Drei Schwestern - Jodie Chapman - E-Book

Drei Schwestern E-Book

Jodie Chapman

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Beschreibung

Was passiert, wenn die Welt, die du kennst, plötzlich nicht mehr dieselbe ist? – Die emotionale Geschichte dreier mutiger Frauen, die trotz aller Hindernisse einen Neuanfang wagen und sich gegenseitig Halt geben.

Die drei ungleichen Frauen Zelda, Isobel und Jennifer haben eines gemeinsam: Sie wurden von der Welt enttäuscht und stellen daraufhin alles infrage. Doch sie sind überzeugt, dass das nicht alles gewesen sein kann und das Leben mehr für sie bereithält.

Die selbstlose Isobel fällt aus allen Wolken, als ihr Mann sie plötzlich verlässt. Jennifer tut immer das, was von ihr erwartet wird. Doch ein schlimmer Schicksalsschlag entfremdet sie von ihrer Familie, und sie ist auf sich allein gestellt. Die freche Zelda hat ihren eigenen Kopf, aber niemand ahnt, dass ein Erlebnis aus ihrer Vergangenheit ihr bis heute zu schaffen macht.

Die drei Frauen führen völlig unterschiedliche Leben. Doch sie alle eint das religiöse Umfeld: Sie stammen aus einer Glaubensgemeinschaft, deren Regeln sie lange folgten. Als das Schicksal die Wege der drei Frauen kreuzen lässt, beginnen sie, das Altbekannte zu hinterfragen und gemeinsam einen Neuanfang zu wagen …

Lesen Sie auch »Eine ganze Liebe lang« von Jodie Chapman.

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Seitenzahl: 516

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Buch

Die drei ungleichen Frauen Zelda, Isobel und Jennifer haben eines gemeinsam: Sie wurden von der Welt enttäuscht und stellen daraufhin alles infrage. Doch sie sind überzeugt, dass das nicht alles gewesen sein kann und das Leben mehr für sie bereithält.

Die selbstlose Isobel fällt aus allen Wolken, als ihr Mann sie plötzlich verlässt. Jennifer tut immer das, was von ihr erwartet wird. Doch ein schlimmer Schicksalsschlag entfremdet sie von ihrer Familie, und sie ist auf sich allein gestellt.

Die freche Zelda hat ihren eigenen Kopf, aber niemand ahnt, dass ein Erlebnis aus ihrer Vergangenheit ihr bis heute zu schaffen macht.

Die drei Frauen führen völlig unterschiedliche Leben. Doch sie alle eint das religiöse Umfeld: Sie stammen aus einer Glaubensgemeinschaft, deren Regeln sie lange folgten. Als das Schicksal die Wege der drei Frauen kreuzen lässt, beginnen sie, das Altbekannte zu hinterfragen und gemeinsam einen Neuanfang zu wagen …

Autorin

Jodie Chapman wurde in Kent geboren, wo sie heute noch mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen lebt. Bevor sie sich ihrer eigentlichen Leidenschaft, dem Schreiben, zuwandte, arbeitete sie über zehn Jahre als Hochzeits- und Porträtfotografin. Die ersten 35 Jahre ihres Lebens war sie in der Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen, eine Erfahrung, die sie in Romanen auf beeindruckende Weise verarbeitet. Nach ihrem erfolgreichen Debütroman »Eine ganze Liebe lang« behandelt auch ihr neues Werk »Drei Schwestern« das Leben bei den Zeugen.

Von Jodie Chapman bereits erschienen

Eine ganze Liebe lang

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JODIE CHAPMAN

Drei Schwestern

Roman

Aus dem Englischen von Leena Flegler

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Oh Sister« bei Michael Joseph, London.

Das vorangestellte Zitat von John Berger stammt aus: John Berger: Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt. Aus dem Englischen von Axel Schenck. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2016.

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Copyright der Originalausgabe Copyright © 2023 JB Creative Ltd.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

JS · Herstellung: sam/er

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-26665-3V001

www.blanvalet.de

Für Sarah, meine Schwester

Anmerkung der Autorin

Aus Achtung vor meiner Mutter habe ich die dargestellte Religion umbenannt.

Aus Achtung vor mir selbst habe ich dieses Buch geschrieben.

Eine Frau muss sich ständig selbst beobachten und wird fast ständig von dem Bild begleitet, das sie sich von sich selbst macht. Ob sie durch ein Zimmer geht oder über den Tod ihres Vaters weint, sie wird es kaum vermeiden können, sich selbst beim Gehen oder Weinen zu beobachten. Von frühester Kindheit an hat man ihr beigebracht und sie dazu überredet, sich ständiger Selbstkontrolle zu unterwerfen. […] Sie muss alles prüfen, was sie ist, und alles, was sie tut, denn wie sie sich anderen darstellt und – letzten Endes – wie sie sich den Männern darstellt, ist von entscheidender Bedeutung dafür, was man gemeinhin als den Erfolg ihres Lebens ansieht.

John Berger, Sehen

Paradies

Meine Brüder und Schwestern, ich möchte euch zu einem Spiel einladen. Oder vielleicht ist Übung der bessere Ausdruck. Es geht um etwas, was ihr gut kennt, was ihr in Gedanken schon oft durchgespielt habt. Macht es euch bitte bequem und schließt jetzt die Augen.

Stellt euch vor, Harmagedon liegt hinter uns. Endlich bricht der große Tag unseres himmlischen Vaters an, und ihr wacht in der neuen Welt auf. Hört ihr die Vögel zwitschern? Auch sie lobpreisen unseren allmächtigen Gott. In der Luft hängt der Duft von Blumen und von Früchten, die in den Bäumen reifen. Vielleicht summen die Bienen und sind schon ganz benommen vom vielen Nektar. Das Paradies – könnt ihr es spüren, Brüder?

Euer Hinken – verschwunden. Die Augenprobleme – vergessen. Der Rollstuhl, auf den ihr angewiesen wart, und die Medikamente, die ihr täglich genommen habt – das alles ist entsorgt. Euer Körper ist makellos.

Spulen wir um ein Jahr vor. Ihr habt euer Land bestellt, euer eigenes Fleckchen Erde. In dieser neuen Welt brauchen wir keine Zäune, Tore oder Stacheldraht. Wir vertrauen unseren Nachbarn. Wir verriegeln nicht unsere Türen wie früher. Und unsere Häuser? Brüder … Stellt euch das Haus vor, das ihr für eure Familie gebaut habt! Eigenhändig! Kein Kredit, den ihr abstottern müsstet, es gehört euch einfach.

Und jetzt stellt euch vor, ihr sitzt in eurem Garten und genießt die Früchte eurer Arbeit. Eure Frau hat aus den besten Lebensmitteln ein Mittagessen zubereitet. Könnt ihr euch die Speisen vorstellen, Schwestern, die ihr aus dem zaubert, was ihr selbst angebaut habt? Keine Fahrten zum Supermarkt mehr, und ihr müsst auch nicht mehr jeden Penny umdrehen, um eure Familie zu ernähren. Gott versorgt euch mit allem, und jedes Essen ist ein Festmahl.

Während ihr das Brot brecht, lacht und plaudert ihr über den anstehenden Tag. Ihr fiebert nicht aufs Wochenende hin. Jeder Tag ist Wochenende. Seht euch um – ihr wart noch nie so glücklich. Euch fehlt es an nichts.

Doch unser Vater hat noch ein weiteres Geschenk für euch.

Was kann das sein? Das Gartentor quietscht. Es ist ganz leise, dieses Geräusch, trotzdem könnt ihr es hören. Schaut nach, da steht jemand vor der Tür.

Für jeden von euch ist es ein anderer Jemand. Vielleicht eure Mutter oder der Vater, den ihr seit Jahren nicht gesehen habt. Er sieht wieder jung aus. Oder eure Ehefrau, euer Ehemann, den ihr gepflegt habt, als er krank wurde, und dem ihr versprochen habt, ihn im Paradies wieder in die Arme zu schließen. Oder vielleicht ist es euer kleiner Sohn oder die Tochter, an die ihr tagtäglich gedacht habt, seit sie im Schlaf gestorben sind. Meine Brüder und Schwestern, ihr habt versprochen, für sie da zu sein, wenn sie aufwachen würden, und da seid ihr.

Jetzt, da sie wiedergekehrt sind, könnt ihr auf ewig in Frieden zusammenleben, genau wie es geschrieben steht.

Und jetzt macht die Augen wieder auf. Ihr kommt aus jener Welt in diese zurück. Das Leben ist grau. Sobald ihr heute von hier aufbrecht, fahrt ihr in eure Häuser, die eher der Bank gehören dürften als euch oder für die ein Vermieter eine Miete verlangt, die ihr nur mit Mühe aufbringen könnt.

Meine Brüder und Schwestern, euch gilt meine Liebe. Wir wissen, was wir in Zeiten wie diesen tun müssen, nicht wahr? Beten. Unser himmlischer Vater weiß, was wir durchmachen, und er verspricht uns eine neue Welt, deretwegen wir durchhalten. Tut also tagtäglich Folgendes: Nehmt euch nur fünf Minuten – sei es im Bus, zwischen zwei Türen beim Predigtdienst oder kurz bevor ihr abends einschlaft – , schließt die Augen und stellt euch das Paradies vor, das uns erwartet.

Nennt es eine Übung, weil wir auf diese Weise gewappnet sind. Machen wir uns auf diese Weise immer wieder die Hoffnung bewusst, damit wir uns so kurz vor der uns bestimmten Zeit nicht ablenken lassen. Der Tod gilt für uns nicht. Wir bleiben fokussiert und fest entschlossen, uns nicht vom rechten Weg abbringen zu lassen. Brüder, die bestimmte Zeit ist nahe.

