Drei Tage im Schnee - Ina Bhatter - E-Book

Drei Tage im Schnee E-Book

Ina Bhatter

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Beschreibung

Eine Geschichte über den Mut, auf die eigene Stimme zu hören. Und darüber, wie wir den Menschen finden, der wir werden wollten, als wir klein waren. Hannah führt ein turbulentes Großstadtleben. Sie hetzt von einem Termin zum nächsten und verbringt ihre Tage damit, auf Dinge zu reagieren, die von außen auf sie einströmen, findet kaum Zeit für sich selbst. Um abzuschalten, mietet sie sich für ein paar Tage ein kleines Holzhaus an einem See, eingebettet in weiß verschneite Natur. Plötzlich taucht dort ein Kind in einem roten Schneeanzug auf: die kleine Sophie. Die beiden freunden sich an. Während sie in der entrückten Winterwelt Iglus bauen und Schneeengel machen, kommt Hannah so allerlei in den Kopf, was sie längst verloren glaubte: alte Freundschaften, vergessene Sehnsüchte und Talente. Etwas verschiebt sich und alles ordnet sich neu an. Allmählich beginnt Hannah, ihr Leben und die Welt in einem neuen Licht zu sehen: bunt und echt wie in ihrer eigenen Kindheit.

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Seitenzahl: 163

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ina Bhatter

Drei Tage im Schnee

Roman

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Titelseite

Über Ina Bhatter

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

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Über Ina Bhatter

Ina Bhatter hat Journalistik, Romanistik und Internationale Beziehungen in Leipzig und Paris studiert und beim Radio und in den Pressestellen verschiedener Unternehmen gearbeitet. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Berlin. »Drei Tage im Schnee« ist ihr erstes Buch.

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Über dieses Buch

Hannah führt ein turbulentes Großstadtleben. Sie hetzt von einem Termin zum nächsten und verbringt ihre Tage damit, auf Dinge zu reagieren, die von außen auf sie einströmen, findet kaum Zeit für sich selbst. Um abzuschalten, mietet sie sich für ein paar Tage ein kleines Holzhaus an einem See, eingebettet in weiß verschneite Natur. Plötzlich taucht dort ein Kind in einem roten Schneeanzug auf: die kleine Sophie. Die beiden freunden sich an. Während sie in der entrückten Winterwelt Iglus bauen und Schneeengel machen, kommt Hannah so allerlei in den Kopf, was sie längst verloren glaubte: alte Freundschaften, vergessene Sehnsüchte und Talente. Etwas verschiebt sich und alles ordnet sich neu an. Allmählich beginnt Hannah, ihr Leben und die Welt in einem neuen Licht zu sehen: bunt und echt wie in ihrer eigenen Kindheit.

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Impressum

Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KGBahnhofsvorplatz 150667 Köln

© 2025, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Barbara Thoben, Köln

Covermotiv: © Rüdiger Trebels

 

ISBN978-3-462-31382-6

 

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Schneeengel

Milchkaffee

Schneinhorn

Weiße Schokolade

Einweckglas

Stille Momente

Frühstücksei

Haferkekse

Winterwunderwelt

Schneeballschlacht

Grautöne

Eisblumen

Tannenzapfen

Schneehöhle

Kokosduschgel

Kaminfeuer

Bauernfrühstück

Winterschlaf

Schneesturm

Hefeschnecken

Notizbuch

Farben im Schnee

Danksagung

Vorwort

Am Ende ihres Lebens sagen Menschen oft, vieles wäre leichter gewesen, hätten sie all ihr Wissen schon früher gehabt. Dabei ist es eigentlich genau umgekehrt: Uns Erwachsenen wäre deutlich mehr geholfen, wenn wir nicht so schnell vergessen würden, wie es war, ein Kind zu sein. Das jedenfalls verstand ich an jenem verschneiten Wochenende irgendwo im Nirgendwo, und dass ich das verstand, hing mit einem ganz besonderen Menschen zusammen.

