschicht trennt Haftsekret und Klebefüßchen voneinander. Haut? Was ist das? Ein löchriges Organ, das Austausch ermöglicht. Grenzen sind eine Illusion. Wenn man nicht an die Einschränkungen der Materie gebunden wäre, könnte man einfach durch den Seestern hindurchgleiten, den sie an Computern berechnet und auf dem Glas produziert haben. Man könnte die Ambulakralfüßchen auf der Haut von Artiaster roseus sehen, oben rosa und an der Basis weiß. Man würde sehen, dass auf den Füßchen selbst weitere Füßchen sitzen, dass sich fraktalartige Formen fast unendlich oft wiederholen, bis es keinen Sinn mehr ergibt, von einer Haut zu sprechen. Denn anstatt einer Grenze zwischen dem Seestern und der Welt um ihn herum gibt es vielmehr ein wildwüchsiges Dickicht, in dem es unmöglich ist, festzustellen, wo der Seestern anfängt und die Welt aufhört. In einem bestimmten Moment würde man bemerken, dass man sich nicht mehr zwischen zwei Lamellen befindet, sondern schon innerhalb des Seesternkörpers, ohne dass man eine magische Pforte irgendeiner Art durchschritten hätte. Der Übergang zwischen innen und außen löst sich auf wie eine Träne im Meer, wenn man nach ihr greifen will. Man würde spiralförmigen Molekülen folgen, die einen Seestern aufbauen, den es natürlicherweise gar nicht geben dürfte – zumindest würden das die Hybridisierungsgegner behaupten. Aber was heißt das schon, »natürlich«?
Annas Füller setzt Zeichen an Zeichen, Linie an Linie. Verirrte Haarsträhnen fallen ihr in die Stirn, aber sie hat keine Zeit, ihre Haare zusammenzubinden. Neben ihr steht ein Krebsproteinbrei auf Ziegenmilchbasis, aber auch für ihn hat sie keine Zeit. Der Stift fällt ihr aus der Hand, sie legt ihren Kopf in den Nacken, stöhnt und schließt die Augen. Ihr Körper ist zu schwach. Das Zittern der Hände stört die Konzentration. Aber sie ist noch lange nicht fertig.
Entschieden öffnet sie die Augen. Ihr Blick schweift über die Sammlung. Gabris und ihre Sammlung. Muscheln und Steine, abgebrochene Korallenarme und ausgetrocknete Seepferdchen, gefunden und geordnet von ihr und ihrem kleinen Bruder, stapeln sich in den Regalen. Sie liegen nebeneinander und türmen sich aufeinander, formen Kreise, Spiralen und Linien, die sich bis über die Wände ziehen. Ein jedes Ding hat seinen eigenen Platz in diesem Muster. Wie ein Nukleotid nach dem anderen erschaffen die Einzelteile zusammen ein bedeutungsvolles Ganzes. Ein kurzer Blick auf die Uhr sagt Anna, dass es zwei Uhr nachts ist. Schnell schließt sie die Augen wieder. Ihre Finger fahren einer nach dem anderen über die drei glatten schwarzen Steine auf ihrem Tisch. Eins, zwei, drei. Kühle Oberflächen, unendlich oft berührt. Wenn sie einen Alg-Kaffee trinkt, kann sie vielleicht noch eine Stunde durchhalten. Gedankenverloren beginnt sie, den Krebsbrei zu löffeln. Jetzt nur nicht den Faden verlieren. Ein warmes Gefühl macht sich in ihrem Bauch breit. Essen. Das hat ihr gefehlt, Energie.
Wie ein Blitz durchzuckt es sie. Energie, natürlich … die Ammoniumkonzentration beeinflusst den pH-Wert … Sie muss es vor sich sehen. Der Löffel klappert auf den Tisch und die Füllerspitze attackiert das Pergament von Neuem. Wie konnte ihr das nur entgehen? Dabei lag die Lösung so klar vor ihren Augen!
Es ist 3:30 Uhr, als sie wie betäubt ins Bett wankt. Die salzige Luft mischt sich in ihrer Nase mit dem Geruch von Tinte und dem Moder des nie ganz trockenen Bettzeugs. Ein Lächeln schleicht sich auf ihre Lippen. Morgen wird sie mit Professor Jiddawi sprechen. Talitha Jiddawi. Sie wird große Augen machen.
Anna greift automatisch nach der braun-weiß getupften Muschel auf ihrem Nachtisch, presst sie fest in die Kuhle zwischen Schulter und Ohr, bis sich die Zacken beruhigend in die Haut an ihrem Hals drücken, und schläft ein.
*Der Himmel ist weiß vor Hitze, das Meer glitzert dunkelblau. Die Berge auf der anderen Seite der Bucht von Aqaba liegen hellrot und schroff im morgendlichen Dunst. Das silberne Logo des IMGÖ glitzert schon zwischen zwei Gebäuden hervor, aber Anna hat keine Augen dafür. Sie geht fünf Treppenstufen nach unten, Wasser schwappt ihr über die Füße, die Algen sind schlüpfrig. Vier vorsichtige Schritte vorwärts, dann fünf Stufen hoch. Die Notizen von gestern Nacht in ihrer Umhängetasche, geht sie schnell über die Promenade an der riesigen Hotelruine vorbei. Der salzige Wind löst eine Haarsträhne aus ihrem langen Zopf. Die Eingänge der Amphigebäude an der Promenade Eilats liegen schon seit Jahrzehnten unter Wasser. Algenteppiche wachsen an Mauern empor, die unter der Last von Zeit, Sonne und Salz ächzen. Kloakengeruch dringt aus zerbrochenen Fenstern. Den Prunk früherer Jahrhunderte kann man nur noch erahnen.
Anna schaut nicht auf, sie zwingt sich, die Gedankenkette in ihrem Kopf immer wieder durchzugehen. Mentale Disziplin ist nötig, um sich nicht ablenken zu lassen. Ihre Füße kennen den Weg. Zwei Schritte, ein Loch im Asphalt. Am Plaza vorbei, einatmen, hier riecht die Luft am besten, nach Meer und Salz. Vor den renovierten Ruinen, in die die Forschungsinstitute gezogen sind, wird die Promenade täglich gewischt. Eins, zwei, drei, folgt ein Gedanke dem anderen, ohne die Kette zu unterbrechen – bis schrille Rufe sich gewaltsam in ihr Bewusstsein drängen.
Sie vergisst zu zählen. Verärgert geht sie schneller auf den Lärm zu, der in Eilats Forschungsquartier so fehl am Platz klingt. Dann sieht sie die Menschenmasse vor dem IMGÖ. Die Schilder. Die wütenden Gesichter und gereckten Fäuste. Hört die geschrienen Parolen. Jetzt sind sie also auch hier! Die Anti-Hybrider. Hybriditätsforschung würde eine Verwischung der Grenzen zwischen den natürlichen Arten unterstützen und damit die Auslöschung der Menschheit aktiv vorantreiben. Behauptet zumindest die MZ. Menschen Zuerst, so nennen sie sich. Kompletter Unsinn. Niemand am IMGÖ will irgendetwas auslöschen. Aber das interessiert keinen der Anti-Hybrider, die vor den wissenschaftlichen Einrichtungen ihre Schilder in die Höhe strecken wie die Stacheln eines Seeigels. Alexandria, Daressalam, und jetzt auch Eilat.
Eine Trommel gibt den Rhythmus vor. Bam-bam-bam.
»Hybride nein – wir wollen Menschen sein!«
»Babys schützen, keine Gene spritzen!«
»Fische raus! «
Fast bricht Anna in Lachen aus ob so viel Dummheit, wenn die Gesichter in der Menge nicht so unheimlich wütend aussehen würden, so … hasserfüllt. Sie zieht die Luft durch ihre Zähne ein. Dafür hat sie keine Zeit. Keine Zeit für politische Spiele, die ihre Arbeit verzögern. Sie muss an den Schreibtisch, und zwar dringend.
Anna hält sich mit einer schwitzenden Hand an der rauen Mauer des Institutsgebäudes fest. Der Weg zum Eingang führt durch die Menschenmenge. In Gedanken geht sie ihre Schritte durch: Um die Ecke. Zehn Stufen hinunter. Dreiundzwanzig Schritte diagonal über dreiundzwanzig perfekt ineinanderpassende Marmorfliesen. Vier Stufen hoch. Ankunft …
Bam-bam-bam, geht die Trommel. Drei grölende Männer haben sich von der Menge entfernt und drehen ihre Kreise. Anna hält die Luft an, aber es ist zu spät. Sie steuern direkt auf sie zu. Sie starrt in ihre Gesichter und versucht, den Gesichtsausdruck zu entschlüsseln, die Zukunft daran abzulesen. Ihre Hand presst sich fest gegen die Mauer, bis die rauen Spitzen des Putzes sich in ihre Haut drücken. Noch ein bisschen fester, und sie kann das ganze Gebäude zur Seite drücken. Mit einer einzigen Bewegung stößt sie sich von der Mauer ab, dreht sich um und geht gezwungen langsam in die entgegengesetzte Richtung.