Lasst den Lohn niemals aus den Augen.

Auszug aus einer Rede von Bruder DiazJünger der letzten Tage

Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.

Johannes 8,32

TEIL EINS

Ein halbes Herz

Zelda

»Begleitet Sie jemand?«

Zelda hört die Frage nicht. Sie ist von einem Lichtquadrat auf dem blauen Linoleumboden abgelenkt. Durch die abgestandene Sprechzimmerluft schweben Staubpartikel.

Die Krankenschwester blickt von ihrem Klemmbrett auf. »Wartet jemand draußen auf Sie? Ein Freund, ein Angehöriger?«

»Nein.« Zelda verschränkt die Arme. »Ist doch okay, oder? Ich bin erst in der siebten Woche, also kann ich doch einfach die Pille nehmen und wieder gehen.«

Lächelnd dreht die Krankenschwester ihren Kugelschreiber zwischen den Fingern. »Dann gehe ich davon aus, die Antwort auf die Frage, ob dies Ihr erster Abbruch ist, lautet Nein.«

Sie klingt freundlich, und am liebsten würde Zelda laut lachen. An die Frau kann sie sich vom letzten Mal sogar erinnern. Als sie hereingerufen wurde und ein bekanntes Gesicht entdeckte, fühlte es sich fast nach Geborgenheit an. Doch die Krankenschwester kann sich an sie nicht erinnern. Zelda fragt sich, wie viele Frauen mit knallroten Haaren in Männerklamotten in diese Klinik spazieren und ob man sie wirklich so leicht vergisst. Hoffentlich nicht.

»Aller guten Dinge sind drei«, antwortet Zelda.

Die Krankenschwester macht sich eine Notiz. Da ist nicht der Hauch von Verurteilung in ihrem Gesicht. Sie trägt ein halbes Herz um den Hals, und Zelda fällt ihr eigenes wieder ein, das ihre Schulfreundin Leila ihr zum Jahrtausendwechsel geschenkt hat, in ihrem Abschlussjahr. Zelda fragt sich, wer wohl die andere Hälfte des Krankenschwesterherzens trägt. An Leila kann sie sich kaum noch erinnern.

Als sie wieder auf die Straße tritt, ist Rushhour. Sie hört einen Lkw zurücksetzen und das Plaudern der Passanten. Die Bäume entlang des Gehwegs haben noch nicht ausgeschlagen, aber die Knospen sind bereits da. Zelda lässt die Tür hinter sich zufallen und zündet sich eine Zigarette an, zieht den Jackenkragen enger und lehnt sich an die Wand. Irgendwo läuft ein Radio, es geht um einen bevorstehenden Schneesturm, die Bestie aus dem Osten. Zelda hält das Gesicht in die Sonne.

Die Tabletten in ihrer Tasche will sie nehmen, sobald sie zu Hause ist. Sie hofft, dass noch ein bisschen Whisky da ist. Damit lassen sie sich leichter hinunterspülen. Egal, was die Krankenschwester sagt – die Krämpfe sind erträglicher, wenn die Kanten weicher sind.

Eine Frau bedenkt sie im Vorbeigehen mit einem empörten Blick. Vielleicht wegen der Zigarette – oder wegen der Abtreibungsklinik, vor der sie steht. Zelda starrt finster zurück.

Als sie sich in Bewegung setzt, riecht die Luft süß nach Zimt. Sofort steht ihr wieder der Grund für ihren empfindlicheren Geruchssinn vor Augen, und in der Hoffnung, ihn gleich wieder zu vergessen, kauft sie sich in der Bäckerei das größte, blättrigste Gebäckstück. Aller guten Dinge sind drei. Für die Narben, die sie davongetragen hat, würde sie sich nie entschuldigen, trotzdem sind sie da.

Zelda beißt gerade in den Blätterteig, als sie sie hinter der nächsten Straßenecke entdeckt. Abrupt bleibt sie stehen. Da, ein Stück voraus auf dem Gehweg, stehen zwei verhalten lächelnde Frauen in knielangen Röcken neben einem rollbaren Broschürenstand. Zelda kennt die beiden nicht – sie hat sich für eine Klinik in einer anderen Stadt entschieden – , aber die zwei sehen aus, wie sie alle aussehen. Auf dem Banner über den Broschüren steht: Ewiges Leben – wann?

Ihr schnürt sich die Kehle zu. Sie huscht zurück um die Ecke und presst sich gegen die Mauer. Ihr ist so schwindlig, dass sie nicht einmal merkt, dass ihr Samtsakko am Backstein einreißt.

In der nächstbesten Seitenstraße geht sie in Deckung. Ihr ist, als müsste sie sich übergeben, und so kommt es dann auch, direkt an einer leuchtend blauen Mülltonne. Erbrochenes sickert in alle Richtungen.

»Fuck«, sagt sie zum Boden. »So viele Jahre, und immer noch erwischen sie dich eiskalt.«

Leere Seite

Jen

Jen flüchtet vor dem Platzregen ins Kaufhaus. Rennen kann sie nicht mehr. Sie hat vergessen, sich von ihren Füßen zu verabschieden, bevor sie verschwanden, bevor sich neue Teile von ihr davorschoben: ihre Wangen, ihre Schenkel, ihr Busen, ihr Bauch. Alles ist durch Wassereinlagerungen und das neue Leben, das in ihr heranwächst, aus dem Leim gegangen.

Sie nimmt sich einen Flyer, um sich Luft zuzufächeln. Im Januar ist es in dem Kaufhaus eisig, trotzdem kriecht ihr der Schweiß aus allen Poren. Während sie nach hinten durchgeht, zieht sie eine Lage nach der anderen aus.

Sie hat hier Stunden zugebracht, ist in den Gängen mit Bettchen und Wannen und winziger Kleidung auf und ab gewandert. Die Auswahl an Zubehör ist überwältigend. Nach einer geschlagenen Stunde, in der sie Kinderwagen auseinander- und wieder zusammengeklappt hatten, hätte Pete fast das Handtuch geworfen. Wir sind ein einziges Klischee, dachte Jen bei seinem Anblick. Er lässt seine Ungeduld an unbelebten Dingen aus, während ich einfach nur jemanden brauche, der mir mal die Füße massiert.

Oft steht Jen einfach nur irgendwo herum und wartet darauf, dass andere werdende Mütter vorbeikommen. Dann tut sie so, als würde sie an Cremes schnuppern, obwohl sie in Wahrheit die Frauen mustert, die alle so aussehen und sich bewegen wie sie. Wie sie die Hand an den Bauch legen. Wie sich die Blockstreifen über ihrem Leib dehnen. Sie fühlt sich all diesen Frauen verbunden. Ihre Freundinnen haben ihre Babys längst bekommen und vergessen, wie sich Braxton-Hicks-Kontraktionen anfühlen, das nächtliche Sodbrennen, wie es ist, mit öliger Haut ins Bett zu steigen. Die Frauen hier in diesen Gängen erleben das Gleiche wie sie.

Sie wartet eine Zeit lang. Irgendwann biegen zwei Frauen um die Ecke und kommen auf sie zu. Sie halten Händchen, bleiben hier und da stehen und nehmen etwas aus dem Regal. Ein Töpfchen, einen Bilderrahmen, eine Nagelschere. Jen versucht, nicht hinzustarren, aber sie kann den Blick nicht von den Händen der beiden losreißen, von der Art, wie sie ihre Finger ineinander verschränkt haben. Der Anblick ist fremd und vertraut gleichermaßen.

Die beiden sehen flüchtig in ihre Richtung, als sie an ihr vorbeigehen. Eine Blondine, eine Brünette. Jen versucht, einen Blick auf die Bäuche zu erhaschen, aber die Blondine trägt ein weites Kleid und die Braunhaarige eine zugeknöpfte, zu große Jeansjacke. Sie kann nicht sehen, wer von den beiden die Mutter ist, ob überhaupt eine, und runzelt die Stirn. Zeigt es doch her, denkt sie sich. Ich will das doch wissen. Aber die Bäuche geben nichts preis, ebenso wenig wie die Gesichter. Sie könnte nicht sagen, ob ihre Wangen aufgedunsener wären als sonst, weil sie nicht weiß, wie sie normalerweise aussehen.

Jen folgt ihnen um die Ecke. Sie schlendern den Mittelgang entlang in Richtung Ausgang, bleiben dann aber beim Make-up stehen. Die Blondine gibt der Brünetten einen Kuss. Es ist ein Abschiedskuss, das kann jeder sehen. Sie streicht ihrer Freundin über die Wange, flüstert etwas und verlässt den Laden. Die andere sieht ihr kurz nach, dann geht sie die Treppe hoch in den Cafébereich.

Das Anstehen vor der Kasse dauert eine Ewigkeit. Jen tritt von einem Fuß auf den anderen. Verstohlen schnuppert sie an ihren Achseln und besprüht sich diskret mit Parfüm. Als sie endlich bezahlt hat, geht sie wie ferngesteuert in Richtung der Treppe und nimmt immer zwei Stufen auf einmal. Aber Rennen geht komischerweise nicht. Auf dem oberen Treppenabsatz bleibt sie stehen, muss erst wieder zu Atem kommen, spürt das sich bewegende Gewicht in ihr.

»Geht es Ihnen gut, Liebes?«, fragt eine ältere Dame und berührt sie an der Schulter.