Manchmal möchte ich zurückfahren zu dem kleinen Haus am See. Nach Sophie suchen. Ihr eine Tasse Kakao mit Marshmallows machen und ihr sagen, wie sehr unsere Begegnung mein Leben verändert hat. Da ich aber nicht weiß, ob ich Sophie finden, ob ich sie überhaupt jemals wiedersehen werde, habe ich beschlossen, all das aufzuschreiben. Vielleicht gibt es da draußen Menschen, die sich in einer ähnlich verzwickten Lage befinden, wie ich es tat. Die keine Sophie haben, die ihnen zeigt, worauf es wirklich ankommt. Denen diese Zeilen helfen. Und wer weiß, vielleicht steht irgendwann ein Mädchen namens Sophie vor mir mit diesem Büchlein in der Hand und freut sich, dass sie das geschafft hat, was wir alle wollen: einen Unterschied machen.

Schneeengel

Als ich Sophie zum ersten Mal begegnet bin, ging es mir nicht besonders gut. Es ging mir sogar so schlecht, dass ich drei Tage zuvor abends weinend auf dem dunkelgrauen Duschvorleger in meinem Badezimmer gelegen hatte. Und das Verrückteste daran war, dass es überhaupt keinen Grund dafür gab – zumindest von außen betrachtet. Mein Leben war nämlich, wie andere immer wieder beteuerten, richtig großartig. Etwas, das für jeden offensichtlich schien, außer für mich selbst – und für die Stimme in meinem Kopf, die beharrlich an allem herumnörgelte, was ich tat und was mir geschah. Von früh bis spät und besonders gern nachts um 4:37 Uhr redete sie auf mich ein und erklärte mir, was ich anders und vor allem besser hätte machen können, wie dumm ich war und wie schwierig alles werden würde, was ich mir vorgenommen hatte.

Nun stand ich am Fenster des Holzhauses, das ich mir für drei Tage gemietet hatte, blickte auf den bleigrauen See und auf den Schneeregen, den der Wind gegen die Fensterscheibe wehte, und dachte mir, dass es um mich herum genauso aussah wie in mir drinnen. Dass beides gekennzeichnet war durch die völlige Abwesenheit von Farben. Die Welt da draußen schien nur noch aus verwaschenen Konturen zu bestehen, unscharf und so, als hätte jemand alles Bunte aus ihr herausgesaugt.

Ich wandte mich vom Fenster ab und sah mich in dem großen Wohnzimmer um. Als ich meinen Blick über die ausgesucht schönen Möbelstücke wandern ließ, die den Raum einnahmen, wurde mir für einen Moment ganz wohl, und ein Begriff kam mir in den Sinn, den ich in meinem Umfeld gerade häufiger hörte: hyggelig. Meine Kollegin Kirsten, die aus einer kleinen Stadt in Dänemark kam, fand das Wort nervig und überbewertet, und ich hatte ihr lachend zugestimmt. Insgeheim aber sehnte ich mich nach diesem Gefühl von Wärme und Behaglichkeit, das so schwer zu fassen schien, und für das es in meiner Sprache kein Wort gab. Ich betrachtete die Vitrine aus gemasertem, hellem Holz mit dem weißen Geschirr, den länglichen Tisch und die Sitzbank am Fenster, das große Bücherregal, den Kamin, das beigefarbene Sofa und den flauschigen, sandfarbenen Läufer, der davor lag wie ein schlafender Golden Retriever. Alles hier hatte seinen Platz, verströmte ein Gefühl von Ruhe und Geborgenheit.

