Drei sind ein Dorf - Dina Nayeri - E-Book

Drei sind ein Dorf E-Book

Dina Nayeri

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Beschreibung

Mit knapp dreißig hat Nilou alles erreicht. Wer hätte je geglaubt, dass sie eine Eliteuniversität besuchen, einen weltgewandten Juristen heiraten und ihre eigene Wissenschaftskarriere beginnen würde? Als Kind ist sie mit ihrer Mutter aus dem Iran geflohen – in die tiefste amerikanische Provinz, wo man sie nicht eben offenherzig empfangen hat. Doch sie hat ehrgeizig nach den Idealen der westlichen Welt gestrebt und sich komplett neu erfunden. Alles könnte also gut sein, wäre da nicht Nilous Vater, ein opiumsüchtiger Verehrer altpersischer Lyrik, der ihr vom Iran aus die Kluft vor Augen führt, die die Familie voneinander trennt. Als Nilou in Amsterdam auf eine Gruppe iranischer Exilanten trifft, mit ihnen kocht und ihren Erzählungen lauscht, erwacht eine alte Sehnsucht in ihr: nach einer Heimat, in der sie ganz einfach sie selbst sein darf.

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Dina Nayeri

Drei sind ein Dorf

Aus dem Amerikanischenvon Ulrike Waselund Klaus Timmermann

Roman

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnetdiese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetunter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Originalausgabe erschien 2017unter dem Titel REFUGE bei River Head Books(an imprint of Penguin Random House LLC),New York.

© 2018 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel / Petra Koßmann, mareverlag, Hamburg

Abbildung José Escofet

Satz mareverlag, Hamburg

Datenkonvertierung E-Book bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-344-6

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-286-9

www.mare.de

Für Sam und Elena,die eines Tages da waren und unsagbarviel Freude bescherten.Und für meine unersättliche persische Familie,ein verstreutes Dorf aus Dichternund Lebenskünstlern

Ich gehe immer nach Hause,immer zu meines Vaters Haus.

Novalis

Der Weg erscheint.

Dschalal ad-Din ar-Rumi

Niemals, ihr werdet die Niederlandenicht zu eurer Heimat machen.

Geert Wilders,Botschaft an Flüchtlinge, 2015

Inhalt

Dr. Hamidis schwierige Scheidung

Ich und Baba und Ardestun

Der andere Dr. Hamidi

Das Dorf zerfällt

Erotic Republic

Das erste Wiedersehen

Hausarrest

Die Gastfreundschaft der Holländer

Das zweite Wiedersehen

Eine Neujahrswelt

Ein Süchtiger auf dem Dam

Das dritte Wiedersehen

Familiengründungen bei frühen Primaten

Kleine Freuden wie Sauerkirschen

Das vierte Wiedersehen

Genau wie dein Baba

Dorfbau

Anmerkung der Autorin

Dr. Hamidis schwierige Scheidung

Juni 2009

Isfahan, Iran

Als fordere das Universum noch ein letztes Opfer von ihm, musste Bahman, um seine eigene hässliche Angelegenheit zu regeln, dreizehn Scheidungen nacheinander beiwohnen, einem vollen Tagesprogramm. Als die sechste verhandelt wurde, starrte er fassungslos seinen jungen Anwalt an – der vor all dem Elend auch schon zu kapitulieren schien, mit hängenden Schultern und einer halb gerauchten Zigarette zwischen den schlaffen Lippen – und flüsterte: »Das ist absurd.«

»Verzeihen Sie, Agha Doktor, inwiefern?« Der Anwalt hob beide Augenbrauen, als hätte Bahman mit dieser Farce rechnen müssen, als sollte jeder Mensch, der ein eigenes Anliegen verfolgte, daran gewöhnt sein, zunächst dreizehn Mal in Folge mitzuerleben, wie blasse Ehemänner in sich zusammensackten und hübsche Ehefrauen in Tränen ausbrachen. Gab es nicht immer einen Moment, in dem die Jugend scheiterte? Doch wer wollte den schon mit ansehen?

Sie saßen auf Plastikstühlen unmittelbar vor dem Büro des Mullahs und konnten die Geschehnisse durch den Türspalt verfolgen, der allem Anschein nach extra zu diesem Zweck offen stand. Sein junger Anwalt wischte sich ständig die Hände an seiner billigen grauen Hose ab und trank heißen Tee. Manchmal erhob er sich auch und füllte sein Tulpenglas mit zwei Fingerbreit Flüssigkeit aus dem rostigen Samowar, der auf einem langen Tisch in der Ecke stand, wo zwei Sekretärinnen in schwarzen Tschadors irgendeiner freudlosen Tätigkeit nachgingen. Wieso hatte er diesen zappeligen Mann überhaupt engagiert? Schließlich war Bahman trotz seiner säkularen Ausbildung und seiner Bände subversiver Lyrik, trotz der amerikanischen Studienabschlüsse seiner Kinder und trotz seiner geflohenen ersten Frau noch immer der Mann in einer iranischen Scheidung: eine sichere Position. Es würde alles gut gehen. Obwohl er – zugegeben – vorhatte, ein paar Lügen zu erzählen. Und überhaupt, wann hatte eine dritte Scheidung je etwas Gutes?

Als er gestern zu Hause Tee aus seinem eigenen Samowar getrunken hatte, hatte Bahman in gespannter Erwartung an die heutige Angelegenheit gedacht. Sie war längst überfällig. Er hatte überlegt, wie das nächste Kapitel seines Lebens wohl verlaufen mochte. Vielleicht würde er eine neue Couch kaufen und versuchen abzunehmen. Vielleicht würde er sich eine neue Krone für seinen Backenzahn gönnen und eine Flugreise machen, irgendwohin, wo es warm war und man ohne Probleme ein Visum erhielt: Zypern oder Dubai oder Istanbul. Vielleicht würde er sogar ein Wiedersehen mit seinen Kindern arrangieren.

An jenem letzten Morgen vor dem Gerichtstermin zeterte Sanaz nicht, und sie warf auch keine Gegenstände. Stattdessen hörte er sie im Gästezimmer weinen. Er klopfte an die halb offene Tür und blieb im Türrahmen stehen, trat in seinem königsblauen Pyjama von einem Bein aufs andere. Und als sie ihn mit verheulten Augen ansah, dickes Make-up im Gesicht, abblätternder Nagellack in drei Rottönen auf den Fußnägeln, die viel zu gerade gefeilt waren, brachte er den Mut auf, sie zu fragen: »Warum bist du traurig, asisam?« Dann riss er sich zusammen und flüsterte: »Denk doch nur, wie jung du bist. In deinem Alter hat Nilou schon –«

»Aaach, Schmutz auf mein Haupt … Nilou, immer nur Nilou!« Sie versprühte Rotz und Tränen. »Du bist ein schwacher Mann ohne Ansehen oder Stellung oder irgendwas, und dein Bastard von Tochter ist mir völlig egal.« Er wollte darauf hinweisen, dass Nilou nun wirklich alles andere als ein Bastard war. Von seinen drei Frauen war die erste die gebildetste und charmanteste gewesen. Pari war die große Liebe seiner Jugend und hatte ihre Talente an ihre Kinder weitergegeben. Er besaß ein Foto von sich und Pari bei einem Picknick in Ardestun, ihr Kopf an seiner Schulter, seine Hand an ihrer Wange, als wäre das ganz normal. War jungen Männern eigentlich klar, was sie als selbstverständlich hinnahmen? Auf dem Foto schien er gar nicht zu merken, dass er ihre Wange berührte. War Pari genug geliebt worden, bevor sie nach Amerika floh?

Er schämte sich dafür, dass er Nilous Namen so taktlos hinausposaunt hatte. Es war ein unschöner Moment gewesen, und er war geflohen. Ihren peinlichen Altersunterschied hatte er seit drei Jahren nicht angesprochen – drei Jahre, die geprägt waren von verlorenen Freundschaften und zornigen Verwandten, von Demütigung, Vereinsamung und von Geld, das verrann wie Wasser aus einer Papiertüte. Als er es nun getan hatte, allein im blauen Pyjama in einem Türrahmen, hatte es sich angefühlt, als würde sich sein Herz häuten. Anschließend lungerte er den halben Tag lang in einem Teehaus bei den Dreiunddreißig Bogen herum und wartete darauf, dass das wunde, geschundene Fleisch sich wieder beruhigte.

Zwischen zwei routinemäßigen Kariesbehandlungen spazierte er am Gericht vorbei, um sich auf den folgenden Tag vorzubereiten. Vor dem Gebäude saßen reihenweise Männer mit Schreibmaschinen, die ihre Dienste für ein paar Hundert tomans pro Seite anboten – Petitionen und wortreiche Einsprüche und Bittschriften in beeindruckender Juristensprache. Ganze Kolonnen von Straßendichtern, Möchtegerngelehrten, Schriftstellern, Historikern und Liederschreibern, die ihre Beredsamkeit an jeden verkauften, der die Sprache verloren hatte. Etwas abseits drückten sich die käuflichen Zeugen, zusätzliche Augenpaare für Momente, die einer bedauerlichen Privatheit anheimgefallen waren, stundenlang vor den für Frauen und Männer separaten Eingängen zum Gericht herum, vertrieben sich die Zeit damit, Zigaretten zu rauchen und den Bittstellern verstohlene Blicke zuzuwerfen. Bahman beobachtete eine Frau, die aus dem Gericht geeilt kam, zehn Minuten mit einem von ihnen redete, ihre schwarze Vermummung vor den Mund gedrückt, und ihn dann zum Männereingang führte. Wie lange schon verschließen die Gerichte davor die Augen? Er spazierte zurück zu seiner Praxis.