Jen nickt und nimmt alle Kraft zusammen, um der Frau zu verstehen zu geben, dass alles in Ordnung ist. Lächelnd betritt sie den Cafébereich.

Die Brünette sitzt vor einer Tasse Kaffee in der Ecke und sieht aus dem Fenster. Jen stellt sich an und starrt zu ihr rüber. Die Frau ist ein wenig jünger als sie, vielleicht Ende zwanzig. Dunkle Locken umrahmen ihr Gesicht, und sie sieht verloren aus, so wie sie dort raus auf die Straße blickt.

Jen stellt ihr Tablett auf dem Nachbartisch ab, setzt sich und nimmt einen Stift und das Babytagebuch zur Hand, das sie sich gekauft hat. Die Brünette streift sie mit dem Blick, seufzt und sieht wieder weg.

Mit ihrem Kräutertee lässt Jen sich Zeit, schwenkt den Beutel im Becher herum, findet den aufsteigenden Dampf tröstlich. Es gibt nichts Besseres als heißen Tee, denkt sie und muss an ihre Mutter denken.

Beim ersten Schluck kleckert sie sich auf den Bauch. Ihr Ächzen erregt die Aufmerksamkeit der Brünetten, die auf Jens Bauch hinabblickt und lächelt. »Ups.«

»Man sollte meinen, ich hätte dazugelernt«, sagt Jen. »Wie viele Oberteile ich schon ruiniert habe … Ich bin einfach zu weit vom Becher weg.«

Die Frau lächelt wieder, traurig diesmal. Sie dreht sich weg, und im selben Moment will Jen nichts lieber, als deren Geschichte hören.

»Nicht mehr lange, und ich darf auch wieder Kaffee trinken.« Sie zeigt auf die Kaffeetasse.

Die Frau nickt höflich. »Ist also bald so weit?«

»Noch zehn Wochen. Ich kann es kaum erwarten, ihn kennenzulernen.«

»Gratuliere.«

Jen berührt ihren Bauch, und der Rhythmus, in dem sie darüberstreicht, weckt erneut die Aufmerksamkeit der anderen. Sie starrt auf Jens Hand hinab, dann sieht sie ihr ins Gesicht. Oh, denkt Jen. Da ist der Anflug eines wissenden, vielleicht sogar sehnsüchtigen Blicks. Sie errötet.

»Ich muss los.« Die Brünette steht auf.

»Aber Ihr Kaffee …?« Jen spürt, wie Panik von ihr Besitz ergreift. Sie will nicht, dass die andere geht.

Die Frau sieht auf ihre volle Tasse hinab, als wäre sie überrascht, dass sie dasteht. »Ach, den wollte ich eigentlich gar nicht.«

Jen möchte noch etwas sagen, bringt aber kein Wort heraus. Stattdessen nimmt sie ein paar große Schlucke und sieht der Frau nach. Als sie außer Sicht verschwunden ist, schlägt Jen seufzend ihr Tagebuch auf. Die letzten Schwangerschaftstage.

Sie sieht noch einmal zur Treppe und dann auf die leere Seite.

Neueres Modell

Isobel

26. März

Auto beim TÜV. Ist durchgekommen (natürlich), aber womöglich Zeit für ein neueres Modell. Steven vorgeschlagen, am Wochenende durch die Waschstraße zu fahren, aber er hat nicht geantwortet. Seltsame Laune neuerdings. Seinen Lieblings-Chicken-Pie gemacht. Online-Einkauf versucht, aber die roten Paprika waren grün, erstes und letztes Mal. Heute sonnig und warm.

27. März

Toni kam auf einen Kaffee vorbei. Zum neuen Sofa kein Wort, obwohl ich sehen konnte, wie sie es begutachtet hat. Ihre neue Frisur ist zu kurz, sie sieht damit aus wie ein Springer Spaniel. Gut, dass ich keine Locken habe, sieht immer wirr aus. Muss schrecklich viel Arbeit machen. Zur Zusammenkunft gefahren. Wolkig und kühl.

28. März

Kurz mit Patrick gesprochen und Cassandra angerufen, ging wie immer nicht ran. Hat mehr Zeit für ihre Freunde als für die eigene Mutter. Unsere Bäume sind immer noch mickrig und sehen kränklich aus, und das ja wohl schon seit Jahren. Steven meint, die Erde dürfte voller Schutt vom ursprünglichen Haus sein. Finde, wir sollten sie abtragen und frische aufschütten lassen, aber er ist nicht begeistert. Der Rasen an sich ist okay. Spielt doch keine Rolle, was drunter ist. Steven war mit den Jugendlichen aus der Versammlung bowlen. Der Himmel zieht sich zu.

29. März

Hotel für unseren Jahrestag im Oktober gebucht. Zu Steven noch nichts gesagt. Das neue Kochbuch ausprobiert, das Jude mir empfohlen hat, laut Rezept wären zehn verschiedene Gewürze nötig gewesen! Und mal ehrlich, die Möhren haben komisch geschmeckt. Frage mich, ob sie so etwas für Patrick kocht. Er mochte sein Essen als Kind immer eher ungewürzt. Kann mir nicht vorstellen, dass er sich so sehr verändert hat. Heute wärmer.

30. März

Steven hat mich verlassen. Regen.

Ballade

Jen

Anlässlich ihres fünfzehnten Hochzeitstags fuhren Jen und Pete nach Margate. Im Vorfeld hatten sie Freunde gefragt, ob sie mitfahren wollten, aber insgeheim war Jen froh, dass sie wegen ihrer Kinder abgelehnt hatten. Sie wollte den Tag mit ein paar Bieren am Strand und vielleicht einem Abendessen in einer Austernbar verbringen statt in einer familienfreundlichen Fast-Food-Klitsche. Sie hätte womöglich anders gedacht, wenn sie und Pete ebenfalls Kinder gehabt hätten. Hatten sie aber nicht, also dachte sie eben so.

Zuerst gingen sie an den Strand, bevor die Horden kämen. Die Luft war feucht, der Himmel wolkenlos, sie lagen in der Sonne und blätterten in Zeitschriften. Pete ging Dosenbier kaufen, und das tranken sie, während sie den Unterhaltungen ringsum lauschten. Hier und da las Pete ihr etwas laut vor und merkte nicht mal, dass sie selbst in ein Buch vertieft war. Nur gut, dass sie sich hinter ihrer Sonnenbrille verschanzen konnte. Sie fragte sich, ob sich wohl noch jemand an diesem Strand so einsam fühlte wie sie.

Anschließend bummelten sie an den Geschäften vorbei. Am oberen Ende der Hauptstraße lag ein Gebrauchtmöbelladen, und Jen spähte durchs Schaufenster zu den skandinavischen Holzmöbeln, zeigte auf einen Stuhl mit Armlehnen. Pete verrenkte sich den Hals, um das Preisschild zu entziffern, und schnaubte. Ich würde mir trotzdem gern etwas kaufen, sagte sie. Ein Erinnerungsstück. Er zuckte mit den Schultern. Auf dem Rückweg hügelabwärts kaufte sie sich einen Ofenhandschuh.

Am Abend betraten sie ein Fischlokal, in dem nichts mehr frei war. Sie hätten reservieren müssen, sagte die schnippische Bedienung. Immerhin sei Samstag.

Als sie zurückfuhren, sagte Pete zwischen zwei Mundvoll Pommes: »Findest du nicht, wir sollten dich mal testen lassen?«

»Testen?«, gab sie zurück, auch wenn sie genau wusste, was er meinte.

»Ich sag ja nur, es sind jetzt zwei Jahre, und immer noch nichts.«

Jen ließ den Blick über die karge, flache Landschaft schweifen. Strommasten zogen an ihnen vorbei und verschwammen vor ihren Augen. »Wie kommst du darauf, dass ich das Problem bin?«

Pete seufzte. »Das hast du falsch verstanden. Ich nehme einfach an, dass sie zuerst die Frau untersuchen.«

Sie antwortete nicht.

»Ich hab gehört, dass die Fruchtbarkeit der Frau ab fünfunddreißig rapide abnimmt, insofern sollten wir vielleicht nicht noch länger warten.« Er legte ihr die Hand aufs Bein. »Was meinst du? Sollen wir das mal checken lassen?«

Jen stellte die Stereoanlage an und klickte durch ihre Musik. Sie drückte auf Play, und die Synthesizer und Beats einer Achtziger-Ballade erklangen. Ein Text, der von Stille und Herzschmerz handelte. Pete nahm seine Hand wieder weg.

»Was soll das?«, fragte er. »Willst du, dass ich jetzt losheule?«

Der Fast-Food-Geruch schlug ihr auf den Magen. »Ich mache Musik an, weil du beim Fahren sonst auch immer Musik hören willst. Ist also nicht recht? Mache ich es schon wieder falsch?«

Er presste die Lippen zusammen. »War nur ein Witz.«

Jen schob die Hände zwischen ihre Oberschenkel und das billige Autositzpolster. »Bei mir auch.«

Mit einer Hand am Steuer angelte Pete sein Handy hervor und klickte weiter, zum Jaulen eines alten Countrysängers – genau die Musik, die sie hasste. Alter Mann sitzt am Lagerfeuer und singt über Frau, die er mal im Bus gesehen hat. Die Honkytonk-Stimme triefte vor Reue.

Wann ist das passiert?, fragte sich Jen, während draußen die Welt an ihr vorüberzog. Wann haben wir aufgehört, Songs über Dinge zu hören, die wir tun würden, und angefangen, Songs über Dinge zu hören, die wir nie getan haben?

