Wem geglaubt wird - Dina Nayeri - E-Book

Wem geglaubt wird E-Book

Dina Nayeri

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Beschreibung

Ob einem geglaubt wird oder nicht, entscheidet die Gesellschaft anhand unausgesprochener Regeln und Verhaltensweisen. Aber was, wenn Glaubwürdigkeit im Grunde ein Privileg ist, das nur Eingeweihten vorbehalten ist, die von Geburt an die entsprechenden sozialen Codes kennen und verwenden? Was bedeutet das für diejenigen, denen nicht geglaubt wird? Diesen Fragen geht Dina Nayeri in ihrem neuen Buch nach, das Reportage, Essay, Memoir und philosophische Betrachtung zugleich ist. Sie nimmt uns mit in Verhörräume und Gerichtssäle, in die Geschäftsetagen der Hochfinanz, in die Klassenzimmer ihrer Schulzeit und in ihre eigene Familie, um zu zeigen, wie sehr wir alle davon abhängig sind, dass die anderen uns Glauben und Vertrauen schenken.

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Seitenzahl: 487

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

Dina Nayeri wurde im Iran geboren und erhielt mit zehn Jahren Asyl in den Vereinigten Staaten. Ihr Debütroman Ein Teelöffel Land und Meer wurde in 14 Sprachen übersetzt. Mit ihrem erzählenden Sachbuch Der undankbare Flüchtling gewann sie den Geschwister-Scholl-Preis. Sie hat Abschlüsse von Princeton, Harvard und dem Iowa Writer´s Workshop und war Stipendiatin am Columbia Institute for Ideas and Imagination in Paris und an der American Library in Paris. Sie ist Preisträgerin des O. Henry Prize und des UNESCO City of Literature Paul Engle Prize. Ihre Texte wurden u. a. in der New York Times, dem Guardian, dem New Yorker und Granta veröffentlicht. Zurzeit ist sie Dozentin an der Universität von St. Andrews in Schottland.

ÜBER DAS BUCH

Ob einem geglaubt wird oder nicht, entscheidet die Gesellschaft anhand unausgesprochener Regeln. Glaubwürdigkeit ist im Grunde ein Privileg, das nur denen vorbehalten ist, die von Geburt an die entsprechenden sozialen Codes kennen und verwenden. Aber was bedeutet das für diejenigen, denen nicht geglaubt wird, obwohl sie die Wahrheit sagen?

Dieser Frage geht Dina Nayeri in ihrem Buch nach, das Reportage, Essay und Memoir zugleich ist. Sie nimmt uns mit in Verhörräume und Gerichtssäle, in die Geschäftsetagen der Hochfinanz und in ihre eigene Familie, um zu zeigen, wie sehr wir alle darauf angewiesen sind, dass die anderen uns Glauben schenken.

 

Für Sam, der merkwürdige Geschichten liebt, und für Elena, die sie immer glaubt.

Und für Madame Moti, meine rätselhafte Londoner Großmutter, für die ich bereit war, an alles zu glauben.

Ruhe in Frieden,

Widerstand und Kraft.

 

Die Besten haben keine Überzeugung mehr, die Schlimmsten sind von der Kraft der Leidenschaft erfüllt.

W.B. Yeats, Die Wiederkunft

 

In letzter Zeit habe ich damit begonnen, die Rücken von Fremden nach Narben abzusuchen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Oder nach Kratzern, Schorf. Rücken sind wie eine raue, unbehandelte Oberfläche, eine naturbelassene Landschaft. Manchmal deuten tiefere Narben auf eine Geschichte hin. Mein Partner Sam hat eine Narbe von seiner Bandscheibenoperation. Ich bin diejenige, die sie am häufigsten zu sehen bekommt, die sich am öftesten an diesen Tag erinnert. Für ihn ist sie unsichtbar. Und ich habe einen dunklen Streifen über meinen Schlüsselbeinen, der von all den Sonnenbränden und dem ständigen Kratzen herrührt. Sam nennt ihn »die Lederhaut«.

Versehrtes Fleisch ist ein Beweis. Jede verblasste alte Narbe erklärt ein Zurückschrecken, einen Tick, einen Albtraum. Wir können diese demütigenden alten Wunden nicht kategorisieren. Oder wir tun es nicht. Häufig erledigen andere das für uns. Als Kind war es nichts Besonderes für mich, von öffentlichen Auspeitschungen zu hören, die Körper der Bürger schienen ganz selbstverständlich in den Zuständigkeitsbereich der staatlichen Autoritäten zu gehören. Schließlich lebten wir in der Islamischen Republik Iran und es war Krieg. Es gab Schlimmeres als einen zerfetzten Rücken.

Dann flüchteten wir. Jahre vergingen. Ich wuchs zu einer wachsamen, zynischen Erwachsenen heran. Ich fragte, warum mein Körper nicht mir gehörte, warum ich mich weiterhin den Autoritäten beugte und neue Götter erschuf. Ich verwarf sie und wurde zu einer sozialen Abtrünnigen. Heute, wenn ich über die Geflüchteten spreche, die ihre Geschichten an unseren Pforten niederlegen, nennen amerikanische Mütter in bunten Schals mich eine Idealistin. Ich lache. In welchem Universum würde ich als Idealistin durchgehen? Ich lehne Autoritäten und Geburtsrechte ab. Ich habe eine Todesangst vor dem eisigen Blick der Bürokraten. Ich glaube nicht an Worte, nicht an eure und häufig noch nicht einmal an meine eigenen. Ich glaube an Fachwissen und daran, was ich beobachten kann – was meine Erfahrungen mir gezeigt haben. Ich bin selten konsequent, aber auch nicht dogmatisch; ich kann erahnen, was ich alles nicht weiß. Ich glaube an Geschichten, die in die Haut eingeritzt sind. Könnte ich noch einmal an den Türhütern aus meiner Vergangenheit vorbeischlüpfen? Ich habe düstere Nächte, eine eingetrübte Linse, ein angegriffenes Herz. Ich will überleben. Ich liebe mein Kind mehr als andere Kinder. Der Schmerz anderer schließt meine Vorstellungskraft kurz. Ich sehne mich danach, ihm zu entkommen. Ich bin ihm entkommen, als er das letzte Mal auftauchte.

Ich bin eine Ungläubige. Aber zumindest weiß ich das jetzt.

Die Beherrschung der Welt

Eine Fehlerziehung

Sprechen

1

Hin und wieder öffnete sich die schwere Tür, ein Mann wurde hineingestoßen – oder herausgezerrt, und man sah ihn nie wieder. Es waren immer ungefähr zehn Männer im Raum, alles Tamilen, wie K. Die Gefangenen im Militärgefängnis von Pambaimadu schliefen auf dem Betonboden, es gab weder Matratzen noch Bettzeug. Der Raum stank nach Schweiß, Urin und den Körperausdünstungen der vielen Männer, die hier zusammengepfercht waren. Wenn sie das Glück hatten, zur Toilette geführt zu werden, wuschen sie sich in einem Fass. Wenn man ihnen erlaubte, zu baden, benutzten sie alle dasselbe Wasser. Für die Letzten in der Reihe ergab es kaum mehr einen Sinn. Wenn die Soldaten K Essen brachten, stießen sie es mit den Füßen weg und lachten. »Sogar die Hunde werden besser behandelt als ihr«, sagten sie. Doch es spielte keine Rolle, denn Ks Hals war so angeschwollen, dass er nichts essen konnte. Oft pinkelten die Soldaten auf den Boden, bevor sie gingen. Und oft wurde K in einen anderen Raum gebracht, wo man ihn mit Gewehrkolben und Holzknüppeln schlug, bis er sein rechtes Knie nicht mehr beugen konnte.

Es war seltsam, dachte er, denn er und der andere junge Mann, der mit ihm unterwegs war, hatten sich am 10. Mai freiwillig von den Soldaten gefangen nehmen lassen. Sie hatten eine weiße Fahne dabeigehabt und sich als Zivilisten ausgewiesen. Doch K wurde einer anderen Gruppe von Männern zugeteilt, die man verdächtigte, zu den Tamil Tigers zu gehören. Seine Gruppe wurde in ein Militärlager gebracht, nicht in eines für Zivilisten.

Zunächst war die Folter wie eine Routine, die jeden Tag ein paar Stunden lang stattfand, mit anderen Gefangenen. Sie wurden geschlagen, anschließend fotografiert und dazu gezwungen, Geständnisse zu unterschreiben, dass sie die LTTE (die Liberation Tigers of Tamil Eelam, oder kurz Tamil Tigers) unterstützt hatten. K unterschrieb sein Geständnis am fünften Tag seiner Inhaftierung, im Mai 2009. Danach, so dachte er, würden seine Verhöre leichter werden. Doch schon bald wurde er von den Mitgliedern anderer politischer Parteien wie der EPDP (Eelam People’s Democratic Party) oder PLOTE (People’s Liberation Organisation of Tamil Eelam) erkannt, die behaupteten, er habe den Tamil Tigers dabei geholfen, Gold zu verstecken.