Als er heute durch denselben Eingang ins Gericht gekommen war, hatten ihn drei pasdars auf Waffen untersucht. Sie nahmen ihm das Handy ab und beäugten argwöhnisch das grüne Taschentuch seines verstorbenen Vaters, weil es den Armbändern der Demonstranten der Grünen Bewegung ähnelte. Glücklicherweise retteten ihn sein schlichter Anzug und die Betperlen, die er unablässig durch die Finger gleiten ließ (Zeichen einer schicksalsergebenen, gereiften Lebensweise … eingemacht, am richtigen Platz, wie sie im Dorf sagten), und die Wachen winkten ihn durch und wandten sich dann wieder ihren Tüten mit Pistazien und Sonnenblumenkernen zu, die sie knackten und kauten und ausspuckten, während sie sich unterhielten. Es waren junge Burschen, keiner von ihnen über dreißig. Wahrscheinlich hatten sie es satt, alte Männer abzutasten, die durch diese Tür kamen, um ihre Schwestern oder Mütter oder ehemaligen Geliebten scheiden zu lassen. Der Gedanke betrübte Bahman, und ehe er hineinging, sagte er zu dem jüngsten pasdar: »Ghotbi wird seine Sache gut machen, glaube ich.« Er schaute sich um und überlegte, was es über den neuen Trainer der iranischen Nationalmannschaft noch zu sagen gab. »Bestimmt qualifizieren sie sich für die Weltmeisterschaft.«

Der junge pasdar musterte ihn kurz. Dann grinste er. »Ganz bestimmt, Agha Doktor.« Er bot Bahman seine Pistazien an und klopfte ihm auf den Rücken, eigentlich eine Unverschämtheit gegenüber einem älteren Mann, und doch hatte Bahman genau das gewollt, so jung sein wie dieser Bursche. Er nahm eine Pistazie und nickte zum Dank. Der pasdar sagte: »Wenn das Leben einfach wäre, würde ich nach Südafrika reisen und mir alle Spiele im Stadion anschauen.«

Jetzt saß er unruhig unter den grellen Lampen des Warteraums im Gericht und hörte, wie ein Paar dem Richter seine Lage erklärte. Obwohl er sich am liebsten aus diesem Zirkus herausgehalten hätte, bei dem er sich fühlte, als würde er zwanzig Fremde beim Gang auf die Toilette beobachten, spitzte er die Ohren. Wenn er schon hier festsaß, konnte er seinen Widerwillen auch für eine gewisse Zeit ignorieren. In dem Augenblick, als er diesen Warteraum betreten und die verbrauchte Luft eingeatmet hatte, war er in ein Wunderland geraten, das von Rumi oder Hafis oder irgendeinem anderen herzlosen Geist ersonnen worden sein mochte.

»Ich gewähre ihr die Scheidung«, sagte der junge Mann, »sie kann sie haben.« Bahman horchte auf, denn welcher iranische Mann würde schon in eine Scheidung einwilligen, die er nicht selbst eingereicht hatte? Das war eine Frage des Stolzes. Wenn die Ehefrau sich scheiden lassen will, akzeptiert das Gesetz nur zwei Gründe: Geisteskrankheit und Impotenz. Falls beide die Scheidung wollen, sollte der Mann sie für beide beantragen, weil er keinen Grund angeben muss und das die Sache für beide vereinfacht. Räumte dieser Bursche ein, geisteskrank zu sein? Impotent? Vielleicht wollte er die Morgengabe mit Joghurt bedecken, die Summe wegverhandeln, auf die jede geschiedene Frau Anspruch hat. Vielleicht hatte seine Familie einen schlechten Ehevertrag für ihn abgeschlossen – manchmal lassen sich verliebte junge Männer zum Zeitpunkt der aghd auf eine fette Morgengabe ein, weil sie glauben, dass es nie zur Scheidung kommt oder dass sie, falls doch, untröstlich sein werden und ihnen ohnehin alles egal ist.

»Warum wünschen Sie die Scheidung?«, wollte der Richter von der jungen Frau wissen. »Wo Sie und Ihr Mann doch noch gar nicht lange zusammenleben«, sagte er und blätterte in seinen Papieren. Bahman beugte sich auf seinem Stuhl vor und spähte unverhohlen in den Raum, weil das Universum ihm nun wenigstens das Vergnügen einer guten Geschichte bot – vor dem Scheidungsrichter lügt einfach jeder.

Die junge Frau sah mitgenommener aus als ihr Ehemann, ihre vor Gram blasse Haut glänzte stellenweise, während er offenbar viel Zeit im Freien verbracht hatte. Hinter der Tür weinte jemand, eine Mutter wohl, oder eine Schwester. Vielleicht konnte die Frau keine Kinder bekommen. Vielleicht war er ein Ehebrecher. Vielleicht war sie eine Ehebrecherin – natürlich kam das auch bei Frauen vor und warum auch nicht? Ein Leben voller Lust und Leidenschaft war wenigstens ein gelebtes Leben. Vielleicht hatte er ihr Geld verspielt, oder er konnte seine ehelichen Pflichten nicht erfüllen. Oder sie hatte versprochen, einen kranken Elternteil zu pflegen, und hatte sich dabei zugrunde gerichtet. Der Richter musterte die beiden noch immer – wie konnte ein so junges Paar so schnell gescheitert sein?

Die Frau, fast noch ein Teenager, zupfte mit schuldbewusstem Blick den Saum ihres Kopftuchs zurecht. Sie war jünger als seine Tochter Nilou, und Bahman wünschte, er könnte mit diesem Mädchen sprechen, ihr sagen, Ich kenne dich nicht, aber eins weiß ich: Du hättest nichts machen können, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Sie rieb sich wieder und wieder den Hals, dieselbe Geste, mit der seine erste Frau Pari sich beruhigt hatte, wenn sie nervös war oder zornig oder durcheinander. Bahman beobachtete die junge Frau, und bald nahm er nur noch die Bewegung ihrer Finger wahr. In ihren schlimmsten Momenten hatte Pari mit beiden Händen ihren Hals umklammert, ihn gerieben und gekratzt, als wollte sie einen Eisenkragen entfernen.

»Eine seltsame Strafe, das mit ansehen zu müssen«, murmelte Bahman. So mussten sich die Menschen fühlen, die in manchen Ländern gezwungen wurden, Zeugen von Hinrichtungen und Prügelstrafen zu werden. Genau genommen lebte wohl auch er in einem dieser Länder, die sich in jeder erdenklichen menschlichen Abscheulichkeit ergingen. Konnten die Mullahs auf dem Land nicht willkürlich herrschen, weit außer Sicht der Gelehrten und Wissenschaftler? Aber wer durfte dergleichen laut aussprechen? Und zudem vor Gericht, in diesen unruhigen Zeiten. Selbst hier in der Großstadt Isfahan hielten Gelehrte und Wissenschaftler die Augen verschlossen. Die Welt lag in einem tiefen Schlaf.

Er dachte darüber nach und fand diese Vorstellung poetisch und wahr genug, um sie laut auszusprechen. »Die Welt schläft, mein Freund.« Er sah seinen Anwalt an.

Der Junge erwiderte seinen Blick. »Sie werden die beste Vertretung bekommen«, sagte er. »Die beste. Alles wird gut, Doktor.« Er kratzte über eine seltsame kahle Stelle an seinem Kinn. Bahman wischte sich Tee aus seinem dicken, aber gepflegten Schnurrbart. Jeden Morgen trimmte er ihn schnurgerade, indem er ein Lineal über die Lippen hielt.

Heute Morgen war er in dem sterilen grauen und noch bis zum letzten Metallpfeiler abweisenden Backsteinbau des Hotels, in dem er die Nacht verbracht hatte, mit einem aufgedunsenen Bauch erwacht. Er hatte sich schon lange abgewöhnt, Fleisch, Getreide, Zucker und Milchprodukte zu essen. Er aß spärlich, schlief mit soldatischer Disziplin und konsumierte so viel Wasser, dass er damit eine kleine Mühle hätte betreiben können. Dennoch erwachte er aus unerfindlichen Gründen an jedem dritten Morgen mit einem Bauch, der aussah, als wäre er im fünften Monat schwanger. Keine Schmerzen, keine Übelkeit. Bloß eine straff gespannte Trommel, die sagte: Hallo, alter Freund. Lass uns Urlaub machen. Weißt du noch, wie es war, als wir den ganzen Nachmittag Fußball spielen und Sultan-Kebabs essen und zwei Stunden lang Liebe machen konnten? Die Zeiten sind vorbei, die Dämmerung naht.

Aus Angst vor seinem eigensinnigen Verdauungstrakt fürchtete er jetzt, vor seiner jungen Ehefrau einzuschlafen. Eigentlich seltsam für einen Fünfundfünfzigjährigen. Obwohl Bahman immer Wert auf seine Studien, auf Poesie, gutes Essen und eine anregend traditionelle Lebensweise gelegt hatte, war er dabei, den Kampf zu verlieren. Die verworrenen Dorf-Gene seines Vaters setzten sich langsam durch und plagten ihn mit wilden, unvorhersehbaren körperlichen Veränderungen. Zuletzt hatten die Haarfollikel an seinem Hinterkopf kapituliert und einer kreisrunden, unschicklichen Glatze Platz gemacht.

Bahman rutschte in der harten Mulde des Plastikstuhls vor (als säße man in einer Salatschüssel, dachte er) und reckte den Hals, um besser durch die Tür des Richters spähen zu können. Seine Betperlen fielen ihm übers Knie, während er bis dreiunddreißig zählte und dann wieder von vorne anfing. In der Luft hing der Geruch von billigen Putzmitteln und ungewaschenen Männern. Die nackten Glühbirnen an der Decke leuchteten zu grell, ließen den quietschenden Linoleumboden anstaltsmäßig und deprimierend aussehen. Überall verliefen schwarze Streifen, die eilige Schuhsohlen hinterlassen hatten. Die junge Ehefrau vor dem Richter sagte hastig: »Ob zu früh oder nicht, wir haben uns geeinigt. Im gegenseitigen Einvernehmen.« Wie viele Leute drängten sich eigentlich im Büro des Mullahs?