Als das Lied zu Ende war, ließ er es noch einmal laufen.

Haut auf Haut

Jen

Du schaffst das, sagt eine innere Stimme, und dann schreit ihr Körper, dass sie pressen muss. Eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden lang. Keiner zählt mit, allerdings verstreicht eine Minute nach der anderen.

Für den Rest ihres Lebens und bis ins kleinste Detail würde Jen den Raum beschreiben können, in dem sie Jacob zur Welt gebracht hat. Nicht dass sie es jemals tun würde. In so einer Geschichte will niemand von hohen Fenstern hören, vom trockenen Quietschen der Tür, wann immer eine Hebamme eintrat, von den Schwenkwandlampen ohne Glühbirnen, von den leeren Betten. Trotzdem hätte sie die Einzelheiten jederzeit parat. Dass es sich anfühlte wie bei einer Beerdigung. Dass Pete neben ihr weinte. Dass die Hebamme ihr über den Rücken strich. Vor allem die Hebammen mit ihrem Mitgefühl würde sie nie vergessen, wie sie sich auf die Lippe bissen, wie sie vor Sanftheit schier triefend statt dringlich immerzu wiederholten: Kommen Sie schon, Jen.

Von Dringlichkeit ist keine Rede mehr.

Sie wissen, wie es ausgehen wird, genau wie sie selbst seit einigen Tagen weiß, dass das Kinderzimmer leer bleibt. Seit Tagen weiß sie es, die sich wie Jahre anfühlen. Doch wenn sie behaupten würde, dass sie keine Hoffnung mehr hätte, würde sie lügen.

Die Hebammen sind sanft mit ihr, wirklich. Trotzdem will Jen, dass sie sich beeilen. Sie will den Notfallplan, die besten Ärzte, Alarmstufe Rot. Als sie zu guter Letzt spürt, wie Jacob ihren Leib verlässt, nimmt die Hebamme den kleinen Spatzenkörper hoch und verschwindet zu einem Tisch hinter einem Vorhang, wo sich die anderen um sie scharen.

»Atmet er?«, hört sie sich in den kühlen Kissenbezug hinein fragen.

Die Stille ist ohrenbetäubend.

Pete steht immer noch neben ihr, presst sich die Hand auf den Mund. Ich hätte Mum mitnehmen sollen, nicht ihn, schießt es Jen durch den Kopf.

Als sie ihr Jacob in die Arme legen, schiebt die Hebamme Jens Oberteil hoch, damit sein Köpfchen über ihrem Herzen ruhen kann. Haut auf Haut. Sie werden nicht darüber sprechen, wie sie ihn zum Stillen anlegen muss. In den Worten der Hebammen schwingt Endgültigkeit mit.

»Aber sind Sie sich sicher, dass er tot ist? Sind Sie sich absolut sicher?« Ihre Stimme klingt zeitverzögert, medikamentenbenebelt.

Du musst um ihn kämpfen.

Pete schluchzt, und Jen blickt auf ihren Sohn hinab.

Ein rötlicher Haarschopf geht über in Stirn, Augenbrauen und eine Nase, die ihrerseits perfekt in die Wangen übergeht. Jen ist von der Schönheit seiner Finger, von den winzigen Zehen schier überwältigt. Dieses Gesichtchen ist in aller Abgeschiedenheit entstanden. Sie fragt sich, welche Augenfarbe er hat, und ihr Verlangen ist zwiegespalten: Sie will ihn nicht stören, weil er so friedlich daliegt, gleichzeitig will sie ihn schütteln, ihn wecken, ihm die Lider aufziehen. Wie kann etwas verkehrt sein, was doch so perfekt und so richtig aussieht?

Er ist wunderschön, aber er rührt sich nicht, und jetzt erkennt auch sie, dass es für ihn keine Hoffnung gibt.

Erst ist sie eifersüchtig und will ihn nicht hergeben. Sie ist fest davon überzeugt, dass ihre Herzen im selben Takt schlagen. Jacobs Finger umklammern ihren Daumen, und Jen ist sich sicher, dass er den Griff verstärkt, als wüsste sein Gehirn, dass hier jemand ist, an dem er festhalten kann. Pete redet, allerdings hört sie ihn nicht. Ihre Augen sind Kameras, die mit jedem Blinzeln ein Foto schießen. Sie will nicht über Zeit nachdenken oder den Mangel an Zeit, und doch kann sie nicht anders.

Plötzlich Petes Stimme. »Darf ich ihn halten?«

Wortlos überreicht sie ihn ihm. Sie sind jetzt allein, die Hebammen haben sich den Babys zugewandt, die die Station nicht in einem Sarg verlassen, denen, die milchsatt vor sich hin glucksen und deren übernächtigte Mütter sich von Tee und Toast ernähren. Jen fragt sich, ob sie das einzige Paar sind, das ohne Babyschale im Auto gekommen ist.

Die Hebamme, die ihr den Rücken gestreichelt hat, ist wieder da. Sie tritt von einem Fuß auf den anderen und zieht dann die quietschende Tür auf, um wieder zu gehen. Schon komisch, denkt Jen, dass die Welt dort draußen weiter existiert.

In Petes langen Armen sieht Jacob winzig aus, als hielte Pete eine Tüte Karotten. Er wiegt Jacob hin und her, und sie sagt: Hör auf, du tust ihm noch weh. Sie sieht Pete ins Gesicht, und er weint. Und das Wiegen ist auch kein Wiegen, er hat seinen Körper nicht unter Kontrolle. Brodelnder Hass ergreift von ihr Besitz. Das Gefühl ist ganz plötzlich da, und es ist irrational, wie kann er es wagen zusammenzubrechen, solange sie es nicht tut.

»Nicht.« Jen kann die Trauer eines anderen gerade nicht ertragen. »Gib ihn mir zurück. Er braucht mein Herz.«

Sie bekommt ihn wieder. Bei ihr soll er bleiben. Sie streicht ihm über die platt gedrückten roten Locken. An ihren Lippen fühlt sich seine Ohrmuschel seidig an. Er ist in ein Krankenhausdeckchen gehüllt, das von zu häufigem Waschen kratzig ist und sich anfühlt wie ein sonnengebleichtes Badetuch. Entschuldige bitte, mein Schatz, denkt sie, ich hätte dir Kaschmir mitbringen sollen.

Erneut geht die Tür auf, wieder sieht jemand nach ihnen. Pete winkt, und dann spürt sie eine fremde Hand an ihrer Schulter.

Grauen überrollt Jen. Sein Körper erkaltet, und ihr dämmert, dass ihr Leben von nun an zweigeteilt sein wird: in ein Vorher und ein Nachher.

Geht so die Welt zu Ende? Ohne Vorwarnung. Ohne die Gewissheit eines letzten Atemzugs. Wir sollten wissen, wann er bevorsteht, denkt sie, dieser letzte Schluck Atemluft, der letzte Schluck Fruchtwasser – damit wir unser Augenmerk darauf richten können. Und was würde das ändern? Sie zieht das Deckchen enger. Was wäre die Aufmerksamkeit wert? Er wäre immer noch tot.

Die Hebamme sieht auf die Uhr und drückt sanft Jens Schulter. »Ich lasse Sie noch ein Weilchen allein.« Wieder das Quietschen der Tür.

Sie wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen. Pete steht immer noch da, allerdings jetzt mit den Händen in den Hüften, und er sieht aus, als würde er nach einem Schuh suchen. Er gäbe einen guten Dorftrottel ab, denkt Jen unwillkürlich. Sie will, dass er geht, dass er das Zimmer verlässt, damit nur noch sie und Jacob übrig sind. Sie hatte ihn monatelang für sich. Sie hat seine Tritte gespürt. Sie ist noch nicht bereit, ihn mit anderen zu teilen oder ihn wegzugeben.

Die Hebamme kommt mit einer Kollegin zurück. Jetzt schon?

»Sollen wir ihn Ihnen geben?«, fragt Pete.

Wir.

In einem anderen Leben hat Jen Petes Höflichkeit immer geliebt. Die Art und Weise, wie er mit dem Barista im Coffeeshop und mit Verkäufern spricht, wie er sich bei der Bedienung bedankt, wann immer sie eine weitere Gabel, ein weiteres Messer bereitlegt, und wie er seinen Dank binnen zehn Sekunden gleich mehrmals wiederholt. Diese Eigenheit hat sie an ihm immer gemocht. Doch jetzt, nur wenige Augenblicke nachdem ihr Sohn tot zur Welt kam, sieht sie nur, wie er sich bei den Hebammen beliebt machen will, damit sie beim Gehen über ihn denken: Was für ein netter Mann. Er will die Sache beschleunigen, damit sie ihn mögen.

Als sie Jacob schlussendlich hergibt, lässt Jen die Hände schwer auf die Matratze fallen. Sie sieht zu, wie die Hebamme sich von ihr abwendet und wieder hinter dem Vorhang verschwindet. Wahrscheinlich legen sie ihn in einen Sarg, denkt sie, und dann will sie lieber gar nicht mehr denken.