Die Stimmen der Männer werden hinter ihr lauter. Anna beschleunigt ihre Schritte, nimmt drei Stufen auf einmal und rennt um die Ecke, gerade so schnell, wie sie ihre Tasche ruhig halten kann, damit die Pergamentseiten mit den Notizen nicht verknittern. Sie sieht den Hintereingang. Eine feste, weiße Tür. Bam-bam-bam, geht die Trommel. Hinter ihr klingen die Schritte der Männer zu schnell und zu nah. Mit zitternden Händen findet sie den Schlüssel in ihrer Tasche, erreicht die Tür und presst den Transponder auf das Schloss. Mit einem Piepen öffnet sich die Tür, viel zu langsam. Anna presst sich durch die Öffnung und drückt die schwere Tür hinter sich zu. Mit einem lauten Krachen fällt sie ins Schloss, gerade noch rechtzeitig.
Sekunden später treten Füße gegen die Tür. »Wir kriegen dich noch!«, grölt einer.
Anna lehnt sich gegen die kühle Wand. Ihr Herz rast, ihre Hände zittern immer noch, als sie ihre Tasche öffnet. Die Pergamentseiten sind durcheinander. Sie flucht, glättet ihre Haare und geht die Treppe hinauf ins Labor.
»Anna! Alles in Ordnung?« Ihr Kollege und vielleicht bester Freund, Muhit Pavier, schließt sie in eine viel zu feste Umarmung. Er ist das genaue Gegenteil von ihr: Laut, impulsiv und immer im Zentrum der Aufmerksamkeit. Trotzdem hat sie gelernt, ihn zu mögen.
»Nein. Meine Notizen sind komplett durcheinander.« Sie drückt ihn vorsichtig von sich weg und fährt sich schon wieder über die Haare. Das war verdammt knapp. Die anderen sitzen im Labor um den Kaffeetisch herum. Ein Live-Bericht über die Proteste läuft auf einem Bildschirm, die Trommel dröhnt verzerrt im Hintergrund. Alle reden gleichzeitig und schauen abwechselnd auf den Bericht und zum Fenster hinaus.
»Anna, wie bist du hereingekommen?«, fragt Meira Nasser. Sie ist auch Biologin und Postdoktorandin, wie Anna.
»Der Hintereingang«, sagt Anna und hält ihre Hände fest, weil das Zittern einfach nicht aufhört. Plötzlich brennen ihre Augen. Sie spürt Muhits besorgten Blick auf sich und bemüht sich, nicht so auszusehen, wie sie sich fühlt.
»War vorherzusehen, dass die Demos auch in Eilat anfangen«, sagt Meira trocken.
Anna legt ihre Tasche auf den Tisch und zieht die in Unordnung geratenen Notizen Blatt für Blatt heraus. Jemand schiebt eine Kaffeekanne und eine Tasse in ihre Richtung. »Vorsicht!«, sagt sie hektisch. Heiße Kaffeespritzer auf dem Pergament irritieren die Mikroorganismen in der Tinte darin. Sie seufzt und lässt sich in den Stuhl fallen. Sie sollte sich neues Pergament leisten, oder noch besser, direkt im Holo arbeiten. Mit Licht in die Luft schreiben. Aber etwas im Kontakt von Füller und Pergament macht die Gedanken greifbarer. Sie seufzt noch einmal und drückt ihre Finger auf die Tischplatte, bis das Zittern aufhört. Alles ist in Ordnung. Es ist nichts passiert. Atmen. Einfach atmen. Sie schenkt sich Kaffee ein.
»In Daressalam ist letzte Woche eine Genetikerin krankenhausreif geprügelt worden«, sagt Muhit. Er sieht blass aus. Selbst die rotglänzenden Schuppen auf seiner braunen Haut, die ihn als marinen Hybrid kennzeichnen, sind heller als sonst.
Meira lacht kurz auf. »In Alexandria haben sie einen aufs Dach gejagt und ein Feuer gelegt. Die halbe Demo war hinter ihm her.«
»Und?«, fragt Anna.
Meira zuckt mit den Schultern und fährt sich durch die kurzen Haare. »Und? Was denkst du, was passiert, wenn man vom zwölften Stock springt?«
Anna starrt sie einen Moment lang an. Dann ordnet sie ihre Notizen vor sich auf dem Tisch sorgfältig nebeneinander. Hat sie wirklich vergessen, die Seiten zu nummerieren? Sie schüttelt verärgert den Kopf und lässt ihren Blick von Zeile zu Zeile wandern. Sie streicht das Pergament glatt und tauscht Seite drei und vier miteinander. Ein kleiner schwarzer Käfer krabbelt auf Seite fünf über ein Zwischenergebnis. Gelbe Flecken zieren seine blau schimmernden Flügel. Er ist so weit weg von zu Hause.
»Es finden eben nicht alle gut, was sich verändert«, sagt Yovesh.
Der Käfer klettert vom Papier auf die Tasse. Er streckt seine Beine. Bestimmt fliegt er gleich los. Vielleicht hat sie ihn unterschätzt. Vielleicht weiß er, was er tut. Ihr Herzschlag normalisiert sich, ihr Atem geht ruhiger. Sie versucht, sich auf die Zeilen vor ihr zu konzentrieren.
»Da müssen sie ja nicht gleich Leute umbringen«, sagt Muhit. »Oder willst du das etwa gutheißen?«
»Nein, nein, natürlich nicht«, murmelt Yovesh und wird rot.
Plötzlich steht Muhit hinter Anna und legt seine dunkelbraune Hand über den Käfer. Anna erschrickt und starrt Muhit fassungslos an. Aber er lächelt nur und nimmt das kleine Tier vorsichtig hoch. »Anna, du träumst schon wieder, oder?« Bevor sie zu einer Antwort ansetzen kann, dreht Muhit sich um und geht zum Fenster. »Erst sollen wir alle Probleme der Welt lösen, den genetischen Kollaps verhindern, und dann arbeitet man und arbeitet, und zum Dank wird man bedroht«, echauffiert er sich. Er öffnet das Fenster und lässt den Käfer frei.
»So hart arbeitest du auch wieder nicht.« Meira lacht. »Ist das erste Mal heute, dass ich dich vor halb zehn im Labor sehe.«
»Warte! Dort draußen wird er sterben!«, sagt Anna. Aber Muhit hört sie nicht und der Käfer ist schon fortgeflogen.
»Ich sage ja nur«, beginnt Yovesh wieder. »Man muss auch die andere Seite sehen.«
Anna hebt die Tasse an. Der Käfer kann fliegen. Vielleicht findet er die Palme vor dem Eingang. Vielleicht schafft er es. Sie verschiebt die Seiten sieben, acht, elf und zwölf und nimmt einen Schluck bitteren Alg-Kaffee. Beinahe ihr ganzer Kopf verschwindet in der Tasse und für einen Moment verstummen die Geräusche der Welt. Sie setzt die Tasse wieder ab und die Spiegelbilder von Meira und Muhit tauchen auf der schwarzen Oberfläche im Inneren der Tasse auf. Dann schwappt der Tasseninhalt und der ganze Raum verliert seine Kohärenz.
»Andere Seite?« Muhit stemmt die Hände in die Hüften. »Wenn Menschen sterben, dann gibt es keine andere Seite, die man sehen muss!«
Yovesh zuckt mit den Schultern, dreht sich zu Meira und erzählt ihr von seinen Versuchen, Seepferdchen-DNS zu mutieren. Muhit packt seine Sachen und geht an seinen Schreibtisch. Anna schüttelt langsam den Kopf. Yovesh versucht es nach der Schindler-Thomson-Methode, dabei hat eine rezente Studie gezeigt, dass die Quadratische Mutation weit bessere Ergebnisse liefert. »Was ist?«, fragt Yovesh und schaut sie an. Anna hat nicht gemerkt, dass die anderen sie beobachten.
»Die Schindler-Thomson-Methode. Sie ist ineffektiv«, sagt sie und legt sorgfältig ein Papier auf das andere.
Yovesh runzelt die Stirn. »Bisher habe ich gute Ergebnisse.« Sie zuckt mit den Schultern, nimmt ihren Kaffee und steht auf. Yovesh schaukelt nachdenklich auf seinem Stuhl. Als sie schon in der Tür ist, springt er auf. »Anna«, ruft er, »warte!«
Schwarze Augen
Zehn Meter unter der Wasseroberfläche strotzt das Riff nur so vor Leben. Korallen und Anemonen in Rot, Orange, Gelb und Lila ebben mit dem Rhythmus der Strömung auf und ab, schwingen hin und her. Türkisfarbene Wellen tragen kleine und große Fische vor und zurück. Der löchrige Fels des gigantischen Riffs fängt sie auf und stößt sie ab, um ihn dreht sich ihr ganzes Leben. Dort, wo der weiße Sand des Meeresgrundes in der Tiefe verschwindet, werden die hellen Farben abgelöst von einem unendlichen Dunkelblau.
