Druckstellen - Jürgen Gottschalk - E-Book

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Jürgen Gottschalk

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Beschreibung

Dresden, Anfang der 1980er Jahre: Mit Witz und politischem Hintersinn entwickeln junge Künstler Ideen, die auch über die DDR hinweg Resonanz finden. Doch nicht nur das – sie geraten so auch ins Visier der Stasi. Jürgen Gottschalk, einer der wichtigsten Akteure der Szene, beschreibt in seinem Buch, wie die Stasi vorging, um ihn mundtot zu machen: erst Berufsverbot, dann Haft, schließlich Abschiebung. Kontrastiert werden diese Erinnerungen durch Auszüge einer Diplomarbeit "seines Stasi-Offiziers" zu seinem Fall. Entstanden ist ein authentisches und persönliches Buch, das hautnah miterleben lässt, was "Zersetzung" praktisch bedeutete. Der Leser erfährt zudem, wie die Verfolgung bis in die Gegenwart nachwirkt und welche Strategien Jürgen Gottschalk nutzt, sich der Vergangenheit zu stellen. Sein Engagement in der Gedenkstätte "Bautzner Straße" und sein Wirken im Theaterstück "Meine Akte und ich" der Dresdner Bürgerbühne sind da nur zwei Beispiele.

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Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Band 5

Jürgen Gottschalk

Druckstellen

Die Zerstörung einer Dresdner Künstler-Biographie durch die Stasi

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

3. Auflage 2019

© 2006 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Friedrich Lux, Halle (Saale)

Satz und Layout: lautwieleise.de

Umschlagbild: Gottschalk privat

Fotos, soweit nicht anders angegeben: Gottschalk privat

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

ISBN 978-3-374-05500-5

www.eva-leipzig.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort – »Druckstellen 2.0«? (Nancy Aris)

I.Jürgen Gottschalk: Gegen das Vergessen

Vorgeschichte

Kindheit im Nachkriegs-Dresden

Jugend zwischen Bereitschaftspolizei und Wismut

Aufbruch in die alternative Kunstszene

Mail-Art

Postkunst als ein Fenster zur Welt

Aktionen im Visier der Stasi

Die Welt der Mailart

Die Serigrafie-Werkstatt – ein Freiraum unter Druck

Repressionen

Erste Erfahrungen mit der Stasi

Die Inoffiziellen Mitarbeiter

»Nestbau« – Leben nach Maßnahmeplan

Ein Antrag mit Folgen

Untersuchungshaft

Die Verhaftung beim Rat des Stadtbezirkes

Vernehmungen »zur Klärung eines Sachverhaltes«

Tage und Nächte in der Stasi-U-Haft

Prozess

Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Strafvollzug

Sechs Wochen bis nach Brandenburg

Als Zuchthäusler – mit Kriminellen auf engstem Raum

Ein überraschender Transport nach Dresden

Abschiebehaft in Karl-Marx-Stadt

Westwärts

Im Bus nach Gießen

Die Gegenwart der Vergangenheit

Nachspiel

Rückkehr nach Dresden

II.Rückblick

Nancy Aris: Das ist alles sehr präsent… Ein Gespräch mit Jürgen Gottschalk

»Meine Akte und ich« Clemens Bechtel im Gespräch mit Carolin Führer

Jürgen Gottschalk: Ein Blick zurück: Was bleibt nach diesem halben Leben?

III.Dokument:

MfS-Diplomarbeit über den Operativvorgang »Feind« gegen Jürgen Gottschalk vom März 1988

Über den Autor

Vorwort – »Druckstellen 2.0«?

Wozu ein neuer Gottschalk nach fast fünfzehn Jahren? - mag der Leser fragen. Auch wir als Herausgeber haben uns diese Frage gestellt. Und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es durchaus sinnvoll ist und lohnt, das Buch nach so vielen Jahren noch einmal neu herauszubringen. Denn wir haben uns verändert, die Zeit hat sich verändert, der Autor ist heute ein anderer und die Leser sind neue.