Mein Alltag war genau das Gegenteil. Da kam es mir oft vor, als sei ich nicht am richtigen Ort, und zur rechten Zeit schon gar nicht. Als wäre ich nie ganz da, müsste immer schon weiter. Morgens schnell raus aus der Wohnung ins Büro, dort weg vom Schreibtisch und von Meetingraum zu Meetingraum für Gespräche und Videokonferenzen, nach der Arbeit zum Sport, in den Supermarkt, zu Abendveranstaltungen und Verabredungen. Und an den Tagen, an denen ich von zu Hause aus arbeitete, setzte ich mich direkt nach dem Aufstehen mit einer Tasse Kaffee an den Schreibtisch. Noch im Schlafanzug beantwortete ich erste Nachrichten und löffelte eine Schüssel Müsli, während ich vor unserer Morgenrunde den Pressespiegel las. Ich versuchte den Rest des Tages, den vollen Wäschekorb in der Ecke, den Stapel Post auf der Ablage und überhaupt das ganze Durcheinander um mich herum so gut es ging zu ignorieren. Am Abend war ich von den vielen Terminen, die sich in meinem Kalender nahtlos aneinanderreihten wie Perlen an einer Kette, oft so erschöpft, dass ich nur noch auf dem Sofa sitzen und mir eine Serie anschauen wollte, die mich für eine Weile in eine andere Welt abtauchen ließ. Genau genommen war mein Leben also ziemlich unhyggelig.

Aber deswegen war ich ja hier: um abzuschalten, zur Ruhe zu kommen, neue Kraft zu tanken. Keine Termine, keine E-Mails, keine Verpflichtungen. Ein langes Wochenende nur für mich sein und in den Tag hineinleben. Der Gedanke daran kam mir allerdings mittlerweile weit weniger verlockend vor als in dem Moment, in dem ich mich entschlossen hatte, diese Auszeit zu nehmen – so schön das Häuschen auch war. Hätte ich die drei Tage nutzen sollen, um zu Hause endlich einmal gründlich aufzuräumen, die Steuererklärung vorzubereiten oder meine Weihnachtspost zu erledigen? Und warum war ich allein hergefahren und nicht auf die Idee gekommen, eine Freundin zu fragen, ob sie mitkommen wollte?

Vorsichtig öffnete ich die große Glasscheibe des Kamins, schichtete Holzscheite, die daneben ordentlich gestapelt waren und einen Geruch von Wald verströmten, übereinander und versuchte, ein Feuer zu machen. Das stellte sich als gar nicht so einfach heraus, wie es aussah – zumindest für einen Stadtmenschen wie mich. Mehrmals brannten nur wenige kleine Zweige ab und die Flamme erlosch, einmal verbrannte ich mir fast die Finger am Streichholz und bekam am Ende noch einen Hustenanfall, als ich die Ofentür erneut öffnete und mir ein Schwall Rauch entgegenkam.

Schließlich hatte ich es geschafft. Ich hatte ein paar Seiten aus einer alten Zeitschrift herausgerissen, zusammengeknüllt, unter die Zweige und Äste gelegt und angezündet, und endlich fingen auch die großen Holzscheite Feuer.

Ich ging wieder ans Fenster und sah, dass sich die schweren Schneeregentropfen in fluffige Flocken verwandelt hatten, die nun vergnügt vom Himmel herabwirbelten. Es schneite so sehr, als hätte Frau Holle beim Ausschütteln ihrer Federbetten ein ungekannter Arbeitseifer gepackt, oder als sei dort oben eine besonders motivierte Goldmarie am Werk. Ich schaute in den weiß gesprenkelten Himmel, zuerst interessiert, dann verwundert, weil ich mich nicht erinnern konnte, wann es zuletzt so stark geschneit hatte, und schließlich besorgt. Ich kannte mich nicht aus in der Gegend, das Haus war einsam gelegen, die Straße schon ohne Schnee holprig und schwer befahrbar gewesen. Ich fragte mich, ob ich meine Reisetasche, die noch vollgepackt neben dem Kamin stand, wieder in den Kofferraum meines Mietwagens laden und zurück in die Stadt fahren sollte.

Es war Freitagmittag. Ich malte mir aus, was alles schiefgehen könnte, wie ich eingeschneit und abgeschnitten von der Außenwelt am Montag womöglich meinen wichtigen Termin mit der Vorständin verpassen würde, dass die Heizung ausfallen oder ich mich gar verletzen könnte – und niemand würde mich finden. Warum war ich nicht einfach in eine andere Stadt gefahren, zu einer Freundin oder ans Meer? Da war sie also wieder, die Stimme.

