Druidendämmerung - Mira Valentin - E-Book
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Druidendämmerung E-Book

Mira Valentin

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Beschreibung

Das Ende eines Zeitalters … und der Beginn eines neuen. Das neue Fantasy-Epos von Bestseller-Autorin Mira Valentin über die keltische Sagenwelt. Die Welt der Druiden ist dem Untergang geweiht. Das Christentum ist auf dem Vormarsch, und in Schottland weichen die Anhänger der alten Religion immer weiter auf die nördlichen Inseln zurück. Auch die mythischen Geschöpfe aus Licht und Schatten – Brownies, Banshees, Selkies oder Redcaps – verlieren an Boden, verstecken sich in Refugien tief in den Wäldern.      Auf den Orkneys kümmert sich der junge Druidenanwärter Mylo um diese Wesen. Doch als er durch ein Missgeschick von einer Banshee verflucht wird, wendet er sich an das dunkelste Geschöpf von allen – und stolpert in ein Abenteuer, das die keltische Welt in ihren Grundfesten erschüttern wird.  Druidendämmerung ist ein großes Fantasy-Abenteuer um mystische Druiden, magische Tierwesen - und die verborgene Magie Avalons. Für Leserinnen von Christina Henry, Naomi Novik, Katherine Arden, Marion Zimmer-Bradley und Fans der Artus-Epik.

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Seitenzahl: 526

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Mira Valentin

Druidendämmerung

 

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Die Welt der Druiden ist dem Untergang geweiht. Das Christentum ist auf dem Vormarsch, und in Schottland weichen die Anhänger der alten Religion immer weiter auf die nördlichen Inseln zurück. Auch die mythischen Geschöpfe aus Licht und Schatten – Brownies, Banshees, Selkies oder Redcaps – verlieren an Boden, verstecken sich in Refugien tief in den Wäldern.     

Auf den Orkneys kümmert sich der junge Druidenanwärter Mylo um diese Wesen. Doch als er durch ein Missgeschick von einer Banshee verflucht wird, wendet er sich an das dunkelste Geschöpf von allen – und stolpert in ein Abenteuer, das die keltische Welt in ihren Grundfesten erschüttern wird. 

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Mira Valentin schreibt seit 2018 hauptberuflich Fantasybücher. Zusammen mit Greg Walters und Sam Feuerbach bildet sie die Autorengemeinschaft “Weltenbauer”. Für ihre Romane und Serien wurde sie mit dem Kindle-Storyteller-Award und dem Skoutz-Award ausgezeichnet, stand auf der Bild-Bestsellerliste und hat mit dem Seraph die wichtigste deutschsprachige Fantasy-Auszeichnung erhalten. In der Öffentlichkeit tritt sie grundsätzlich in einem Cosplay auf, das die Figur aus einem Roman darstellt.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.tor-online.de und www.fischerverlage.de

Monstermilch

Ein schneller Tod war das Beste, was die Ziege noch vom Leben erwarten konnte. Sie hatte Glück. Anstatt wie üblich mit seiner Beute zu spielen, schloss der Redcap seine sehnigen Finger um den Brustkorb des Tieres und riss mit einem einzigen Ruck Rippen und Fleisch auseinander. Schmatzend starrte der Gnom mit vor Hunger glänzenden Augen auf das Herz, das soeben seinen letzten Schlag tat. Ein entzücktes Seufzen entwich ihm. Dann krümmte er den Hals, tauchte seinen gesamten Kopf in das Innere des Kadavers, suhlte sich darin wie ein Verdurstender und hörte nicht auf, ehe seine Zipfelmütze bis über beide Ohrenklappen in der Farbe des Todes erstrahlte: Rot. Dieses erschreckende Ritual, welches die Redcaps mit jedem Opfer vollzogen, hatte ihnen auch ihren Namen eingebracht.

Angewidert wich Mylo einen Schritt zurück und betrachtete das Gemetzel. Von allen Wesen im Druidenwald hasste er die Redcaps am meisten. Sie waren gewissenlos und brutal, vollkommen unfähig zu menschlichen Regungen wie Barmherzigkeit oder Gnade, obgleich sie auf den ersten Blick wie harmlose Kinder mit dürren Ärmchen wirkten. Sah man jedoch genauer hin, so fielen einem die langen Krallen und das hasserfüllte Funkeln in ihren tiefschwarzen Augen auf.

Mylo war von Natur aus keiner, der das Leben leichtnahm. Selbst unter den Druiden der Orkneys, die nicht gerade für ihre ausgelassenen Gelage bekannt waren, galt er als verschlossen. Aber das Gefühl, das ihn regelmäßig beim Besuch des Redcap-Geheges überkam, war so abgrundtief düster, dass er den Blick zum Himmel wandte, um sich davon zu überzeugen, dass es noch eine Sonne gab.

Unterdessen hatten auch die restlichen Gnome in dem Käfig festgestellt, dass Nahrung eingetroffen war. Einer nach dem anderen krochen sie zum Fressen aus ihren Felsspalten, Höhlen oder Baumlöchern. Die kleine Ziegenherde, die Mylo in das Gehege getrieben hatte, war nach dem ersten Angriff zitternd in einer Ecke stehen geblieben. Zusammengerottet und mit weit aufgerissenen Augen verharrten die Tierchen eng aneinandergedrängt. Doch dann erklang ein vielstimmiges Fauchen, und der erste Gnom hetzte auf seine Beute zu. Laut meckernd stoben die Ziegen in alle Richtungen davon – ein sinnloses Unterfangen, denn keine entkam den Klauen, die von überallher nach ihnen griffen. Schon bald war die Luft von Todesschreien vergiftet, und der felsige Untergrund verwandelte sich in ein Flussbett, das dunkelrote Fluten führte.