Doch zunächst möchte ich einen Blick zurück wagen. Das Buch von Jürgen Gottschalk war eines meiner ersten Bücher, das ich beim Landesbeauftragten begleiten durfte. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich meinen Rotstift zückte, um Begriffe wie »Sprecher«, »Klopfen« oder »auf Transport« zu unterkringeln. Die typischen Knastbegriffe waren mir fremd und ich mahnte, diese Dinge für den Leser verständlich zu erklären. Heute stolpere ich nicht mehr über solche Begriffe und ich frage mich manchmal, ob das gut ist oder eher bedenklich. Als ich vor knapp fünfzehn Jahren im Atelier von Jürgen Gottschalk saß und mich durch den Wust von Stasi-Akten arbeitete, war ich erschüttert von den Zeugnissen einer lückenlosen Überwachung durch die Stasi. Hunderte Seiten, die bezeugten, wie die Staatssicherheit Hand in Hand mit anderen staatlichen Einrichtungen den aufmüpfigen Künstler nicht nur auf Schritt und Tritt verfolgte, sondern aktiv an seinem Leben teilnahm. Jürgen Gottschalk meinte einmal zu mir »Ich wurde gelebt.« Dieser kurze Satz wirkt zunächst lakonisch, aber sieht man die Akten, dann wird auf bedrückende Weise klar, wie Recht Jürgen Gottschalk hatte und wie sehr sich der Sicherheitsapparat in einzelne Leben einnistete und deren weiteren Verlauf bestimmte. Und noch etwas fiel mir an mir selbst bei der Lektüre der Stasibeobachtungen auf: der freundlich witzige Jürgen Gottschalk wurde mir mit der Zeit unbewusst immer unsympathischer. Wie konnte das gehen? Wo war die Empathie für die Opfer? Ich las in den Akten von Tierquälereien während seiner Lehrzeit und von anderen Dingen, die einem sein Gegenüber nicht unbedingt sympathischer machen. Ob die Dinge stimmten, wusste ich nicht. Ich erkundigte mich danach, alles schien ausgeräumt. Dann aber stellte ich fest, dass die von der Stasi gelegte Giftspur zwar rational entfernt war, emotional aber nie ganz beseitigt werden konnte. Etwas Unbehagen blieb immer. Dieses Erlebnis hat meinen Blick auf die Akten und den Menschen dahinter geprägt. Es hat mir gezeigt, wie wirkungsmächtig das Agieren der Stasi war, wie sehr sie die Wahrnehmung der Menschen auch Jahrzehnte später prägte und es hat mich gelehrt, genau hinzuschauen und die Akten nie allein, sondern immer mit der Perspektive des Betroffenen, zu betrachten.

Bei der Erstausgabe des Buches waren Auszüge aus der Stasi-Diplomarbeit zu Jürgen Gottschalk seinem Text vorangestellt. Manche Leser kritisierten die Reihenfolge, weil sie daran eine Rangfolge festmachten: Zuerst die Täter, dann die Opfer, lautete ihr Vorwurf. Ich hatte damals ein ganz anderes Problem, konnte mich aber mit meinen Bedenken nicht durchsetzen. Mir erschien die Auswahl einiger Passagen als zu eng, weil ich fand, dass nur die Diplomarbeit als Ganzes das Ausmaß und die Perfidie der Verfolgung zeigte. Zudem befürchtete ich, dass man uns vorwerfen könnte, die Passagen inhaltlich manipuliert zu haben. Ein Abdruck der vollständigen Arbeit als Originaldokument hätte eine Beweisfunktion gehabt, die jeden Zweifel ausgeräumt hätte. Dass meine damalige Befürchtung nicht ganz unbegründet war, zeigten Anwürfe, denen Jürgen Gottschalk Jahre später ausgesetzt war und immer noch ist. Mitunter erlebt er nach Führungen in der Gedenkstätte Bautzner Straße, dass Besucher sich bei der Gedenkstättenleitung mit anonymen Briefen beschweren und den Wahrheitsgehalt seiner Ausführungen anzweifeln. Einer dieser Briefe ist in diesem Buch abgedruckt. Bei den Schreibern handelt es sich ganz offensichtlich um ehemalige Stasi-Leute. Man könnte diese Briefe ignorieren. Man kann ihnen aber auch etwas entgegensetzen. Wir haben uns für Variante 2 entschieden und ich bin sehr froh darüber, dass in der Neuausgabe des Buches die Diplomarbeit vollständig und als Faksimile abgedruckt ist. Damit kann keiner mehr behaupten, dass Jürgen Gottschalk Lügen oder krankhafte Fantasien verbreiten würde.