Anna reißt sich los von dem hypnotisierenden Rhythmus und lenkt ihren Blick auf die Seesternkolonie auf dem Felsen unter ihr. Sie drückt ihren Atmer fest, schließt kurz die Augen und atmet den Sauerstoff ein, den das Gerät aus dem Meer filtert. Gut. Der Atmer sitzt immer noch. Natürlich. Sie hat ihn ja schon mehrmals überprüft, aber sicher ist sicher. Über fünf Jahre sind vergangen, seit sie das letzte Mal Wasser geatmet hat, und heute soll nicht der Tag sein, an dem sich das ändert. Sie wird ihre Messungen machen, ihre Proben nehmen und wieder auftauchen. Alles wird nach Plan verlaufen. Langsam atmet sie aus und schaut den tanzenden Luftblasen auf dem Weg an die glitzernde Oberfläche hinterher.
Ein Schwarm kleiner Glasfische teilt sich vor der jungen Meeresbiologin, als sie einen rosa Seestern vom Felsen schält. Sie streicht mit einem Finger bewundernd über die rosa irisierende Haut von Artiaster roseus. Der Seestern windet sich in ihrem Griff. Anna kneift die Augen zusammen. Durch ihre minimal marin-hybride Genetik ist ihre Linse flexibel genug, um auch unter unter Wasser fokussieren zu können – allerdings nur, wenn sie sich konzenriert. Sie greift das Tier etwas fester und setzt das Messgerät an. Chip auslesen – klick. GPS-Koordinaten – klick. Durchmesser: 7,3 cm – klick. Sie lächelt. Drei. Ihre Lieblingszahl. Armumfang: 23,3 mm – klick. Zwei weitere Dreier. Das dürfte ein guter Tag werden. Die Ärmchen des hybridisierten Seesterns fühlen sich fest und prall an.
Sie zieht das Messer aus der Tasche, um die Gewebeprobe zu nehmen, als ein Glitzern sie ablenkt. Eine runde Muschel sitzt in geometrischer Perfektion eingezwängt zwischen zwei Ästen einer Feuerkoralle. Anna hält inne. Eine kleine Abweichung vom Plan kann sie sich erlauben. Mit der Pinzette in einer Hand versucht sie vorsichtig, die Muschel zu lösen. Nach ein bisschen Ziehen und Zerren fällt sie ihr in die Hand. Sie schimmert dunkelviolett im Licht. In beeindruckender Regelmäßigkeit umrunden parallele schwarze Streifen ihre Form. Gabri hätte sie gefallen. Anna wischt den Gedanken an ihren Bruder entschieden zur Seite und steckt die Muschel in ihre Tasche, als die Strömung sie mit der Wucht eines Solarbusses trifft. Die Welle versetzt die Riffbewohner in Aufruhr und zieht Annas Körper zur Seite wie ein Bündel Seegras. Pinzette, Messer und Seestern fallen, sinken in die Tiefe, und Anna rudert heftig mit den Armen. Ihre linke Hand trifft auf Widerstand und greift zu. Scharfer Fels bohrt sich in ihre Hand und sie saugt erschrocken die Luft ein. Die Strömung zieht fest an ihr.
Ihr Herz pocht immer noch, als das Meer sich wieder beruhigt. Man muss immer vorbereitet sein, ärgert sie sich. So ist der Ozean, immer in Bewegung, nie kann man wissen, was passiert. Deswegen muss man wachsam bleiben. Immer. Gerade als sie ihren Griff etwas lockert und sich nach ihren Sachen umsieht, trifft sie die zweite Welle wie eine Faust aus Wasser. Der Fels bohrt sich tiefer in ihre Hand und alles dreht sich. Ein Schrei löst sich von ihren Lippen. Ihr hektisch rudernder freier Arm stößt gegen den Atmer und schiebt ihn zur Seite, gerade weit genug, um den Luftstrom der Filterung zu unterbrechen. Die Strömung saugt an ihr, der Atmer rutscht weiter, sie hält die Luft an und paddelt panisch. Und dann löst sich das Gerät ganz von ihrem Kopf.
Nein, nein! Nicht jetzt, nicht hier! Wasser drückt kalt gegen ihre Lippen. Die Luft geht ihr aus. Ihr Herz pocht wie wild. Wellen schließen sich um ihren Körper wie eisige Hände, obwohl die Wassertemperatur warm ist. Sie ist nicht bereit dafür. Die feindliche Flüssigkeit will in sie eindringen. Sie droht zu platzen. Du hast doch hybride Lungen, hört sie die Stimme ihres ehemaligen Doktorvaters aus Alexandria, warum atmest du nicht einfach? Als ob es so einfach wäre! Sie explodiert innerlich. Alles in ihr schreit: »Hoch, an die Luft!« Aber die Luft ist weit weg. Keine Panik, keine Panik! Zählen! Ein schwarzblauer Käfer mit drei Punkten, drei, drei ist eine gute Zahl, drei, vier, fünf. Sie muss den Atmer zu fassen kriegen, sie muss den Fels loslassen, die Strömung wird sie mitreißen, sie muss auftauchen!
Anna zappelt mit Händen und Füßen. Sie öffnet den Mund. Das Wasser drückt sich hinein. Drückt gegen ihre Zunge, gegen ihren Gaumen, gegen ihre Zähne. So muss Gabri sich in seinen letzten Momenten gefühlt haben. Der Gedanke schießt ihr durch den Kopf und setzt sich fest, breitet sich von dort in ihrem ganzen Körper aus. Sie schließt die Augen und atmet ein. Lässt sich vom Wasser überwältigen. Wurde er ins Meer geschleudert, oder ist er auf der Flucht vor der Lava gesprungen? Ihr kleiner Bruder konnte kein Wasser atmen, es muss ein Akt der Verzweiflung gewesen sein.
Anna will schreien, aber es geht nicht. Sie hustet, aber das Wasser hat schon einen Weg in ihre Lungen gefunden. Ihr Körper muss wissen, was zu tun ist, wenn sie nur ruhig bleiben könnte. Acht, neun, zehn. Sie reißt die Augen auf. Der Atmer tanzt direkt vor ihr in den Wellen. Anna greift nach dem Gerät. Verzweifelt streckt und biegt sich ihr ganzer Körper durchs Wasser. Ihre Lungen wehren sich, alle Muskeln versteifen sich, als sie das Wasser aus sich hinausstößt. Ihre Hand erreicht den Atmer, berührt das Verschlussband, nur noch einen Zentimeter. Nur nicht noch einmal einatmen! Annas Hand schließt sich um das Gerät, hält es fest, zieht es zu sich. Sie liegt schräg im Wasser, die nächste Welle wird sie gegen das Riff drücken. Sie stülpt sich den Atmer über den Kopf, die Bänder sind verdreht. Zählen! Elf, zwölf …
Auf einmal kommt ein riesiger Schatten auf sie zu. Eine Schildkröte. Aus dem tiefen Blau gleitet eine riesige Meeresschildkröte mit sanften Flossenschlägen auf Anna zu. Für einen Moment vergisst sie ihre Panik. Das massige Tier bleibt zielsicher vor ihr im Wasser stehen und schaut sie mit neugierigem Blick an. Alte, schwarze Augen schauen tief in Annas Seele, erkennen sie und halten sie fest.
Alles ist in Ordnung. Sie muss nur weiter die Schildkröte ansehen. Nicht zählen, nicht denken, nur ihren Blick halten. Langsam sortiert Anna Arme und Beine, entwirrt die Bänder des Atmers, rückt ihn zurecht und schnallt ihn fest. Einmal kraftvoll ausatmen, und dann fließt Luft in Annas Lungen. Süße Luft, trockene Luft. Kann eine Schildkröte einen fragenden Blick haben? Wie tief können ihre Augen sein? Mit pochendem Herzen mustert Anna das Tier. Als Arbeitstier sollte die Schildkröte um diese Zeit wichtigen Aufgaben nachgehen und nicht Meeresbiologinnen erschrecken. Was macht sie allein hier am Riff? Stark genug für eine Instie wäre die Schildkröte mit dem dunkelrot schillernden Panzer, aber die Implantate fehlen. Die für schwere Arbeiten hybridisierten Instandhaltungs-Schildkröten sind aus den Genen der Grünen Meeresschildkröte, Chelonia mydas, und der Unechten Karettschildkröte, Caretta caretta, hervorgegangen. Verdichtet, sinnvollerweise, mit den fundamentalen drei Prozent der mythischen Lederschildkröte, Dermochelys coriacea. Aber die Schildkröte, die Anna neugierig ansieht, hat unversehrte Flossen. Ohne kybernetische Implantate für Präzisionsarbeit. Ledrige, weiße Haut umrahmt jede einzelne rotbraune Schuppe ihres Körpers. An der Seite ihres Halses erkennt Anna eine einzelne silberne, sternförmige Schuppe. Sonderbar. Eine verirrte Navtie? Aber Navigationsschildkröten verirren sich nicht. Ihre Sinne sind untrüglich. Außerdem trägt sie keinen Zuggurt. Die Identifikationsnummer. Sie wird eine Nachricht mit der Identifikationsnummer der Schildkröte an die Riffaufsicht schicken. Die Patrouillen können die Ausreißerin wieder einfangen. Anna löst ihren Blick widerwillig von den dunklen Augen der Schildkröte und ruft den Kontakt der Riffaufsicht an ihrem Holo auf. Sie will die Identifikationsnummer auf dem Halsband der Schildkröte ablesen, aber die Schildkröte trägt kein Halsband.