Mylo zwang sich zum Weiteratmen, obgleich seine Kehle sich zusammenschnürte – wie immer bei diesem Anblick. Bilder der Vergangenheit schlichen sich in seine Gedanken, doch er drängte sie beiseite und zog die Mauer um sein Herz höher, um ertragen zu können, was seine Augen sahen.

Für die grausamen Gnome war der Fütterungstag gleichbedeutend mit der Rettung vor dem sicheren Tod, denn sie starben, sobald der letzte Tropfen Blut in ihren Mützen getrocknet war. Mindestens einmal pro Woche benötigten sie frisches Blut, wollte man verhindern, dass sie sich gegenseitig aufschlitzten, um ihre Kopfbedeckungen zu tränken. Hätte jemand Mylo nach seiner Meinung gefragt, so hätte er vorgeschlagen, das Gehege einfach niederzubrennen. Aber keiner der Druiden interessierte sich für die ketzerischen Gedanken eines Anwärters, der noch nicht einmal in den magischen Zirkel aufgenommen worden war, sondern lediglich zur Monsterpflege taugte.

Während die übrigen Redcaps ihr blutiges Ritual vollzogen, war der erste schon zum Fressen übergegangen. Er schlug seine spitzen Zähne ins Fleisch der Ziege, riss einen großen Brocken heraus und schlang ihn gierig mitsamt Haut und Fell hinunter. Mylo schauderte.

Unerwartet zupfte etwas an seinem Hosenbein. »Wenn du mir Süßes gibst, helfe ich dir beim Aufräumen«, ertönte eine piepsige Stimme.

Er wandte den Blick nach unten und bemerkte einen kleinen Brownie, der sich klammheimlich herangeschlichen hatte. Nun stand er vor dem Gitter, die runzeligen Hände in den Hosentaschen, und betrachtete die Redcaps mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination. Dass er am helllichten Tag hier auftauchte und das Wort an einen Menschen richtete, war ungewöhnlich. Normalerweise blieben diese kleinen Hausgeister stets unter sich. Nur des Nachts kamen sie aus ihren Ritzen gekrochen, erledigten anfallende Arbeiten in der Küche und verschwanden vor Sonnenaufgang ungesehen wieder in irgendwelchen Löchern. Brownies gehörten zu den wenigen freundlichen Sagenwesen – auch »Lichtwesen« genannt –, die sich freiwillig im Druidenwald angesiedelt hatten und daher nicht hinter eisernen Gittern gefangen gehalten wurden. Es waren kleine Kobolde mit faltigen Gesichtern, lockigem Haar und stets braunem Gewand. Männer, Frauen und Kinder waren nur schwer auseinanderzuhalten, da sie alle Runzeln und einen dünnen Bartflaum am Kinn hatten. Der übertrieben lässigen Haltung nach vermutete Mylo in dem Besucher jedoch einen jungen Mann.

»Ich habe nichts Süßes«, gab er zu, obwohl das Angebot des Brownies ihn durchaus reizte. Er betrat das Gehege der Redcaps nicht gerne, denn zuweilen griffen sie ihn trotz des Druidenbluts in seinen Adern und der Eisenwaffen, die er mit sich führte, an. Meist blieb es beim Rempeln, Kratzen und Treten – doch das war schlimm genug. Und es schien von Mal zu Mal heftiger zu werden, wie bei einem Rudel junger Wölfe, die austesteten, wie weit sie gehen konnten. Ganz klar war Mylo nicht zum Wildhüter geboren worden, doch keiner der ausgebildeten Druiden ließ sich zu einer derart niederen Tätigkeit herab. Bescheidenheit und Duldsamkeit sei das oberste Gut aller Anwärter, die darauf hofften, dereinst von den Göttern als magisches Gefäß erwählt zu werden, behaupteten die Meister.

»Nun … dann vielleicht ein Schlückchen Milch?« Der Kobold zeigte auf die Ladefläche des Wagens, wo neben mehreren aufeinandergestapelten Hühnerkäfigen und fünf Trögen voller Fisch noch zwei Weinfässer sowie ein verkorkter Tonkrug standen.

»Die Milch ist für die Banshee. Sie freut sich die ganze Woche auf diesen Genuss und wäre nicht begeistert, wenn sie stattdessen mit Wasser vorliebnehmen müsste.«

»Ooooch!«, schmollte der Brownie. »Nur ein winziges Schlückchen! Sie wird nicht einmal merken, dass etwas fehlt!« Er schürzte die Lippen und setzte einen Hundeblick auf, der selbst ein so sorgfältig eingemauertes Herz wie das von Mylo erweichte.

»Ein Schluck Milch, und du räumst alle Knochen aus dem Gehege?«

»Bis auf das letzte Schlüsselbein, Ehrenwort!« Drei kurze Wurstfinger erhoben sich zum Schwur.

Mylo stemmte die Hände in die Hüften. »Du willst mich an der Nase herumführen. Ziegen haben keine Schlüsselbeine. Ich weiß das, weil ich ihre Knochen oft genug aufgesammelt habe«, brummte er.

Der Brownie ließ sich von seiner offensichtlichen Ablehnung nicht beeindrucken. »Du bist eindeutig schlauer als ich. Also bis zum letzten Schneidezahn.«

Grübelnd betrachtete Mylo erst den Kobold und dann die Redcaps, die mit jedem blutigen Happen gieriger und unersättlicher zu werden schienen. Selbst wenn der kleine Brownie hehre Absichten hegte, war sein Plan zum Scheitern verurteilt, denn er würde dabei sein Leben verlieren, und dann musste Mylo auch noch dessen Knochen zusammensammeln. Wie zur Bestätigung rempelte in diesem Moment einer der Redcaps gegen das Gitter und fauchte ihn böse an. Der Zorn einer gefangenen Bestie, die es nach Freiheit dürstete, stand in seinen Augen.