Ein weiteres Versäumnis der Erstausgabe war für mich, dass kaum Beispiele der Mailart vorgestellt wurden. Im Text hatte Jürgen Gottschalk zwar viel dazu geschrieben, aber visuell blieb dem Leser der provokative Witz dieser Postkartenaktionen verborgen, so er nicht gezielt im Internet danach recherchierte. In dieser Auflage wollten wir deshalb gerade auch Bilder sprechen lassen und haben auf insgesamt 14 Seiten Mailartpostkarten zu verschiedenen Themen zusammengestellt. Dabei war uns wichtig, die gesamte Bandbreite der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten zumindest anzudeuten, gerade auch, weil im Wirken von Gottschalk, in seiner Arbeit als Künstler und Kunstverbreiter auch eine ganz spezielle Dresdner Komponente mitschwingt. Lutz Rathenow wies auf ein besonderes Dresdener Spannungsverhältnis hin: einerseits die besondere Wirkung in einem kunstinteressierten Umfeld, andererseits der mangelnde Schutz, weil – anders als in Ost-Berlin – hier West-Diplomaten oder akkreditierte Journalisten als Kontaktmöglichkeit nicht permanent anwesend waren. So bot Dresden zwar einen größeren und kunstaffineren Wirkungsraum, doch war die Repression hier rücksichtsloser. Vielleicht auch, weil die Stasi-Mitarbeiter mehr Zeit im provinziellen Elbflorenz hatten.

Die Zeit heute ist eine andere. Das sagt sich so leicht, aber stimmt das? Als wir das Buch vor knapp fünfzehn Jahren herausbrachten, halfen wir damit einem Verfolgten, mit seinem Einzelschicksal in die Öffentlichkeit zu treten. Es war das uns zur Verfügung stehende Medium, um Gehör zu finden und für das Thema zu sensibilisieren. Damals gab es am Ort der ehemaligen Stasi-Untersuchungshaft noch keine Gedenkstätte. Zeitzeugengespräche fanden von uns vermittelt in Schulen statt. Seitdem ist viel passiert und Jürgen Gottschalk ist Teil dieses Prozesses. Mit der Eröffnung der erweiterten Gedenkstätte Bautzner Straße im Jahr 2014 erfuhr gerade auch die Arbeit mit Zeitzeugen viel Aufwind und Zuspruch. Tausende Besucher kommen seitdem jährlich in die Gedenkstätte, um sich den authentischen Ort anzuschauen und mit Zeitzeugen ins Gespräch zu kommen. Einer von ihnen ist Jürgen Gottschalk. Doch was passiert mit einem Zeitzeugen, der jahrelang über seine Geschichte spricht? Verändert sich der Blick auf die eigene Erfahrung, weil die Zeit sich ändert? Hilft das sich ständig wiederholende Gespräch, um mit der Vergangenheit besser klarzukommen? Ich bin in einem Interview mit Jürgen Gottschalk diesen Fragen nachgegangen. Auch dieses sehr persönliche Interview ist im Buch nachzulesen.