Anna kneift die Augen zusammen. Es muss da sein. Aber der Hals der Schildkröte ist genauso rotbraun geschuppt wie der Rest ihres Körpers. Man sieht nicht einmal einen Abdruck, den ein Halsband hinterlassen würde, wenn man es abnehmen würde. Wobei es wirklich keinen vorstellbaren Grund gibt, warum jemand einer Schildkröte das Halsband abnehmen sollte. Und dann setzt Annas Herz für einen Moment aus. Auf dem Panzer der Schildkröte wachsen Algen! Nicht nur auf dem Panzer, auch auf dem Rest ihres Körpers. Und Seepocken. Kleine, runde Krebse, die an ihr festgewachsen sind. Warum ist ihr das nicht gleich aufgefallen? Das ist schlicht und ergreifend unmöglich. Anna streicht sich mit einer fahrigen Bewegung über ihr Gesicht und stößt dabei gegen den Atmer. Die Arbeitsschildkröten werden jeden Abend gereinigt. Jeden. Abend. Könnte sie als Schlüpfling aus den Inkubatoren entkommen sein? Aber sie wäre niemals unbemerkt durch die Schleusen gekommen und die Schlüpflinge werden intraovular gechipt, noch vor dem Schlüpfen.
Aber natürlich! Es gibt eine Lösung. Eine noch unmöglichere Lösung. Sie könnte eine wilde Meeresschildkröte sein. Außer, dass es keine wilden Meeresschildkröten gibt, da sie seit beinahe hundert Jahren ausgestorben sind. Sicher, es gibt immer noch Menschen, die das leugnen, aber die Fakten sprechen für sich und den Fakten ist es egal, ob man sie leugnet oder nicht. Es gibt keinen Grund, an ihnen zu zweifeln, keinen rationalen zumindest. Bis auf diese Schildkröte hier, mit den tiefschwarzen Augen und dem überwachsenen Panzer.
Sie muss eine Nachricht an die Riffaufsicht schicken. Die Behörde wird wissen, was zu tun ist. Es ist schließlich nicht ihr Problem. Annas Finger schwebt über dem Holo an ihrem Handgelenk. Eine kleine Geste genügt und die Beobachtung wäre gemeldet. Sie zögert. Es ist etwas in den Augen der Schildkröte. Absicht. Eine Frage. Neugier? Alte Augen hat sie, wissende Augen. Anders als die Schildkrötenaugen, die Anna kennt. Wilder.
Sie atmet aus, erwidert den Blick der Schildkröte und hat das Gefühl, als würde sich etwas Schweres von ihr lösen. Dann kommt wieder eine Welle, bringt Anna ein drittes Mal aus dem Gleichgewicht und drückt sie auf die Schildkröte zu. Sie paddelt mit Armen und Beinen, aber die Strömung ist stärker. Anna stößt gegen das Tier, ihre Beine schlagen gegen den Panzer der Schildkröte und dann sind ihre schwarzen Augen direkt vor ihr. Sie blicken tief in Annas Seele hinein und Hände und Flossen finden sich instinktiv und berühren sich.
Richtungen verlieren ihre Bedeutung. Oben und unten lösen sich auf. Es gibt nur noch einen Weg: Tiefer. Ihre Finger kribbeln, violette Lichtflecken tanzen vor ihr hin und her. Anna fällt. Sie fällt in die Augen der Schildkröte. Und dann ist alles dunkel, warm und leise.
Langsam gehorcht ihr Körper ihr wieder. Sie bewegt die Flossen, ihr gepanzerter Körper findet sein Gleichgewicht in der Strömung. Sie öffnet die Augen und sieht eine andere Welt. Was ist nur mit dem Meer geschehen? Es ist angefüllt mit bunten Linien und Wirbeln, mit den Spuren kleiner Fische, mit den Mustern von Strömungen, ineinandergeflochten wie ein eng gewobener Stoff. Es riecht nach Delfin, nach Oktopus, nach Qualle und nach so viel mehr. Eine sonderbar zerbrechliche Frau schwebt vor ihr im Wasser. Ihre Haut ist braun, lange rote Haare fächern sich um ihren Kopf auf wie die Strahlen der untergehenden Sonne. Dort, wo die dünnen Finger ihrer viel zu dünnen Hand ihre Flossen berühren, ist es warm. Tiefblaue Augen starren sie überrascht an, als stünde die Zeit still.
Anna blinzelt, sie rudert panisch mit Armen und Beinen. Es sind ihre Arme und Beine, die da rudern. Ja, natürlich, ihr Körper, der in Panik geraten ist, ein menschlicher Körper, ihre Augen, die die Schildkröte suchen, die gerade noch hier war, vor nur einem Moment. Alles fühlt sich falsch an, ihr Blutsauerstoff ist zu niedrig, ihr Holo piept warnend. Sie hätte keine Warnung gebraucht. Es ist zu viel Wasser um sie herum. Es drückt gegen sie von allen Seiten. Es ist einfach zu nass hier, zu blau, zu tief. Sie muss nach oben.
Ein Ort für jeden Stein
Anna zieht sich an der Klappleiter hoch. Die Navtie Lini103 hält das kleine gelbe Forschungsboot ruhig im plätschernden Wasser. Muhit streckt ihr einen Arm entgegen. »Auf drei.« Sie keucht, als sie es ins Boot geschafft hat, reißt sich den Atmer vom Kopf und legt sich flach auf den Rücken. »Du bist so bleich wie der Bauch eines Riffhais! Was ist dir denn da unten begegnet?« Ihr bester Freund kichert.
»Nichts«, antwortet Anna und streicht sich die nassen Haare aus dem Gesicht. Auf keinem Fall kann sie ihm von der Schildkröte erzählen. Muhit würde sie für verrückt erklären. »Du arbeitest zu viel«, würde er sagen, und vielleicht hätte er damit auch recht. Vor allem müsste sie ihm dann erklären, warum sie die Riffaufsicht nicht alarmiert hat. Dafür gibt es einfach keinen guten Grund. Vor allem keinen, den sie erklären kann. Außer diesem Gefühl. Dass sie zu ihr gekommen ist. Völliger Schwachsinn! Warum soll eine Schildkröte sie aufsuchen, mitten im Meer? Außerdem sind wilde Schildkröten ausgestorben. Es führt kein Weg an dieser Tatsache vorbei. Bestimmt hat sie das Halsband übersehen und die Schildkröte ist bereits auf dem Weg zurück zu ihrer Gruppe. Oder jemand anders wird sie der Riffaufsicht melden.
»Du atmest, als hättest du Leistungssport getrieben«, sagt Muhit.
Anna brummt. »Die Strömung war stark.«
Muhit schaut sie aufmerksam an. »Hast du alle geschafft?«
Zehn Seesterne fehlen noch, elf, wenn sie den verlorenen mitzählt. Anna schaut ihm nicht in die Augen. Sie schüttelt den Kopf. »Ein paar fehlen noch.«
»Und …« Er zögert. »Willst du nochmal rein?« Er weiß es, sie muss ihm nichts erklären. Irgendwann hat er wohl eins und eins zusammengezählt. Angesprochen auf die Panikattacken hat er sie nie, aber er weiß, was damals passiert ist. Muhit redet zwar mehr als alle anderen Menschen, die sie kennt, zusammen, aber die wirklich wichtigen Dinge muss man ihm nicht sagen. Die Dinge, die man nur schwer in Worte fassen kann, versteht er auch so.
Anna schüttelt den Kopf und presst die Lippen zusammen. Noch einen Tauchgang schafft sie nicht. »Ein anderes Mal«, sagt sie leise. Muhit nickt und gibt Lini103 das Signal zur Rückfahrt. Die starke Schildkröte wirft sich mit festen Flossenschlägen in den Zuggurt und das Boot setzt sich langsam in Bewegung. Die Grüne Meeresschildkröte, Chelonia mydias, ist die genetische Grundlage der Navties. Es wurde über die Jahre viel gekreuzt und gebastelt, vor allem seit das Leslie-Gupta-Gen ausgehebelt wurde. In gewissem Sinne sind Navties der Archetyp von Schildkröte. Schildkröten, wie sie sein sollten, besser noch, als die Natur sie erschaffen hat. Ihre Gelehrigkeit und Loyalität, ihre enge Bindung zu ihren Pflegern sind der Stoff von Mythen. Niemand liebt wie eine Schildkröte, so sagt man, und jeder weiß, dass damit Navties gemeint sind.