Eines Tages im August wurde K in den Verhörraum gebracht, in dem zehn Männer warteten, die wissen wollten, wo die Tamil Tigers ihr Gold versteckten. Während er sich keuchend hinkniete und versuchte, sie davon zu überzeugen, dass er nichts wusste, bekam er einen Schlag auf die Schulter. Als er sich umdrehte, sah er, dass ein Soldat mit einer Eisenstange herangetreten war. Das Ende der Stange war rot glühend, was sogar durch den grauen Schleier seiner Furcht deutlich wahrnehmbar war. Bevor K einen Gedanken fassen konnte, wurde ihm die Eisenstange gegen den rechten Arm gestoßen, eine brennende Hitze schoss durch seinen Körper und er hörte sich selbst wie aus weiter Ferne schreien, bevor er in Ohnmacht fiel. Als er wieder zu sich kam, wurde er weiter zum Gold der Tamil Tigers befragt, er spürte neue Brandwunden an seinem Körper: Auch sein Rücken war inzwischen schwer verbrannt – er konnte sich nicht daran erinnern, wann dies geschehen war.

Dann hielt der Pulk von Männern ihn fest und goss ihm Benzin über das Gesicht und die frischen Wunden auf seinem Rücken. Sie drohten, sie würden ihn anzünden, wenn er das Goldversteck nicht preisgebe. »Ich schwöre, dass ich es nicht weiß«, sagte er zum hundertsten Mal. »Ich bin nicht bei den LTTE. Ich arbeite bei einem Juwelier.« Während K würgte, kroch ein Jucken sein Rückgrat und seine Arme hinauf und lenkte ihn von dem widerwärtigen Geschmack des Benzins in seinem Mund und dem Gestank ab. Dann wurde das Jucken zu einem Brennen, und wieder hörte er sich schreien. Er blickte auf seinen Arm – seltsam, an welche Details man sich erinnert – und sah, dass die ausgetrocknete Haut, die seiner langen Haft geschuldet war, nun feucht und schleimig war und sich ablöste.

Die anderen Männer in der Betonzelle starrten ihn an, als K wieder hineingeworfen wurde. Das war die übliche Reaktion, wenn jemand zur Folter abgeholt worden war und wieder zurückkehrte: eine schweigende Begrüßung, eine Mischung aus Freude, dass derjenige noch am Leben war (und sie vielleicht alle überleben konnten), und Furcht davor, was man ihm angetan hatte. Dann folgten einige Minuten, in denen sie daran dachten, dass sie alle auf diese Weise sterben konnten – in diesem Moment teilte jeder im Raum diese Befürchtung.

K rollte sich auf seine linke Seite, auf der er keine Verbrennungen hatte. Er zog seine Knie an die Brust und betete darum, schlafen zu können. Doch der Schmerz war zu stechend und der Benzingeruch zu widerwärtig. Allein in seiner Ecke wartete er zitternd darauf, dass sich seine schmerzenden Muskeln durch sein Schluchzen entspannen würden. Doch er hatte keine Kraft und keine Tränen mehr, und er döste ein, ohne Erleichterung zu finden.

»Morgen«, flüsterte eine freundliche Stimme neben ihm, »wenn sie uns baden lassen, kommst du als Erster dran.«

Am nächsten Morgen verkündete ein Offizier, sie dürften baden, und alle waren sich einig, dass K als Erster gehen sollte. Der Mann, der direkt neben K schlief, half ihm, sein Hemd auszuziehen. »Sei vorsichtig«, flüsterte ein dritter Mann schaudernd, als der Rand einer Wunde zum Vorschein kam. »Halt still«, sagte der Helfer, während er Ks unversehrten linken Arm aus dem Ärmel zog. K ächzte. Der Stoff klebte an den feuchten Partien seiner Wunden, und als sein Freund das Hemd ganz nach oben zog, stöhnte K und drückte sich an die Wand. Er sah, dass Hautfetzen, Blut, Wasser und Reste von verbranntem Fleisch an seinem Hemd klebten. »Wie schlimm ist es?«, fragte er den dritten Mann, der sich schnell abgewendet hatte.

In diesem Moment ging die Tür auf. Sie erstarrten. K drückte sich wieder an die Wand. Ein Offizier kam herein und warf K ein frisches Hemd vor die Füße. »Zieh das an, nachdem du dich gewaschen hast.« Dann ging er hinaus.

»Es ist sauber«, sagte einer der Männer. »Du solltest es anziehen, damit die Wunden geschützt sind.«

K spritzte sich etwas Wasser über seinen Körper und zog das Hemd an. Die Schmerzen waren unerträglich. Das Hemd sollte er viele Monate lang tragen, bis es ganz mit Blut vollgesogen war.

Tagelang hatte K hohes Fieber und fürchtete, dass sich seine Wunden infiziert hatten. Doch er hatte keine Möglichkeit, sie sich anzusehen. Die Schläge hörten nicht auf. Hin und wieder wurde er zum Verhör gezerrt. Er wurde getreten, sein Essen wurde auf den Boden geworfen. Es wurden ihm keine weiteren Verbrennungen zugefügt, doch wegen des Benzins und der schmutzigen Umgebung heilten seine Wunden auch nach drei Monaten noch nicht. Jeden Morgen bat K seine Zellengenossen, sich die Wunden anzusehen. »Schon etwas besser? Beschreib mir, wie sie aussehen.« Die anderen taten ihm den Gefallen.

Als die Monate vergingen, brannten seine Wunden weniger, und wenn er sich auf seine Arme und auf den Rücken rollte, verspürte er nur noch einen dumpfen Schmerz oder ein Jucken, das ihn an sie erinnerte. Nach einer Weile begann er sich besser zu fühlen. Auf der Toilette unterhielt er sich gelegentlich mit einem EPDP-Mitglied namens Sasi, der mit ihm zusammen die Armee-Lieferwagen ablud. K fiel auf, dass Gefangene verschwanden, ohne dass sie von den Wachen abgeholt worden waren. Gerüchte verbreiteten sich. Eines Nachts im November 2010, als er auf dem Betonboden lag, flüsterte ein Zellengenosse ihm zu, dass die EPDP einem gegen Geld dabei half, auszubrechen.

Am nächsten Tag wagte K es, Sasi in den Toiletten darauf anzusprechen. Sasi starrte ihn einen Moment lang an. Dann sagte er: »Gib mir die Nummer deiner Eltern.« Ks Vater war ein äußerst talentierter Juwelier, der Gold für die Tamil Tigers eingeschmolzen hatte. Aus Angst um seine Familie hatte K sie seit vielen Monaten nicht kontaktiert. Doch hatte er noch eine Wahl? Sasi war ein Freund, und K gab ihm die Nummer.

Eines Tages im Dezember kam Sasi zu den Toiletten. »Ich habe mit deiner Familie gesprochen«, sagte er. »Ich brauche Geld, um dich hier rauszuholen.« Dann ging er, um die Fässer mit Proviant und Wasser vom Laster abzuladen. Erst am 3. Februar sprach er wieder mit K und sagte ihm, er solle sich für den nächsten Tag bereit machen.

Am 4. Februar war Sasi dabei, die leeren Proviant- und Wasserfässer wieder auf dem Laster zu verstauen. Als K ihm zu Hilfe kommen wollte, befahl Sasi ihm, sich flach auf den Rücken zu legen, und stapelte rasch die Fässer über ihm auf. Dann verschwand er, der Laster schnaufte und schlingerte vorwärts. Passiert das wirklich jetzt?, dachte K. Als der Laster beschleunigte, versuchte K ruhiger zu atmen. Doch sein Herz schlug zu unregelmäßig, also hielt er den Atem an.

Der Laster hielt am Eingang des Camps, alles schien vorüber zu sein. K hörte, wie Sasi mit dem Offizier sprach, dann wurde die Stimme des Offiziers lauter, und K konnte spüren, dass er direkt vor der Ladefläche stand. Er schloss die Augen, presste seine Lippen aufeinander. Seine Narben brannten, die Angst rief das Gedächtnis seines Körpers wach. Er dachte an seine Mutter, seinen Vater, seine Brüder, um seinen Herzschlag zu beruhigen. Doch einen Moment später war der Offizier verschwunden und der Laster nahm wieder Fahrt auf. Eine Minute verstrich, dann fünf Minuten, und als der Laster wieder anhielt, waren 90 Minuten vergangen und das Camp lag weit hinter ihm.

Ich bin frei!, dachte K. Der Laster fuhr davon, und seine Feinde blieben hinter ihm zurück. Er atmete einen glückseligen Augenblick lang ein, unfähig, sich die Torturen vorzustellen, die erst noch beginnen würden, den mächtigen, unbarmherzigen Feind, der ihm gegenüberstehen würde.

Als ich zwölf Jahre alt war, versteckte ich mich gerne zwischen den Regalen der öffentlichen Bibliothek und las Gruselgeschichten, die meine dogmatische Migrantenmutter geängstigt hätten. Geschichten von Sekten, Hexenverbrennungen und den Ritualen der amerikanischen Ureinwohner – alles Dinge, die meine Mutter vermutlich als »satanistisch« bezeichnet hätte. Ihre Angst vor jeglicher nicht-protestantischer Spiritualität enttäuschte mich. Diese Frau hatte sich gegen die Furcht einflößendsten Menschen auf der ganzen Welt aufgelehnt: die Mullahs der Islamischen Republik Iran. Sie hatte ihre Konvertierung zum Christentum offen gezeigt, obwohl die Mullahs sie dafür ohne Weiteres an einem Kran hätten aufhängen können. Noch Tage bevor sie von der Sittenpolizei aus ihrer Arztpraxis gezerrt wurde, hatte sie Mullah Nasrudeen ungerührt Witze erzählt. Und da war sie nun, die tapfere Geflüchtete, und hatte Angst vor einem alten Taschenbuch aus der Bibliothek, weil darin einheimische Beschwörungsformeln und Geschichten von Schlachtfeldern und Skalpierungen vorkamen? Die alten Perser spielten Polo mit den Köpfen ihrer Feinde. Heute verwenden sie Kräne, um Menschen daran aufzuhängen. Iraner sind nicht zimperlich; wir sind einfallsreich, was erniedrigendes Morden angeht. Solche Dinge sprach ich schockierenderweise laut und trotzig aus. Eigentlich fand ich sie nur faszinierend. Meine Mutter wäre beinahe hingerichtet worden, deshalb war ich besessen von Exekutionen, besonders von den grausamen.