»Sie werden dich als willkommene Nachspeise ansehen. Sogar ich schaffe es in letzter Zeit selten ohne Blessuren da heraus. Also lassen wir das lieber«, beschloss Mylo.

Der Kobold verdrehte die Augen wie ein Lehrer, der sich über die Einfältigkeit seines Schülers aufregte. »Niemand bemerkt einen Brownie, der nicht bemerkt werden will. Auch der Raufbold eben hat mich keines Blickes gewürdigt, sondern nur dich. Ich dachte, du seist ein Druide und wüsstest genauestens über alle Wesen aus Licht und Schatten Bescheid?«

Mürrisch schlug Mylo seinen Umhang beiseite und präsentierte die einfache Kutte, die er darunter trug. »Welche Farbe hat mein Gewand?«

»Grau.«

»Und was bedeutet das?«

»Hm …« Der Brownie überlegte. »In der Tat tragen die meisten Druiden, die ich kenne, entweder weiße oder schwarze Kleidung. Außer dir habe ich nur wenige Graue gesehen. Und die werden immer weniger.«

»Ich dachte, du seist ein Hausgeist und wüsstest genauestens über alle Bewohner der Dämmerfeste Bescheid?«, äffte Mylo ihn nach.

Bei diesen Worten schlich sich zum ersten Mal eine Spur von Verzagtheit auf das Gesicht des Kobolds. »Ich bin noch nicht lange auf der Sterninsel«, gab er zu. »Hatte eine schöne Burg im Norden von Circhenn – große Küche, sehr zuvorkommende Mägde. Jeden Abend, bevor sie zu Bett gingen, stellten sie mir Honigkuchen und Butter in die Ecke. Und nach dem Brauen bekam ich immer Bierwürze.« Er seufzte sehnsüchtig.

Was weiter passiert war, musste er nicht erzählen, denn überall auf dem Festland geschah dasselbe: Die alte Religion wurde vom Christentum verdrängt. Hohe Herren warfen die Standbilder ihrer Götter in Flüsse und Lochs, schmückten ihre Wände stattdessen mit Kreuzen und zwangen ihre Leibeigenen, sich ebenfalls dem toten Jesus zuzuwenden. Mit den Göttern gingen auch die Geschöpfe der alten Welt unter, denn kein guter Christ fütterte mehr einen Brownie oder steckte Fleischstückchen für die Feenkatzen in dunkle Felsspalten. Noch schlimmer erging es den kämpferischen Exemplaren unter den magischen Kreaturen, den »Schattenwesen«. Ganze Scharen von Jägern zogen gegen sie in den Krieg, um das Kopfgeld zu kassieren, das die christlichen Könige Britanniens und Piktlands auf sie aussetzten. Aber hier auf den Orkneys, wo die Druiden den Lauf der Dinge bestimmten, wurden stattdessen junge Anwärter wie Mylo abgestellt, um die sagenhaften Bestien des Waldes zu hegen und zu pflegen. Viele dieser Ungeheuer waren die Letzten ihrer Art – und insgeheim war Mylo froh über diesen Umstand.

»Wie ist dein Name?«, fragte er den Brownie.

»Broc. Und deiner?«

»Mylo.«

»Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.« Der kleine Kerl streckte ihm seine Runzelhand entgegen, mit der er überraschend stark zupacken konnte. »Also, warum ist dein Mantel nun grau? Kannst du dich nicht entscheiden, zu welcher Sorte von Druiden du gehörst?«

»Ich könnte schon, aber ich darf nicht. Erst wenn Sea Mither oder ihr Gegenspieler Teran mich erwählen und ein Teil der magischen Weltenergie in mich fließt, werde ich in die Gemeinschaft aufgenommen.«

»Das heißt, du kannst noch nicht zaubern?«

Es schwang keinerlei Häme in Brocs Frage mit, und dennoch spürte Mylo den Drang, sich zu rechtfertigen. »Seit langer Zeit wurde kein Anwärter mehr mit Licht- oder Schattenenergie erfüllt. Das Tor nach Avalon ist verschlossen. Und die wenige magische Kraft, die noch in der diesseitigen Sphäre schwebt, reicht kaum aus, um alle Druiden zu versorgen. Aber ich vermute, du weißt das alles.«

Der Brownie wandte den Blick zu Boden. »Ja.«

Sie sagten nichts mehr dazu. Der Niedergang ihrer Welt war kein Thema für ein erstes Kennenlernen, im Grunde sprach man besser überhaupt nicht davon. Denn jede Unterhaltung, egal, mit welchem Optimismus sie geführt wurde, endete immer nur bei der Feststellung, dass die Zeit der Druiden und Sagenwesen ihrem Ende entgegenging. Hier auf der Sterninsel hatten sie eine letzte Zuflucht gefunden, doch es würde nicht lange dauern, bis sie von christlichen Kriegern heimgesucht wurden, welche die Druiden dahinmetzelten und bei der Gelegenheit auch gleich die letzten Monster ausrotteten. Gerüchten zufolge machten einige Könige sich schon gefechtsbereit für einen letzten Schlag gegen die alte Welt. Einzig die jahrtausendealte Angst vor der Zauberei, die noch immer in den Köpfen der Menschen saß, hatte sie bisher davon abgehalten, es zu versuchen. Niemand auf dem Festland wusste, wie verletzbar die Druiden tatsächlich waren.