»Nein, nicht im gegenseitigen Einvernehmen«, widersprach ihr Mann. »Das hab ich nie gesagt. Ich bin geblieben und hab geschuftet und ihr zuliebe jede Demütigung ertragen. Wenn sie jetzt die Scheidung will, gewähre ich sie ihr. Das ist was anderes, agha.«

Das ist allerdings etwas anderes, als gezwungen zu werden. Natürlich wollte Bahman die Sache nicht beenden, aber was soll man machen, wenn die Frau nicht mehr dieselbe ist? Sanaz, das Mädchen, das ihn ins Leben zurückgeholt hatte, war dreißig geworden, färbte sich grelle blonde Strähnen in die Haare und hatte mehr oder weniger den Verstand verloren. Es wäre ja in Ordnung gewesen, wenn sie anspruchsvoll und resolut geworden wäre und den Haushalt mit harter Hand geführt hätte, wie das manche Frauen tun. Oder wenn sie erste Anzeichen des Älterwerdens gezeigt hätte, sodass seine und ihre erschlafften Wangen und von Falten umringten Augen sich immer mehr geähnelt hätten, wenn sie lächelten. Er hätte nichts gegen seltsame Hobbys gehabt oder gegen den Wunsch, auf Underground-Partys zu gehen. Er hätte es schön gefunden, wenn sie dick und glücklich geworden wäre. Und er hätte, um ganz ehrlich zu sein, beide Augen zugedrückt, wenn auf einmal, wie das in vielen Ehen geschah, irgendein »Cousin« aufgetaucht wäre, um sie auf Familienfeste mitzunehmen. Doch anstatt sich Liebhaber zu nehmen, war sie zänkisch und aufbrausend geworden. Ihr beleidigtes Schweigen konnte sich über Tage hinziehen, nur unterbrochen durch kreischende Wutanfälle, bei denen sie seine Zahnbürste in das aftabeh warf, die Wasserkanne neben der Toilette, oder die Seiten aus all seinen Gedichtbänden riss oder ihn wüst beschimpfte, ihm Impotenz und Geiz und Grausamkeit vorwarf.

Vor einigen Wochen hatte sie ihm lautstark mit Scheidung gedroht, und obwohl er selbst noch gar nicht daran gedacht hatte, erschien ihm der Gedanke sehr vernünftig. Als er dann zu Bett gegangen war, hatte er darüber nachgedacht, und das hatte seinen Magen beruhigt, sodass er sich für ein paar Stunden entkrampfte.

Die Sanaz, die er gekannt hatte, war unwiederbringlich verschwunden. Er würde nicht versuchen, sie zu ändern. Sie hatte versprochen, das Haus widerstandslos zu räumen, falls er für eine Nacht ins Hotel ging, damit ihre Schwester und ihr Schwager, Agha Soleimani, ihre persönlichen Dinge zusammenpacken konnten. Sie gab sich umgänglich, und er hatte angenommen, dass sie weder ihre gemeinsamen Erinnerungen zerstören wollte noch seine vielen alten Fotos aus Nain, Teheran und Ardestun mit seinem Sohn und seiner Tochter, Kinder aus einem anderen Leben, als sie noch klein waren und ihn für jede kleine Freude gebraucht hatten. Und die Fotos von seinen vier Wiedersehen mit ihnen, die würde sie doch bestimmt genauso wenig anrühren wie die Zeichnungen oder die Gedichte. Und wenn das alles vorbei war, blieben ihm immer noch die Decken und ghilim-Teppiche, die seine Mutter gewebt hatte. Das Leben würde heil bleiben. Reich an Segnungen.

Manchmal betrachtete er seine alten Möbel, Stücke, die er in den Achtzigern oder Neunzigern gekauft hatte, ramponierte Schränke, verblasste Teppiche, Sofas, die nach den Zigaretten von Jahrzehnten rochen, und er dachte: Alles im Leben fühlt sich an wie dieses Sofa. Die Vergangenheit war wie ein frisches, luftiges Wohnzimmer, ganz in warmen Farben gehalten, und die Gegenwart war derselbe Raum, der zwanzig Jahre lang dem Staub und Verfall überlassen wurde und in den plötzlich grelles Tageslicht fällt. Nilou und Kian, seine ersten beiden Kinder, die Kinder seiner Jugend, in einem zarten Alter nach Amerika und Europa geschleudert, waren für alle Zeit in weiches Kerzenlicht getaucht.

»Aber wollen Sie die Scheidung?«, fragte der Richter, ohne aufzuschauen. Durch den Türspalt sah Bahman, dass er sein Gesicht hinter zwei blauen Aktenordnern versteckte.

»Ich will keine Scheidung. Ich will, dass das ins Protokoll kommt. Ich bin bloß bereit, sie zu akzeptieren, mehr nicht.«

»Ei vai, junger Mann, das läuft auf dasselbe hinaus«, seufzte der Richter und raunte seiner Sekretärin etwas zu, einer ernsten Frau um die sechzig, die sich über den Tisch des Richters beugte und vielleicht den Kopf schüttelte, vielleicht aber auch nicht. Bahman konnte ihre Figur nicht sehen. Der schwere Tschador verbarg jede kleinere Bewegung. Der Hals war unsichtbar, genau wie seine Drehungen und Spannungen. Der Mullah wandte sich wieder an den Ehemann. »Möchten Sie die Morgengabe behalten? Ist das Ihr Problem? Im Fall einer Scheidung müssten Sie die versprochene Summe auszahlen.«

Wie jung die beiden waren … aber, ja, der Mann würde zahlen müssen. Bahman war bereit zu zahlen, wie es sich für einen Mann gehörte. Er hatte Fehler gemacht, war egoistisch und genusssüchtig und ängstlich gewesen, und jetzt, wo ihm das allmählich bewusst wurde und er von Erneuerung und Sorgfalt träumte, von Arbeit und Genügsamkeit und Disziplin (eine kleine Kostprobe von Nilous Leben), fand er, dass es ein notwendiger und gerechter Schritt war, Sanaz auszuzahlen.

»Nein, Euer Ehren«, sagte der junge Mann. »Aber das Gerichtsprotokoll soll festhalten, dass ich lediglich einwillige. Zur Hölle mit dem Geld. Ich werde es bezahlen, wenn ich es irgendwann habe, so Allah will.«

Ach, auch Bahman hatte zu der armen Pari gesagt, »wenn ich es irgendwann habe«, und dabei war es auch mehr oder weniger geblieben. Wie geht es Pari wohl?, fragte er sich.

Die Wortwahl des Ehemannes wurde von der Gerichtssekretärin mit einem missbilligenden Zungenschnalzen quittiert. »Khanom«, sagte der Richter und sah die junge Ehefrau an. »Offenbar ist Ihr Mann hier der Leidtragende … Was er sagt, ergibt kaum einen Sinn, das hören Sie ja selbst. Ich schlage vor, Sie gehen wieder mit ihm nach Hause. Finden heraus, ob Sie nicht ein paar Monate mit ihm zusammenleben können. Vielleicht kann er Sie ja glücklich machen, wenn Sie sich Mühe geben.«

Als Bahman das hörte, musste er hinter vorgehaltener Hand lachen. Er wünschte, er könnte seine Tochter anrufen, um den Witz mit ihr zu teilen. Nilou hatte den Iran als Kind verlassen, und seitdem hatte er sie bei vier kurzen Treffen als Jugendliche und junge Erwachsene erlebt. Irgendwann in den Jahren zwischen Nilou, dem achtjährigen Mädchen aus Isfahan, und Nilou, der dreißigjährigen Amerikanerin oder Europäerin oder was auch immer sie jetzt war, hatten sie sich den einen oder anderen Witz über Liebe und Sex erzählt. Obwohl es befremdlich war, mit ihr als einer ausländischen Erwachsenen umzugehen, hatte sie seinen Sinn für Humor. Sie hätte darüber gelacht, da war er sicher. Nilou hatte in Yale studiert, ein Name, der ihm nichts sagte, bis sie ihn eines Tages, als sie achtzehn war, aussprach und schwor, die Universität wäre genauso gut wie die andere, von der Iraner wussten, dass sie massenhaft berühmte Doktoren und Senatoren und so weiter hervorgebracht hatte. Bahman glaubte ihr sogar, noch bevor er sich in dem schmuddeligen Büro seines Freundes, eines Vertreters für Landwirtschaftsbedarf, im Internet über »Yale« informierte. Danach sagte er jedem, der es hören wollte: »Ich habe eine Tochter nach Yale geschickt. Und die andere schick ich auch dahin.«

Während der Wahlen in Amerika hatte er Nilou mitten in der Nacht angerufen. »Nilou-dschun«, sagte er, »ich hatte einen prophetischen Traum über den Mann, den ihr zum Präsidenten wählen solltet. Es ist ein Rätsel. Obama klingt so ähnlich wie u-ba-ma. Und auf Farsi bedeutet das: Er ist bei uns. John McCain klingt wie dschun-mikkane, und das heißt, wie du weißt: Er arbeitet hart. Aber wen interessiert’s, dass jemand hart arbeitet, wenn er nicht bei uns ist? Das ist meine Meinung.« Er wusste, dass er sich high anhörte. Wahrscheinlich roch sie das Haschisch und Opium durchs Telefon, oder sie spürte es durch irgendeinen magischen Instinkt, den Familien von Hedonisten besitzen. Sie lachte kurz auf und sagte, ja, sie würde den wählen, der bei uns ist. »Wir haben auch bald Wahlen«, sagte er schwach. »Mussawi. Das ist hier unser Mann.« Sie sagte, ja, auch das wisse sie.