Die Menschen in meinem Leben wussten nichts von ihr. Sie wussten nicht, dass ich jeden Abend kämpfte, um einzuschlafen, und jeden Morgen mit mir selbst rang, um aus dem Bett zu kommen. Und von der Sache mit dem Duschvorleger wussten sie auch nichts. Stattdessen beneideten sie mich um die hübsche Altbauwohnung in einem der beliebtesten Viertel der Stadt, um meine Stelle als Leiterin der Pressestelle eines großen Unternehmens und darum, dass ich so ziemlich alles tun konnte, was ich wollte. Ich war die, der alle Türen offenstanden. Abgesehen von den hartnäckig jeden Winter wiederkehrenden Erkältungen und gelegentlichen Spannungskopfschmerzen war ich noch nie wirklich krank gewesen, ich verdiente schon jetzt mehr als meine Mutter im letzten Jahr vor ihrem Ruhestand, und ich hatte die besten Freundinnen, die ich mir wünschen konnte. Zwei wohnten sogar ganz in meiner Nähe, und immer, wenn ich pünktlich Feierabend machte und nicht allein zu Hause sein wollte, verbrachte ich die Abende entweder mit Katrins Familie um eine große Pizza am Esstisch oder bei einem Filmabend auf Isas Sofa.

Wenn mir die Menschen in meinem Umfeld überhaupt ein Quäntchen Unglücklichseinsberechtigung zugestanden, dann nur aufgrund der Tatsache, dass ich mit Mitte dreißig noch nicht den Richtigen gefunden hatte.

Dabei war das bei Weitem nicht mein größtes Problem. Nicht der Grund für dieses flaue Gefühl, das ich jeden Morgen hatte, wenn der Wecker klingelte und ich die Snooze-Funktion bis aufs Letzte ausreizte. Nicht die Antwort auf die Frage, wann mein Leben seine Farbe verloren hatte, so grau und eintönig geworden war. Ganz schleichend, fast unmerklich. Ich schob es dann auf die Stimme, die mich nachts nicht schlafen ließ, und auf die Gedanken, die in meinem Kopf in Endlosschleife Achterbahn fuhren wie in einem schlechten Freizeitpark.

Ich sah zu, wie sich die Welt vor meinen Augen wie im Zeitraffer in eine Decke aus frisch gefallenem Schnee hüllte, und blieb am Fenster stehen. Gerade, als mir erneut der Gedanke kam, dass die Sache mit dem Wochenende allein auf dem Land eine schlechte Idee gewesen war, als ich mir frierend mein Schaltuch enger um die Schultern zog und mich fragte, ob es überhaupt jemals wieder aufhören würde zu schneien, da sah ich sie: eine kleine, rote Figur, ähnlich einem Michelin-Männchen, die energisch durch den Schnee stapfte, den Weg am See entlang, der dicht an meinem Häuschen vorbeiführte. Nur wenige Meter vor dem Zaun blieb sie stehen, sah sich um, als schien sie etwas zu suchen, und setzte sich neben drei Fichten mitten auf eine größere freie Fläche, die eine Wiese war, nun komplett zugeschneit. Ansonsten war weit und breit kein Mensch zu sehen.

Hastig öffnete ich das Fenster. Es klemmte und knarzte, ein Haufen Schnee fiel vom Fenstersims. Die Figur, ein Kind, sah zu mir auf.

»Hallo!«, rief ich, etwas zu laut. »Hast du dich verlaufen?«

»Nein«, antwortete das Kind mit fester Stimme. Dann sah es wieder auf die Fläche neben sich, als habe es etwas Wichtiges verloren.

»Brauchst du Hilfe?«

Das Kind sah mich verdutzt an, so, als verstünde es meine Frage nicht.

»Nein«, entgegnete es ruhig.