Oft hatte Mylo darüber nachgedacht, dem Druidenwald wie so viele andere vor ihm den Rücken zuzukehren. Noch hatte er die Möglichkeit, als ganz normaler Mensch in Piktland oder gar Northumbria Fuß zu fassen, denn die auffällige Tätowierung, die jeder Magier auf der Stirn nahe des Haaransatzes trug, würde er erst bei seiner Aufnahmezeremonie bekommen: ein liegender Sichelmond, der die strahlende Scheibe der Sonne in sich barg. Das Zeichen symbolisierte die beiden Hauptgottheiten der Druiden, die alles Leben und Sterben auf der Erde im Gleichgewicht hielten: Sea Mither und Teran. Sie waren Frau und Mann, Sommer und Winter, Wasser und Land, Gut und Böse, Licht und Schatten, Sonne und Mond. Diesem alten Gesetz der Dualität folgend, gab es ebenso zwei Sorten von Druiden: die weißen Geals, die die Mutter anbeteten, und die schwarzen Dorchas, die dem Vater folgten. Mylo wollte dereinst das schwarze Gewand anlegen, weil auch sein Herz in diese Farbe getaucht war, doch dazu hätte Teran sich für ihn interessieren müssen.

Viele ehemalige Anwärter hatten eine Flucht aufs Festland vorgezogen. Verständlich, denn wer ging schon gern mit einem sinkenden Schiff unter, zumal er sich nicht einmal mit Magie über Wasser halten konnte? Letzte Woche hatte sich leider auch Cailean abgesetzt, der Mylo bislang bei der Pflege der Kreaturen geholfen hatte. Entsprechend musste er nun alles allein bewerkstelligen – den Wagen fahren, das Futter abladen und nach Bedarf die Gehege säubern. Das Ausmisten verabscheute er bei den Redcaps besonders, da sie ihn ständig hinterrücks angriffen, während er ihre Hinterlassenschaften vom Boden kratzte.

Eine ganze Weile hatte Mylo mit dem Gedanken gespielt, es Cailean gleichzutun. Er hätte Fische fangen oder sich wie in seiner Kindheit als Barde verdingen können. Aber stattdessen war er geblieben. Nicht aus Überzeugung, sondern aus einem viel tieferen inneren Antrieb heraus. Denn nur als ausgebildeter Druide konnte er in die Vergangenheit blicken und herausfinden, wer seine Mutter war und ob sie noch lebte. Entweder würde er also Magie gewinnen oder sein Leben verlieren. Beides war besser, als für den Rest seines sinnlosen Daseins ein Niemand zu sein, einer, der nicht wusste, woher er kam und wohin er ging.

»Die Milch bitte!«, unterbrach der Brownie seine Gedanken, wobei er mit dem Kopf in Richtung des Redcap-Geheges ruckte.

Ein Blick dort hinein machte Mylo klar, dass die Gnome ihre Mahlzeit beendet hatten. Von den Ziegen waren nur noch Knochen übrig, die kreuz und quer im Gehege verstreut lagen. In ihrer endlosen Gier hatten die Redcaps ihre Opfer regelrecht ausgeweidet und dabei die Überreste hinter sich geworfen. Räumte man diese nicht weg, so machten sich Fliegen und Würmer darüber her, was natürlich kein akzeptabler Zustand für einen gepflegten Druidenwald war.

Mylo überlegte, ob der Brownie als Ersatz für Cailean taugen könnte, was sich vermutlich nur herausfinden ließ, indem er sich auf diesen Handel einließ und die Milch aufs Spiel setzte. Entschlossen ging er zum Wagen und entkorkte den Krug. »Also … Broc. Ein einziger winziger Schluck!«

Er streckte dem Kobold den Krug entgegen, woraufhin dieser ihn mit leuchtenden Augen an sich riss. Gierig setzte er das für seine Verhältnisse viel zu große Gefäß an die Lippen. Zu Mylos Entsetzen nippte er aber nicht nur daran, sondern nahm einen so gewaltigen Zug, als wollte er ein ganzes Meer mit einem einzigen Schluck in sich hineinsaugen.

»Aufhören!«, brüllte Mylo. Er machte einen Sprung auf den Brownie zu, doch es schien ein ganzer Tag zu vergehen, ehe er ihn erreicht hatte und ihm den Krug vom Mund riss.

Broc grinste lausbübisch.

»Du Ausgeburt einer Dunkelfee!«, murmelte Mylo, während er in den Krug starrte und nur noch einen kleinen Rest weißer Flüssigkeit auf dem Boden sah. »Die Banshee wird außer sich sein!«

»Wir könnten eine wilde Ziege fangen und sie melken«, schlug Broc vor, der weiterhin nicht zu begreifen schien, was für eine Tragödie es war, sich eine Banshee zum Feind zu machen.

»Wenn ich sie erzürne, wird sie mein Totenhemd waschen!«

»Auch dafür weiß ich eine Lösung«, behauptete Broc. »Jetzt kümmere ich mich erst einmal um deine Redcaps.«

Es sind nicht meine Redcaps, wollte Mylo einwerfen, doch da war der Brownie bereits durch die Gitterstäbe des Geheges geschlüpft und wetzte von einem Knochen zum nächsten. Er war zwar schnell, aber nicht unsichtbar, trotzdem schien ihn keiner der Gnome zu bemerken. Sie standen alle nur da, die schwarzen Augen begehrlich auf die Hühnerkäfige auf dem Wagen gerichtet, und leckten sich die Lippen. Selbst als Broc seine ekelerregende Fracht zwischen den Gitterstäben hindurchschob, streckte sich keine einzige Klaue nach ihm aus. Beeindruckt nahm Mylo die Knochen an sich und warf sie auf den Wagen. So ging es weiter, bis der letzte Schneidezahn aus dem Gehege entfernt war, genau wie der Brownie es versprochen hatte.