Nicht nur ihre Angst, sondern auch das Nachlassen ihrer Vorstellungskraft beunruhigte mich. Meine Mutter sah nicht, wie sehr die Pfarrer in Oklahoma, unserem neuen Zuhause, den Mullahs von früher ähnelten: in ihren Ansichten über Frauen und ihrer engstirnigen Auffassung von Gott.

In der Highschool begeisterte ich mich für seltsame Geschichten. Ich mochte Sünden, vertrackte moralische Verwicklungen, verstörende sinnliche Details. Ich vertiefte mich in William Goldings Herr der Fliegen, mit den wilden Jungen, dem unrettbar verlorenen Kind. Jack war schlecht (vielleicht sogar böse), und ich wollte wissen, wie er auf die andere Seite gelangt war. Meine Vorfahren waren schlecht, so viel wusste ich. Mein Blut war schlecht. Obwohl ich Christin war, fühlte ich mich der Grenze des Guten immer sehr nah, als würde ich in rutschigen Plastikschuhen an einem Abgrund entlangbalancieren. Es gab einen Grund dafür, dass ich nicht in Zungen sprechen konnte wie die anderen Mädchen in der Sonntagsschule, warum mein Rock immer wieder in meiner Strumpfhose feststeckte, während sie wie makellose kleine Engel aussahen. Jacks unheimliche Getriebenheit, der Kopf des Wildschweins, den er auf einen Pfahl spießte, all das waren wichtige Anhaltspunkte. Wenn ich meine eigene chronische Fehlerhaftigkeit in den Griff bekam, würde es mir gelingen, den Code zu knacken und zu jemandem heranzuwachsen, der respektabel und glaubwürdig wirkte. Dann würde ich eines Tages – im Körper einer erfolgreichen erwachsenen Amerikanerin, mit einem westlichen Pass, Diplomen und Bankkonten (ich stellte mir vor, dass ich immer noch elf Jahre alt sein und im Inneren meines erwachsenen Kopfes wie in einem Kontrollraum sitzen würde) – Zugang zu einem einfacheren Leben bekommen.

Ich entdeckte Kafkas Erzählung In der Strafkolonie in einer Bibliothek in Oklahoma, als ich in der Middle School war, Monate nachdem ein geduldiger Englischlehrer es aufgegeben hatte, mir Die Verwandlung nahezubringen (vielleicht, weil ich als Flüchtlingskind das Thema Transformation nicht sonderlich mysteriös oder merkwürdig fand.) Doch für ein traumatisiertes Mädchen, das erst vor Kurzem einem Krieg entkommen war und sich nun zwischen den dunklen und staubigen Bücherstapeln zusammenkauerte, war Kafkas albtraumhafte Strafkolonie, seine blutige Foltergeschichte vom Offizier und der Egge einfach nur faszinierend.

»Es ist ein eigentümlicher Apparat«, sagte der Offizier zu dem Forschungsreisenden …

Diese Eröffnung lässt mich immer noch schaudern.

Ein Reisender besucht eine Strafkolonie in einem fremden Land und wird eingeladen, einer Exekution beizuwohnen. Ein Offizier, der bedingungslos an das Rechtssystem seines Landes glaubt, zeigt ihm eine Maschine, mit der die Hinrichtungen ausgeführt werden. Der Verurteilte wird nackt und bäuchlings auf eine Unterlage aus Watte gelegt, man steckt ihm einen Filzstumpf in den Mund. Das Geld sei knapp, sagt der Offizier, und der Filzstumpf sei noch derselbe, an dem schon alle vormals Verurteilten erstickt seien. Außerdem gebe es eine Egge, die an den Körper des Verurteilten angepasst wird und mit einem Räderwerk verbunden ist. Die Egge wird hinuntergelassen, und die zahlreichen Glasnadeln, mit denen sie bestückt ist, schreiben das Urteil in das Fleisch des Verurteilten ein. Die großen Nadeln dienen dem Schreiben, aus den kleinen dringt Wasser, damit das Blut nicht die Beschriftung verdirbt. Die einzelnen Sätze bleiben dem Verurteilten verborgen, werden aber in den Apparat eingegeben. Selbst wenn der Verurteilte einen Blick darauf erhaschen könnte, ist die Schriftart so verschnörkelt, dass die ganze Seite schwarz erscheint, und der Reisende kann sie nicht entziffern.

»Ja«, sagte der Offizier, »es ist keine Schönschrift für Schulkinder.«

Die vielen Schnörkel sollen dazu dienen, den gesamten Körper abzudecken. Die Liege fängt an zu zittern und die Nadeln beginnen ihr Werk. Die Watteschicht wälzt den Körper zur Seite und dreht ihn herum, damit weitere Teile beschrieben werden können, und sie stillt die blutenden Wunden, die dabei entstehen, sodass der Vorgang fortgesetzt werden kann. Die benutzte Watte wird in eine Grube geworfen, in der auch das Blut und das Wasser gesammelt werden. Die Beschriftung solle ja nicht sofort töten, erklärt der Offizier, es dauere etwa zwölf Stunden, bis der Verurteilte tot sei; nach etwa sechs Stunden sei er in der Lage, das Urteil zu entziffern, indem er anhand seiner Wunden lese, was er mit den Augen nicht entziffern konnte, es akzeptiere und sich ihm unterwerfe. Nun ist er ruhig und der Filzstumpf wird entfernt. Er ist physisch nicht mehr in der Lage, zu schreien.

In der sechsten Stunde kniet sich der Offizier hin, um einen Blick in das Gesicht des Verurteilten zu werfen. Stunden später stirbt der Verurteilte, und die Maschine wirft ihn in die Grube, wo er hastig verscharrt wird.

Selbst heute – während ich bequem im Kontrollraum meines zukünftigen Ichs sitze – habe ich noch immer eine Obsession für seltsame Geschichten. Mittlerweile verstecke ich sie nicht mehr vor meiner Mutter, sondern vor meiner Tochter Elena. Ich bin immer noch die Außenseiterin mit einem Hang zum Grotesken: Hier in meinem abgelegenen französischen Dorf, in dem es meist sehr ruhig zugeht, lese ich über Mordprozesse und sehe mir unscharfe Fotos von grausigen Beweisstücken an. Heute handelt es sich um das Transkript eines Polizeiverhörs aus dem Jahr 1999; das vierstündige Video dazu läuft gleichzeitig auf meinem Bildschirm. Ich sehe mir an, wie Kafkas Egge in der Realität arbeitet, jeder Muskel in meinem Körper ist aufmerksam gespannt. Ich stelle mir mein jüngeres Ich vor, ungelenk, verschroben, sozial unbeholfen, das von einer unsichtbaren Macht an diesen Stuhl, diese Maschine gefesselt ist.

Im vergangenen Jahr habe ich unzählige Seiten aus Prozess- und Polizeiakten durchgelesen, Transkripte, Vernehmungen, Berufungen, Expertenaussagen. Ich habe Fotos von Beweisstücken und Schaubilder durchgeblättert. Die meisten davon habe ich von Strafverteidigern oder Rechtshilfeorganisationen wie The Innocence Project und Freedom from Torture (FFT) zugeschickt bekommen.

Wenn man sich permanent Videos von Vernehmungen ansieht, stellt sich ein überraschender Nebeneffekt ein: Egal, wie schlecht die Filmqualität ist, wie viele Pixel und Schlieren die Aufnahmen haben, man übernimmt immer die Perspektive von jemandem: Entweder die des Polizeibeamten, der versucht, jemandem ein Geständnis abzuringen, oder die des fast noch kindlich wirkenden Unschuldigen, der ohne einen Anwalt in der Falle sitzt und sich nicht bewusst darüber ist, dass all das müßige Gerede über Fernsehsendungen, Kinderbetreuung oder schlampige Schreinerarbeiten nur dazu dienen soll, ihn aufs Glatteis zu führen. Ich sage »Unschuldiger«, weil diese Fälle bereits abgeschlossen sind, wenn sie mich erreichen – es sind belegte Fehlurteile, die manchmal erst nach Jahrzehnten korrigiert worden sind.

Während ich mir diese Videos ansehe, stelle ich mir vor, ich wäre die Angeklagte: Ich bin immer die unbeholfene Verdächtige auf dem Stuhl, die sich vor dem wölfischen Grinsen des Polizisten wegduckt und nach Worten ringt. Ich spreche. Es geht jedes Mal daneben. Der Querschläger verwundet mich selbst. Gab es überhaupt eine Chance, dass ich über die richtigen Worte stolpern würde, die mich hätten retten können?