Und was passiert, wenn ein Zeitzeuge plötzlich Teil eines Theaterprojektes über die Stasi wird? Welchen Blick haben Theater-Leute auf dieses Thema? Dies alles sind Fragen, die in »Druckstellen 2.0« verhandelt werden. Uns hat nicht nur die Stasi-Geschichte von Jürgen Gottschalk interessiert, sondern wir wollten mehr über die Gegenwart und das Dazwischen erfahren. Insofern ist das vorliegende Buch ein anderes, ein wirklich neues Buch. Es erzählt von der Verfolgung eines nonkonformen Künstlers in der DDR aus Sicht der Stasi und aus der Perspektive eines Betroffenen und es zeigt, welche Strategien es gibt, mit dieser belastenden Vergangenheit umzugehen.

Ich persönlich begleite Jürgen Gottschalk bei Zeitzeugengesprächen in Schulen und erlebe immer wieder, wie nah die für viele ferne Vergangenheit ist, wenn man anfängt, darüber zu sprechen. In diesem Sinne wünsche ich dem Buch einen breiten Leserkreis und viele neue Anstöße und Gespräche.

Dr. Nancy Aris

Stellvertretende Landesbeauftragte

zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Drei Jahre Serigrafie-Werkstatt Jürgen Gottschalk: Das zerschlagene Signet sollte auf die üblen Machenschaften der Stasi hinweisen. Es war mein Abschluss der Plakatserie, die mit fünf weiteren Blättern von Lutz Dambeck, Jürgen Haufe, Wolfgang Petrowsky, Claus Hänsel und Felix Büttner nochmal ein finales Feuerwerk erhielt. Zwei Plakate erhielten sogar ihren Platz beim Wettbewerb »Die 100 besten Plakate des Jahres« Doch das erfuhr ich erst im Knast.

I.Jürgen Gottschalk: Gegen das Vergessen

Meinen Söhnen,

meinen Freunden.

Gegen das Vergessen

Lautlos Schreie ich,

tränenlos weine ich,

nach Dir, Du meine Freiheit.

Es ist schwer, in düsteren Akten zu blättern ohne auf bittere Gedanken zu kommen. Und es wirkt bedrückender, weil es Aufzeichnungen über mein eigenes Leben sind, zusammengetragen mit dem einen Ziel: mir mein Leben zu zerstören.

Banalitäten reihen sich an Belangloses, Falsches an Erfundenes, Aufgebauschtes an Konstruiertes oder schon längst Vergessenes. Schlimm wird es, wenn mir aus den Akten Verachtung und Hass entgegenschlagen. Dass es für solch eine Arbeit genügend Menschen gab und dass nach deren Verantwortung bis heute nicht gefragt wird, stimmt mich immer wieder traurig.

»Menschen, ich hatte Euch lieb, seid wachsam.« Dieser Satz von Julius Fučik am Vorabend seines Todes durch die nationalsozialistischen Henker ging mir nie aus dem Kopf. Seine Bedeutung hat er bis heute nicht eingebüßt.

Jürgen Gottschalk

Dresden, im November 1997

Vorgeschichte

Meine Mutter, geboren in der Zeit der großen Rezession nach dem Ersten Weltkrieg, hatte eine bescheidene Kindheit. Als alter KPDler wurde ihr Großvater einer der ersten Gefangenen der Nationalsozialisten im KZ Hohenstein und auf dem Sonnenstein bei Pirna. 1 1945 wurde für meine Mutter zur Zäsur. Aus dem brennenden Dresden kamen die verstörten Flüchtlinge, die die grausamen Bombenangriffe überlebt hatten. Im April kamen dann die ersehnten Befreier. Es war Frühling, meine Mutter war jung und der mörderische Krieg war endlich vorbei.

Die Eltern meines Vaters stammen aus dem Erzgebirge. Beide, der Gesinnung nach Sozialdemokraten, erlebten den Krieg als Zeit großer Verluste. Sein jüngster Sohn, geistig behindert, fiel dem Euthanasie-Programm 2 der Nazis zum Opfer. Mein Vater wurde nach dem Notabitur wegen seiner Englischkenntnisse zur Ardennenoffensive eingezogen und geriet noch vor dem ersten Gefecht in französische Kriegsgefangenschaft. Der gerade Achtzehnjährige floh aus einem Lager und verlor bei einem Unfall auf der Flucht seinen rechten Fuß. Als Schwerstbehinderter kehrte er als einer der Ersten aus dem Krieg zurück und fand dort eine zerstörte Familie vor: seine Eltern ausgebombt, der jüngste Bruder umgebracht, die ältere Schwester hatte Selbstmord begangen. Nach dem Krieg begann er an der wiedereröffneten Universität in Leipzig ein Studium als Bibliothekar.