Mit triumphierender Miene schlüpfte der Kleine wieder aus dem überdimensionalen Käfig heraus.

»Wieso haben sie dich nicht bemerkt?«, fragte Mylo interessiert.

»An ihren Augen liegt es nicht. Wir Brownies haben seit jeher das Talent, übersehen zu werden … wenn man das denn ein Talent nennen kann. Was glaubst du, warum das Gerücht umgeht, wir würden unsere Dienste nur nachts anbieten?«

»Ist das etwa nicht korrekt?«

Broc lachte auf, und diesmal sah er wirklich vergnügt aus. »Nein, ist es nicht. Aber die meisten Lebewesen – ob Mensch oder Monster – schauen einfach über uns hinweg oder durch uns hindurch. Erst wenn man sie auf uns aufmerksam macht oder wir sie ansprechen, reißen sie plötzlich die Augen weit auf und rufen ›Ah!‹ und ›Oh!‹. Oder sie versuchen, uns zu fressen.«

»Interessant. Aber ich habe dich sofort gesehen.«

Broc grinste schief.

»Nicht?«

»Ich saß schon auf deinem Wagen, bevor du die Dämmerfeste verlassen hast. Aber dann ist mir aufgefallen, wie überfordert du ohne deinen Gehilfen bist, und ich habe beschlossen, mich dir zu zeigen. Und mit Verlaub, Herr Beinahe-Magier … du hast Hilfe bitter nötig.« Er vollführte eine ausladende Geste, die sowohl die Redcaps als auch die angrenzenden Bereiche des Waldes mit einschloss.

Mylo sagte nichts dazu, denn er wollte Broc ungern recht geben. Stattdessen ging er zu seinem Wagen zurück, griff in die Zügel des Maultiers und wendete es, um den Pfad zum Hauptweg zu nehmen. Erst als er auf dem Kutschbock saß, wandte er sich noch einmal zu dem Brownie um. »Heute wirst du mich begleiten, damit ich jemanden habe, den ich der Banshee zum Ausgleich für ihre Milch zum Fraß vorwerfen kann. Aber ich muss gut darüber nachdenken, ob ich wirklich mit einem halb unsichtbaren Kobold zusammenarbeiten will, der nur Unfug im Kopf hat«, stellte er klar.

»Abgemacht!«, erwiderte Broc lachend und zog sich umständlich am Wagen hoch. Er pfiff ein kindisches Lied, während sie das Redcap-Gehege hinter sich ließen und über die Schlaglöcher des Waldweges weiterrumpelten, und schien sich sehr sicher zu sein, dass er heute nicht im Schlund einer Todesfee enden würde.

Bis zum Reich der Banshee waren es noch ein paar Meilen. Ihr nächster Halt war die Behausung der Baobhan-Siths – Vampirinnen, die es ebenfalls auf das Blut ihrer Opfer abgesehen hatten. Anders als die Redcaps waren sie aus freien Stücken in den Wald gekommen und mussten ihr Dasein deshalb nicht hinter eisernen Gittern fristen, sondern durften eine einfache Hütte auf einer sonnigen Lichtung bewohnen. Ein- bis zweimal in der Woche brachte Mylo ihnen frisches Blut, und dafür hatten sie geschworen, keine anderen Wesen auszusaugen. Ihr Geist war willig, dieses Versprechen einzuhalten, doch es kam immer wieder zu Situationen, in denen ihre Körper der dauerhaften Gier nach Menschenblut unterlagen. Von den nichtmagischen Inselbewohnern wagte sich normalerweise niemand in den Druidenwald. Aber vor einigen Wochen hatten sich drei Halbstarke auf eine tödliche Mutprobe eingelassen und waren bei ihrem nächtlichen Ausflug von den Baobhan-Siths verführt worden. Am nächsten Morgen hatte man ihre ausgesaugten Körper unter der Eiche der Black Annis gefunden – einer ebenso gefährlichen wie blutrünstigen Hexe –, die sogleich beteuerte, nichts mit dem Tod der jungen Männer zu tun zu haben. Die Bisslöcher an deren Hälsen und die bleiche Haut hatten die wahren Mörderinnen schnell entlarvt.

Auch heute standen wieder alle Zeichen auf Konfrontation, wie Mylo bei der Anfahrt auf die Vampirhütte bemerkte. Mit wiegenden Hüften trat eine der Baobhan-Siths aus dem Unterholz und gesellte sich zu ihm. Blätterschatten tanzten über ihr hauchdünnes grünes Kleid, während sie anmutig neben dem Wagen herschritt. Langes kastanienbraunes Haar wallte um schmale Schultern. Augen, so klar und tief wie ein Bergsee. Beine, so kerzengerade wie junge Fichten, die zum Himmel strebten. Ihre feingliederige Hand legte sich auf den Kutschbock gleich neben Mylos Knie. »Sei gegrüßt, schöner Mann!«, raunte sie. »Meine Schwestern und ich haben dich vermisst!«

Er schluckte schwer, riss den Blick von ihr los und starrte stur nach vorn. Das war die einzige Möglichkeit, ihren sinnlichen Betörungen auszuweichen, die die Gedanken eines Mannes so vernebelten, dass er bereit war, sein Leben für einen Kuss hinzugeben.