In meiner Familie ist das Asperger-Syndrom sehr verbreitet. Vor einigen Jahren rief meine Mutter an, um mir mitzuteilen, dass ich der schwerste undiagnostizierte Fall bin – ich bin paranoid, obsessiv, ich zähle alles an meinen Fingern ab. Ich kann nicht schlafen, bevor ich nicht meine Rituale absolviert habe. Ich fürchte mich vor Geld und den meisten nummerierten Dingen. Ich kann mir jede Schorfstelle an Sams Körper merken und ich habe akzeptiert, dass ich nicht daran herumpulen darf, auch dann nicht, wenn er schläft, dass es fies und gegen die Regeln ist. Alle drei Wochen fixiere ich mich auf ein bestimmtes Nahrungsmittel – zurzeit ist es Pitabrot. Letzten Monat waren es Bananen ohne Druckstellen, davor Rotkohl.

Bei einem Polizeiverhör würde ich ganz bestimmt zusammenbrechen und jede Lüge glauben, die sie im Repertoire haben. Manchmal, wenn ich mich in Gesellschaft befinde, muss ich mich selbst daran erinnern, dass die anderen nicht meine Gedanken lesen können. Vielleicht befinde ich mich innerhalb des autistischen Spektrums, vielleicht auch nicht. Mir liegt nichts mehr daran, ein Label zu bekommen, denn ich habe meine Familie und meine Bewältigungsstrategien. Sam passt auf mich auf. Er sagt mir, wenn es Zeit ist, nach draußen zu gehen, oder wenn ich mich um die »einsiedlerische Dina« kümmern soll – eine Version von mir, die meine Collegefreunde »ökonomische Dina« nannten.

Vor etwa einem Jahr rief ich eine dieser Freundinnen an, Frances Kim Walters, die damals Anwältin beim Mid-Atlantic Innocence Project war. Ich hatte mir Gedanken darüber gemacht, wie viele Möglichkeiten es gab, sich in dem zynischen Justizapparat von heute selbst zugrunde zu richten. Frances hatte viele Jahre damit verbracht, sich durch Fehlurteile zu arbeiten, bei denen es meistens um eine Person of Color ging, die zu arm war, um sich einen eigenen Anwalt leisten zu können, und bereits Jahrzehnte im Gefängnis verbracht hatte. »Ach, Dina, du würdest nicht glauben, was in den Vereinigten Staaten als Gerechtigkeit durchgeht«, sagte sie.

Frances erzählte mir zwei Geschichten:

Zwei Männer wurden wegen Brandstiftung angeklagt, man beschuldigte sie, sie hätten geplant, ihre Ehefrauen umzubringen. Der eine hatte vor seinem brennenden Haus gestanden, in dem sich seine Familie befand, und nicht entschlossen genug reagiert. Der zweite machte sich verdächtig, weil er überreagiert hatte und unbedingt zurück in sein Haus laufen wollte. Der erste, ein bescheidener Mann ohne Collegeabschluss und mit einer undiagnostizierten psychischen Erkrankung, wurde zu einer Falschaussage überredet. Der zweite Mann hatte einen Collegeabschluss. Beide verbrachten zwanzig Jahre im Gefängnis.

Michael Ledford, der stoische Mensch, rannte nicht in das Haus zurück. Er war bei der freiwilligen Feuerwehr, und dennoch blieb er draußen stehen, wie paralysiert. In der Gemeinde war er nicht sonderlich beliebt. Er war kurz angebunden, kühl, ruhig. Er wirkte merkwürdig und war ungeschickt im Umgang mit anderen. Seine Lehrer vermuteten, er könne an einer Form von Autismus leiden, später bestätigten die forensischen Psychiater diese Annahme anhand seines Verhaltens. Gelegentlich war er schlecht gelaunt, dann wieder verfiel er in Schwermut. Die Leute sagten, er sei einfach »komisch« und äußerst ruhig. Später stritten Anwälte und Polizisten hitzig über sein Verhalten: Natürlich sei er nicht zurück ins Haus gelaufen, er wusste, dass zusätzlicher Sauerstoff das Feuer anfachen würde; warum sollte er ein Fenster aufbrechen und noch weitere Menschen gefährden?

Michael Ledfords Verhör war zermürbend. Mit 23 hatte er seinen erst ein Jahr alten Sohn verloren. Seine Frau hatte furchtbare Verbrennungen und schwebte in Lebensgefahr. Trotz seiner undiagnostizierten Autismus-Spektrum-Störung (ASS) und seiner Traumatisierung wurde er ganze vier Stunden lang verhört, ohne einen Anwalt.

Der andere, tatkräftigere Mann (nennen wir ihn Dru) schlief mit seinen Kindern im ersten Stock, während seine Frau sich unten hingelegt hatte. Als er Rauch roch, kletterte er mitsamt den Kindern auf das Dach. Er ließ sie mit einem Seil hinunter und schickte den Ältesten los, um die Polizei zu alarmieren. Als er schließlich vor dem Haus stand, seine Kinder in Sicherheit waren und die Einsatzhelfer herumliefen, schrie er plötzlich: »O Gott, meine Frau!« Um ihn daran zu hindern, ins Haus zurückzulaufen, nahmen die Feuerwehrleute ihn in den Schwitzkasten, bis er ohnmächtig wurde. Sie sahen sich an: Drus Anstrengung, wieder ins Haus hineinzugelangen, war unangemessen. Für einen gebildeten Mann hatte er übertrieben reagiert, was ihn verdächtig machte. Obgleich es keinerlei sonstige Indizien gab, die gegen ihn sprachen, beauftragte die Familie seiner Frau (und die Versicherungsgesellschaft, für die Brandstiftung von Vorteil war) einige Sachverständige damit, den Fall zu prüfen.

Beide Männer hatten ihre Trauer schlecht dargeboten. Manchmal entspringen die Handlungen eines Menschen einfach nur seinem speziellen Charakter. Warum scheint dieser Faktor nie für die Wehrlosen zu sprechen, sondern immer nur gegen sie, fragte ich. Frances lachte das müde Lachen von jemandem, der diese Frage schon so oft gehört hat, dass sie ihren Sinn verloren hat.

Frances konnte mir nicht mehr über Dru erzählen – sein Kampf dauert noch an. Aber sie bat Michael Ledfords Anwälte, mir seine Akte zu schicken, in der sich auch die Videoaufzeichnung der zermürbenden Verhöre von 1999 befand. Obwohl die Aufnahme körnig und die Tonspur teilweise unverständlich ist und ich sein Gesicht unter der Baseballkappe kaum ausmachen kann, fällt mir sofort der zynische Ton auf, der die Szene beherrscht: Die Ermittler suchen gar nicht nach der Wahrheit. Die Frage, was sie glauben, ist irrelevant. Sie versuchen nur, dem Mann eine bestimmte Abfolge von Wörtern, ein Geständnis abzuringen – das ist ihre Aufgabe. Nur das, und daran messen sie ihren Erfolg. Hin und wieder tun sie so, als seien sie Michaels Freunde. Dann wieder distanzieren sie sich von dem Verhör und zeigen sich frustriert, dass Michael sich nicht von ihnen helfen lassen will. Sie wissen von Anfang an, dass Michael an einer undiagnostizierten mentalen Störung leidet. Später werten die forensischen Psychiater diesen Dialog als erstes deutliches Zeichen:

Vernehmungsbeamter: Haben Sie irgendwelche Spitznamen oder Pseudonyme, unter denen Sie bekannt sind?

Mike: Na ja, bei der freiwilligen Feuerwehr haben sie mich einmal als Kamikaze bezeichnet. Meine Frau nennt mich ihren großen Kuschelbär. Das ist schon alles.

Okay.

Die meisten nennen mich einfach Mike oder Michael.

Okay. Ist Ihnen Michael lieber?

Ich ziehe Mike vor.

Mike?

Ja. Wenn das Gesetz besagt, dass Sie mich Michael nennen müssen, dann ist das auch in Ordnung.

Michael hat Mühe, sich auf die Situation einzustellen. Erst erzählt er zu viel Persönliches, dann erinnert er sich an die gelernten Umgangsformen und benutzt sie wie eine Krücke. Dieser Austausch zeigt bereits seinen kindlichen Glauben an das Gesetz. Doch die Polizeibeamten lassen deshalb nicht mehr Umsicht walten – stattdessen stellen sie immer drängendere Fragen. Michaels Autismus ist nicht etwa ein Stolperstein auf dem Weg zur Wahrheit, er ist vielmehr das Instrument, mit dem sie aus ihrem Verdächtigen die Worte herauspressen, die sie brauchen. Später versprechen sie ihm, dass er eine ärztliche Behandlung erhalten wird, die Hilfe, nach der er sich seit Jahren sehnt. Sie sagen, das Geständnis sei Teil der »Rehabilitation«.

Ohne spezielles Training wird jeder mit autistischen Symptomen bei einer Befragung, in der die Reid-Methode angewandt wird, zusammenbrechen. Diese Furcht einflößende Verhörtechnik ist in amerikanischen Polizeivernehmungszimmern weit verbreitet. Man kann sie sich in Serien wie Law & Order SVU anschauen, gemeinhin wird sie auch als »Verhör dritten Grades« bezeichnet. Viele schlecht ausgebildete Polizisten haben frühere Einschränkungen und Sicherheitsmaßnahmen längst aufgegeben, weil sie die Arbeitsmethoden übernehmen, die auf ihrem Revier gang und gäbe sind.