Nachdem er aufgelegt hatte, schämte er sich. Seine Tochter hielt ihn für einen Clown, nicht für einen Schriftsteller oder Dichter, sondern für einen in die Jahre gekommenen Süchtigen.

Nilou hatte einen gewichtigen Europäer geheiratet – nicht gewichtig im körperlichen Sinne, der Mann war sehr groß und dünn, aber gewichtig, wie man so sagt, in jeder anderen Hinsicht. Bahman hatte den Eindruck, dass Nilou zu einer ernsten Frau herangereift war. Seitdem ihre Mutter sie aus dem Iran mitgenommen hatte, arbeitete oder lernte das Mädchen ununterbrochen, nahm sich nie Zeit, um zu feiern oder Freunde zu finden oder sich selbst zu verlieren. Dabei war sie ein glückliches Kind gewesen, eine Naschkatze mit einem wilden, melodischen Lachen, tanzenden Füßen und vielen durchtriebenen Streichen. Jetzt schuftete sie ohne Unterlass, versuchte, irgendetwas zu beweisen. Vielleicht brauchte dieser gewichtige Schwiegersohn mit dem unaussprechlichen Namen eine ernste Ehefrau, um sie seinen Freunden zu präsentieren, eine Frau, die neben dem großen Rumi auch Shakespeare und Molière zitieren konnte.

Er hatte den Jungen in Istanbul kennengelernt, Jahre nach der Hochzeit, die eine heimliche Angelegenheit ohne Fotos gewesen war. Er hoffte, er machte Nilou glücklich. Der Gedanke beruhigte sein Herz, nachdem er jahrzehntelang unter den dunkelsten Sorgen gelitten hatte: Was, wenn ich meine Kinder nach Amerika geschickt habe, nur um zu erleben, dass sie leiden? Aber der Junge liebte Nilou tief aus dem Bauch heraus, eine Liebe, die ihn beugte und brach, genau wie auch Bahman gebeugt und gebrochen war. Eine Liebe, von der er geglaubt hatte, dass Sanaz sie für ihn empfand. Aber du kannst niemanden zwingen, dich zu lieben, wie man so sagt, und du solltest es auch nicht versuchen, es sei denn, du bist zwanzig und hast ein kräftiges Herz, ein Herz, das danach verlangt, gezähmt zu werden. Manchmal, in ruhigeren Zeiten, ist Scheitern gar nicht so schlimm.

Die junge Ehefrau war jetzt laut geworden, ihre Stimme bebte, sie hatte die Fäuste geballt wie die sechsjährige Nilou, wenn sich Gewissensbisse bei ihr meldeten, war bereit, den Kampf gegen die Stunden und die Tage aufzunehmen. »Nein, das ist unmöglich«, sagte sie zu dem Mullah. Sie packte den Arm ihres Mannes, drängte ihn leise, an ihre persönlichen Gespräche zu denken. »Wir waren uns einig. Ganz egal, wie er das nennt. Es ist alles entschieden. Wir haben die ganze Nacht mit Onkeln und beiden Vätern und allen geredet. Wir sind hier, und wir sind uns einig.«

»Ja, khanom«, sagte der Richter. »Aber nichts ist endgültig, ehe das Gericht zugestimmt hat. Der Mann hier scheint die Scheidung nicht zu wollen. Was ist das Problem in Ihrer Ehe?«

Die junge Frau zögerte, rang mit sich. Offenbar handelte es sich um etwas Beschämendes, das sie nicht öffentlich machen wollte. »Er ist nie da«, rief sie. Ihre Hände landeten auf den Unterlagen des Richters, als sie sich auf seinem Tisch abstützte. »Er ist süchtig. Wir verstehen uns nicht. Wir können keine Kinder bekommen. Der Grund ist doch völlig egal. Wir sind uns einig. Und er hat sich bereit erklärt zu zahlen.«

»Ich bin nicht süchtig«, widersprach der Ehemann. »Was redest du denn da? Nein, Euer Ehren, ich trinke nicht. Ich rauche nicht. Ich esse bloß Brot und Käse und trockene Kräuter. Sie hat mir alles genommen, dann kann sie das hier auch noch haben. Aber ich will, dass das Gericht die Wahrheit erfährt, weil ich diese Welt nicht mit Lügen auf den Lippen verlassen will. Ich schwöre bei Hassan und Hossein und jedem Imam –«

Der unglückliche Ehemann wurde lauter, verlor die Beherrschung. »Ja, ja, immer mit der Ruhe«, sagte der Richter. »Wer will denn diese Welt verlassen, agha?«

»Ich bin fertig mit dem Leben, und ich schwöre, ich will bloß mein Haus bestellt haben.«

Daraufhin brach im Richterzimmer ein wildes Stimmengewirr los. Anscheinend waren noch mindestens drei Verwandte anwesend, die bis zu diesem Moment durch die Tür verdeckt gewesen waren. Das Mädchen stöhnte auf und warf sich in die Arme einer älteren Frau. »Der bringt mich noch um mit seinem ganzen Drama.«

Bahman wandte sich an seinen Anwalt und sagte: »Hätten Sie nicht wenigstens die richtige Uhrzeit herausfinden können?« Das Spektakel beunruhigte ihn, ließ ihn Schlimmes für seine eigene Verhandlung fürchten, für die Märchen, die er selbst erzählen würde. »Können wir irgendwen bezahlen?«

»Agha, der Zeitpunkt lässt sich nie genau voraussehen«, sagte der Anwalt und massierte sich dabei die Knie. »Machen Sie Ihre Wurzelbehandlung immer pünktlich? Außerdem gibt’s da drüben Tee.«

»Der Junge ist süchtig«, sagte Bahman. »Faselt davon, sich umzubringen. Beharrt darauf festzuhalten, wer was von wem verlangt.« Statistisch gesehen war fast jeder zweite iranische Arbeiter über zwanzig süchtig – und schon allein sein Dialekt verriet, dass er nie einen Fuß in eine Universität gesetzt hatte.

»Welcher Junge?«, fragte der Anwalt, ehe er den kalten Rest aus seinem Becher trank.

»Aufwachen, mein Freund«, sagte Bahman und klopfte dem Anwalt mit seinen Betperlen aufs Kinn, als wäre der ein Kind. »Hören Sie zu, was da drinnen vor sich geht!«

»Ich hol uns mal einen Chai«, sagte der Anwalt und stand auf, um seinen eigenen Becher aufzufüllen und einen für Bahman mitzubringen. Er stieß ein erschöpftes Knurren aus, als er sich hochhievte.

Als die Verwandten im Richterzimmer das Ehepaar endlich beruhigt hatten, war die Geduld des Richters offenbar erschöpft. Er ordnete an, dass die beiden einen Monat lang zusammenleben sollten und keinen Tag früher wieder vor Gericht erscheinen durften. »Das kann ich nicht! Bitte, agha«, flehte die junge Frau. Er konnte ihre zitternden Hände auf dem Tisch sehen. »Sie wissen nicht, wie das ist. Bitte, ich flehe Sie an.«

Der Richter schüttelte den Kopf. »Sie müssen nicht sein Bett teilen. Und jetzt fort mit Ihnen.«

Aber die Frau wollte nicht gehen. Ehe die Worte dem Richter vollständig über die grauen Lippen gekommen waren, hatte sie sich schon auf seinen Tisch geworfen und machte einen solchen Aufstand, dass der Richter hochfuhr und die Gerichtssekretärin vorschnellte, um die junge Frau vom Tisch zu ziehen. Ihre Mutter (oder Tante oder wer auch immer) schlang die Arme um ihre Taille und versuchte, sie zu beruhigen, während sie unter Tränen anfing, Gebete zu murmeln.

Auch Bahman war aufgesprungen. Ohne um Erlaubnis zu bitten, hatten ihn seine müden Schuhe bis zur Schwelle des Richterzimmers getragen, und seine Hand lag am Türrahmen. Sein Anwalt rief ihn zurück, doch er spähte in den Raum. Die unglückselige junge Frau war in Nilous Alter. Ihr Blick war verzweifelt – ein gefangener Vogel. Hatte Nilou sich in ihrem jungen Leben je so gefangen gefühlt? Hatte er sie mit seinen väterlichen Hoffnungen für sie und ihren Bruder in ein fremdes Land geschickt, nur damit sie sich dort abmühte und taube Götter anbetete? Hatte sie einen Ort, an dem sie sich zu Hause fühlte, hatte sie Menschen, zu denen sie gehörte? War sie aus tiefster Seele zufrieden?

Der Richter entschied, dass die Ehefrau zwei Tage im Gefängnis verbringen sollte, um zu lernen, wie man sich angemessen vor Gericht verhielt. Bahman wollte in den Raum stürmen, wollte einmal in seinem Leben gegen die Sinnlosigkeit der Welt wettern. Dieser Richter war in seinem Alter, sein Standesgenosse. Zeig ein wenig Nachsicht, Bruder, wollte er sagen. Sie ist schwach, und sie ist dir ausgeliefert. Aber irgendwie erschien ihm diese Aussage anmaßend und dem Mädchen gegenüber beleidigend, und wer will schon so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen? Er würde der Familie Geld schicken, falls er ihren Namen herausfinden konnte. Vielleicht könnte die unglückliche Ehefrau im Schutz der Nacht fliehen. Vielleicht hatte sie einen Geliebten, den sie heiraten wollte, und das war der Grund für ihre Verzweiflung. Natürlich. Bahman hoffte, dass sie einen Geliebten hatte, der sie schützen würde – warum sonst sollte sie sich auf den Tisch irgendeines alten Mullahs werfen?