Jetzt spricht die andere Hebamme, doch die Stimme klingt schwer und schleppend. Jen spürt Nadelstiche am ganzen Leib und stellt sich die mikroskopisch kleinen Löcher als schweißgefüllte Krater vor. Alles fühlt sich wie im Schnellvorlauf an, sie sackt zurück, ihr Kopf fällt aufs Kissen. Sie dreht ihn hin und her, damit beide Wangen die raue Baumwolle spüren. Als sich ihr Blick wieder stabilisiert, sieht sie die Hebamme vor sich, die sie stumm anschreit. Pete zerrt an ihrer Hand. Die zweite Hebamme kommt mit leeren Händen hinter ihrem Vorhang hervor. Wo ist er?, will Jen rufen, und sie hört, wie die Frage in ihren Ohren widerhallt – möglicherweise hat sie wirklich gerufen. Ihre Augen lösen sich aus den Höhlen, schweben hinauf an die Zimmerdecke und werden zu Überwachungskameras. Da liegt sie, auf ihrem Bett, ihr Gesicht ein Bild des Grauens. Sie sieht, wie eine Hebamme die Bettdecke zurückschlägt, Jens Nachthemd nach oben schiebt und ihre Beine darunter rot bemalt sind. Die andere Hebamme stürmt zur Tür und zieht an einer Kordel. Jens Augen verlieren das Interesse. Sie sieht dorthin, wo Jacob liegt, zum abgeschirmten Teil des Zimmers. Kurz denkt sie darüber nach, sich dort hinzudrängeln, und dann verhöhnt sie sich fast für diesen Gedanken. Sie hat ihre Arme und Beine auf dem Bett zurückgelassen. So funktioniert Drängeln nicht. Aber ich muss ihn mir zurückholen, denkt sie, ich muss ihn wiedersehen. Liegt er in einem Sarg? Oder hat die Frau ihn ins Bettchen gelegt? Er könnte dort rausfallen – warum passt denn niemand auf ihn auf? Sie nötigt sich, die Zimmerecke zu verlassen, über dem Treiben dort unten zu schweben. Wenn sie es sich nur fest genug vornimmt, dann klappt es.

Sie ist so vereinnahmt von all dem, was klappen könnte, dass sie gar nicht mitbekommt, was wirklich passiert. Der Strom aus Menschen, der sich ins Zimmer ergießt.

Ich komme, mein Schatz. Ich mag nur ein Augenpaar sein, aber das heißt immerhin, dass ich sehen kann. Warte, ich komme zu dir. Du wachst wieder auf, und all das war bloß ein schlimmer Traum.

Hektik bricht aus.

Noch heute ist Schluss

Zelda

Zelda schiebt die Tür zu dem Pub auf. Leute drehen sich nach ihr um. Sie nimmt es kaum zur Kenntnis.

Das Licht ist gedimmt und angenehm, perfekt für den ersten Eindruck.

Den Pub hat Zelda ausgesucht, eine alte Gastwirtschaft aus dem sechzehnten Jahrhundert mit vertäfelten Wänden und präparierten Tierköpfen in der Kaminecke. Die Akustik ist fürs erste Treffen optimal.

Ihr Date der Woche sitzt an der Bar und lässt über seinem Whisky die Schultern hängen. Zelda bleibt stehen, um ihn zu mustern. Seine Haare sind blonder als auf dem Foto, aber die jugendliche Ausstrahlung ist vorhanden.

Er springt auf, als sie auf ihn zugeht, und auf seinem Gesicht macht sich ein Lächeln breit. »Zelda, oder? Hier, nimm du meinen Barhocker. Ich hole noch einen.«

Amüsiert sieht sie zu, wie er sich auf die Suche nach einem zweiten Hocker macht. Der Schankraum ist voll, und die erste Frau sagt Nein, sie habe nicht bloß ihre Tasche dort geparkt, sie warte auf jemanden, also versucht er es bei einem Typen, der nicht mal auf seinem Hocker sitzt, sondern nur den Fuß abstützt. Der Mann legt besitzergreifend die Hand auf die Sitzfläche, und Zeldas Date kehrt zu ihr zurück. »Nichts zu machen.« Er hebt beide Hände.

Zelda lacht. Dann merkt sie, dass sie seinen Namen vergessen hat. Sie nimmt ihr Handy heraus und scrollt durch ihren Chat.

»Was Besseres in Aussicht?«, fragt Will.

»Nicht heute Abend.« Sie lässt das Handy zurück in die Handtasche fallen.

Will lacht. Er beugt sich leicht vor, stützt die Ellenbogen auf den Tresen, doch sein Gesicht bleibt ihr zugewandt.

»Gute Wahl, dein Drink«, stellt Zelda fest. »Mal etwas anderes.«

»Anders als …?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Das übliche Pint Stella oder sonst irgendwas, wovon man rülpsen muss. Halt, warte …« Sie schnipst mit den Fingern. »Du bist der Typ Craftbeer, oder? Wenn Bier nicht in irgendeinem New-England-Style-Schuppen gebraut wurde, ist es für deinen Gaumen zu kommerziell.«

Will kratzt sich das Kinn. »Bin ich so leicht zu durchschauen?«

»Ach, weißt du … Ich mache das hier schon eine Weile, da wird man irgendwann zur Expertin.«

Mit hochgezogener Augenbraue greift er zu seinem Whisky. »Wie lange machst du das hier denn schon?«

»Eindeutig länger als du.« Sie winkt dem Barkeeper.

»Entschuldige!« Eilig stellt Will seinen Whisky ab und tastet nach seiner Brieftasche. »Was möchtest du trinken?«

»Ist schon okay, ich bezahle selbst.«

»Ich bestehe darauf.«

»Nein, ich bestehe darauf.«

Sie reißen beide die Augen demonstrativ weit auf.

»Ah«, sagt Will, »verstehe.«

»Was?«, entgegnet Zelda, als der Barkeeper auf sie zukommt.

Will schüttelt lächelnd den Kopf, und ihr fällt seine Höckernase auf. Ihr gefallen oft Dinge, die andere für einen Makel halten. Bei großen Nasen wird sie schwach.

Sie bestellt sich eine Rum-Cola.

»Eine Kubanerin für die Dame«, sagt der Barkeeper mit einem Zwinkern.

»Bitte, der Herr. Und er hier nimmt auch eine.« Sie zeigt auf Will.

»Ich bleibe beim Scotch.« Will hält seinen leeren Tumbler hoch.

Zelda bezahlt, sie stoßen an und sehen einander zu, wie sie an ihrem Drink nippen.

Eine Bedienung kommt mit Speisekarten auf sie zu. »Wollt ihr essen? Ich habe gerade eine Stornierung reingekriegt. Hinten wäre noch ein Tisch frei.«

Zelda will schon Nein sagen, als Will sich kurzerhand nach der Speisekarte ausstreckt. »Wie wär’s?«, fragt er. »Erträgst du mich noch zwei Stunden?«

Sie hält sich ihre Armbanduhr nah vors Gesicht, um auf dem verschnörkelten Ziffernblatt etwas zu erkennen. Das erste Date ist immer nur ein Drink – so kann am Ende jeder gehen, ohne allzu viel Geld oder Nerven investiert zu haben, und man muss sich auch wirklich nicht wiedersehen. Ist sie denn bereit, gleich den nächsten Schritt zu gehen? Vielleicht, wenn du die Rechnung übernimmst, denkt sie sich, andererseits hat sie selbst gerade erst die Feminismuskarte ausgespielt.

»Wir nehmen den Tisch«, sagt Will zur Bedienung, nimmt Zeldas Jacke und beide Drinks. Dann zwinkert er ihr über die Schulter hinweg zu. »Komm schon, so können wir zumindest beide sitzen.«

Sie seufzt, rutscht vom Barhocker und wirft ihre Haare zurück. Großen Nasen und breitbeinigem Auftreten kann sie nicht widerstehen. Die Schwäche muss sie gleich morgen angehen.

Zehn Minuten zuvor ist ihr Essen gekommen, und Zelda fragt sich bereits, ob sie ihn falsch eingeschätzt hat. Er stellt ihr allen Ernstes Fragen – wo sie aufgewachsen ist, was sie beruflich macht, was ihre Hobbys sind – und gibt sich nicht mit einsilbigen Antworten zufrieden. »Hochzeitsfotografin?«, hakt er nach. »Da musst du ja irre Geschichten erzählen können.« Zelda zuckt mit den Schultern und nimmt einen Bissen. Normalerweise geht sie in der Stunde, die so ein Date dauert, im Kopf ihre To-do-Listen durch oder versucht, auf den Namen des Promis zu kommen, an den er sie erinnert – alles, nur um sich die Zeit zu vertreiben, bis sie zu ihm gehen. Aber Will scheint nicht daran interessiert zu sein, über seine Sicht der Dinge zu reden. Sein Blick und seine Aufmerksamkeit gelten allein ihr. Jetzt gerade sieht er sie in Erwartung der Antwort auf eine Frage an, die sie vollkommen überhört hat.

»Keine Ahnung«, sagt sie reflexartig.

»Du weißt nicht, wo du wohnst?«

»Oh.« Sie hüstelt in ihre Serviette und fährt sich durchs Haar. »Ein Stück außerhalb. Bin ein Mädchen vom Lande.«

Will nickt. »Ich kann mir dich auch echt gut vorstellen, wie du auf dem Heuboden herumtollst.«

Zelda leckt ihre Gabel ab. »Jetzt bin ich mal dran mit Fragen.«

Er deutet eine Verbeugung an und löffelt sich noch ein paar Bratkartoffeln auf den Teller.

»Wie alt bist du wirklich?«

Der Löffel bleibt auf halber Strecke in der Luft hängen. »Was soll das denn heißen?« Er räuspert sich. »Ich bin neunundzwanzig.«

»Blödsinn.«

Will versucht offensichtlich, sich ein Schmunzeln zu verkneifen. »Wie kommst du darauf, dass ich nicht neunundzwanzig wäre?«

»Ist doch offensichtlich.« Zelda nippt an ihrem Wein und studiert sein Gesicht. »Du strahlst noch richtig. Du bist noch nicht abgestumpft.«

Er starrt sie an.