Die Reid-Methode geht von einer Schuldvermutung aus. Ursprünglich sollte sie nur angewendet werden, wenn der Vernehmungsbeamte von der Schuld des Verdächtigen absolut überzeugt ist, und auch dann sollte sie nicht dazu dienen, den Verdächtigen nur aufgrund seines eigenen Geständnisses zu überführen (die Methode ist allerdings so zermürbend, dass ihre Erfinder, die zwar nicht daran glaubten, dass sie damit einen Unschuldigen zu einem Geständnis bewegen könnten, sich dennoch dieses Risikos bewusst waren). Vielmehr sollte sie den Zweck erfüllen, neue und unbekannte Details ans Licht zu bringen – Täterwissen über das Warum und Wie –, die anschließend verifiziert werden könnten. Anhand unterstützender konkreter Beweise – eine Leiche, eine Waffe – sollte der Schuldige anschließend überführt werden.

Die Reid-Methode funktioniert folgendermaßen: Der Vernehmungsbeamte geht offensiv auf den Verdächtigen zu und verkündet ihm, dass seine Schuld bestätigt sei, alle Beweismittel gesichert worden seien und dass diese Tatsache nicht zu widerlegen sei (was häufig eine Lüge ist). »Heute will ich nur eins wissen«, sagt der Vernehmungsbeamte, »warum haben Sie es getan?« Damit erstickt er jeden Versuch seitens des Verdächtigen, seine Unschuld zu beteuern, im Keim. (»Ich will ganz offen zu Ihnen sein, die Frage, wer das Feuer gelegt hat, steht nicht länger zur Debatte«, sagte der Vernehmungsbeamte zu Michael.)

Der Verdächtige ist in einer Zwickmühle: Entweder er gesteht, oder er wird wegen Mordes angeklagt. Angesichts der überwältigenden Beweislast, die sich angeblich direkt vor der Tür befindet, kann er nur schuldig gesprochen werden. Dann bietet ihm der Vernehmungsbeamte eine »Alternative« an – einen akzeptableren Grund für die Tat, eine bessere Story. Der Verdächtige soll glauben, wenn er diese Alternative wählt, anstatt des verabscheuungswürdigen Motivs, an das mittlerweile jeder zu glauben scheint, kann der Vernehmungsbeamte ihm helfen. Michaels Vernehmungsbeamter gibt sich freundlich und hilfsbereit: »Die einzige Option, die Sie mir lassen, ist zu glauben, dass Sie entweder das Ganze von langer Hand geplant haben, in der Absicht, entweder Ihre Frau oder Ihr Kind zu verletzen, oder dass es einfach ein unglücklicher Zufall war … Sie haben das Feuer gelegt, Sie haben das Haus verlassen, vielleicht wollten Sie zurückkommen und den Helden spielen. Das ist okay und ich respektiere Sie dafür.« Dann wird er milder: »Ich verstehe, warum Sie es getan haben.«

Obgleich Michael bei diesem Kräftespiel nicht gewinnen kann, bleibt er in den ersten Stunden unnachgiebig:

Ich sage Ihnen die Wahrheit. Ich habe das Feuer nicht gelegt … wenn ich aus Spaß ein Feuer legen würde, dann doch nicht in dem Haus, in dem ich lebe. Wenn ich ein Feuer legen würde, um jemandem zu schaden, dann doch nicht bei meiner eigenen Familie.

Ich denke nicht, dass Sie Ihrer Familie schaden wollten. Ich denke, dass Sie Ihre Familie retten wollten.

Warum hätte ich in meiner eigenen Wohnung ein Feuer legen sollen?

Diese Frage sollen Sie mir beantworten.

Ich sage Ihnen doch, ich habe das Feuer nicht gelegt.

Menschen tun es, weil sie es eben tun. Und warum sie es tun, das ist eine Frage, die nur Sie beantworten können.

Ich habe das Feuer nicht gelegt.

Wer dann?

Das weiß ich nicht, aber ich war es nicht.

Die Reid-Methode ähnelt Kafkas Egge. Sie tötet langsam, gräbt das Urteil in das Fleisch seines Opfers, bis das Opfer letztendlich das Ergebnis hinnimmt. Es nimmt sein Urteil an, begreift, dass sein Leben vorüber ist, und gibt auf, dankt dem Vernehmungsbeamten sogar noch dafür, dass er erlöst wurde. Der Maschinerie kann sich niemand entziehen, und derjenige, der an den Hebeln sitzt, hält das Ganze für Gerechtigkeit. Um seine Arbeit auszuführen, muss der Vernehmungsbeamte sich selbst davon überzeugen, dass der Verdächtige schuldig ist. Zum Schluss gibt es immer einen Moment der Freundlichkeit, der menschlichen Verbindung, wie Kafkas Offizier, der sich hinunterbeugt, um einen Blick in das Gesicht des Opfers zu werfen. Der Vernehmungsbeamte bringt dem Verdächtigen, der nach seinem Geständnis noch ganz benommen ist, eine Cola oder ein Sandwich. Er hält sich keinen Moment lang damit auf, darüber nachzudenken, warum die Reid-Methode nur bei den Armen und Ungebildeten angewendet wird, denjenigen, die an das System glauben. Die Verletzlichsten wissen nicht, dass sie die Egge mit nur vier Worten aufhalten können: Ich will einen Anwalt.

Michaels Vernehmungsbeamter spielt ständig eine Rolle, er klagt händeringend darüber, wie überwältigend die Beweislast sei (das ist eine Lüge), dass Michael im Lügendetektortest versagt habe (er war ergebnislos) und sich nicht helfen lassen wolle. Dann, in einem ergreifenden Moment, antwortet Michael mit geradezu religiöser Überzeugung:

Was soll ich sagen, Sir, Sie müssen tun, was Sie tun müssen, aber ich werde darauf bestehen, dass ich unschuldig bin, bis zu dem Tag, an dem ich sterbe. Ich habe das Feuer nicht gelegt, das meinem Sohn und beinahe auch meiner Frau das Leben raubte. Nie im Leben hätte ich so etwas tun können.

(Beim Lesen des Transkripts wusste ich gleich, was als Nächstes kommen würde. Die Krallen werden eingezogen, Mitgefühl wird vorgetäuscht):

Das würde ich gerne glauben, wirklich, nur zu gerne.

Wenn ich dieses Feuer absichtlich gelegt habe, dann soll Gott mich hier und jetzt tot umfallen lassen. Ich habe es nicht getan.

(Der Vernehmungsbeamte ändert geschmeidig seine Taktik und verwandelt sich vom Helfer in einen freundlichen Priester):

Nun, Sie wissen sehr gut, dass ER die Macht dazu hat.

Richtig, sagt Michael.

(Michael ist verblüfft. Vielleicht nimmt er all das für bare Münze, wie schon zuvor, und fürchtet um seine unsterbliche Seele. Vielleicht hofft er, dass Gott eingreifen wird. Der Vernehmungsbeamte sagt):

ER hat zwar die Macht dazu, aber normalerweise wendet er sie nicht an.

Eine Vernehmung dauert im Durchschnitt dreißig Minuten bis zwei Stunden. Wie Kafkas Egge braucht die Reid-Methode genau sechs Stunden, um jemanden zu brechen. Eine Vernehmung, die länger als sechs Stunden andauert, gilt laut Gesetz als Zwangsmaßnahme. Die Videoaufzeichnung von Michaels Verhör zeigt, dass die Beamten diese Richtlinie nicht etwa dazu verwenden, sich zu zügeln, sondern sie vielmehr als rechtliche Stoppuhr benutzen. Obgleich Michaels Schuld mehr als fraglich ist, bedrängen sie ihn, bis er erschöpft ist. Nachdem er ihren Nötigungen stundenlang ausgesetzt war, gibt Michael auf. Er schreibt ein Geständnis nieder, das der Fantasie entspringt und mit den tatsächlichen Beweisen nicht übereinstimmt. Doch ein Motiv für seine Tat will ihm einfach nicht einfallen, deshalb helfen die Vernehmungsbeamten nach. Er liebe seine Frau, sagt er, doch er vertraut den Beamten an, dass ihre Familie hohe Erwartungen an ihn stellt. Er sagt ihnen, dass er nichts über die Versicherungspolice wusste und erst lange nach dem Feuer davon erfahren hat. Also, fragen sie, lag es an der ganzen aufgestauten Frustration? War es nur aus Spaß? Dachte er, er könne seine Frau retten und als Held dastehen?

Haben Sie die Wohnung in Brand gesetzt, um aus dem Mietvertrag rauszukommen?

Nein, der Mietvertrag war bereits abgelaufen.

Sie hatten also bereits geplant, in eine andere Wohnung umzuziehen [unverständlich], richtig? Also dachten Sie sich, gut, wenn ich etwas unternehme [unverständlich], dann bin ich raus …

(Ein zweiter Beamter): Oder ging es Ihnen um die Aufmerksamkeit?

Nein.

Sie verlegen sich auf die Heldengeschichte. Mit Suggestivfragen wird Michael dazu gebracht, einzugestehen, dass er nicht vorhatte, jemanden zu töten, er habe nur eine Kerze in einen Sessel geworfen, um seine Frau anschließend retten zu können und den übertriebenen Ansprüchen seiner Schwiegereltern zu genügen. Nachdem das Geständnis aufgezeichnet ist, lehnen sich die Beamten zurück. Sie haben ihren Job erledigt. Nun plaudern sie mit Michael über feuerfeste Sofakissen, das Fernsehen und Rehabilitation. Als er auf das Angebot zurückkommen will, in eine psychiatrische Einrichtung geschickt zu werden, sagen sie, dass sie sich für ihn einsetzen würden, obwohl sie (ganz plötzlich) nicht mehr die Befugnis dazu haben, ihm irgendetwas zu versprechen. »Ich lehne mich hier etwas aus dem Fenster und sage Ihnen ganz offen, dass das nicht ganz so einfach ist.« Michael hakt nach, ob er in einem anderen Bundesstaat therapeutische Hilfe bekommen könnte, und obgleich er den Beamten eben erzählt hat, dass er das Feuer absichtlich gelegt hat, spricht er nun davon, ins Krankenhaus fahren zu wollen, um seine sterbende Frau zu sehen. Er hat gar nicht verstanden, welchen Handel er soeben abgeschlossen hat.