Der weiße Sand auf dem Meeresboden macht Platz für einen Flickenteppich aus Steinen, Felsen und großen dunklen Kratern. Manche davon sind mehrere Meter breit. »Wir sind über den Löchern.« Annas Stimme klingt angespannt.
»Deswegen haben wir ja auch Lini dabei, schon vergessen? Wir hätten auch den Alg-Motor nehmen können. Entspann dich. Genieß die Fahrt.« Muhit lehnt sich zurück und beginnt, ein Lied zu summen. Anna erkennt den Titel. Messiba, der letzte Hit von Muhits Lieblingsband, Die Deserteure. Muhit hat keinen Sinn für Gefahr. Er muss so geboren sein oder vielleicht ist ihm einfach noch nie etwas Schlimmes widerfahren. Rational weiß Anna, dass er recht hat. Linis Magnetorezeption ist hervorragend. Sie spürt die Vibrationen, die einem Ausbruch vorausgehen. Deswegen besteht sie immer auf eine Navtie, wenn sie die Löcher überqueren müssen.
»Ich weiß«, seufzt sie. Dann klettert sie doch auf die Nase des Bootes. Von dort hat man den besten Überblick.
»Du weißt schon, dass du ihr nicht helfen kannst?«
»Ja, ja.«
»Heywahey, Reena, wir machen messiba, heywahey, oh Reena …« Muhit singt laut und ungehemmt. Mit seinen Armen macht er Tanzbewegungen. »Oh, Anna! Es gab seit Jahren keinen Unfall. Unsere Schildkröten sind die besten der ganzen Fünfstaatenallianz. Irgendeinen Vorteil muss die staatliche Förderung ja haben … Messiba!« Muhit seufzt. »Das weißt du alles, stimmt’s?« Anna nickt und schaut konzentriert auf das klare Wasser. Sie starrt in jedes Loch hinein, als könnte sie so die Zukunft erraten.
Später sitzt Anna vor ihren Daten am Bildschirm und schiebt die Zahlenreihen hin und her, aber die Konzentration will sich einfach nicht einstellen. Stattdessen sieht sie die Augen der Schildkröte mit der sternförmigen Schuppe vor sich. Etwas in ihnen war … anders. Besonders. Ob jemand sie gemeldet hat? Sie ruft die Seite der Riffaufsicht auf, aber dort steht nichts darüber. Natürlich nicht. Eine verirrte Arbeitsschildkröte ist nicht gerade eine Sensation, die eine Meldung wert ist.
Sie zögert einen Moment, prüft, dass sie niemand beobachtet, und gibt Halluzinationen beim Tauchen ein. Mit pochendem Herzen überfliegt sie Artikel über Tiefenrausch und Überdruck. Über Panikattacken und Euphorie, ausgelöst durch Stickstoff. Das Risiko von Lungenvorerkrankungen. Panikattacken … Sie schluckt. Sie sollte ihren Atmer austauschen. Vielleicht gibt es ein Problem bei der Filterung. Oder es liegt am Schlafmangel. Vorerkrankungen hat sie keine. Sie ist eine erfahrene Taucherin, trotz allem. Sie schüttelt den Kopf und schließt den Artikel. Heute wird sie einfach früher ins Bett gehen.
Anna seufzt und wendet sich der Arbeit zu, aber die Daten ergeben heute einfach keinen Sinn. Sie schüttelt den Kopf und lenkt sich mit der Lektüre der neuesten Ausgabe von Marine Genetik ab. Sie bereitet die Proben vor, die zur Analyse in die Labore der Unterwasserstadt Nof Shunit geschickt werden.
»Mittagessen?«, fragt Muhit und streckt den Kopf durch die Tür.
»Ich hab mir was mitgebracht«, sagt sie, ohne aufzuschauen. »Ich esse später unten bei den Schildkröten.«
»Wie du meinst«, sagt Muhit und tippt sich zum Gruß an die Stirn. »Die Proteste haben sich übrigens aufgelöst.«
Anna schaut zu ihm auf. »Gut«, sagt sie.
»Die Eingangstür ist eingeschlagen.«
»Hm.«
»Aber niemand wurde verletzt.«
»Gut.«
»Talitha will, dass wir alle morgen früh zur Sicherheitsbelehrung kommen.« Er zieht eine Grimasse.
»In Ordnung.«
»Als ob wir nichts Besseres zu tun hätten!«
»Sicherheit ist wichtig.«
Er nickt und schaut sie prüfend an. »Wie du meinst … Alles in Ordnung, Anna?«
Sie zwingt sich zu einem Lächeln für Muhit. »Alles in Ordnung. Danke.« Er nickt wieder und verschwindet. Anna atmet aus, schließt die Augen für einen Moment und konzentriert sich dann wieder auf die Berechnungen vor ihr.
Eine halbe Stunde später nimmt sie ihre Dose, geht die Treppe hinunter und hinaus zu den Schildkrötenbecken. Hier, zwischen der Rückseite des Gebäudes, den Becken und dem Meer ist die Welt ein bisschen leiser. Hier kann man denken und atmen. Was ist beruhigender als Schildkröten?
Sie setzt sich auf den warmen Steinboden in den Schatten und packt ihr Mittagessen aus. Die Luft ist bereits zu heiß, eine warme Brise bringt auch keine Abhilfe. Das Wasser plätschert. Faul schwimmen die Schildkröten hin und her. Zwei Porties beäugen Anna neugierig. Die massigen Transportschildkröten legen ihre großen Vorderflossen auf den Beckenrand. Anna streicht sanft über ihre schuppigen Köpfe. Ihre schwarzen Augen sind schön. Aber ganz anders als die der wilden Meeresschildkröte von heute Morgen. Die wahrscheinlich nicht wild war, korrigiert Anna sich.
Die Sonne spiegelt sich in jeder kleinen Welle und erschafft ein blendendes Netz aus glitzerndem Licht an der Wasseroberfläche. Anna kneift die Augen zusammen. Der Geruch von Meer und Schildkröten legt sich wie eine weiche Decke über ihre Sinne und die Welt wird langsamer.
»Anna, bist du immer noch hier?« Muhits Stimme reißt sie aus der Konzentration. Gerade haben die Daten begonnen, Sinn zu ergeben. Gerade hat sich ein Verdacht geformt, wo der Fehler liegen könnte. Anna atmet geräuschvoll aus und legt sich die Hände über die Augen. Ihr Kopf schmerzt. Es ist erst acht Uhr und schon dunkel. »Wir trinken ein Alg-Bier in der Küche. Meira, ein paar Master-Studenten und ich. Komm, setz dich zu uns.« Anna ist sich fast sicher, dass Muhit ein Auge auf den neuen Master-Studenten geworfen hat, denn er verbringt in den letzten Wochen besonders viel Zeit in der Gemeinschaftsküche. »Du hast noch genug Zeit zum Arbeiten. Dein ganzes Leben lang hast du Zeit dafür! Schalt den Computer aus. Versprich mir, dass du kommst!«
Es ist schwer, zu Muhit Nein zu sagen. »Ich überarbeite nur noch kurz eine Tabelle. Eine Minute.«
Als Anna wieder aufschaut, ist es elf Uhr. Das Gelächter aus der Küche ist verstummt. Sie schaltet den Computer aus, packt ihre Tasche und geht nach Hause.
Die Luft draußen ist immer noch warm. Sterne funkeln am Himmel. Ein orangefarbener, praller Mond geht über den Bergen im Osten auf. Das Meer rauscht, die Ziegen blöken. Eilat ist eine kleine Stadt. Sie ist bekannt für ihre Forschungsinstitute, aber der Rest der Infrastruktur liegt brach. Arbeit gibt es fast keine. Die ganz Verzweifelten handeln mit Schrott. Die Piratenlabore sind darauf angewiesen. Am Ende ist es wie überall der Schwarzmarkt, der alles zusammenhält.
In Gedanken versunken läuft Anna zwischen den Ruinen der alten Welt hindurch. Sie zählt die Sterne, so wie früher auf Réunion, als die Welt noch in Ordnung war. Sie und Gabri lagen im Sand, seine kleine Hand in ihrer, die Stimmen der Eltern nicht weit von ihnen. Rote Sterne zählten doppelt, Planeten zählten fünffach, Sternschnuppen zehnfach. Meistens ließ sie Gabri gewinnen.