»Ich dachte nur«, sagte ich. »Weil du allein bist, und weil es so sehr schneit. Und weil du dich hingesetzt hast.«

Nun ging ein Lächeln über das unter einer dicken blauen Mütze halb verdeckte Gesicht, und das Kind sagte:

»Ach so. Na, ich habe mich hingesetzt, weil ich einen Schneeengel machen will. Ich schaue nur, wo der beste Platz ist.«

Ich musste lachen: »Einen Schneeengel?«

»Klar!«, rief das Kind. »Das macht Spaß! Komm doch raus und mach auch einen!«

»Danke, aber ich glaube nicht«, sagte ich. Und dann meldete sich wieder die Stimme in meinem Kopf und erinnerte mich daran, dass ich ohnehin keine wasserfeste Hose dabeihatte, und keine richtigen Winterschuhe, und mit nassen Füßen würde ich mich auf jeden Fall erkälten. Dann würde ich den Termin mit der Vorständin am Montag verpassen und könnte mit ihr nicht die Kommunikationsstrategie für das kommende Jahr besprechen. Ich rang mir ein angestrengtes Lächeln ab und sagte:

»Aber dir ganz viel Spaß.«

Dann schloss ich das Fenster.

Milchkaffee

Die Filterkaffeemaschine gluckste und tröpfelte vor sich hin wie ein undichter Wasserhahn. Ich ging zum Herd in der kleinen, holzgetäfelten Küche, um mir Milch warm zu machen. Es sah aus wie in einer Schiffskombüse: Töpfe, ein Nudelsieb, eine Kanne aus Keramik und weitere Küchenutensilien hingen an Haken von der Decke, als könnten sie bei zu starkem Seegang herunterfallen, wenn sie im Regal stünden. Es gab zwei Kochfelder, eine Spüle und daneben eine kleine Arbeitsplatte unter einem Sprossenfenster, vor dem ein paar weiß verschneite Bäume standen. Ein Kleiber lief hüpfend einen Stamm hinab und pickte im Schnee herum, auf der Suche nach etwas Essbarem. Der einzige Vogel, der Baumstämme hinablaufen kann, hatte mein Opa immer gesagt, und das hatte mich als Kind fasziniert.

Als der Kaffee fertig war, setzte ich mich mit meiner Tasse auf die Bank beim Wohnzimmerfenster und nahm einen großen Schluck, verbrannte mir die Zunge und konnte nicht anders, als immer wieder zu dem Kind hinüberzuschauen. Schwer zu sagen, wie alt es war – wahrscheinlich ging es in die Grundschule.

Ich sah zu, wie es hoch konzentriert dalag und sich bewegte, als handele es sich beim Schneeengelmachen nicht einfach um ein Kinderspiel, sondern um eine äußerst wichtige Aufgabe. Es war geradezu versunken im Schnee, aber vielmehr noch war es versunken in diesem Augenblick, in tausend glitzernden Kristallen, in der freudigen Auf-und-ab-Bewegung seiner Arme und Beine. Ich überlegte, wann ich das letzte Mal so in einer Beschäftigung aufgegangen war.

Gedanklich ging ich meinen Alltag durch, all die Dinge, die ich in Job und Freizeit so tat. Dabei fiel mir auf: Richtig die Zeit vergessen hatte ich schon lange nicht mehr. Stattdessen schaute ich ständig auf die Uhr und stellte regelmäßig fest, dass ich für irgendetwas zu spät dran war.

Immer weiter musste ich in meiner Erinnerung zurückgehen, bis ich bei einem Blatt Papier landete, so weiß wie der Schnee vor mir auf dem Fenstersims. Wenn ich als Kind malte oder später Geschichten schrieb, dann konnte ich ihn erreichen, diesen ganz besonderen Zustand. Dann verflogen die Minuten, ja Stunden, und es gelang mir, meine Umgebung völlig auszublenden. Das weiße Blatt war ein Versprechen, ein freier Raum für meine Ideen, für all die Dinge, die ich erzählen wollte. Es war mein bester Freund.