Die dubiosen Details (wie die Kerze), die Michael abgepresst wurden, werden sogleich im Polizeibericht vermerkt. Jetzt stimmt er mit dem Geständnis überein. Es gibt keine weitere Vernehmung, um diese Indizien zu erhärten, wie es die Reid-Methode eigentlich vorsieht. Stattdessen wird das Geständnis selbst dazu verwendet, Michael zu überführen, was einen klaren Regelverstoß darstellt. Bei der Verhandlung sind das Geständnis und der geänderte Polizeibericht (das psychiatrische Gutachten wird nicht erwähnt) die einzigen Beweismittel der Anklage. Da es keine konkreten Beweise gibt, wird Michaels autistische Störung als etwas Bedrohliches dargestellt. Er wird zu einer Haftstrafe von 50 Jahren verurteilt.

Gegen Ende der Videoaufzeichnung fragt der Vernehmungsbeamte in einem Anflug von Freundlichkeit, ob Michael eine Limonade wolle.

»Mike, geht es Ihnen jetzt besser?«

»Ja«, murmelt Michael.

»Schön«, sagt der Vernehmungsbeamte.

Ein anderer Polizist schaltet sich ein: »Ja, er sieht erleichtert aus. Ganz so, als sei ihm eine Last von den Schultern genommen worden.«

»Das habe ich ihm ja gleich gesagt«, sagt der erste Mann. »Mike, ich bin neugierig, können Sie mir sagen, warum Sie mir die Wahrheit gesagt haben?«

Michael murmelt leise, wie ein guter Schüler: »Ich hatte es satt, mich selbst zu belügen.«

In den Vereinigten Staaten darf ein Vernehmungsbeamter behaupten, Beweise zu besitzen, auch wenn sie gar nicht existieren. Er darf Milde vorgaukeln und sogar falsche Beweismittel vorlegen – fiktive Schaubilder, Scans und Lügendetektortests. Er darf dem Verdächtigen suggerieren, ein Geständnis sei die beste Option, weil die ganze Welt auf einmal auf dem Kopf steht. Warum sollte er diese Chance nicht wahrnehmen? Für jemanden, der alles wörtlich nimmt – für den die Obrigkeiten nicht lügen können, sondern einem nur helfen wollen und wahre Macht besitzen –, ist es unvorstellbar, dass ein Polizeibeamter gefälschte Beweismittel verwendet.

Befürworter der Reid-Methode sind der Auffassung, dass eine unschuldige Person niemals ein Verbrechen zugeben würde, das sie nicht begangen hat, nicht einmal unter derartigen Bedingungen. Und dennoch geschieht es ständig. Wenn man alles glaubt, was einem gesagt wird, ist es die einzig vernünftige Reaktion. Die Reid-Methode beruht auf dieser Logik. Im Iran gestehen viele politische Gefangene kleinere Straftaten, weil sie wissen, dass sie sich in den Händen einer absurden Macht befinden, eines kafkaesken Bösewichts, der ihren Familien schaden kann. Wenn man sicher weiß, dass man ins Gefängnis geht, egal, ob man schuldig oder unschuldig ist, dann wird man sich für die etwas bessere Möglichkeit entscheiden.

Wer mit der Reid-Methode konfrontiert wird, muss alles daransetzen, das Verhör zu überstehen, ohne zu gestehen. Das Problem ist nur, dass man das nicht wissen kann. Es erscheint unfair, um sein Leben spielen zu müssen, ohne die Regeln des Spiels zu kennen.

Wie konnte ich nur annehmen, dass alle Geschichten auf dieselbe Weise gehört werden? Dass jede Geschichte, die in die Öffentlichkeit gelangt, neutral, wohlmeinend, sachgerecht und in allen Einzelheiten verifiziert ist? Wie konnte ich annehmen, dass die Spielregeln eingehalten und jede wahre Geschichte dieselbe Chance hat, geglaubt zu werden? Die Welt hat mir immer wieder gezeigt, dass wir alle nach völlig unterschiedlichen und sich ständig ändernden Regeln leben, die von den Privilegierten zum Wohl ihrer eigenen Kinder gestaltet werden. Das habe ich immer gewusst. Das oberste Ziel meines Erwachsenenlebens, meiner Jugend als Asylsuchende, war immer, die Amerikaner davon zu überzeugen, dass ich (die ich von Ärzten abstamme, aber leider im falschen Teil der Welt geboren wurde) wertvoll und dazu geeignet bin, eine hoch qualifizierte Kandidatin für ihre angebliche Leistungsgesellschaft darzustellen.

Als wir in die Vereinigten Staaten kamen, assimilierte sich mein jüngerer Bruder Khosrou schon bald und war bei seinen Klassenkameraden und in der ganzen Gemeinde sehr beliebt. Er wurde als »Daniel« wiedergeboren und passte sich an, er lernte, wie man American Football und Videospiele spielt, er lernte den Slang und die Poesie. Er legte seinen Akzent ebenso mühelos ab, wie Elena es in dem französischen Dorf tat, in dem wir während der Pandemie überwinterten. Doch als wir auf die Flucht gingen, hatte ich bereits drei Jahre in einer iranischen Mädchenschule verbracht. Diese drei Jahre hatten mich verhärtet, und die kleinste Anpassung erschien mir unmöglich. Oder lag es nur daran, dass Daniel jünger war? Dass ich bereits gelernt hatte, Farsi zu schreiben, und die iranischen Schulhofregeln kannte? Dass ich auf dem Schulweg an einem Wandbild mit einer blutigen Faust vorbeigehen musste? Oder war es eine Frage des Charakters? Einmal, als wir schon erwachsen waren, fragte mein Bruder: »Bist du sicher, dass dir all der Mist in der Schule nur deshalb passiert ist, weil du aus dem Iran kommst? Vielleicht lag es ja nur daran, dass du du bist.« Da könnte etwas dran sein.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, ein Außenseiter zu sein, und mehr als eine Sorte von Sonderlingen. Michael und ich haben eine Menge gemeinsam. Ohne meine westliche Ausbildung wäre auch ich nur ein überempfindlicher Querkopf, der alles zu wörtlich nimmt. Eine Geflüchtete, die sich ständig selbst im Weg steht und es einfach nicht hinbekommt, sich an die »normale« Gesellschaft anzupassen. Aber ich hatte Glück. Wie können wir die Verletzlichsten, die keine Übung in sozialen Umgangsformen haben, dazu ermutigen, uns von ihren Traumata zu erzählen? Wie kommen sie mit Autoritätspersonen klar, mit Betreuern, Polizisten, Justizbeamten? Wie weit ist die Gesellschaft bereit zu gehen, um die Insider vor denjenigen zu beschützen, die scheinbar nicht dazupassen?

2019 stolperte ich über den erstaunlichen Fall von KV (oder K), dessen Martyrium 2009 begann und ein Jahrzehnt später vor dem Obersten Gerichtshof des Vereinigten Königreichs endete. KVs Identität soll geschützt bleiben, aber ich habe ihn getroffen, und er hat mir in allen Einzelheiten von seinem Fall berichtet. Als wir im Londoner Büro seines Anwalts zusammensaßen, wirkte er unruhig und ängstlich und suchte nach Worten. Ich wusste, dass dieses nervöse Verhalten nichts mit dem Mann zu tun hatte, der er zu Hause in Sri Lanka gewesen war: ein ganz normaler Juwelier mit einer Familie. Als ich mir hinterher den Mitschnitt unseres Gesprächs anhörte, musste ich an Kafkas Egge denken. Ich hörte sie knarren und ächzen und stellte mir vor, wie sie über meinen Rücken kratzte. Dieses Bild grub sich tief ein und ließ sich nicht mehr abschütteln. Die Übereinstimmungen waren geradezu lächerlich. KV hat so viele böswillige Verhöre ertragen müssen, sein ganzer Rücken ist von tiefen, furchtbaren Narben bedeckt.

Am 24. Februar 2011 kam ein fünfundzwanzigjähriger Tamile aus Sri Lanka nach Großbritannien, er war der Sohn eines Juweliers und konnte seine erschütternde Geschichte mit den entsprechenden Narben belegen. Er beantragte Asyl und erklärte, er sei in Sri Lanka von den Regierungsbehörden gefoltert worden, weil er unter dem Verdacht stand, den Tamil Tigers anzugehören. KV gestand, dass er und sein Vater zwischen 2003 und 2008 von den Tamil Tigers dazu gezwungen worden waren, Edelsteine zu begutachten und Gold einzuschmelzen. Die Regierungsbehörden verhafteten ihn im Mai 2009. Im Internierungslager schlug man ihn mit Gewehrkolben und Holzknüppeln, brandmarkte ihn und verlangte die Preisgabe der Wertsachen. Zwanzig Tage vor seiner Ankunft in Großbritannien half ihm ein Freund dabei, auf der Ladefläche eines Lasters aus dem Internierungslager zu entkommen. Nachdem seine Familie eine große Summe Schmiergeld gezahlt hatte, wurde KV einem Schieber namens Dean übergeben, der ihn in seinem Haus in Negombo bei seiner Frau und seinen Kindern unterbrachte. KVs zerschundener Rücken schmerzte ihn seit 18 Monaten. Die meiste Zeit hatte er dasselbe blutgetränkte Hemd getragen, um seine Wunden zu bedecken. In jener Nacht versorgte Dean ihn mit frischer Kleidung und Schmerztabletten. Und mit einem Pass, der auf einen neuen Namen ausgestellt war. In Begleitung eines dritten Mannes reiste KV über Frankreich nach Großbritannien, wo er um Asyl bat.