»Was hast du uns denn heute mitgebracht? Lass mich mal sehen …« Ein enttäuschtes Zischen entwich der Vampirin, als sie bemerkte, dass es sich um Hühner handelte. »Federvieh, pfui! Konntest du nicht wenigstens ein saftiges Schwein auftreiben, wenn es schon kein Mensch sein darf?«

»Schweine sind in diesen Zeiten schwer zu bekommen.«

»Oder Ziegen? Aber die hast du ja lieber den Redcaps gegeben, wie ich an dem widerwärtigen Knochenhaufen sehe, unfähiger Taugenichts!« Der Liebreiz der Baobhan-Sith stand in direktem Zusammenhang mit der Nahrung, die man ihr brachte. Handelte es sich dabei um Hühner, so ersetzte sie ihre schmeichelnden Worte durch Beschimpfungen. Es war nicht das erste Mal, dass dies geschah.

»Nenne mich noch einmal einen Taugenichts, und ich liefere euch bei meinem nächsten Besuch nur noch Fisch«, konterte Mylo scheinbar ungerührt.

Die Vampirin schüttelte sich vor Grauen. Die Vorstellung, ihre Zähne in einen glitschigen Fisch schlagen zu müssen, entsetzte sie derart, dass sie rüpelhaft neben sich zu Boden spie.

Mylo schnalzte mit der Zunge, um sein Maultier schneller voranzutreiben, doch die Baobhan-Sith ließ ihn nicht entkommen. Mit großen Sprüngen setzte sie hinter dem Wagen her, ergriff die Trense des Maultiers und brachte es zum Stehen. Ihre Nasenflügel blähten sich, während sie an dessen Hals schnupperte, genau dort, wo die Schlagader verlief. »Hm … Pferdeblut«, seufzte sie. »Gewürzt mit ein wenig Esel, aber das macht nichts. Behalte deine Hühner, du grauer Haderlump, ich habe mein Mahl bereits gewählt.«

»Das lässt du schön bleiben!«, rief Mylo und sprang vom Bock. Für solche Fälle trug er neben einem Eisenstock und einem Dolch stets einen Beutel mit Eisenpulver an seinem Gürtel, denn die meisten Schattenwesen ließen sich mit Hilfe des Metalls kontrollieren und im Notfall sogar töten. Auch wenn Mylo noch keine magischen Kräfte besaß, verliehen ihm diese Waffen zumindest die Macht, sich besonders aufdringliche Angreifer vom Leib zu halten.

Die Vampirin sah ihn mit der Hand im Beutel kommen, doch der Geruch des Maultiers, das mittlerweile vor Furcht schlotterte und mit den Augen rollte, hatte sie voll im Griff. Sie fuhr ihre überlangen Zähne aus, legte den Kopf in den Nacken – und stolperte im nächsten Moment kreischend rückwärts. Es war nur eine Fingerspitze Eisenpulver gewesen, doch auf den nackten Oberarmen der Baobhan-Sith wirkte es wie lichterloh brennende Glut. Rote Blasen bildeten sich auf ihrer Haut, fingen an zu qualmen und platzten auf. Schreiend rannte sie zum Brunnen und sprang mit einem kühnen Satz über den Rand, um ihre Verletzung abzukühlen. Es platschte, als sie auf dem unterirdischen Wasserspiegel aufschlug.

»Du hältst dich an die Regeln oder schwimmst zurück zum Festland, wo du es mit den Vampirjägern aufnehmen kannst, anstatt dich durchfüttern zu lassen!«, rief Mylo ihr hinterher.

Er wollte gerade wieder auf den Kutschbock steigen, da ertönte ein aufgeregtes Raunen von der Hütte her. Einen Wimpernschlag später tänzelte der Rest der blutgierigen Schwestern heran. Ohne es zu wollen, fühlte Mylo beim Anblick ihrer geballten Verführungskraft Faszination in sich aufsteigen, gepaart mit der verräterischen Lust eines jeden Mannes, der die tödlichen Weiber zu Gesicht bekam.

Sie waren allesamt in grüne Kleider gehüllt, fein und durchscheinend wie Spinnweben. Rank von Gestalt, mit wehendem Haar und samtweißer Haut kamen sie auf ihn zu. Obwohl er genau wusste, welch unheilbringende Zähne sich hinter ihren vollen Lippen verbargen, stieg der Wunsch in ihm auf, nur ein einziges Mal seinen Mund auf einen der ihren zu pressen.

»Mylooooo!«, hauchte eine Schwarzhaarige, die als Anführerin fungierte. »Wie grob und ungehobelt du heute bist!« Sie schwebte heran und fing seinen Blick, bevor er ihn abwenden konnte. Ihre Wimpern wippten wie Schmetterlingsfühler. Blaue Augen, in denen sich die Kronen der Bäume spiegelten. Sanft umschlossen ihre kühlen Finger seine Hand, die viel zu zögerlich in den Beutel gegriffen hatte. »Wir sollten etwas gegen die Düsternis in deiner Seele tun … und gegen die unerfüllten Wünsche deines Körpers. All diese Anspannung, die du mit dir herumträgst«, sie schürzte die Lippen, »wir können sie vertreiben.«

Wie aus dem Nichts erschien eine goldlockige Schönheit hinter ihr, und einen Herzschlag später erblickte er das rote Haar einer dritten, das vom Wind um einen schlanken Hals geweht wurde. Ein Augenpaar nach dem anderen fing Mylos Blick ein. Mehrere Hände hinterließen ein süßes Kribbeln auf seiner Brust. Was konnte es Schöneres geben, als in diesen Blicken zu ertrinken?

»Alles abgelaaaaden!«, durchbrach ein krächzender Ausruf die Sinnlichkeit des Moments.

Die Vampirschwestern fuhren herum, wobei ihr Zauber schwand. Noch immer benommen taumelte Mylo einen Schritt zurück. Hatte er gerade wahrhaftig die Kontrolle verloren und war im Begriff gewesen, sich aus vollem Herzen in sein Verderben zu stürzen?