Der Gedanke ließ ihn lächeln, als er zu seinem Stuhl zurückkehrte. Er tätschelte die Hand seines Anwalts, nahm den Becher Tee und die Zuckerwürfel, die ihm gereicht wurden, und sagte: »Bitte finden Sie für mich den Namen und die Anschrift der jungen Frau heraus«, und als der Junge den Mund öffnete, packte Bahman seine Betperlen fester und sagte: »Nein, mein Freund. Keine Einwände mehr.«

Ich und Baba und Ardestun

In den vergangenen zweiundzwanzig Jahren habe ich meinen Vater vier Mal gesehen. Ich verließ ihn und Isfahan 1987 unter einer kratzigen Decke hinten in einem braunen Jeep, als ich acht war und Baba dreiunddreißig. Jetzt bin ich dreißig. Bei jedem kurzen Wiedersehen, ob in Oklahoma oder London oder Madrid oder Istanbul, ist der Mann, der mich begrüßt, anders als beim letzten Mal und so viel älter. Jedes Mal fühlt es sich an wie eine eiskalte Hand auf der Brust, eine Erschütterung des Universums, und nach dem zweiten und dritten Mal habe ich gelernt, mich innerlich darauf vorzubereiten. Er wird sich verändert haben, sage ich mir, während ich Flughafenterminals absuche und auf Restauranttische mit einem einzelnen wartenden Mann zugehe. Aber die Begegnungen sind kurz, und hinterher verwandele ich ihn immer wieder zurück, tilge die Spuren des Alterns, den Gehstock, das weiße Haar, die überschüssige Haut, die das verschmitzte Blitzen in seinen Augen verdeckt. Mein Baba wird immer dreiunddreißig sein – unveränderliche dreiunddreißig, wie Jesus oder die Anzahl der Betperlen, die er zählt, trotz seiner Hingabe an den Hedonismus und seine eigene Göttlichkeit.

Manchmal, wenn er betrunken ist, sagt Baba Dinge wie: »Ich bin Gott! Was ist Gott denn anderes als Wissenschaft und Dichtung?« Und dann rezitiert er zwanzig Minuten lang fehlerfrei Hafis.

Mit drei Jahren warf ich manchmal die Arme in die Luft und rief: »Ich bin auch Gott!«, und dann hob er mich hoch in den Himmel, wobei mein babyfeines rotbraunes Haar auf sein Gesicht fiel, ununterscheidbar von seinem eigenen. Jeden Abend wartete ich auf der Treppe vor unserer Haustür auf ihn, und wenn ich ihn die Straße herunterkommen sah, rannte ich zu ihm und begrüßte als Erstes das Gebäck, das er in der Tasche versteckt hatte. »Hallo, sulbia! Hallo, baghlava!«, sagte ich zu der Beule in seiner Jacke. »Sauerkirschen? Eiscreme? Seid ihr da drin?« Er spielte dann den Beleidigten. »Und was ist mit deinem Baba?«, sagte er.

Baba bat mich oft, über seinen Rücken zu laufen. Meine Zehen gruben sich in sein Fleisch, ich spürte, wie seine Muskeln sich verschoben und lockerten wie tektonische Platten. Er war der Erdboden. Jetzt sind diese Platten weit weggedriftet, und der Boden ist verschwunden. Ich werde dieses Bild von ihm nicht los. Baba mit alterslosen dreiunddreißig, immerzu feiernd und selbstverliebt, der vor sich hin summt, während Schokoladeneis von meinem Kinderlöffel auf seinen weichen, wuchtigen Rücken tropft. Baba und ich lasen zusammen Der kleine Prinz und aßen dabei Sauerpflaumen. Ich besaß zwei Ausgaben des Buchs, weil Maman wollte, dass ich Englisch lerne, aber Baba und ich lasen immer die Farsi-Ausgabe, weil er eine gute Geschichte niemals mit Lernen ruinieren oder ein Vergnügen mit zusätzlichen praktischen Aspekten beeinträchtigen wollte. Manchmal, wenn die Islamische Republik nicht mal wieder die Trickfilmstunde abgeschaltet hatte (eine einzige Stunde Kinderprogramm pro Woche), schauten wir uns die Animationsfassung an. Jeden Dienstag sahen wir das Mädchen in der Rose erblühen, während er für mich Gurken salzte und meine Zähne kontrollierte. Obwohl er Zahnarzt war, hatte er die Taschen immer voller Süßigkeiten. Bei unserer letzten Begegnung, vor einem Jahr in Istanbul, fiel mir auf, dass ihm zwei Backenzähne fehlten, und ich weinte fast den ganzen Nachmittag.

Als Kind bekam ich den Löwenanteil von Babas Zuwendung, obwohl mein kleiner Bruder Kian praktisch sein Klon war: pausbäckig mit einer enormen Persönlichkeit und einem spöttischen Charme, der andere dazu brachte, nach seiner Zuneigung regelrecht zu gieren. Allmählich entwickelte er sich zu einem grüblerischen, ernsten Kind, was ihn sogar noch niedlicher machte. Mit zwei begann er, Lieder der Iranischen Revolution auswendig zu lernen: »Der gefangene Vogel«, sang er traurig und schmachtend, die pummeligen Hände geballt, »leidet Herzweh hinter Mauern.«

»Scheiße, Pari-dschun«, sagte Baba zu Maman, »willst du einen Revolutionär aus ihm machen?«

»Ich singe ihm Lieder über Gänse und Häschen vor.« Sie war achtundzwanzig und wachsam.

»Und wo hat er dann diesen Schwachsinn gelernt?«

»Keine Ahnung … Wo hat Nilou die ganzen schmutzigen Lieder gelernt?«, fragte sie, obwohl sie sehr genau wusste, dass ich sie auf Ausflügen in Babas Dorf gelernt hatte. »Sorgen wir uns lieber um das Kind mit der fehlenden Impulskontrolle als um das mit dem Herzen für andere Menschen.« Ich bin sicher, dass Baba daraufhin spöttisch schnaubte, um meine Ehre zu verteidigen, vielleicht aber auch nur, um zu demonstrieren, wie wenig er von Impulskontrolle hielt.

Offenbar hatte Kian gelernt, allein das Radio einzuschalten, und dadurch ein Faible für die von den Mullahs erlaubte melodisch leiernde Propagandamusik entwickelt. Baba schüttelte bloß den Kopf und ließ ihn gewähren. Einige Monate später bekam Kian, der ohnehin schon mollig war, auch noch Mumps und avancierte damit offiziell zum goldigsten Kind unserer Straße, weil kindliche Attraktivität im Iran ausschließlich von schierer Leibesfülle abhängt. Folglich bekam er seine Zuwendung von anderen Seiten und konnte auf Babas gut verzichten.

Wie viele junge Männer im Iran verlegte sich Baba nach der Euphorie und dem Rausch des Verliebtseins auf die Euphorie und den Rausch des Opiums. Er wurde süchtig und begann, sich nachts aus dem Haus zu schleichen. Manchmal verlor er schrecklich die Beherrschung. Das kam selten vor und hing, wie ich später erfuhr, mit Opiumrasereien zusammen, vor denen ich größtenteils abgeschirmt wurde – aber ich sah und hörte doch so einiges, eine verschwommene Maman draußen am Swimmingpool, einen Schlag mit einem Gartenschlauch, einen Schrei. Hinterher versuchte er stets, es wiedergutzumachen, indem er in fernen Gärten körbeweise Obst für sie pflückte oder ihr schöne Kleider kaufte oder Gedichte schrieb, die er überall im Haus versteckte. Im Zorn erhob er auch die Hand gegen seine Brüder. Aber nicht oft. Es ist schwer vorstellbar, dieselben fleischigen, flinken Hände, die den schlimmsten Zahnschmerz mit einem Handgriff und dem Druck von etwas Verbandsmull verschwinden lassen konnten; dieselben Brüder, die er als Techniker in seiner Zahnarztpraxis beschäftigte, weil sie eben Arbeit brauchten, obwohl keiner von ihnen je etwas anderes gelernt hatte als Landwirtschaft.

Baba, ein Riese mit seinem dicken roten Schnurrbart und dem sonoren Lachen, grüne Betperlen in einer Hand, die andere Hand voll mit Pistazien oder Sauerkirschen, war ein Phänomen, das man schon von Weitem erkannte. Immer kaute er auf irgendwas. Ständig rauchte er und trank und aß und konnte ganze Bücher mit alter Dichtung auswendig. Sein Körper war gewaltig und von Kopf bis Fuß mit roten Haaren bedeckt.

Jeden Freitag verfrachtete er die Familie ins Auto, und wir wurden zum Dorf Ardestun kutschiert, als steckten unsichtbare Magnete in Babas Schuhen. Je näher wir dem Dorf kamen, desto mehr veränderte sich unser Dialekt. Der mollige Kian sang weiter Revolutionslieder und Liebeslieder und Lieder über Märtyrer und Tod. (»Die Luft des Käfigs ist der Tod der Seele!«) Unsere Stimmen verloren ihre städtische Vornehmheit und nahmen stattdessen allmählich einen singenden Tonfall an, wir sprachen gedehnter und mit Redewendungen, ließen die Zungen schnalzen, wurden lauter.