Nur schrieb ich in letzter Zeit kaum noch. Als Führungskraft bestand meine Aufgabe vielmehr darin, andere anzuleiten, Inhalte zu präsentieren und strategisch zu planen. Das, was mich in meinen gut bezahlten Job in der Pressestelle gebracht hatte, nämlich meine Fähigkeit, klar zu formulieren, komplexe Inhalte verständlich darzustellen und bei Geschichten immer den richtigen Dreh zu finden, damit sie andere erreichen und berühren konnten, hatte mich letztlich immer weiter davon entfernt, je mehr ich vorankam.

Und wenn ich an meinen Freundeskreis dachte, ging es vielen ähnlich: Meine Nachbarin Seyda hatte Medizin studiert, weil sie Familien helfen wollte, schnell wieder gesund oder gar nicht erst krank zu werden, versank in ihrer Kinderarztpraxis aber zunehmend in Papierkram und verbrachte Stunden damit, Vorgänge zu dokumentieren und Abrechnungen durchzugehen. Mein Schulfreund Alex war in die Pflege gegangen, weil er sich um Ältere kümmern wollte, hatte aber im Altersheim so ein großes Pensum zu erledigen, dass er kaum Zeit hatte, mehr als ein paar freundliche Worte mit ihnen zu wechseln. Und Katrin war Grundschullehrerin geworden, weil sie Kindern etwas beibringen wollte, hatte dann aber schon im Referendariat festgestellt, wie wenig sie bei allen Vorgaben, die sie zu erfüllen hatte, im Unterricht auf jede einzelne Schülerin und jeden einzelnen Schüler eingehen konnte.

Für eine Weile war das Kind von der Bildfläche verschwunden, und ich dachte schon, es sei nach Hause gegangen. Doch dann tauchte es wieder in meinem Sichtfeld auf. Als ich mich mit meiner Kaffeetasse ans Fenster stellte, sah ich, dass es eine immer größer werdende Schneekugel vor sich her rollte. Das tat es so sorgfältig, als bestünde der Schnee nicht einfach nur aus gefrorenem Wasser, sondern aus Puderzucker, und die Kugel aus feinem Marzipan.

Ich holte mein Smartphone aus der Tasche und unterdrückte den Impuls, meine E-Mails aufzurufen. Stattdessen öffnete ich die Musik-App. Meine Lieblingsinterpretin sang zu einer harmonischen Gitarrenbegleitung, ich trank noch einen Schluck von meinem Milchkaffee. Ich machte dabei ein schlürfendes Geräusch, um mir nicht noch einmal die Zunge zu verbrennen, und weil mich ja sowieso niemand hören konnte.

Und dann öffnete ich mit einer reflexartigen Bewegung meines Daumens doch mein E-Mail-Postfach. Wie schwer konnte es sein, für einen halben Tag nicht zu wissen, welche Nachrichten ich bekommen hatte? Zum großen Teil waren das Informationen, die völlig unwichtig waren. Und doch forderten sie für einen Moment meine Aufmerksamkeit – und sei es nur, um sie in den Papierkorb zu verschieben. Als ich meinen Bildschirm gerade wieder sperren wollte, sah ich eine E-Mail, die vielleicht doch wichtig war. Sie kam von Karsten, dem Marketingleiter, der mir schon vor Tagen Input für meinen Vorstandstermin gegeben hatte, mit dem Betreff: Nachtrag.

Ich beschloss, die E-Mail nicht zu öffnen, und ärgerte mich über mich selbst, dass ich überhaupt reingeschaut hatte. Als wäre das Lesen meiner Nachrichten eine überlebenswichtige Angelegenheit. Oder das Smartphone gar kein Smartphone, sondern ein magisches Instrument, das all meine Wünsche erfüllen konnte. Und überhaupt, wie wichtig konnte eine Nachricht sein, die sich Nachtrag nannte? Aber nun geisterte sie mir natürlich im Kopf herum.