In den Armen der FDJ: Meine Mutter und ich.

Kindheit im Nachkriegs-Dresden

Meine Eltern trafen sich in den von Trümmern umgebenen kalten Hörsälen. Sie besuchten gemeinsam die Agitprop-Veranstaltungen 3 der neuen Machthaber. Hungernd und in geflickten Sachen waren sie bereit, sich der »besseren« Zukunft zuzuwenden. Die politischen Strukturen festigten sich und 1949 wurde mit viel Lärm und Fackelzügen die DDR gegründet. »Alles für den Sieg des Kommunismus« und »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns« waren die Losungen der Zeit.

In diesen Tagen des Aufbruchs in das »letzte und beste Zeitalter der Menschheit« wurde ich in Dresden als erstes Kind meiner Eltern geboren. Weil mein Vater und meine Mutter die Woche über dem Klassenkampf dienten, überlebte ich nur knapp die ersten drei Jahre in verschiedenen Wochenkrippen. Von meiner Großmutter wieder aufgepäppelt, war ich meinen Eltern mehr Last als Lust. Als sich nach der Geburt meiner Schwester meine Mutter übereifrig zur neugegründeten kasernierten Volkspolizei melden wollte, mahnten selbst die eigenen Genossen ihre Mutterpflichten an.

Als Junger Pionier beim Aufmarsch am 1. Mai 1959.

Nach ihren leidvollen Erlebnissen mit der jüngsten Vergangenheit, vertrauten sie den Schlagwörtern der zwangsvereinigten Partei und begaben sich voller Enthusiasmus auf die Jagd nach dem »Klassenfeind« oder was gerade dafür gehalten wurde. Nach dem Studium bauten sie mit am kommunistischen System, das sie für die Heimstatt des »Neuen Menschen« hielten.

Die Schule ist mir noch gut in Erinnerung mit ihren Fahnenappellen und Pioniernachmittagen, den Hortaufenthalten und Ranzenkontrollen. Diese auf Ordnung und Disziplin ausgerichtete Mühle zwischen Elternhaus und Schule brachte für mich eine Erniedrigung nach der anderen. Nur wenige Lehrer halfen mit ihren bescheidenen Möglichkeiten. Erst die Lehre im thüringischen Schieferbergbau, nahe der innerdeutschen Grenze zwischen Lobenstein und Saalfeld, erweiterte meinen damaligen Horizont. An den Wochenenden besuchte ich meine Lehrkameraden in ihren Dörfern, radelte durch das Saaletal und erkundete mit Freunden die alten Stollen und Strecken der stillgelegten Gruben und Baue, in denen einst die Nazis die Triebwerke der V 2 von KZ-Häftlingen montieren ließen.

Als Lehrling im thüringischen Schieferbergbau bei Lobenstein.

Mit der Bedrückung im Hinterkopf: Bei Kletterpartien in der Sächsischen Schweiz.