Ardestun, die Heimat meines Vaters, ist ein altes Dorf mit staubigen, von zerquetschten Maulbeeren übersäten Straßen, handgearbeiteten Teppichen vor den Türen, die regelmäßig gefegt werden, Reihen von kindsgroßen Gläsern mit Eingemachtem um jedes Haus. Es hat zwei Flüsse, zwei Gärten, eine Obstplantage an einem Teich mit Enten, eine Moschee, einen mittelhohen Berg und einen berühmten zweigeschossigen Aquädukt, ein achthundert Jahre altes Bauwerk, von dem die Leute im Dorf nicht mal wissen, dass sie darauf stolz sein sollten, weil sie zu sehr damit beschäftigt sind, ein einfaches Leben zu führen, das Baba als »überbordend und poetisch« bezeichnet. »Das Leben in Ardestun«, sagt er, »ist eine so prall mit Mark gefüllte Lammkeule, dass du dir daran beide Wangen vollsaugen kannst, und dann ist immer noch was drin, das du mit dem kleinen Finger rauspulen oder mit beiden Händen rausschütteln kannst. Nilou-dschun, sei nie diejenige, die sich wegdreht, weil sie Angst hat, ihr Gesicht könnte fettig sein.«

Als ich zwei Jahre alt war, brach mein Schneidezahn bei einem kleinen Unfall ab, und Baba nahm die Operation selbst vor. Seine Brüder jagten mich um den Zahnarztstuhl herum, bis Onkel Hossein mich schließlich hineinsetzte. Baba hatte eine riesige Spritze hinter seinem Rücken versteckt, die mir noch monatelang Albträume bereitete. Danach ließ ich mich von Baba nur noch anfassen, wenn ich ganz in unsere gemeinsamen Spiele oder die Bücher vertieft war, die wir zusammen lasen. Und jedes Mal fiel mir nach kurzer Zeit wieder ein, dass ich mich vorsehen musste. Ich zitterte, wenn Baba meine Wange streichelte und mein Gesicht küsste oder meine Hand hielt. Ich dachte, Wenn ich meine Hand in seine große, kräftige schiebe, hält er mich fest. Ich bin nicht stark genug, um mich loszureißen. Und vielleicht schnappt er sich dann noch mehr von meinen Zähnen. Oder sogar meine Finger oder Zehen.

Und dennoch wurde ich mehr und mehr wie er. Das war Mamans größte Sorge. Manchmal sagte sie im fassungslosen Flüsterton: »Das sind die Ausreden von deinem Baba. Ach, Nilou, das ist der Wahn deines Vaters. Nimm dich in Acht, du hast sein Blut.«

Onkel Ali, Babas jüngster Bruder, war dreizehn, als ich geboren wurde, und er passte oft auf mich auf, wenn meine Eltern irgendwohin mussten, Maman, um in armen Gemeinden als Freiwillige medizinische Hilfe zu leisten, Baba, um mit seinen Freunden gewaltige Mengen Opium zu rauchen, Lyrik zu lesen und Wonne und Qual zugleich zu finden.

Aber Onkel Ali und ich hatten zusammen viel Spaß. Eines Tages erklärte er mir, wie ich meine Kindergartenliebe Ali Mansuri, der ein Jahr älter und somit unerreichbar war, für mich interessieren könnte. »Nächstes Mal, kleine khanom, lauf ihm nicht ständig hinterher, das reizt ihn bloß, dir zu sagen, du sollst verschwinden. Nächstes Mal gehst du einfach an ihm vorbei, wirfst dein hübsches Haar nach hinten und sagst: ›Entschuldige, Junge. Würdest du mich bitte vorbeilassen?‹« Onkel Ali nannte mich immer kleines Fräulein oder Fräulein Nilou. Er setzte mich auf sein Motorrad und imitierte sehr überzeugend ein Teheraner Straßenmädchen, stolzierte mit schwingenden Hüften an mir vorbei und klimperte mit den Wimpern. Ich genoss die Aufmerksamkeit und kicherte über seine Albernheiten. »Noch was«, sagte er. »Nennst du diesen Jungen immer mit vollem Namen? Was soll dieser ›Ali Mansuri, Ali Mansuri‹-Quatsch. Nein, Nilou khanom. Sprich ihn lieber mit einem völlig falschen Namen an. Nenn ihn das nächste Mal Javad oder Kamal oder irgendwas, nimm einen blöden Arbeiternamen, damit er weiß, dass er weniger wert ist als du.«

»Aber das stimmt doch gar nicht«, sagte ich. »Er geht in denselben Kindergarten wie ich.« Baba hatte mir beigebracht, dass niemand weniger wert ist, der dieselbe Bildung hat.

»Das darfst du ihm aber nicht sagen. Behandle ihn, als wäre er eine fette Fliege auf deinem Reis mit Kirschen. Klar?«

»Klar«, sagte ich, packte seine Ohren mit beiden Händen und gab ihm einen Kuss auf die Nase. Am nächsten Tag lief ich wie immer hinter Ali Mansuri her, schenkte ihm mein Mittagessen und sah mit einem breiten, albernen Grinsen im Gesicht zu, wie er es aufaß.

Gegen den Instinkt kommt man nicht an. Echte Zurückhaltung kann man niemandem beibringen. Ich hatte meine Instinkte von einem Mann, dessen Vorrat an Zurückhaltung ebenso begrenzt und unbestimmbar war wie der Vorrat an Musikkassetten auf dem Schwarzmarkt oder die letzte Portion Sauerkirschen im Gefrierfach.

Als meine Lehrerin später an jenem Tag in Babas Büro anrief und ihm sagte, dass ich nichts gegessen hatte, ging sie nicht näher auf die genauen Umstände ein, wahrscheinlich aus Angst, er würde ihr Vorwürfe machen, weil sie zugelassen hatte, dass ein anderes Kind mein Mittagessen aß. Eine Stunde später kam mein Vater mit einem Kellner aus dem nahen Kebab-Haus, in dem Diplomaten und Ärzte speisten, in den Kindergarten spaziert und brachte mir eine ganze Lammkeule mit Beilagen. Der Kellner trug sein weißes Hemd mit schwarzer Fliege und servierte mir die Mahlzeit übertrieben förmlich auf meinem Kindertisch, goss mir Trinkjoghurt ein und arrangierte das Brot in einem Körbchen, obwohl die Lehrerin protestierte. Ihr tiefes Unbehagen zeigte sich an der Art, wie sie die Arme um den Körper geschlungen hatte. Und doch konnte sie sich nicht beschweren. Schließlich hatte sie selbst den exzentrischen Dr. Hamidi angerufen. »Für die kleine Khanom Hamidi«, sagte der Kellner mit einer tiefen Verbeugung.

Die anderen Kinder beobachteten das Spektakel, dieses sonderbare Festessen für Erwachsene, während sie auf Apfelscheiben und getrockneten Früchten kauten. Es war einfach unmöglich, Babas überschäumende Art vorauszusehen oder zu ändern. Er war unüberlegt, achtete nicht auf die Reaktionen anderer. Schon damals spürte ich die Kluft zwischen uns und allen anderen, selbst Onkel Ali: Baba und ich hatten schlechte Instinkte. Wir hatten unsere geheime andere Welt, wo Eiscreme von Pfannenhebern tropfte, wo wir fremdartige Süßigkeiten jagten, den Nachbarn Geburtstagsstreiche spielten und in der Obstplantage von Ardestun verschwanden, um Maulbeeren und grüne Mandeln zu pflücken, während die anderen um Wasserpfeifen saßen und sich fragten, wo wir steckten. Sie sagten: »Nilou und der Doktor sind mal wieder unterwegs und kämpfen mit den Dschinn.«

Maman wollte den Iran auf gar keinen Fall verlassen – Babas Dorf hatte sie gerettet. Sie kam aus einer freudlosen, willensstarken Familie in Teheran. Ihr Vater, Angestellter in der Stadtverwaltung, trug Anzüge und war ständig mit irgendwelchen wichtigen Angelegenheiten beschäftigt, bei denen man ihn unter keinen Umständen stören durfte. Ganz anders als Baba, der förmlich darum bettelte, gestört zu werden, der ständig mit dem Fuß wippte, den Schnurrbart zwirbelte, eine verstohlene Hand in der Tasche auf der Suche nach Pistazien. Mit zwanzig war Maman froh, Teheran zu verlassen und in einem beschaulichen Dorf zu leben, wo Hühner und wilde Kaninchen und Fasane frei herumliefen, wo ihre Schwiegermutter sie jeden Morgen küsste und köstliche Eintöpfe mit Koriander aus dem Garten kochte und ihr sämtliche Verstecke Babas verriet.

Schon bald wurde aus der ernsten Tochter eines ernsten Mannes eine Frau, die innehalten und durchatmen konnte, der es Freude machte, Kräuter anzupflanzen, Wunden zu versorgen und überhaupt mit den Händen zu arbeiten. Aber keine zehn Jahre später hatten ihre medizinische Ausbildung und ihr christlicher Glaube sie zur Zielscheibe gemacht. Im Winter und Frühjahr 1987 begann die Sittenpolizei, ihre Praxis zu beobachten. Zweimal stiegen sie vor einer roten Ampel in ihr Auto und zwangen sie, zur Wache zu fahren, wo sie verhört wurde. Das alles verschwieg sie uns, weil sie hoffte, es würde vorbeigehen.

Monatelang lebte sie in Angst, bis ihr schließlich keine andere Wahl blieb, als es Baba zu erzählen. Von da an hörte ich viele Auseinandersetzungen in der Nacht, gedämpfte Stimmen, die vor Angst und Zorn und Trauer immer lauter wurden. Gegen Ende des Frühjahrs, als ich acht war und die Obstgärten in voller Blüte standen, nahm Baba mich beiseite und sagte, ich solle eine Liste aufstellen mit allen Dingen, die ich in Ardestun besonders gern tat. Und die würden wir dann nacheinander abarbeiten.