»Wer bist du denn?«, giftete die Schwarzhaarige, die Hände in die Hüften gestemmt. »Und wo kommst du so plötzlich her?«

»Gestatten, mein Name ist Broc«, stellte der Brownie sich vor. »Ich bin der neue Gehilfe von Master Mylo und habe mir die Freiheit genommen, euch eure Hühner bereitzustellen.«

»Bah, Hühner!«

»Es sind wahrhaft prächtige Goldhennen dabei, werte Frau. Saftig und fett gefüttert mit glänzendem Gefieder und …«

»Schweig, du geschwätzige Schlammkröte, oder wir drehen dir den Hals um!«

»Tzz, tzz«, machte Broc und schüttelte einen Zeigefinger. »Brownies sind schwerer zu fangen als kleine Ferkel. Und ihr dreht niemandem den Hals um, sondern springt gleich alle in den Brunnen zu eurer ungezogenen Schwester.« Grinsend deutete er auf Mylo, der es mittlerweile geschafft hatte, eine Handvoll Eisenpulver aus dem Beutel zu ziehen.

Die Baobhan-Sith schnappte nach Luft. »Das ist unerhört!«

»Unerhört war allenfalls euer Übergriff auf mich«, schaltete Mylo sich ein. »Wenn ich dem Großmeister davon erzähle, steckt er euch in ein Gehege, genau wie die Redcaps. Dann seid ihr nicht mehr als eine Horde Tiere in einem Käfig, unfähig, eigenständige Entscheidungen zu treffen.«

Bei diesen Worten wurde die Vampirin noch bleicher, als sie es ohnehin schon war. Innerhalb eines Herzschlags änderte sich ihre Stimmung. Bittend landete ihr Blick wieder auf Mylo, doch der hütete sich, ihr erneut so tief in die Augen zu sehen. »Das wirst du nicht tun, oder? Wir können doch nichts dafür! Es ist unsere Natur, die uns dazu treibt. Unser Hunger wird täglich größer. Und ein hübscher Jüngling wie du … so ganz allein im Wald …«

»Lass das anbiedernde Gewäsch! Ihr hättet auch einen faltigen Greis verführt, um an Menschenblut zu kommen. Und nun tobt euch an den Hühnern aus, ehe ich es mir anders überlege und sie wieder mitnehme!«

Ohne weitere Gegenwehr drückten sich die insgesamt sechs Vampirinnen an ihm vorbei, bedachten Broc mit einem missmutigen Blick und widmeten sich dann unter Seufzen den Käfigen.

Mylo sah in die andere Richtung, während sie die Hühner aussaugten, und stellte fest, dass seine Hände trotzdem nicht aufhören wollten zu beben. All die Monster in diesem Wald waren es nicht wert, eine Bleibe zu erhalten. Im Kreise der Druiden gab es einige, die diese Meinung teilten, allen voran Drostan, der oberste Diener Terans. Doch Adair, der Großmeister, hielt beständig seine schützende Hand über Redcaps, Baobhan-Siths und Schlimmeres. Selbst der Nuckelavee in der Mitte des Waldes, dessen Namen nicht einmal die Druiden gern in den Mund nahmen, sei ein Geschöpf der Götter, das es für die Nachwelt zu bewahren galt, behauptete er.

Nun, wenn er es darauf anlegte, diese Nachwelt auf tausend Arten zu ermorden, dann lag er gewiss richtig, dachte Mylo zynisch.

»Du wirst uns doch keinen Ärger machen?«, fragte die Anführerin des Vampirclans. Sie warf die leer gesaugte Henne zur Seite und kam mit einer blutigen Daunenfeder am Kinn auf Mylo zu.

Der verzog angeekelt das Gesicht. »Sag mir einen Grund, weshalb ich Adair nicht von eurem Verhalten berichten sollte?«, gab er unwirsch zurück.

Die Baobhan-Sith griff sich mit einer Hand an die Brust und sog theatralisch Luft ein. »Warum bist du so unversöhnlich? Hab doch etwas Mitleid mit uns armen, vom Schicksal gebeutelten Weibern. Wenn die Druiden uns aus dem Wald verbannen, rammt irgendein Christ uns ein eisernes Kreuz ins Herz. Und eingesperrt hinter Gittern verkümmern wir wie Blumen auf dürrem Land.«

»Würde euch recht geschehen. Ihr seid eine Geißel der Menschheit.«

»Wir sind Teil des großen Gleichgewichts.« Mit einem Mal war die Unterwürfigkeit in der Stimme der Vampirin verschwunden. Sie wischte sich die Feder vom Kinn und reckte Selbiges in die Luft. »Solange du das nicht verstehst, wirst du der zauberlose Niemand bleiben, der du heute bist. Wäre ich eine Göttin, würde ich dich nicht erwählen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, kehrte sie ihm den Rücken zu und schwebte, gefolgt von ihren Schwestern, zu ihrer schäbigen Hütte zurück.

Wutentbrannt blieb Mylo stehen. Dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte, merkte er erst, als Broc daran rüttelte.

»Darf ich eine Frage stellen?«, erkundigte der Brownie sich.

»Nein.« Mylo strich dem tapferen Maultier über den Mähnenkamm und stieg wieder auf den Wagen.

Mit der Selbstverständlichkeit eines langjährigen Gefährten kletterte Broc hinter ihm her. »Wir hätten sie fragen sollen, ob sie Milch besorgen können«, plapperte er vor sich hin. Er schien keine Erwiderung zu erwarten oder gar einen Dank dafür, dass er seinen neuen Freund soeben vor der sicheren Verdammnis gerettet hatte.