Sie starrt zurück.

»Sechsundzwanzig«, sagt er schließlich.

Die Bedienung kommt, um ihre Gläser aufzufüllen, und das Gluckern des Weines untermalt das Schweigen. Die Bedienung hat verstanden und verzieht sich wieder, ohne zu fragen, ob das Essen in Ordnung ist.

»Vierundzwanzig«, sagt Will, »jetzt aber wirklich, Ehrenwort.«

»Um Himmels willen …«

Will verzieht das Gesicht. »Zu jung? Wie alt bist du denn wirklich?«

»Vierunddreißig, und ich habe damit auch kein Problem.«

»Jetzt hältst du mich für einen Volltrottel, was?«

Statt zu antworten, gießt Zelda sich mehr Wein nach. Es ist ihr völlig egal, ob er lügt, aber sie genießt es, Oberwasser zu haben.

»Ich dachte, wenn ich mein richtiges Alter angebe, bist du vielleicht nicht interessiert.«

Zelda greift nach ihrem Glas. »Und warum bist du interessiert?«

Er runzelt die Stirn. »Das ist jetzt ein Witz, oder?«

»Ich dachte, Männer stehen auf Jüngere.« Die Gerbstoffe brennen auf ihrer Zunge.

»Einige bestimmt, aber vielleicht bin ich ja nicht wie die anderen?«

»Oh, bitte.«

»Ich hab ältere Frauen schon immer gemocht. Die wissen, was sie wollen.«

»Ach ja?« Zelda starrt seine Nase an und stellt sich vor, wie sie ihm mit den Schneidezähnen über die Nasenspitze fährt und hineinbeißt. »Na ja, vielleicht hast du recht.«

Sie sieht auf die Uhr. Fast zehn. Sie muss mehr trinken, wenn das Flirren, das sie braucht, rechtzeitig einsetzen soll. »Du bist aber nicht noch Jungfrau, oder?« Sie schenkt sich abermals nach.

Diesmal läuft er dunkelrot an. »Nein. Du?«

Sie lacht in ihr Glas. »Wir zählen jetzt aber nicht unsere Verflossenen, oder? Immerhin ist das hier unser erstes Date.«

Die Bedienung kommt zurück und fragt, ob sie die Dessertkarte sehen möchten, und diesmal kommt Zelda ihm zuvor. »Nur die Rechnung bitte.« Dann kippt sie den restlichen Wein.

Draußen ziehen sie ihre Jacken an. Es ist Anfang März, die Luft noch kalt. Zelda packt ihn am T-Shirt und zieht ihn näher. Der Kuss ist gut.

»Ich gehe lieber zu dir als zu mir«, flüstert sie. »Du wohnst hoffentlich nicht mehr bei deiner Mum, oder?«

Er lacht leise und fährt sich mit der Hand über den Kopf. »Also, ich weiß ja nicht … Erstes Date, schon vergessen?«

»Wie bitte?« Sie tippt ihm mit dem Zeigefinger gegen die Brust.

»Ich … äh … muss morgen auch echt früh raus …«

Zelda klappt die Kinnlade runter, und sie macht einen Schritt zurück. »Hast du das gerade wirklich gesagt?«

»Ich meine ja nicht, dass ich nicht interessiert wäre.« Er legt ihr die Hände um die Taille. »Immerhin habe ich mich für dich älter gemacht, oder etwa nicht?«

»Aha.«

Er will noch etwas sagen, doch dann küsst er sie lieber. Es ist ein langer, langsamer Kuss, die Art, in der man sich verlieren kann. Die Art, von der Zelda anfangs im Leben immer geträumt hat. Ein Rettungswagen schrillt an ihnen vorbei, ein paar Betrunkene torkeln vorüber, trotzdem gibt es für sie nichts außer ihnen beiden.

»Für einen Teenager küsst du ganz gut«, sagt Zelda, als sie sich von ihm losmacht, um zu atmen.

»Ich liebe Frauen mittleren Alters.«

Sie schlägt spielerisch mit der Handtasche nach ihm.

Lächelnd fängt er ihren Blick auf. »Ich bringe dich noch zum Taxistand.«

»Ah.« Sie weicht von ihm zurück. Diese Formulierung kennt sie. »Du sagst, wo es langgeht.«

Er nimmt ihre Hand, und sie schlendern die Straße entlang wie jedes x-beliebige Pärchen. Für einen Freitagabend ist es ruhig, und sie müssen ein gutes Stück in Richtung Innenstadt gehen, wenn sie ein Taxi finden wollen. Will sieht hin und wieder zu ihr rüber – flüchtige Blicke, begleitet von einem Lächeln.

Zelda sieht sich im Vorbeigehen die Gebäude an. Warum hat sie diese Stadt eigentlich nie verlassen, diese langweiligen Wohnblocks und Erinnerungen an jeder Ecke? Die Stadt sieht aus wie jede andere, und das Gleiche gilt für die Leute. Urplötzlich sehnt sie sich nach einem anderen Leben.

Kurz bevor sie auf die Hauptstraße abbiegen, verliert Zelda die Geduld und zieht ihn um die nächstbeste Ecke. Es ist eine Sackgasse, und das orangefarbene Licht der Straßenlaternen schimmert dumpf über den Schatten.

»Was wird das?«, fragt er und lacht, als sie immer noch nicht stehen bleibt.

Zelda presst ihre Lippen grob auf seinen Mund. Mit gespreizten Fingern stützt sie sich an der Mauer ab, vor ihr Will, hinter ihm die Wand, und tastet sich vor bis zu der Beule in seiner Jeans. »Ich hab was, wenn du was brauchst«, sagt sie zwischen zwei Küssen.

»Was brauche ich denn?« Er klingt atemlos, woraufhin sie den Druck verstärkt.

»Du weißt, was ich meine.« Sie nimmt seine Hand und legt sie sich an die Brust. »Komm schon, du kannst mich nicht erst heißmachen und …«

Erst da fällt bei ihm der Groschen. Will schiebt sie von sich weg. »Warte.«

»Was soll das?« Sie zieht ihr Oberteil wieder runter und macht einen Schritt zurück.

Er steht – eindeutig erregt – vor ihr und fährt sich durch die Haare. Dann atmet er tief aus, als hätte er die ganze Zeit die Luft angehalten.

Zelda hält ihm ein Foto auf ihrem Handy hin. »Das bist doch du, oder? Dieser Typ mit nur einem Bild, freier Oberkörper, kein Text?«

»Na und?«

»Du willst doch nur Sex, oder?«

»Wovon redest du?«

Zelda verdreht die Augen und seufzt genervt. »Ein Bild, kein Text. Weiß doch jeder, dass du nur dabei bist, um Sex zu haben. Siehst du das?« Sie scrollt weiter, ruft ihr eigenes Profilbild auf, auf dem sie sich vor zur Kamera beugt. »Titten und Zähne. Ein einziges Foto. Ich mach da mit, um Sex zu haben.«

Will schlägt die Hand vor den Mund. »Das war mir nicht klar …«

»Verdammter Anfänger.« Zelda dreht sich weg und streicht sich übers Haar.

Er schüttelt den Kopf und tritt gegen einen Abfalleimer. »Gott, dieses Scheiß-Onlinedating ist einfach zu kompliziert. Woher soll ich so was wissen? Ich mache keine Selfies und kann mich auch nicht selbst beschreiben, ohne dass ich wie der letzte Idiot klinge. Ich dachte, ein Foto würde bescheiden wirken, also nicht selbstverliebt oder so – und jetzt sieht es aus, als wäre ich die letzte Schlampe.«

»Schönen Dank auch.«

»He, das meinte ich nicht – du kannst verdammt noch mal machen, was immer du willst, und mal ehrlich, Zelda, es ist ja nicht so, als würde ich nicht mit dir … Aber das ist eben nicht alles, was ich will.«

»Lass gut sein.« Diesen Part hat sie schon zigmal von zig Typen gehört.

»Willst du mich gar nicht kennenlernen?«

»Ich hab dich doch gerade kennengelernt!«

»Und du willst sofort mit mir Sex haben.«

»Du nicht?«

»Doch. Schon. Aber …«

Zelda reißt verzweifelt die Arme hoch.

»Hör mal … Ich hab One-Night-Stands ausprobiert … ein paarmal, an der Uni.« Er schiebt die Hände in die Taschen und schüttelt den Kopf. »Das gibt mir nichts.«

»Du bist ja süß.« Zelda knöpft ihre Jacke zu.

»Und du magst nichts Süßes.« Er schlägt den Blick nieder und lacht tonlos. »Aber fühlst du dich so nicht einsam?«

Sie starrt ihn an. Ihre Freunde haben ihr immer bescheinigt, dass die Art und Weise, wie sie mit Männern umspringt, der Wahnsinn ist, aber in allem Wahnsinn steckt stets auch ein Körnchen Vernunft. Wenn die Messlatte nur hinreichend niedrig hängt, wird man nicht enttäuscht.

Trotzdem hat er was, wie er sich durch die Haare fährt, wie ihm die Strähne, die er sich aus dem Gesicht streicht, sofort wieder über die Augen fällt. Er hat was, wie er die Zunge aus dem Mundwinkel schiebt, wenn er nervös wird, sodass seine Zungenspitze fast die Wange berührt. Er hat was, wie er sie so ansieht. Als könnte er all das erkennen, was sie sonst immer verheimlicht.

Er hat was.