Sie schließt ihre Tür auf. Ihr Apartment im Taba-Komplex III ist klein und heruntergekommen. Die Feuchtigkeit des Meers, die durch alle Ritzen kriecht, erinnert sie an zu Hause. Dem Kampf zwischen salziger Feuchte und trockener Wüstenhitze hat Materie nicht viel entgegenzusetzen. Die Fliesen im Bad haben ausnahmslos alle Risse, der Putz an den Wänden bröckelt. Anna hat es sich trotzdem gemütlich gemacht. Ein Zuhause muss es nicht werden. Es ist einfach der Ort, an dem sie gerade lebt, das muss reichen. Réunion war zu Hause. Das Meer rauschte sanft, die Wellen brachen sich gewaltig. Aber es bringt nichts, darüber nachzudenken, über dieses ganz besondere Grün der Palmen, darüber, wie der Wind nachts blies, wie es sich anfühlte, neben einem Vulkan zu leben, der die Erde unter einem zum Beben brachte. Es bringt nichts, denn es ist vorbei.
Vielleicht hat man nur ein Zuhause im Leben. Vielleicht hat es keinen Sinn, dieses Gefühl reproduzieren zu wollen. Anna geht mit langsamen Schritten durch ihre Wohnung, berührt eine große braun-weiß gestreifte Muschel, streicht über einen glatten, hellblauen Stein. Mit ihren Fingern fährt sie die Linien ihrer Sammlung nach, die die Erinnerungsstücke aus dem Wasser zeichnen. Ein jeder Stein an seinem Ort, eine jede Muschel an ihrem Platz. Gemeinsam zeichnen sie das Muster ihres Lebens. Eine Geschichte von dem, was war, was ist und was vielleicht noch kommen wird. Sie geht an den Wänden ihres Wohnzimmers entlang, an der Küche vorbei, durch den Flur und zurück ins Wohnzimmer. Wieder und wieder schließt sich der Kreis.
Sie macht sich eine Tasse Alg-Kaffee aus dem neuen Pulver, das wie echter Kaffee schmecken soll, nimmt sich zwei Kekse aus der Dose als Abendessen und setzt sich an den Tisch. Sie analysiert ihre Daten ein weiteres Mal, denkt über neue Ansätze der Gentranslokation nach, liest zwei Artikel, bis alles vor ihren Augen verschwimmt. Sie programmiert ein Modell, füttert es mit Daten, denkt an Gabri, denkt an die nötigen Korrekturen, findet den Fehler, denkt ans Meer. Das Modell funktioniert nicht, sie sucht den Fehler, hört die Wellen, hört die Stimme ihrer Mutter, sieht Gabri auf der Schaukel im Garten, sieht Gabri im Meer, ihr Herz zieht sich zusammen. Die Zahlen auf dem Bildschirm verschwimmen vor ihren Augen.
Sie macht eine Pause, legt sich in die Badewanne. Das warme Wasser plätschert leise, ein Käfer mit blauschwarzen Flügeln und gelben Punkten läuft an der Decke entlang. Er fliegt und landet neben ihr. Ist es der gleiche Käfer wie heute Morgen? Sie zählt seine Beine – sechs, – seine Punkte – drei – und lächelt. Unwillkürlich wandern ihre Gedanken zu Shiryam. Shiryam mit seinen schwarzen Locken, seinen meergrünen Augen und seiner sanften Stimme.
Die Deserteure
Es ist dunkel und drückend warm. Anna hat keine Ahnung, wie Muhit es geschafft hat, sie zu überreden, zu dem Konzert mitzugehen. Die Tatsache, dass Shiryam mitkommt, hat vielleicht eine Rolle gespielt. Vielleicht auch nicht. Sie hat sich seit dieser einen Nacht vor drei Wochen nicht bei ihm gemeldet. Es ist schwer zu sagen, warum. Es ist einfach kein Platz in ihr für so etwas. Das Leben ist schon kompliziert genug, so, wie es ist. Auch ohne jemanden, dessen Blick sie nervös werden lässt und bei dessen Lächeln ihr Herz zu flattern beginnt. Auch ohne Konzerte mitten in der Nacht, die ihren Arbeitsrhythmus stören. Ein Teil von ihr bereut es jetzt schon, dass sie mitgekommen ist. Der andere Teil fühlt sich … gut. Sie nimmt einen Schluck von ihrem Alg-Bier. Dieses Kribbeln im Bauch ist angenehm. Leicht.
»Yalla, komm!«, ruft Anna Shiryam zu und läuft schnellen Schrittes mit Muhit voraus.
»Die Deserteure, Leute! Das wird spitzenmäßig! Messiba, messiba, ohaoah, oh Reena!« Muhit singt und tanzt durch die Nacht.
»Ein bisschen Messiba kann ich jetzt auch gebrauchen«, sagt Meira und seufzt. »Aber wo die Party ist, hast du uns immer noch nicht erzählt.«
»Die Location ist top-secret, Meira«, sagt Muhit verschwörerisch. Sie laufen über eine salzverkrustete Fußgängerbrücke, die wenig vertrauenserweckend aussieht. Danach biegt Muhit links ab und geht eine Treppe hinunter, die mitten in eine Gebäuderuine führt. Anna sieht sich um. Der Sternenhimmel funkelt über ihnen. Durch ein Loch in der Fassade sieht man den aufgehenden Mond. Sie spürt ein sehnsüchtiges Ziehen in der Brust, als sie an ihre Notizen auf dem Schreibtisch denkt. Heute Nacht wird niemand an ihnen arbeiten.
»Sag nicht, dass es in Herod’s Palast ist, Muhit«, sagt Yovesh mit einem Ausdruck, der nahelegt, dass er dort noch nie war, und das auch nicht unbedingt ändern möchte.
Shiryam grinst, brummt, und schaut Muhit an. Muhit lacht. »Fast. Nicht ganz. Warum?«
»Man hört ja so einiges über den Palast«, sagt Yovesh. »Zwielichtige Geschichten. Kil’ayim, Extinktionsflüchtlinge und so weiter. Den Rest kann man sich ja denken.«
»Hybride«, sagt Muhit sanft, aber bestimmt. »Das Wort Kil’ayim kannst du aus deinem Wortschatz streichen. Und außerdem solltest du nicht alles glauben, was du hörst.« Ursprünglich wurden nur hybridisierte Menschen als Kil’ayim bezeichnet, deren Gesundheitsprobleme so tiefgreifend waren, dass ein normales Leben für sie unmöglich war. Aber das negativ konnotierte hebräischstämmige Wort setzte sich durch. Anna hat Muhits Meinung dazu schon so oft gehört, dass sie weiß, was jetzt kommt: »Es ist nicht nur unhöflich, Hybride als Kil’ayim zu bezeichnen, sondern reproduziert auch die Idee, dass es zwei Arten von Hybriden gibt«, beginnt Muhit zu dozieren. Stumm formt Anna mit ihren Lippen die bereits auswendig gelernten Worte nach. Muhit räuspert sich. »Die, die normalen Menschen überlegen sind, und die gescheiterten, kranken, kriminellen Kil’ayim. Du kannst weitere negative Worte einfügen.« Er macht eine großzügige Geste. »Weder das eine noch das andere ist eine korrekte Repräsentation der Realität …«, spielt Annas Gehirn weiter ab, während Muhit fortfährt. »Aber beides verschleiert die Realität: Nämlich, dass Hybride auf einem Spektrum existieren. Jede Veränderung der DNS bringt Vor- und Nachteile. Deswegen macht das Wort Kil’ayim kurz gesagt keinen Sinn, außer als Beleidigung.«
Anna bemerkt Yoveshs irritierten Blick. Bestimmt hat er kein Wort verstanden. Unwillkürlich rollt sie die Augen. Noch ein paar Monate als Muhits Kollege, dann wird sich das mit Sicherheit ändern. Muhit wartet den Effekt seiner Ausführung ab. Shiryam grinst und schüttelt den Kopf. »Also, ich lass mir nichts unterstellen«, verteidigt sich Yovesh. »Ich will niemanden beleidigen. Ich informier mich eben. Und ich habe so meine Theorien.« Muhit schüttelt den Kopf und stöhnt. »Gut. Also, ihr geht da öfter hin, was?«, fragt Yovesh, beinahe mit so etwas wie neuem Respekt in der Stimme.
»Yovesh, mein Bruder. Ja. Tun wir. Und du, ganz ehrlich, verpasst was.« Muhit klopft ihm auf die Schulter und Yovesh lächelt skeptisch.
So ganz kann Anna es ihm nicht verübeln. Yovesh Saab hatte bestimmt wenig Berührungspunkte mit Hybriden in seinem Leben. Er ist im Landesinneren aufgewachsen, in Yizraal, eine trockene Region mit wenig Kontakt zum Meer. Die Tiefen Hybride können unheimlich sein, das muss man zugeben. Nicht so wie Muhit. Muhit ist attraktiv, die Schuppen passen zu ihm. Tiefe Hybride sind etwas anderes. Wenn man sich nicht sicher sein kann, ob Mensch oder Tier vor einem steht. Wenn einem schwindlig wird, weil kognitive Kategorien vor einem zusammenbrechen … Wenn sie Muhit nicht kennen würde und Gabri nicht gehabt hätte, würde es ihr vielleicht auch so gehen.