Jugend zwischen Bereitschaftspolizei und Wismut

Am gravierendsten war aber die Befreiung aus dem Dunstkreis des »Tals der Ahnungslosen« 4. 1968, als sich die Genossen mit den Vorbereitungen des Einmarsches in die ČSSR befassten, Blutkonserven horteten und die Krankenhäuser bis Berlin leeren ließen, waren wir Jungen noch recht naiv. Wir nahmen an, dass es möglich wäre, auch im Sozialismus reisen zu können und keine Angst im Gespräch mit Freunden und Fremden haben zu müssen. Die Ernüchterung kam mit den endlosen Kolonnen der gepanzerten Fahrzeuge, die sich in Richtung Süd-Osten wälzten. Ich war voller Scham und Wut über den Einmarsch in der Tschechoslowakei, auch wenn die deutschen NVA-Truppen die Grenze letztlich wohl doch nicht überschritten haben sollen. So eskalierten auch die Diskussionen mit meinen Eltern, die voller Erleichterung das harte Durchgreifen der Armeen des Warschauer Paktes zur Kenntnis genommen hatten. Ich empfand eine tiefe Machtlosigkeit und registrierte jene Hoffnungslosigkeit, die sich wie ein Nebel über das Land legte. Im Alltäglichen verdrängte ich diese Bedrückung durch wilde Motorradfahrten, gewagte Kletterpartien und Feten mit Freunden.

Achtzehn Monate zwischen Erniedrigung und Unterdrückung: Wehrersatzdienst bei der Bereitschaftspolizei in Dresden.

Anfang der siebziger Jahre wurde ich zum Wehrersatzdienst bei der Bereitschaftspolizei in Dresden eingezogen. Diese Zeit verbrachte ich nur als Wanderer zwischen den Welten. Meine Schwejk’sche Einstellung trug mir kaum Sympathien bei den Vorgesetzten ein. Achtzehn Monate zwischen Erniedrigung und Unterdrückung, durchsetzt von Momenten menschlicher Nähe der wenigen Freunde.

Die Polarisierung der Gesellschaft ging durch die Familien. Kaum erträglich war die Überheblichkeit derer, die die Richtung angaben über diejenigen, die sich durch innere Distanzierung aus dem offiziellen Leben zurückzogen. Mehr und mehr entschlossen sich zur Flucht ins Private, in die Nischen einer erstarrten Gesellschaft.

Mitte der siebziger Jahre arbeitete ich im »Jugendbergbaubetrieb« Königstein / Leupoldishain der Wismut  5 als Hauer unter Tage. Die Arbeit im Drei-Schicht-System war hart und lebensgefährlich. In etwa dreihundert Meter Tiefe wurde das Konglomerat von fein vermischtem Uransediment im Sandstein gewonnen. Erst im klassischen Kammer-Pfeiler-Abbau, später zusätzlich in riesigen Laugungsblöcken, wurde der Rohstoff für Atombomben und Kernkraftwerke aus dem späteren Nationalpark Sächsische Schweiz gefördert. Die Werte der Strahlenbelastung waren ebenso tabu wie die genauen Fördermengen. Der tägliche Job in den kleinen Brigadeeinheiten, den Gedingen, ließ nur eine bescheidene Abwechslung der Arbeitsabläufe zu: den Ausbau, d. h. das Schleppen von Holz und Stahl auf der blanken Schulter unter brüchigen Deckenfirsten, das Bohren mit der Hand und schwerem Werkzeug in ständigem Lärm und Öl- / Wassernebel der Bohrmaschinen oder der Massetransport mit pressluftbetriebenen Überkopfladern in engen Strecken. Der Ausverkauf von Gesundheit und Lebenskraft wurde mit für damalige Verhältnisse überdurchschnittlichem Gehalt und reichlich Urlaub belohnt. Ständig gab es politisch verbrämte Kampfaufträge und lächerlich-hysterische Sicherheitsmaßnahmen gegenüber »dem Imperialismus«. Auch die »Kundschafter der unsichtbaren Front« von der Stasi arbeiteten unter uns.

Eine peinliche politische Geschichte war die Kampagne um die Ausbürgerung von Wolf Biermann, der damals im Dresdner Raum nur wenigen ein Begriff war. Pflichtgemäß wurde die gewünschte »Empörung der Kumpel über diesen Nestbeschmutzer« eingetrieben, auch wenn viele Biermann überhaupt nicht kannten. Selbst der gesunde Menschenverstand und der Gedanke »… ich kenne den Mann gar nicht, warum soll ich unterschreiben, dass die Ausbürgerung eine gute Entscheidung war …« konnte schnell Minuspunkte auf der nach unten offenen Sammelskala des MfS bringen.