Sie strafft die Schultern. »Ich bin nicht einsam«, sagt sie. »Außerdem – was bringt es denn, sich erst kennenzulernen, nur um irgendwann festzustellen, dass man im Bett nicht zusammenpasst? Das kann man doch genauso gut gleich herausfinden.«

Er sieht sie wieder an. Sein Lächeln besagt, dass er sie am Haken hat und sich all das zusammenreimen kann, was sie nicht sagt.

In ihrem Bauch regt sich Wut. Glaubt dieser Frischling etwa, dass er einfach bei ihr einmarschieren und Mauern niederreißen kann? Jetzt kommt er auf sie zu und beißt sich in die Unterlippe, wie vorhin schon. Sie ballt die Fäuste.

Einen Schritt von ihr entfernt bleibt er stehen, und sie kann seinen warmen Atem spüren.

Er sagt es schon wieder. »Fühlst du dich so nicht einsam?«

»Wie – so?«

»Indem du auf alles scheißt.«

»Ich bin nicht einsam«, wiederholt sie. »Es gibt immer neue Typen zum Swipen.«

Er tut so, als würde er zusammenzucken, und schnalzt ein paarmal kopfschüttelnd mit der Zunge. Die Geste erinnert sie an jemanden, an den sie lieber nicht denken möchte.

»Tschüss dann«, sagt sie, rührt sich aber nicht vom Fleck.

Er kommt ein Stück näher. »Tschüss.«

»Warum«, flüstert sie, »muss der Austausch von Körperflüssigkeiten immer etwas Heiliges sein? Einander die heftigen, dunklen Sachen zu erzählen, einander hier reinzulassen …« Sie tippt sich an die Schläfe. »Das ist heilig. Da darf nicht jeder rein.«

Sie starren einander an und lauschen den Geräuschen der Hauptstraße.

Er neigt sich vor zu ihr, langsam, damit sie Zeit hat zurückzuweichen. Sie weicht nicht zurück. Ihre Münder passen zusammen, ihr Speichel vermischt sich, und Zelda spürt ein Fleckchen spröder Haut auf Wills Lippe. Es scheuert an ihrer Lippe. Allmählich entspannt sich ihr Körper.

»Siehst du«, flüstert sie, »man kann auch einfach mal leben. Wenn man nur ein bisschen weniger steif …« Ihre Hand wandert abwärts und übernimmt abermals die Kontrolle. »Hallo … was rede ich denn da!«

Er lacht in ihr Ohr, aber sein Atem stockt. Sie kann seine Unsicherheit spüren.

»Wenn wir jetzt doch … Telefonieren wir morgen dann trotzdem?« Ihre Nasenspitzen berühren sich.

Zelda schließt die Augen. »Na klar.«

Und dann lässt er zu, dass sie ihn vögelt. Oder er sie. Ganz klar ist es nicht. Ihre Hände sind im dunklen Leuchten nicht zu erkennen, doch wenn ihre Blicke sich begegnen, wenn einer von ihnen zusieht, wie sich das Gesicht des anderen verzerrt, ist da Klarheit, und ohne die Eile, die Männer mit Zelda sonst an den Tag legen, unterbricht er den Rhythmus immer wieder, um innezuhalten, um sie zu küssen und ihr Gesicht zu halten. Die Luft ist angefüllt mit ihren Mündern und Kehlen, mit dem gelegentlichen Geräusch von der Straße, als sie sich in der schmutzigen Gasse abseits der Hauptstraße einen Moment Zeit für sich nehmen.

Er begleitet sie zum Taxi, hält ihre Hand und ist stolz, sie neben sich zu wissen. Zelda versucht, sich von ihm loszumachen, aber er verstärkt den Griff um ihre Hand.

Als er sie nach ihrer Telefonnummer fragt, bringt Zelda es nicht übers Herz, sie ihm zu verweigern. Sie diktiert ihm die Nummer, die sie immer hergibt, die mit der falschen Ziffer am Ende. Er wird sie ohnehin nicht anrufen, sie rufen nie an, nicht nachdem sie in die Vollen gegangen ist.

Doch dann presst er sich das Handy ans Ohr und lässt sie nicht aus den Augen.

»Was soll das?«, fragt sie panisch.

»Ich rufe dich gerade an.«

»Ich hab auf Lautlos gestellt.«

»Dann geh eben ran«, sagt er seelenruhig.

Mit einem Bein im Taxi erstarrt sie und weiß nicht, was sie tun soll.

»Hallo?« Er sieht sie noch immer unverwandt an. »Ist da Zelda?« Pause. »Entschuldigung, da hab ich mich verwählt.« Er legt auf.

»Oh«, sagt sie, »das ist ja komisch, lass mal sehen.« Sie reckt den Hals, um einen Blick auf sein Display zu werfen. »Die letzte Ziffer ist falsch. Fünf statt drei. Da hast du dich verhört.«

Er versucht es wieder, diesmal mit einem Lächeln. »Guck auf dein Handy«, sagt er gespielt streng.

Sie durchwühlt ihre Tasche, kramt ihr Handy heraus und winkt damit in seine Richtung. »Hallo? Ja, Zelda hier. Kannst du sie jetzt bitte gehen lassen?«

Mit einem Nicken packt Will sein Handy weg. »Schon besser.«

»Sturer Mistkerl.«

»Meine beste Eigenschaft.«

»Ich muss jetzt wirklich los.« Trotzdem rührt sie sich nicht von der Stelle.

»Die sexuelle Kompatibilität wäre also geklärt.« Will beugt sich vor und gibt ihr einen Abschiedskuss. »Dann freue ich mich jetzt auf unsere Gespräche.« Er tippt ihr an die Schläfe. »Und darauf, da reingelassen zu werden.«

Zelda wacht in ihrem zerwühlten Bett auf. Im Taxi war sie schlagartig erschöpft, wäre fast eingeschlafen und hat nur mit letzter Kraft bezahlen und aussteigen können. Sie weiß nicht mal mehr, wie sie es durch die Tür geschafft hat, aber sie ist zu Hause, trägt jedoch immer noch die Kleidung vom Vorabend. Auf ihrem zerknitterten Kleid sind die Spuren der Gasse noch zu erkennen. Sie streicht leicht darüber.

Nach einer Weile greift sie zu ihrem Handy auf dem Fußboden. Ein verpasster Anruf von einer unbekannten Nummer und eine Nachricht auf ihrer Mailbox. Sie schirmt die Augen gegen die Sonne ab, als sie die Nachricht aufruft.

»Hey. Wollte nur sichergehen, dass du gut heimgekommen bist. Der Fahrer sah nicht nach Verbrecher aus, aber man weiß ja nie. Egal – schreib oder ruf an … Sag Bescheid, dass es dir gut geht. Das war … äh … ein echt schöner Abend, Zelda. Ich hab zwar so eine Ahnung, dass ich mich jetzt gerade irgendwie rarmachen sollte, aber … na ja. Solche Spielchen liegen mir nicht. Ruf an, ja?«

Stirnrunzelnd starrt Zelda ihr Handy an.

Sie ruft die Nachricht erneut ab und fühlt sich beim Gedanken an ihn merkwürdig beschwingt. Will in ihrem Bett. Sie beide, wie sie im See baden gehen. Wie sie einander auf Reisen in einem Café feierlich zuprosten. Wie sie nebeneinander auf dem Sofa sitzen, in Schlafanzügen, und sich einen Film ansehen. Wie er am Herd steht. Sein Gesicht, das sie beim Aufwachen vor sich sieht.

Sie löscht die Nachricht.

Er hat recht. Er hätte sich rarmachen sollen.

Dein eigenes Haus

Isobel

Es regnete den ganzen Tag, und Isobel putzte die Küche. Insgeheim liebte sie solche Tage, an denen der Predigtdienst abgesagt wurde und sie im Duft von Bleichmittel schwelgen konnte. Steven hatte wiederholt vorgeschlagen, dass sie sich eine Putzhilfe nehmen sollten, aber warum jemanden für eine Arbeit bezahlen, die sie mochte? Außerdem hätte es ihr ohnehin niemand recht machen können. Vielleicht hast du einfach zu hohe Ansprüche, hatte Steven gesagt. Und wenn schon. Was war an Perfektion so verkehrt?

Sie hatte Steven ein Lunchpaket gepackt, bevor er zur Arbeit gefahren war, und in den darauffolgenden zwei Stunden Kuchen gebacken. In der Versammlung wäre tags darauf Einsatz – Unkraut jäten, putzen, Wände streichen. Da freuten die Brüder sich über Kuchen, und sie bildete sich gern ein, dass ihr Früchtebrot zu einer Art Tradition geworden war. Es würde fehlen, wenn es nicht dastünde. Tonis Beitrag war immer irgendwie unpassend – mit Ganache, klebrig, nur mit Besteck zu essen. Das ist doch kein Wettbewerb, hatte Steven einmal gesagt, als sie sich auf dem Heimweg darüber mokiert hatte. Außerdem fand ich ihren Kuchen köstlich.

Sie schaltete den Fernseher ein, ein Historiendrama, und sah flüchtig hin, während sie den Wasserkocher reinigte. Kauf einfach Wasserfilter, hatte Cassandra vor Jahren gesagt, als sie ihre Mutter dabei erwischt hatte, wie sie den Kalkbelag rausschrubbte. Aber dann müsste ich ihn nicht mehr putzen, hatte sie erwidert. Cassandra hatte die Hände gehoben und die Küche verlassen.