Begeistert schrieb ich siebzehn Punkte auf: Meinem Großvater am offenen Feuer zuhören, wenn er Geschichten erzählte. Beim Maulbeerenpflücken Rätsel lösen. Nachts im Garten Verstecken spielen. Mein zweites Hühnerküken adoptieren. Brot im tanur backen. Am Fluss saure grüne Pflaumen mit Salz essen. Den Berg besteigen. Eine Kochgrube machen, wie die Nomaden in der Wüste, und darin einen Topf Reis kochen. Im Ententeich schwimmen. Einen Spaziergang mit Spazierstöcken machen, nur Baba und ich, ohne Kian. Dass wir all diese Dinge dann auch taten, als würden wir eins nach dem anderen abhaken, machte mich nicht misstrauisch. Meine Eltern erzählten niemandem im Dorf, nicht mal Babas Mutter, dass wir fortgehen würden. Maman verabschiedete sich still für sich von allen und versuchte wie Baba, schöne letzte Erinnerungen zu schaffen. Außer den beiden wusste niemand, dass es ein Abschied war.

Irgendwann sah ich Maman in der Küche weinen. Als ich zu ihr ging, gab sie mir eines von Großmutters Kopftüchern. Es roch nach ihrem verschwitzten Hennahaar, eine süße Mischung aus Bockshornklee und Buschrosen. »Versteck das in deiner Tasche.«

Ich nahm das Kopftuch und ging. Baba saß im Wohnzimmer und trank. Ich zögerte, bevor ich auf seinen Schoß kletterte, aber er schob mir einen Finger in den Mund und drückte ihn auf. »Darf ich nur mal ganz kurz gucken?«, fragte er. Ich sprang auf, bereit, die Flucht zu ergreifen. »Komm wieder her. Ich kontrolliere deine Zähne nicht. Ich erzähl dir eine Geschichte.« Ich ließ mich neben ihm auf dem Teppich nieder, im Schneidersitz, wie er, achtete aber darauf, dass unsere Knie sich nicht berührten.

»Was ist los?«, fragte ich. »Wir kommen doch nächste Woche wieder nach Ardestun, oder?«

Er schwieg eine Weile, und dann sagte er in einer seltenen Anwandlung von Ehrlichkeit: »Du und Kian, ihr werdet mit eurer Mutter eine große Reise machen. Und später kommen wir dann alle wieder hierher.«

»Kommst du denn nicht mit auf die Reise?«, fragte ich und spürte Panik in mir aufsteigen.

»Nein«, sagte er. »Einer muss hierbleiben und sich um das Haus kümmern.« Er zögerte. »Ich komme später nach«, sagte er. Vielleicht war das eine Zwecklüge, vielleicht auch nicht. Damals glaubte ich ihm, und das war entscheidend. Er lutschte etwas Tee aus seinem Schnurrbart.

»Dann machen wir die Reise doch zusammen«, sagte ich und fand die Vorstellung spannend.

»Ich werde euch besuchen, ja«, sagte er. Ich muss ein erschrockenes Gesicht gemacht haben, und ich weiß noch, dass die Unsicherheit in seiner Stimme mir fast die Fassung raubte. Doch Baba verbesserte sich rasch. »Nicht besuchen. Ja, ich komme nach. Jetzt geh spielen, asisam. Baba ist müde.«

Noch bevor ich die Tür erreichte, rief er mich zurück. »Nilou-dschun, bewahr die für mich auf«, sagte er und gab mir zwei Fotos, die zuvor in seinem Wartezimmer gehangen hatten, an einer Wand, die mit zig Fotos in bunt zusammengewürfelten Rahmen bedeckt war. Die Bilder waren alt und neu, bunt, schwarz-weiß, sepiafarben, manche zerknittert und an den Rändern ausgefranst oder angekohlt. Das größte Foto im Wartezimmer zeigte mich mit einem Krankenschwesterhäubchen auf dem babyroten Haarschopf, einen Finger an die Lippen gehoben, als wollte ich »Pssst« sagen.

»Immer wenn ich, als ich klein war, den Drang verspürte, mir Flügel wachsen zu lassen, haben meine Fotos mich glücklich gemacht.« Er nippte an seinem Tee und wischte sich übers Gesicht, versuchte, seine Traurigkeit zu überspielen. »Wenn du älter bist, werden dir große, schöne Flügel wachsen. Du wirst viele gebildete Menschen kennen und vieles machen und erleben. Aber jedes Mal, wenn du deinen Baba siehst, werde ich dir ein Bild und eine Geschichte von hier mitbringen, damit du nicht ins Vergessen davonfliegst.«

Er strich über die Fotos in meiner Hand, von deren fleckigen, vergilbten Rückseiten der Kodak-Stempel auf Farsi schon längst verschwunden war. Das erste war eine alte Schwarz-Weiß-Aufnahme von einem Mann, der an der Spitze einer Reihe von Männern in schwarzen Anzügen stand. Er hielt einen Gehstock in der Hand und verbeugte sich leicht vor einem Ausländer, der eine graue, kittelartige Jacke und eine weiße Kappe trug, die aussah wie ein gekentertes Boot. Der Ausländer hatte würdevoll eine Hand ausgestreckt. Baba zeigte auf ein paar mit dünnem Bleistift gekritzelte Anmerkungen auf der Rückseite. »In den letzten hundert Jahren haben drei große Männer Ardestun besucht«, sagte er. Babas Geschichten beginnen immer mit Aufzählungen. Sieben Unfälle, die in unseren Flitterwochen passiert sind. Fünf Anzeichen dafür, dass ich mich in deine Mutter verlieben würde. Zwölf Naturkatastrophen, die zur Geburt deines Großvaters führten. »Das ist dein Urgroßonkel mit Nehru, dem ersten Premierminister von Indien. Er war der zweite große Mann, der ins Dorf kam. Das war ein sehr bedeutsamer Augenblick für Ardestun.« Einer der Gasbrenner erlosch, und Baba griff nach seinen Streichhölzern. »Auf dem anderen Foto siehst du deinen Urgroßvater Hamidi im Kreis deiner Verwandten. Verwahre sie gut.«

Ich klopfte die Fotos auf meinem Bein gerade, sodass sie ordentlich aufeinanderlagen. Baba nahm das abgegriffenere von beiden und strich mit dem Fingernagel über die Ränder. Dann gab er es mir so behutsam zurück, dass mir klar wurde, wie wertvoll die Fotos waren.

»Hast du dir die Zähne geputzt?«, fragte er und rief mir damit meine immer länger werdende Liste von Ängsten in Erinnerung. Ich lief weg, ehe er versuchen konnte, wieder einen Blick in meinen Mund zu werfen.

Ich habe seine Praxis nie wieder betreten. Zwei Nächte später holte uns Onkel Ali in einem braunen Jeep ab. Er parkte auf der Rückseite unseres Hauses in einer kleinen, von einer Mauer begrenzten Gasse, die eigentlich viel zu schmal war. Irgendwie bugsierte er den Wagen hinein und winkte uns, herauszukommen. Wir quetschten uns an der hohen, mit Buschrosen und Heckenkirschen bewachsenen Mauer vorbei, sodass unsere Blusen hinten gelbe Flecken bekamen, und kletterten auf die Rückbank, versteckten uns mitsamt unseren Koffern unter einer kratzigen Decke.

Obwohl es nicht der kürzeste Weg zum Flughafen war, fuhr Onkel Ali noch an Babas Praxis vorbei. Ich entdeckte seinen Schatten im Fenster, und da ich glaubte, wir würden bloß eine kurze Urlaubsreise machen, winkte ich ihm fröhlich zu. Er winkte zurück oder hob doch immerhin eine Hand an die Scheibe. Wahrscheinlich fürchtete er, beobachtet zu werden, und Ali hielt ohnehin nicht an. Er wurde nur kurz langsamer und sagte, wir sollten unserem Baba zum Abschied winken. Seine Stimme klang anders, rauer, nicht so jung wie sonst, und er sah weder mich noch Maman an.

Als ich Baba das nächste Mal sah, war ich vierzehn Jahre alt.

Der Mystiker al-Ghazali hat gesagt, die Bewohner des Himmels bleiben auf ewig dreiunddreißig. Das erinnert mich an den Iran, der in der Vorstellung aller im Exil Lebenden so weiterbesteht, wie er im Jahr 1976 war. Wenn Iraner Teheran oder Schiras oder Isfahan besuchen, sagen sie hinterher oft, dass sie die kleinsten Veränderungen als verwirrend und schmerzlich wahrgenommen haben – ein beliebter Eckladen verschwunden, der Duft von Brot, der einst eine Straße erfüllte, nicht mehr da, ein zuvor gepflegter Rosengarten jetzt verwahrlost. In ihren Erinnerungen verwandeln sie immer alles zurück. Der Iran ist wie ein Elternteil, der alt geworden ist, sagen sie.

Mein dreiunddreißigjähriger Baba war der Iran von früher. Und jetzt … sind sein Verfall und der des Irans für mich ein und dasselbe. Wenn er anruft, was selten geschieht, beklagt er sich, dass ich ihn nie besuche: Komm und besuche deine Großmutter, Nilou-dschun. Aber ich bitte ihn, sich mit mir in anderen Städten in fremden Ländern zu treffen, für die er ein Visum bekommen kann. Wir haben uns vier Mal getroffen.