Gabri hätte die Bezeichnung Kil’ayim verdient, so traurig es ist. Das war der Preis für eine billige Hybridisierung. Der Preis für die fast nicht zu integrierende, aber preiswert verfügbare Marsupial-DNS. Zahllose Stunden hat sie neben ihm verbracht. Die Pusteln in seinem Beutel-Rudiment desinfiziert. Salbe auf die vereiterten Fellstücke aufgetragen. Niemand sucht sich so etwas freiwillig aus. Der Effekt des Alg-Bieres lässt nach und ihr Kopf fühlt sich auf einmal heiß an. Pochend. Aber Yovesh kann nichts dafür. Niemand hier kann etwas dafür, dass die Welt ungerecht ist.
»Gehen wir weiter?«, fragt Anna mit gepresster Stimme. »Es wird spät.« Muhit nickt und geht voraus. Er führt sie über brüchige Treppen und durch zerfallene Durchgänge. Die sanft beleuchtete Kuppel der Riffaufsicht dahinter sieht unwirklich steril dagegen aus.
»Stimmt es, dass im Herod’s illegale terrestrische Hybridbanden mit fellbewachsenen Schwänzen leben?«, fragt Yovesh Anna leise.
Muhit bekommt einen Lachanfall, aber Anna hört die Frustration hinter seinem Lachen, hört, wie er die Zähne zusammenbeißt, um freundlich zu bleiben. »Banden? Yovesh, woher hast du dieses ganze Zeug?« Muhit klettert über ein wackeliges Stück Mauer und flucht leise. »Illegal, ja.« Er lacht bitter. »Wenn illegal bedeutet, dass keine Krankenversicherung dich akzeptiert, weil deine gesundheitlichen Probleme zu teuer werden … Wenn du mal zwanzig Jahre mit einem fellbewachsenen Schwanz gelebt hast, dann zwingen dich Rückenprobleme in die Knie, was eben so passiert, wenn Leute in deiner DNS rumbasteln, die sich nicht damit auskennen, während du in der Gebärmutter ein Nickerchen machst. Im Herod’s kommt einmal die Woche ein Arzt vorbei, der Hybride und Extinktionsflüchtlinge pro bono behandelt. So viel zu illegal.«
Anna beißt sich auf die Lippen. Sie schwitzt unter ihrem schweren Zopf. Dieses Thema tut ihr nicht gut. Sie muss sich setzen oder tief durchatmen. Zählen. Oder noch ein Alg-Bier trinken. Aber dann kann sie ihr Arbeitspensum für morgen gleich vergessen.
Yovesh wird rot. »Das kann man wohl so oder so sehen. Ich frage ja nur.« Er klingt defensiv.
»Freun-de!«, schaltet Shiryam sich ein und drückt sich dazwischen. Seine Stimme klingt sonderbar gedämpft, als hätten die Wörter Schwierigkeiten, seinen Mund zu verlassen. Er faltet seine Hände und summt etwas, das wie ein Satz klingt, aber keiner ist. Er schaut von einem zum anderen. »Messiba, ja?« Die Buchstaben klingen wie nicht zusammenhängende, weiche Murmeln. Anna erinnert sich dunkel, dass Shiryam etwas von einem Sprechproblem erwähnt hat. Aber als sie allein waren, klang seine Stimme zwar ein bisschen sonderbar, aber freier. Nicht so wie jetzt. Sie klang leise und melodisch. Besonders.
Yovesh und Muhit schauen betreten. Yovesh winkt ab, Muhit lächelt, klopft Yovesh wieder auf die Schulter und sie gehen weiter. Noch ein paar Schritte, dann türmt sich Herod’s Palast vor ihnen auf. Früher, vor den Feuern, war es eins der luxuriösesten Hotels in Eilat. Auch heute ist die Ruine noch beeindruckend. Aus beigem Stein gebaut reiht sich Stockwerk auf Stockwerk und mündet ganz oben in schwindelerregender Höhe in einer Vielzahl kleiner Türmchen. Die meisten sind abgebrochen. Einige der Stümpfe wurden umgebaut oder mit Palmen bepflanzt, die sich mutig dem Wind entgegenstemmen. Tausende Fenster starren ihnen wie bewegungslose Augen entgegen. Reste von Balkonen schweben in der Luft, abgebrochen oder repariert mit Holzplanken, Drahtseilen und Eisenstangen.
Sie betreten den Eingangsbereich. In der Lobby kann man in das Gebäude hinein nach oben schauen, bis der Blick sich verliert. Der Marmorboden ist zerfressen vom Salz der letzten 150 Jahre. Eine leere Rezeption aus Granit empfängt sie. Man spürt die Atmosphäre von Luxus selbst jetzt noch, auch wenn das ehemalige Hotel eins von vielen Opfern des steigenden Meeresspiegels ist. Pflanzen machen sich in jeder Ritze breit, Algen wachsen auf feuchten Oberflächen. Krebse rennen hektisch über den Boden. Trotz der Zerstörung der Zeit ist der Palast aufgeräumt. Man spürt, dass hier Menschen zu Hause sind. Löcher sind abgedeckt oder vernagelt. Der brüchige Marmorboden sieht frisch gefegt aus, kein bisschen Schutt liegt in den Ecken und die üppige Vegetation wird in Bahnen geleitet, die den Durchgang ermöglichen.
»Warst du hier schon mal, Mei?«, fragt Yovesh.
»Nein«, sagt Meira unbeeindruckt.
»Ziemlich … heruntergekommen«, sagt Yovesh. »Also, sicher ist das bestimmt nicht. Ich hoffe, wir gehen nicht die Treppe hoch.« Er wirkt nervös und Anna kann es ihm nicht verdenken. Im Herod’s gibt es tausend Wege, um ans Ziel zu kommen. Meistens kann sie sich mit Muhit auf einen einigen, der die Grundvoraussetzungen des gesunden Menschenverstandes erfüllt.
»Wohin, Muhit?«, fragt Anna.
»Wir gehen nicht hoch, wir gehen hinunter«, sagt Muhit feierlich. »Hier, hinter dem Treppenaufgang. Nur Geduld, meine lieben Mitstreiter, gleich werdet ihr sie sehen, die magische Pforte.« Er verbeugt sich theatralisch. Anna schüttelt den Kopf. Shiryam grinst und summt.
»So ein Quatsch«, murmelt Yovesh.
Mei geht unbeeindruckt hinter ihnen her. Ihre Finger streifen andächtig die Wände. Neben dem breiten Treppenaufgang ist eine türförmige Öffnung, hinter der eine kleine Treppe nach unten führt. Anna zieht fragend die Augenbrauen hoch. Muhit zuckt mit den Schultern.
»Yalla!«, sagt Shiryam und deutet nach unten.
Die Treppe ist schmal. Als Letzte in der Reihe muss Anna sich an Shiryam vorbeidrücken. Seit sie vor zwei Wochen eine Nacht miteinander verbracht haben, hat Anna sich gezwungen, nicht mehr an ihn zu denken, sich nicht zu fragen, was sie will. Oder was er will. Sie hat sich auf die Arbeit konzentriert, das ist immer die beste Lösung. Aber jetzt ist Shiryam auf einmal so nah, dass sie meint, sein Herz klopfen zu hören. Von seiner hellen Haut geht ein bläuliches Leuchten aus. Er riecht nach Meer. Eine lose, schwarze Locke streift ihre Stirn. Er schaut ihr in die Augen und lächelt scheu. Dann nimmt er ihre Hand, hält ihre Fingerspitzen nur ganz leicht fest, fast so, als hätte er es sich fast im letzten Moment anders überlegt. Seine Lippen bewegen sich, als versuche er, etwas zu sagen, aber kein Wort formt sich. Er lächelt entschuldigend und macht eine Geste mit der Hand, die Anna nicht versteht. Sie verliert sich trotzdem für einen Moment in seinen grünen Augen, die bei genauem Hinsehen so viele winzig kleine, dunkelgrüne Punkte haben, dass kein Mensch sie zählen kann. Auf einmal ist sie froh, dass sie den Artikel nicht zu Ende gelesen hat, sondern sich in Ruhe einen Fünfstrangzopf geflochten hat. Ihre Augen kommen so am besten zur Geltung, hat Mutter immer gesagt.
»Weißt du, wohin wir gehen?«, fragt Anna Shiryam, während sie die Treppe hinuntersteigen. Er nickt und sieht sie an, scheinbar hat er seine Worte immer noch nicht wiedergefunden. Anna stört seine Stille nicht. Sowieso wird Reden überschätzt. Alle reden den ganzen Tag, auch wenn sie eigentlich nichts von Bedeutung zu sagen haben.
»Eine Überraschung«, flüstert Shiryam. Anna runzelt die Stirn. »Etwas besonders Schönes«, sagt er und seine Stimme klingt wie langsam fallende Steine unter Wasser.