Die Oberflächen glänzten, als Steven nach Hause kam. Sie hatte Lasagne zum Abendessen gemacht und erzählte ihm während des Abwaschs von ihrem Tag. Ihr Autohändler habe erneut angerufen und gefragt, ob sie vorbeikommen wollten. Ob er schon darüber nachgedacht habe? Und Toni habe sie fürs kommende Wochenende zum Essen eingeladen, Isobel habe schon in den Kalender geguckt und zugesagt. Oh, und ob er sich noch an die komische Frau erinnern könne, die ein Stück weiter wohne? Die ihren Nachkriegsbungalow mit Paneelen habe verkleiden lassen, damit er wie neu aussehe? Obwohl doch jeder wisse, dass schnöder alter Betonstein darunterliege … Tja, irgendwer aus der Neighbourhood Watch habe online gefragt, wo genau sie denn wohne, und da habe diese Frau geantwortet: in dem hübschen Haus an der Kreuzung. Als Steven nicht antwortete, fuchtelte sie mit dem Löffel nach ihm. »Was sagt man dazu?«

Er blickte auf. »Was war daran verkehrt?«

Isobel fiel die Kinnlade runter. »Man bezeichnet sein eigenes Haus doch wohl nicht als hübsch!«

Steven legte die Hände an die Tischkante und schob seinen Stuhl nach hinten. So blieb er noch kurz sitzen, starrte zu Boden, und Isobel fragte sich schon, ob er irgendetwas hatte fallen lassen. Regen trommelte auf die Terrasse.

»Ich verlasse dich, Isobel.«

Sitzgruppe

Jen

»Sie sind jetzt da.«

Jen sitzt auf der Bettkante und hat die Füße halb in ihre Hausschuhe geschoben. Sie sieht zu, wie Pete an der Stirnseite des Zimmers auf und ab geht. »Warum bist du überhaupt ans Telefon gegangen?«

»Ich dachte, Steven will über das Spiel reden. Wir hatten drei zu null gewonnen. Wie hätte ich denn ahnen sollen, dass es um etwas anderes geht?«

Jen starrt zu Boden, wo sich Staubmäuse tummeln. Es ist jetzt drei Wochen her, dass sie fast gestorben wäre, und Pete hat den Staubsauger nicht angerührt. »Tja. Ich will sie nicht treffen.«

»Ein bisschen spät dafür. Sie sitzen schon im Wohnzimmer.«

Vor dem Fenster recken die Bäume sich in den konturlos grauen Himmel. Es ist Anfang März, und eigentlich müssten die Blätter sprießen, doch Jen kneift die Augen zusammen, damit die Äste kahl bleiben. Sie kann den Anblick neuen Lebens nicht ertragen.

»Ich habe sie nicht eingeladen«, sagt sie.

»Na ja, sie sind aber deinetwegen hier. Und ich kann sie doch nicht wieder rauswerfen. Sie haben ihren Samstag geopfert, um herzukommen und …«

»Wie überaus freundlich.«

Pete bleibt stehen. Sein schlaksiger Schatten erstreckt sich über die gesamte Höhe der Wand mit der Neunzigerjahre-Tapete. »Sei nicht so.«

»Verteidigst du sie jetzt auch noch?«

»Wenn du sie nicht hättest treffen wollen, hättest du mir das sagen müssen.«

Jen schließt die Augen. Sie will Dunkelheit. »Wann hast du mich denn gefragt? Du hast sie eingeladen, und jetzt schickst du sie auch wieder weg.«

Pete setzt sich neben sie. Nimmt ihre Hand. Jen ahnt, dass er es gleich anders probieren wird, und sie will sich nur noch von ihm losreißen und nach ihm schlagen.

»Hör mal.« Er streicht ihr übers Handgelenk, als wäre sie ein kleines Kind. »Denk an all die Karten und an das Essen, das die Schwestern vorbeigebracht haben. Wir haben ihre Liebe verspürt, oder nicht? Nur deshalb sind sie hier, um uns ihrer Liebe zu versichern.«

Jen mustert ihn. Bleich sieht er aus, schmal, und sie ahnt, dass er kein Auge zugetan hat. Doch sie ahnt auch, dass seine Rastlosigkeit nicht ihrem Sohn gilt. Es ist die Angst vor den Folgen, die Angst davor, was bei dem Gespräch im Wohnzimmer herauskommen könnte, während sie auf der ausgebleichten Sitzgruppe Kekse und Tee herumreichen und auf Vergebung hoffen.

»Pete«, sagt sie, »sie sind zu dritt. Du weißt, was das heißt.«

Er sieht verängstigt aus. »Aber woher sollten sie es wissen? Nein, nein, das ist unmöglich.«

Diesmal ist es Jen, die nach seiner Hand greift. »Denk doch mal nach. Zu dritt.«

Er beugt sich vor und stützt den Kopf in die Hände. »Also … dann … Kannst du nicht einfach sagen, dass du es bereust?«

Sie erhascht einen Blick auf ihr Spiegelbild. Sie ist in den vergangenen Wochen um Jahre gealtert. Sie sieht fahl aus, ihr Teint geht ins Aschblond ihrer Haare über. Sie muss sich die Wimpern tuschen, bevor sie ihnen entgegentritt. Und Rouge auflegen.

»Wir haben das doch schon besprochen.« Ihre Stimme ist tonlos.

»Aber verstehst du nicht, wie einfach es wäre? Sag, dass du es bereust. Das ist auch schon alles. Du wünschst dir, du hättest nicht zugestimmt – und damit hat sich die Sache.«

»Aber ich bereue es nicht«, entgegnet sie leise.

Pete dreht sich zu ihr um. »Irgendein kleiner Teil von dir wünscht sich doch bestimmt, es wäre nicht so weit gekommen? Konzentrier dich darauf, auf dieses kleine bisschen Reue.«

Jen starrt einen Schimmelfleck in der Ecke an, über dem sich die Tapete gelöst hat. Seit Jahren liegt sie Pete in den Ohren, dass er hier renovieren soll. Sie hat sogar vier Rollen Tapeten besorgt und sie neben dem Kleiderschrank bereitgestellt. Doch an den Wochenenden waren sie immer damit beschäftigt, das Ende der Welt zu verkünden, und ein gemietetes Haus zu renovieren schien so dringlich nicht zu sein. Jetzt, Jahre später, sieht es hier noch immer abgewohnt und vernachlässigt aus. Die Tapetenrollen stehen nach wie vor in der Ecke, nur dass das Muster aus der Mode gekommen ist.

»Es wäre gelogen«, sagt sie. »Verlangst du von mir, dass ich lüge?«

»Verdammt noch mal, Jen.« Pete springt auf. »Sag es einfach! Bloß diese drei Wörter! Ein Klaps auf die Hand, und alles ist gut. Wen interessiert schon, dass es nicht die ganze Wahrheit ist? Um Vergebung kannst du dann immer noch beten. Du ruinierst hier auch mein Leben.«

Jen hat Pete noch nie fluchen hören, und seltsamerweise erschüttert es sie nicht, aber es bestätigt auch, was sie tief im Innern immer gewusst hat. »Dein Leben?«

Wie erwartet haben sie auf der Sitzgruppe Platz genommen. Drei Männer in Anzügen, alle unterschiedlich alt, vom mittleren bis ins fortgeschrittene Alter, alle mit gleich blasser Haut, mit hohem Haaransatz, mit einer grauen Bibel auf dem Schoß. Sie kauern auf der Polsterkante, als wäre dies nur eine Stippvisite, oder als wären sie gekommen, um eine schlechte Nachricht zu überbringen.

»Jen.« Bruder Bill Norris steht auf und gibt ihr zu verstehen, dass sie seinen Platz nehmen soll. Er geht zur anderen Seite des Couchtisches hinüber, wo Pete zwei Esszimmerstühle bereitgestellt hat, die den Kreis schließen.

Jen lässt sich aufs Sofa fallen und kontrolliert ihre Kleidung, damit sie weder zu eng noch zu locker sitzt. Mit einem Mal fühlt sie sich zu nachlässig gekleidet und fremd in ihrem eigenen Zuhause. Bruder Steven Forge sitzt zurückgelehnt und mit ausgestreckten Beinen rechts von ihr. Er hat sein Tausend-Watt-Lächeln angeknipst und legt ihr die Hand auf die Schulter. Am liebsten würde Jen ihm die Finger abbeißen und sie auf den Teppich spucken.

»Wie geht es dir, Jen?«, fragt er sanft.

»Gut«, antwortet sie, genau wie schon die ganze Woche. Die Milch, die durch ihre Kleidung sickert, statt getrunken zu werden, erwähnt sie ebenso wenig wie die gekühlten Kohlblätter in ihrem BH, die die Schmerzen lindern. Und ihr Herz? Fault vor sich hin. Dafür gibt es kein Gemüse.

»Du siehst gut aus«, stellt Bruder Norris fest und stupst Pete an. »Ihre Wangen … sind rosig. Ich hoffe sehr, dass er dich gut umsorgt!«

Jen starrt auf den Boden unter dem Couchtisch. Noch mehr Staub. Ist das dein Ernst?, denkt sie. Er wusste genau, dass sie kommen würden, trotzdem hat er keinen Finger gerührt. Ihre Ohren glühen, als sie sich vorstellt, wie sie daheim ihren Frauen erzählen, wie es hier ausgesehen hat. »Tut mir leid«, sagt sie und rutscht ein Stück nach vorn, »ich mache euch Tee.«

»Ich setze Wasser auf.« Pete springt auf und will Zuvorkommenheit demonstrieren. »Milch? Zucker?«