Ich verschweige ihm, dass ich ihn gar nicht sehen will. Mein wahrer Baba ist ein dreiunddreißigjähriger Bilderbuchheld: unantastbar, unbezähmbar, ein Star. Wenn wir uns begegnen, zieht eine Last meine Schultern nach unten, wie damals, als ein Regalbrett zerbrach und mir eine Reihe Bücher in die Arme fiel. Meine Finger zittern, und ein bitterer Geschmack füllt meinen Mund. Ich nehme bloß wahr, dass noch mehr Details meines ursprünglichen Babas ausgetilgt werden und an ihre Stelle erschlaffende Wangen und faulige Zähne treten. Und dann bin ich eine andere Nilou, keine rationale Akademikerin, die viel arbeitet und daran glaubt, dass sie etwas Großes aus sich gemacht hat, sondern ein kleines Mädchen, das gerade erlebt hat, wie sein Vater innerhalb von Sekunden um zwanzig Jahre gealtert ist. Die andere Nilou, die mit dem Namensschild an der Tür, würde das niemals zugeben. Sie würde niemals sagen: Ich will Baba nicht sehen, weil ich Angst vor meinem eigenen Verfall habe.

Der andere Dr. Hamidi

August 2009

Amsterdam, Niederlande

Nilou erkennt ihren Fehler in dem Moment, als die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fällt und gegen ihren steifen Rücken drückt, während sie die Halbschuhe abstreift und ihre Zehen den kühlen Parkettboden berühren – sie hätte schon vor einer Stunde zu Hause sein sollen. Guillaume hantiert lärmend in der Küche, stellt Töpfe auf die Arbeitsplatte. Zwischendurch fährt er sich immer wieder mit der Hand durchs Haar, das er zottelig und lang trägt wie viele Franzosen in seinem Alter. Neben ein paar zerdrückten Knoblauchzehen quillt Tomatenmark aus einer Tube aufs Schneidebrett. Ihre Basilikumpflanze ist leer gerupft worden. Am Rand der Kücheninsel, gleich neben einer übergroßen Vase mit knospenden Baumwollzweigen, steht Guis Tablet. Zuerst übersieht sie es, doch dann ertönt die Stimme ihrer Mutter aus dem Gerät und gibt mit starkem Akzent auf Englisch lautstark Anweisungen.

Maman Pari hat Guillaume im Laufe der Jahre schon einige Male per Video-Chat beim Kochen geholfen – Kochen ist seine einzige Fertigkeit, die nicht besser wird, wenn er unter Druck steht –, und jetzt berühren ihre karamellfarben getönten Haare die Linse, und ihre großen dramatischen Augen füllen den Bildschirm. »Gay, du hören?«, sagt sie. »Soße brennt. Stell ab! Ab!«

Gui stürzt zum Herd. Als er Nilou bemerkt, verharrt er inmitten des Chaos und sieht sie vorwurfsvoll an. »Tut mir furchtbar leid«, sagt sie, streift ihren regennassen Rucksack ab und wischt ihn mit dem Saum ihres T-Shirts trocken. »Ich kann in zehn Minuten fertig sein.«

Guis Jura-Mentor, ein holländischer Professor namens Heldring, wird heute Abend mit ihnen essen. Er war es, der Guillaume Amsterdam empfohlen hat und dann einige Kontakte spielen ließ, um ihm seinen derzeitigen Job zu vermitteln.

Jetzt, wo sie sich wieder an die Verabredung erinnert, fühlt sie sich ihres Abends beraubt. Sie hatte sich darauf gefreut, noch jede Menge Unterlagen durchzusehen – Aufsätze und Daten und kopierte Kapitel aus Lehrbüchern. Montags, dienstags und donnerstags lehrt Nilou Anthropologie an der Amsterdamer Universität – eine Vorlesung für Erstsemester und ein Seminar über Dental-Anthropologie (ihre liebste, von ihr selbst entwickelte Lehrveranstaltung über archäologische Untersuchungen von ausgegrabenen Zähnen und Kieferknochen). Die Freitage so wie heute stehen ihr für eigene Forschungen zur Verfügung. Nilous Forschungsinteressen umfassen alles, was aus der Evolution unserer Zähne und Kiefer gefolgert werden kann. Sie verbringt jeden Freitag allein in ihrem fensterlosen Büro, wo sie oft bis spätabends Materialien vorbereitet und Mails beantwortet.

Hinter der Vase mit Baumwollknospen hört sie Maman schimpfen. »Gay hat warten ganze Tag auf dich. Niloufar? Niloufar, komm sofort in Bildschirm.« Maman reckt den Hals, als könnte sie dann weiter in die Küche sehen, und jammert über das Lammfleisch. »Wir Braten machen, aber jetzt verbrannt und –« Nilou verabschiedet sich von ihrer Mutter und schaltet das Tablet aus. Sie wendet sich Gui zu, aber der schweigt bloß und ruft Pari von seinem Handy aus an.

Nilou geht ins Schlafzimmer und zieht ihr T-Shirt aus, ein uraltes Teil mit abblätterndem Yale-Logo, das sie an Forschungstagen zu ihrer verwaschenen Jeans trägt. Wenn sie sich mit Frisur und Make-up beeilt, kann sie noch fünfzehn oder zwanzig kathartische Minuten abzweigen, um ihre Unterlagen zu sortieren – wenn sie jetzt noch ein paar Dinge klären kann, wird sie sich nicht den ganzen Abend so schrecklich unfertig fühlen. Ehe sie in die Dusche steigt, setzt sie sich in BH und Jeans auf den Boden des begehbaren Kleiderschranks, zieht drei Ordner aus ihrem Rucksack und fängt an, die Papiere zu sichten und Stapel zu machen, was wegkann, was überarbeitet werden muss, was abgeheftet werden kann. Sie fragt sich, ob Gui erwartet, dass sie sich schick macht – sie verschwendet ihre schönen Sachen nicht gern an normale Tage.

Eine halbe Stunde vergeht unbemerkt, während sie sich auf dem Boden durch ihren To-do-Stapel arbeitet, bis Guillaume plötzlich vor ihr steht und sie verwirrt und wütend anstarrt. »Was soll der Scheiß, Nilou? Heldring kommt in zehn Minuten!«

Normalerweise hat Guillaume Nachsicht mit ihren Marotten – ihrer Zerstreutheit, ihren Besitzansprüchen, ihrer Parzelle. »Nilou-Face, du bist ein bisschen irre«, hat er sie vor Jahren gern aufgezogen. Als sie sich in Yale auf dem Campus kennenlernten, hatte sie hastig Niloufar und ihre Telefonnummer auf ein Blatt mit Seminarnotizen gekritzelt und es dann zurückverlangt, um den Namen deutlicher zu schreiben (»Sieht ja aus wie Nilouface«) und weil ihr eingefallen war, dass sie die Notizen noch brauchte. Wenn der Typ unbedingt ihre Nummer haben wollte, sollte er sie doch zwischen seine eigenen Notizen schreiben.

Aber jetzt ist er richtig wütend, das Gesicht zornesrot, und als sie aufspringt, rutschen ihr die Unterlagen vom Schoß. »Ich bin in zehn Minuten fertig«, sagt sie atemlos. Es klingelt an der Tür. »Wo ist meine grüne Bluse?« Sie tritt gegen ein Häufchen Wäsche auf dem Boden.

»Das ausgeblichene Teil?«, fragt Gui schon auf dem Weg zur Tür. »Nilou, bitte, leg dich ein bisschen ins Zeug. Ich mache ihm schon mal einen Cocktail, aber in zwanzig Minuten bist du da draußen und für ein schönes Abendessen angezogen. Ehrlich, ich würde dich nie so hängen lassen.«

Manchmal, wenn sie nicht da ist, geht Gui ihre Garderobe durch und wirft die alten, vertrauten, abgetragenen Sachen weg. Meistens sagt sie nichts dazu, weil Klamotten ihr unwichtig sind und er sowieso die meisten für sie gekauft hat. Trotzdem fühlt es sich wie ein Übergriff an.

Kurz darauf kommt sie aus dem Schlafzimmer, das nasse Haar hochgesteckt. Guillaume ist dabei, ein Schälchen mit Oliven und Cornichons zu füllen, und wirft nur einen beiläufigen Blick auf ihren himmelblauen Baumwollrock und das saubere weiße T-Shirt. Sie begrüßt Professor Heldring, einen freundlichen Mann mit strahlenden Augen und gelocktem weißem Haar. Er tätschelt ihre Wange, und sie riecht den Gin in seinem Atem. »Wie bezaubernd Sie aussehen, meine liebe Nili.«

Sie entkorken die erste Flasche und plaudern zwanglos. Der Lammbraten ist verkohlt. Mithilfe eines scharfen Messers kann Nilou ein saftiges Stück aus der Mitte retten. Sie essen an ihrem Holztisch mit Blick auf eine kleine Gracht, füllen die kleinen Portionen mit Guis butterigem Kartoffelpüree auf und spülen mit einem schweren Cabernet nach. »Das Lammfleisch ist köstlich«, murmelt Professor Heldring zufrieden. »Ganz ausgezeichnet.«

»Ein Rezept von Nilous Mutter«, sagt Gui, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Beide essen sie nur wenig. Wenn Gui verstimmt ist, gibt er gern Belanglosigkeiten von sich. »Maman Pari ist ein Goldstück«, sagt er, während er seinem Mentor nachschenkt. »Immer wenn sie den Mund aufmacht, kommt irgendwas herrlich Verquastes heraus.«

Das ärgert Nilou, aber es ist zu spät, um das Thema zu wechseln. »Ach ja, ich erinnere mich«, sagt Professor Heldring. »Sie sind als junges Mädchen aus Teheran gekommen, nicht wahr?«

»Isfahan«, sagt sie, während sie sich mit ihrer Serviette einen Klecks Püree vom T-Shirt wischt.

»Nilou hat jetzt einen dritten Pass«, sagt Gui mit einem Anflug von Stolz in der Stimme. »Ich hab sie endlich in mein livret de famille eintragen lassen.«

»Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe«, sagt Professor Heldring. »Was sind Sie doch für eine weltläufige Frau. Und wo ist Ihr Vater? Noch daheim?«

Das Wort daheim