Am Ende der Treppe wartet Muhit und erklärt: »Zwei Wege führen zu unserer Destination, liebe Abenteurer.« Anna rollt mit den Augen. Muhit liebt dieses Drama. »Ein Weg auf dem Trockenen, der andere durchs Wasser.«
Meira und Yovesh stöhnen und Anna fühlt sich, als hätte die Vorderflosse einer Navtie ihr einen Schlag vor die Brust versetzt.
Muhit stoppt alle mit einer Geste. »Ich weiß, ich weiß. Aber – meine werten Damen und Herren! Wenn die Lungen es zulassen – « Er stoppt für eine dramatische Pause. »Würde ich die Wasserroute sehr empfehlen.« Er grinst in die Runde. »Glaubt mir. Das bisschen Nässe ist es wert.« Die anderen schauen ihn skeptisch an.
Die Wasserroute. Anna trägt Alg-Kleidung. Daran soll es nicht scheitern. Und die Nacht ist warm. Aber sie hat keinen Atmer dabei. Sie kann nicht ohne das Gerät tauchen … Zumindest konnte sie es bisher nicht. Konnte es auch das letzte Mal nicht, als die Strömung ihr den Atmer vom Gesicht gerissen hat. Aber jetzt ist Shiryam hier. Sie wirft einen schnellen Blick zu ihm. Er grinst Muhit zu und schüttelt sich seine Locken aus dem Gesicht. Bestimmt schwimmt und taucht er wie ein Fisch. Was würde er wohl denken, wenn sie sagt, dass sie Angst hat? Dass ihre Lungen Wasser atmen können, aber ihr Geist nicht? Sie nicht? Es ist vollkommen lächerlich. Es ist dumm! Ihr Herz pocht. Ihr Kopf ist heiß. Sie könnte sagen, dass ihre Lungen nur trocken atmen können. Aber das wäre eine Lüge. Muhit weiß, dass es nicht stimmt. Aber wenn sie die Wahrheit sagt, kommen die Fragen. Die Blicke …
»Yovesh, trägst du Alg?«
Yovesh schüttelt den Kopf. »Vergiss es, Muhit. Meine Lungen sind so trocken wie der Wüstensand. Ich kann nicht einmal mit Atmer tauchen, ich brauche Maske und Flasche. Ich nehme die Trockenroute, dankeschön.«
Muhit verbeugt sich. »Kein Problem, der Herr, wir beide nehmen die trockene Route. Anna? Mei?« Annas Gesicht glüht. Ihre Hände schwitzen. Auf dem letzten Tauchgang war sie nicht vorbereitet. Die Strömung hatte sie überrascht. Kein Wunder, dass sie in Panik geraten ist.
»Muhit, Muhit«, stöhnt Meira. »Wie lange dauert es? Ich bekomme Kopfweh, wenn ich Wasser atme.«
»Nicht lange, meine Liebste, nur ein paar Minuten.«
Meira seufzt. »Gut. Ich hoffe sehr für dich, dass es sich lohnt.«
Muhit klatscht in die Hände. »Ich wusste, dass du dabei bist, Mei!«
Anna knetet ihre Hände, ballt eine Faust, öffnet sie wieder. Sie könnte es einfach versuchen. Langsam. Schritt für Schritt ins Wasser gehen. Jetzt ist sie vorbereitet. Keine Überraschungen. Keine plötzlichen Strömungen. Vielleicht hat sich etwas verändert. Fünf Jahre sind eine lange Zeit. Sie ist älter geworfen. Reifer. Vielleicht kann sie es schaffen. Shiryam und Meira sind da. Das wird sie ablenken. Sie muss einfach an das Konzert denken. An Shiryam. Dann muss sie sich keine Blöße geben. Niemand muss etwas merken.
»Du hast hybride Lungen, Anna?«, fragt Meira.
Anna nickt. Sie räuspert sich. »Ich bin nicht so … in Übung.« Sie spürt ihr Herz schlagen. Eine gnadenlose Untertreibung. Shiryam lächelt sie ermutigend an. Warum sind seine Augen nur so unglaublich tief? Er soll nicht denken, dass sie sich nicht traut.
»Du kannst auch mit Yovesh und mir kommen.« Muhit schaut sie prüfend an.
»Kein Problem«, sagt Anna und spürt einen Knoten in ihrer Brust. »Ich nehme die Wasserroute.«
Muhit zuckt mit den Schultern. »Dann sehen wir uns auf der anderen Seite.« Er geht los und zieht Yovesh mit sich.
Shiryam deutet in die andere Richtung. Ein paar Meter weiter erwartet sie eine Treppe. Die Stufen führen direkt ins Wasser. Anna schluckt. Der Knoten in ihrer Brust zieht sich fester.
Mit seinen Händen bedeutet Shiryam ihnen, dass es nach unten geht und dann nach links. »Nicht weit«, lösen sich unförmige Worte aus seinem Mund. »Zeige euch.« Sie steigen die Stufen hinunter. Meira dreht sich nach Anna um und verbindet Daumen und Zeigefinger zu einem Okay und einer nach dem anderen tauchen sie ein. Das Wasser ist warm. Anna hält sich an den Wänden fest. Die Algen haben darauf einen weichen Teppich gebildet. Sie streicht mit den Fingern daran entlang und lässt sich ins Wasser gleiten. Dann sind alle Geräusche weg und die Welt ist dunkelblau. Shiryam hat eine Taschenlampe dabei und leuchtet voraus. Auf einmal hört sie seine Stimme. Deutlich, frei und klar. So klar, wie sie unter Wasser noch nie gehört hat, zumindest nicht ohne Aquavokalisierer. Wie ein Lied: »Kommt, hier entlang, kommt weiter.«
So weit, so gut. Aber sie hat noch nicht geatmet. Ihre Finger halten sich an der Wand fest, drücken sich gegen den schleimigen Algenteppich. Sie bleibt an Ort und Stelle, kommt keinen Fingerbreit voran. Einfach atmen. Einfach atmen. Trau dich. Eins, zwei, drei, vier … Und dann kommt es. Wie eine dunkle Faust, die sich um ihr Innerstes schließt und das Leben aus ihr herausdrückt. Das Wasser ist zu tief, zu nass, zu dunkel. Ihr Mund ist zu trocken, aber sie kann ihn nicht öffnen. Ihr Herz schlägt wie verrückt. Zählen! Sie muss Wasser einatmen, es gibt keinen Weg daran vorbei. Zähl! Fünf, sechs, sieben … Und wenn es nicht klappt? Wenn sie die Fähigkeit verloren hat? Wenn sie stirbt, wie Gabri? Ihr geht die Luft aus. Ihre Füße beginnen unkontrolliert zu zucken, stoßen gegen die Treppenstufen unter ihr. Die anderen sind schon unendlich weit weg, sie ist allein. Acht. Sie hört eine Stimme in der Entfernung, eine Stimme wie ein Lied. Sie öffnet ihren Mund, lässt das Wasser hinein. Neun, zehn. An etwas anderes denken. Shiryam. Das Konzert. An etwas Beruhigendes denken. Schwarze Augen. Sie atmet ein.
Ihre Lungen explodieren. Wasser ist überall, es kriecht in jede noch so kleine Ritze ihres Körpers. Nichts kann es aufhalten. Es ist ein Schlag gegen ihre Brust, eine dicke Flüssigkeit, die sie töten wird. Anna atmet aus, bietet dem Wasser Kontra, drückt es mit aller Macht aus sich heraus, schlägt mit Händen und Füßen um sich. Sie wird sterben, sie wird hier sterben, jetzt und hier. Ihre Finger krallen sich in die Wand, ihre Füße treten suchend nach dem Boden, ihr Körper kennt nur noch einen Gedanken. Hoch. Sie zieht sich nach oben, durchbricht die Wasseroberfläche. Ihr Innerstes explodiert nach außen. Mit einem brutalen Würgen erbricht sie einen Schwall von Wasser auf den Boden. Ihre Lunge krampft sich zusammen, wieder und wieder. Der Schmerz sticht in ihrer Brust. Dann spürt sie die Magenkrämpfe und erbricht sich.
Ein Heulen löst sich aus ihrer Kehle. Für einen Moment löst sich ein tiefer Schmerz aus ihrem Innersten und ein unkontrolliertes Schluchzen schüttelt ihren Körper. Auf einmal ist jemand neben ihr. Eine warme Hand legt sich auf ihren Rücken und streicht über ihre nassen Haare. Shiryam soll sie so nicht sehen. Sie drückt ihre Augen zu, befiehlt ihm in Gedanken zu verschwinden, sich in Luft aufzulösen. Befiehlt den Tränen zu versiegen. Aber nichts dergleichen geschieht. Shiryam bleibt neben ihr und die Tränen fließen weiter. Er sagt nichts. Er ist einfach nur da.
»Was habe ich verpasst?«, fragt Anna schließlich mit brüchiger Stimme und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.