Während der Befragung bei der Ausländerbehörde legte KV Fotografien seiner Versehrungen vor: Fünf lange Narben, die sich über seinen Rücken zogen, sowie zwei kürzere auf seinem rechten Arm. Er sagte, dass sie von den Verbrennungen herrührten, die man ihm im August 2009 mit einer glühend heißen Eisenstange beigebracht hatte. Er hatte die Hitze gespürt, sich umgedreht und die glühende Stange gesehen. Die Hitze sei immer stärker geworden, sodass er nach vorne gefallen und ohnmächtig geworden sei. Seine Wärter hatten ihm den ganzen Rücken verbrannt, während er bewusstlos war. Als er erwachte, gossen sie Benzin über seine Wunden, um ihm noch mehr Schmerzen zuzufügen. Seine versehrte Haut fing erst nach drei Monaten an zu heilen.

Als KV 2011 nach Großbritannien kam und einen Asylantrag stellte, war bereits allgemein bekannt, dass die Polizei und das Militär in Sri Lanka Folter anwendeten, vor allem in Gefängnissen. Ihre Brutalität (Verbrennen und Brandmarken mit Löteisen, Aufhängen an den Daumen) war ausreichend dokumentiert und von der UN scharf verurteilt worden. Für den Fall, dass die Ausländerbehörde sich dazu entschließen sollte, all dies zu ignorieren, hatte KVs Anwalt einen vollständigen Bericht über die Geschichte und die politische Situation in Sri Lanka erstellt, in dem ebenfalls vermerkt war, welche Folgen es haben konnte, wenn man in Verdacht geriet, die Tamil Tigers zu unterstützen.

KV zweifelte keinen Augenblick daran, dass man ihm Glauben schenken würde. Seine Folterer waren berüchtigt. Er konnte seine Narben vorweisen. Endlich war er frei. Doch im März 2011 lehnte die Ausländerbehörde KVs Asylantrag ab. »Sie sind ein gesunder junger Mann, der in Sri Lanka keinerlei Probleme hatte.« Weiter hieß es, KVs Bericht enthielte Ungereimtheiten, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass er in Sri Lanka gefährdet sei, und er habe keine eindeutigen medizinischen Belege für seine Folter vorgelegt. Sie zitierten einen Absatz aus der amtlichen Herkunftsländeranalyse für Sri Lanka – als ob damit irgendetwas zu beweisen wäre –, in der ein stabiles Gesundheitssystem beschrieben wurde, das KV eine Behandlung ermöglichen würde. Daher seien sie zu dem Schluss gekommen, dass KV in Sri Lanka ein ganz normales Leben führen könne, zumindest »nach den Maßstäben, die in Ihrem Herkunftsland gemeinhin vorherrschen«. Mit diesem Schreiben entledigte sich die Ausländerbehörde jeglicher humanitären Verantwortung für KV und forderte ihn unmissverständlich auf, nach Hause zu fahren.

Obgleich KV sich sehr nach der Heimat sehnte, war eine Rückkehr unmöglich. Wenn er nur an die glühende Eisenstange dachte, zogen sich seine Muskeln unwillkürlich zusammen. Hinzu kam, dass das Schmiergeld, das seine Familie den Schiebern und anderen Kontaktpersonen bezahlt hatte, die Regierungsbehörden nicht gerade besänftigt hatte. Bei einer Rückkehr würde er sich innerhalb weniger Wochen oder sogar Tage erneut im Internierungslager wiederfinden.

»Natürlich legen wir Berufung ein«, flüsterte der Anwalt. »Es gibt noch andere Möglichkeiten, Asyl zu bekommen.«

Mit dieser Ablehnung begann für KV ein zermürbender achtjähriger Kampf um Anerkennung. Obgleich sein Anwalt ihm erklärt hatte, dass er vonseiten der Ausländerbehörde weder Freundlichkeit noch Mitgefühl zu erwarten hatte (»So klingt die Bürokratie eben. Es ist nichts Persönliches«), war KV verwirrt. Wie erklärten sie sich seine Narben? Er war mit einer Eisenstange gebrandmarkt worden – eine übliche Praktik der Regierungsbehörden von Sri Lanka, in einem bekannten Internierungslager des Militärs – das war doch mehr als offensichtlich. Wer bestimmte die Regeln dieser Welt?

Kafka war besessen vom Gesetz und den darin eingeschriebenen Lügen. Er entwarf eine albtraumhafte Bürokratie und rechtliche Verstrickungen mit einem kalten, indifferenten Feind. KV schien direkt aus einem von Kafkas Notizbüchern zu stammen, und das nicht nur aufgrund seiner Narben oder des sonderbar bekannt anmutenden Namenskürzels. Dieser K hatte ebenfalls einen mächtigen Gegner, der die Schwachen zerstörte, nur den Glücklichen Glauben schenkte und die Wahrheit nach Belieben verdrehte. Die Ausländerbehörde, so schien es, behauptete, dass KV in Kafkas Maschinerie geklettert war und sich freiwillig unter die Egge gelegt hatte.

Aktivisten beziehen sich häufig auf Kafka, wenn sie den Asylprozess beschreiben: Jahrelanges Zähneknirschen, während man hilflos dabei zusieht, wie die Umgebung immer absurder erscheint, und einem all die falschen Worte von selbst aus dem Mund krabbeln wie Ungeziefer, auch wenn man sich bemüht, sie zurückzuhalten.

Ich muss an die Asylanhörung meiner eigenen Familie denken – jenen Moment, seitdem ich davon besessen bin, durch verschlossene Türen zu stürmen. Ich erinnere mich an das Zimmer, die Beamtin und die ein oder zwei Fragen, die sie mir stellte. Sie klangen nach Small Talk, doch nach zwei Minuten begann die Beamtin, mich nach dem Glauben meiner Mutter zu befragen: Hatte sie ihren Kindern die Bibel nahegebracht? »Was ist deine Lieblingsgeschichte in der Bibel? Kennst du die Geschichte von Jonas? Und von Hiob?«

Ich glaube, ich habe nicht gepatzt. Von der Aussage meiner Mutter hing sehr viel mehr ab, von ihren Worten, ihren Gesten. Erzählte sie die richtige Geschichte, verwendete sie die glaubwürdigsten Worte? War sie bescheiden? Hart arbeitend? War sie demütig und dankbar, eine wahre christliche Konvertitin? Oder eine Opportunistin, die einem amerikanischen Arbeiter den Job stehlen und beim Einkaufen einen Hidschab tragen würde?

Mussten amerikanische Kinder beweisen, dass sie gute Christen sind und all den Wohlstand, die Chancen und die Bildungsmöglichkeiten verdienen? Wahrscheinlich, dachte ich damals. Wahrscheinlich gibt es Tests für alle.

»Ich glaube, dein schlimmster Albtraum sind verschlossene Türen«, sagt Sam zu mir.

»Nein«, antworte ich, »es sind nicht die Türen, sondern irrationale Türhüter, die Bürokratie und Doppelmoral.«

Seit Jahrzehnten beschäftigt mich die große Diskrepanz, die Lüge, die ich im Kern der Welt spüren kann. Ich kann die Überzeugung nicht abschütteln, dass sie existiert. Sie werden es ebenfalls schon bemerkt haben: die Worte und Gesten, die glücklichen Kindern, die von Geburt an darin geübt sind, dabei helfen, Hürden zu überwinden, glaubwürdig zu wirken, ohne etwas beweisen zu müssen, Unterstützung zu erhalten, ohne sie zu verdienen. Ich kann ihn in jeder Sensationsmeldung und in jeder übersehenen Geschichte ausmachen – den Code, der den Bann von Skeptizismus und Zweifel bricht. Was lässt verhärtete Herzen glauben?

Eines Abends stelle ich diese Frage laut, während Sam Bücher sortiert und mir dabei zusieht, wie ich mich durch Aussageprotokolle von fälschlich Verurteilten arbeite, die mir das Innocence Project geschickt hat, und Asylanhörungen, die von Freedom from Torture stammen.

»Du kannst darauf keine Antwort finden, wenn du nicht auf dein Innerstes hörst«, sagt er.

Ich höre ihm nur mit halbem Ohr zu und frage: »Meinst du, weil ich eine Geflüchtete war?«

»Nein.« Er zögert. »Weil du heute eine Skeptikerin bist. Du verdächtigst jeden, du musst alle überprüfen«, sagt er. »Und trotzdem erwartest du, dass man dir uneingeschränkt Glauben schenkt.«

Ich starre betroffen auf meine Akten. Nein, ich glaube den Verletzlichen. Bin ich, mit meinem Herz aus Leder, etwa das falsche Publikum?

Susan Sontag schreibt, während wir danach verlangen, authentisches Leid zu sehen (auf Fotografien oder in Filmen), seien »moderne Weltbürger geübte Zyniker, wenn es um die Frage geht, ob Aufrichtigkeit möglich ist. Manche versuchen, innere Bewegung um jeden Preis zu vermeiden.« Und der rohe, unverfälschte Schmerz, den wir angeblich respektieren, lässt uns nur schaudern. Um ein anspruchsvolles Publikum zu überzeugen, braucht es weitaus mehr Kalkül: subtilere Geschichten, ein besseres Handwerk, eine ausgefeiltere Routine – ebenjene Täuschungsmanöver, die wir gelernt haben, zu durchschauen.

Wie sieht die Anatomie einer glaubhaften Performance aus, wenn das Herz sich einen Panzer gegen den Schmerz anderer zugelegt hat? Es ist schwer, objektiv zu sein, wenn man nur einen schwachen menschlichen Geist besitzt.

2

Mein Verhältnis zum Glauben hat sich verändert, seit ich mehr Macht über mich selbst habe. Heute untersuche ich ständig, wie ich glaube – wem und welchen Geschichten; welche Mythen mich faszinieren. Doch als ich ein armes iranisches Kind in Oklahoma war, mit kohlrabenschwarzem Haar und einer riesigen Nase, war die Angelegenheit für mich entschieden (von meiner Mutter und meiner Gemeinde). Mich interessierte nur, was die Amerikaner glaubten, was sie mit ihrer unglaublichen Meinungsmacht bewirken konnten. Ich wollte verstehen, wie ich sie beeinflussen könnte: Wie konnte ich neutral und glaubwürdig klingen, hier und heute, diesen Menschen gegenüber? Ich wollte verschwinden, wie ein Chamäleon mit meiner jeweiligen Umgebung verschmelzen. Ich entwickelte eine Obsession für die Menschen, die an mir vorüberglitten, die das Glück hatten, unsichtbar zu sein, die in diesem Land geboren wurden. Wie bewerkstelligten sie das?

Wo immer ich auch hinging, spürte ich, dass ich auffiel, wie die eine Erbse, die zufällig in einen Teller Rosinenreis geraten ist. Die Leute starrten mich an. In der Schule machten sich die anderen lustig über meine schäbigen Kleider, mein iranisches Essen, meine Bücher über Hexen und mein Wörterbuch, meine nervösen Ticks. »Sind das etwa Jungssocken?«, »Hast du gestern nicht dasselbe angehabt?«, »Ach, du trägst Pink mit Rot?« Ich sagte zu meiner Mutter: »Ich wünschte, es gäbe ein Handbuch darüber, wie man Amerikaner wird.«

Eine Regel der westlichen Welt kannte ich schon: Wenn man Geld hatte, konnte man mehr man selbst sein. Aber wir waren arm. Schon bald wollte ich nur noch eins: in Harvard aufgenommen zu werden, dem Ort, an dem die Handbücher geschrieben werden, dem Ort, der mich zu einer herausragenden Amerikanerin machen konnte. Doch wie sollte ich es fertigbringen, derartige Ambitionen zu verwirklichen, wenn ich so viel Zeit damit verbrachte, winzige Kleinigkeiten zu korrigieren, über die niemand außer mir auch nur einen Moment nachdachte?

Noah war in meiner Geometrieklasse. Er war der erste amerikanische Junge, der mir auffiel. Im Kindergarten war ich ganz offen verliebt in Ali Mansouri, einen älteren Jungen, dem ich ständig auf dem Spielplatz hinterherlief und den ich immer bei seinem vollen Namen rief: »Ali Mansouri, willst du saure Pflaumen? Ali Mansouri, kommst du jetzt spielen?« Ich kannte noch nicht sehr viele Worte, und drei oder vier Fragen mussten ausreichen, um meine kindlichen Emotionen zu äußern. Er tat so, als sei ich ihm lästig, wenn seine Freunde dabei waren, doch als ich eines Tages krank war und zu Hause bleiben musste, kam eine Frau an unsere Tür. Hinter ihrem langen Tschador lugte Ali Mansouri hervor, er wollte sichergehen, dass ich nicht fortgezogen war. Danach scheuchte er mich auf dem Spielplatz zwar immer noch weg, aber er vergewisserte sich stets, ob ich ihm auch weiterhin hinterherlief.

Nach unserer Ankunft in Oklahoma war ich mit den alltäglichen Anforderungen, Englisch zu lernen, arm und in einer fremden Umgebung zu sein, vollauf beschäftigt. Mein Herz war verschlossen gewesen, bis ich, eine verwirrte Zwölfjährige, in der siebten Klasse einem Jungen mit dunklem Haar und freundlichen Augen begegnete.

Noah war das netteste Kind in der Schule. Er machte sich niemals über meinen Akzent oder über meine Kleider lustig. Er hatte nichts dagegen, in der Mathestunde neben mir zu sitzen. »Gut für mich, dass du hier die Beste bist!«, sagte er nur. Er lachte über meine Witze und nahm Rolos an, die ich ihm auf der Hand hinhielt, und sorgte sich nicht um die iranischen Bakterien, die seit meiner Ankunft umgingen. Während der gesamten siebten Klasse trug ich die kleinen Schokoscheibchen in der Federtasche mit mir herum, obwohl sie körniges Karamell enthielten. Ich zog Crunch-Riegel vor, doch bei jedem Supermarktbesuch bettelte ich meine Mutter um Rolos an, jammerte laut, dass sie nur 50 Cents kosten würden (Sozialscham ist das Kryptonit persischer Mütter) und ich doch immer gute Noten bekäme.

Noah und ich unterhielten uns nie lange. Ich machte mir Sorgen wegen meines Englisch – nicht so sehr wegen der Sprache selbst, denn ich hatte Vokabeln gelernt und mithilfe eines Kassettenrekorders an meinem Akzent gefeilt. Doch beinahe jeden Tag stolperte ich über die Abkürzungen, den Slang, die Popkultur und die Witze. Jedes Mal, wenn Noah »Hi«, sagte, vergaß ich meine unmodischen Jeans, meinen Akzent oder meine Wortwahl. Was mir Sorgen machte, waren die angesagten Phrasen: fett und krass, chillig und ätzend. »Fetzig« war gut, aber »schräg« war schlecht. (»Aber warum«, flüsterte ich meinen einzigen beiden Freunden zu.) Eine Tüte Chips war gut, aber »so ein Käse« war schlecht (»Käse schmeckt doch viel besser!«) Und die vielen Anspielungen aus dem Fernsehen, das meine Mutter uns verboten hatte.

Doch mit Noah war es unkompliziert – er verwendete keinen Slang. Er redete einfach und langsam. Er lächelte viel. Er erklärte mir die Witze aus seinen Lieblingssendungen. Als er das erste Mal ein Rolo von mir annahm, sagte er: »Mmm, lecker«, während er mit verklebten Zähnen kaute. Eine halbe Sekunde lang kam ich mir ganz normal vor – als sei ich ein Teil dieser neuen Kindheit, so wie ich mich gefühlt hatte, als Ali Mansouri sich die sauerste Pflaume aus meiner hohlen Hand ausgesucht hatte.

Ich sagte Noah nie, dass ich ihn mochte, so wie ich es bei Ali Mansouri getan hatte, jedenfalls nicht mit Worten. Jugendliche Schwärmerei hat ihre eigene Sprache, die Kinder benutzen, um ihre Herzen zu schützen. Im Iran heißt das bahal. In Amerika sagt man: You’re dope. You rock. Aber diese Worte gehörten nicht zu mir. Meine eigenen Worte waren immer die falschen. Doch eines Tages, als es zur Stunde klingelte, sagte ich: »Ich vermisse dich schon, wenn ich die Klingel höre.«

Noah warf mir einen befremdeten Blick zu. Er nahm seine Bücher, nickte mir zum Abschied kurz zu, und dann war mein einziger Freund verschwunden. Wie konnte ich nur so schmachvoll versagen?

Vor einigen Jahren traf ich eine Dramaturgin, die nebenbei als Ghostwriterin für College-Bewerbungsessays arbeitet. Zuerst war ich empört: Wenn Zugehörigkeit eine Performance mit einem Drehbuch ist, dann ist eine Dramaturgin ein ungeheurer Vorteil, und ich hatte niemals derartige Hilfe. Doch ihre Kunden sind größtenteils ausländische Kinder, die keinen Zugang zu den amerikanischen Werkzeugen des Erzählens haben. Ihre Schüler sagen oft: »Mein Leben ist nicht besonders interessant«, obwohl sie Kriege, Armut, verrückte Großmütter oder die Einnahme ihrer Dörfer überlebt haben. Sie wollen die wunderbaren Merkwürdigkeiten ihrer Stimmen tilgen, die auch die Ausdrucksweise meiner Mutter würzen. »Klingt das nach richtigem Englisch«, fragen sie, denn sie wollen alles ausmerzen, worüber andere sich lustig machen könnten oder was missverstanden werden könnte. Die Dramaturgin hindert sie daran, ihre eigenen Persönlichkeiten aus den Essays zu verbannen, und verwendet ihre Theatererfahrung dazu, ihnen dabei zu helfen, jede ihrer Entscheidungen und deren Folgen lebensnah zu Papier zu bringen. Sie sorgt dafür, dass ihre Stimmen an überraschenden Stellen gebrochen klingen und ihre Gefühlswelt intakt bleibt. Niemand außer meiner hitzköpfigen iranischen Mutter ist jemals in Hundekot getreten und hat anschließend (über ganz Amerika) gesagt: »Hier sind überall Pupse!« Niemand sonst hat in den Telefonhörer geschrien: »Ich habe keine Welle!«