Mylo wendete den Wagen und schlug den Weg gen Westen ein – hinein in das Unterholz, das beständig nach jedem lebenden Wesen zu greifen schien. Dorthin, wo niemand weilte, der noch ein Lied auf den Lippen hatte. Lediglich in die Mitte selbst, in das dunkelste Herz des Waldes, würde er nicht vorstoßen, denn dort war der Nuckelavee gefangen, um den sich Adair persönlich kümmerte.

Mit jeder Umdrehung der Räder tauchte der Wagen tiefer in die Finsternis ein, wurden die Büsche am Wegesrand dichter und fühlte sich die Luft kälter an. Es roch nach Moos und schlammigen Tümpeln. Broc ließ sich nicht davon einschüchtern. Stattdessen unternahm er einen erneuten Versuch, seine drängende Frage loszuwerden: »Diese Weiber haben dir übel mitgespielt. Aber sie haben recht: Es liegt in ihrer Natur. So wie Wölfe nach frischem Fleisch schnappen und Kaninchen es nicht lassen können, Löwenzahn zu fressen. Du hattest allen Grund, dich zu verteidigen. Auch, sie zu maßregeln. Aber woher kommt dieser endlose Hass gegen die Geschöpfe der Schatten?«

Mylo schwieg. Einem dahergelaufenen Brownie würde er seine Lebensgeschichte nicht erzählen, ebenso wenig, wie man sich vor einem Fremden nackt auszog. Sollte er ihn ruhig für den griesgrämigen Finsterling halten, der er vielleicht auch war. Zu viel Offenheit machte nur verletzbar.

Am Ufer eines dunklen Sees, aus dessen Mitte unheilvolle Luftblasen aufstiegen, trafen sie den Urisk – ein harmloses Mischwesen aus Mensch und Ziege, das grundsätzlich mehr Angst vor Besuchern hatte als diese vor ihm. Der Urisk war das vermutlich einsamste Wesen der Welt, denn er hasste seine eigene Gestalt ebenso sehr wie Mylo seine Vergangenheit. Seit das erste Menschenkind schreiend vor einem seiner Ahnen davongelaufen war, hatte diese Scham sich fortgepflanzt und bis zum Wahnsinn gesteigert. Ein Redcap hätte über ein solches Schicksal nicht einmal mit den Spitzohren gezuckt, doch der Urisk sehnte sich nach Zuwendung und inniger Freundschaft, die ihm jedoch nie zuteilwurde, obgleich er alles tat, um den Menschen zu gefallen. Er bearbeitete sogar deren Felder, reinigte das Ackergerät und flickte zerrissene Fischernetze. Aber jedes Mal wenn er heimlich einem seiner Angebeteten folgte, endete das mit Geschrei oder – falls es sich um einen wehrfähigen Mann handelte – einem Pfeil im Rücken des Ziegenmannes. Dieses Exemplar hier war besonders schlimm dran, denn es hatte nicht einmal mehr einen Gefährten, dem es sein Leid klagen konnte, sondern schien das letzte seiner Art zu sein.

Beim Anblick des Wagens duckte es sich weg, machte den Buckel krumm und schlang die sehnigen Arme um seine Fellbeine, die in gespaltenen Hufen endeten. Unwillkürlich fühlte Mylo Aggression in sich aufsteigen, wenngleich der Urisk sich ihm gegenüber stets zuvorkommend verhielt. Doch dieser feucht schimmernde Blick, der grundsätzlich von unten nach oben ging, rüttelte an seiner Selbstbeherrschung. Er musste sich zusammennehmen, um seine aufgestaute Wut nicht an einem Unschuldigen auszulassen.

»Sei willkommen, werter Druide!«, nuschelte der Urisk. »Was für eine Ehre, dass du einen Ziegenmann besuchst!«

»Ich besuche dich nicht, sondern erfülle lediglich meine Pflicht und bringe Knochen für das Loch-Monster«, widersprach Mylo unwirsch, was dazu führte, dass das Wesen noch mehr in sich zusammensank. Traurige Falten erschienen über seinen struppigen Augenbrauen.

»Guten Tag, lieber Freund, wie geht es dir heute?«, zwitscherte Broc und sprang vom Wagen.

Ebenso wie die Baobhan-Siths bemerkte der Urisk den Brownie erst, nachdem dieser ihn angesprochen hatte. Als ihm gewahr wurde, dass jemand wahrhaftig ein höfliches Wort an ihn richtete, bebte der Ziegenbart an seinem Kinn vor Rührung. Tränen der Freude stiegen in seine Augen, doch vor lauter Überwältigung brachte er keine Entgegnung hervor.

Broc setzte sich auf den Stein neben ihm und zog die Beine an. Er war so klein, dass der Urisk auf ihn hinabsehen musste, dennoch wirkte der Ziegenmann immer noch wie ein unsicheres Kind, das sein Glück kaum fassen konnte.

»Wir haben viel gemeinsam«, behauptete Broc und schnippte sich eine seiner braunen Locken aus der Stirn. »Beide helfen wir den Menschen, aber uns Brownies stellen sie zum Dank immer Nahrung hin. Wie schön wäre es doch, wenn sie erkennen würden, dass Gutherzigkeit keine Frage der äußeren Erscheinung ist.«

Der Urisk bewegte mehrfach die Lippen, aber es dauerte lange, bis ein gehauchtes »Jaaaa« darüber kam.

»Nun, mein Freund, möchtest du ein Schlückchen Wein von unserem Wagen? Oder hast du ein anderes Anliegen?«

Die Antwort war ein hastiges Kopfschütteln. Niemals – das wusste jeder im Druidenwald – stellte ein Urisk irgendwelche Forderungen, denn er war der Meinung, er hätte keinerlei Dank oder Hilfe verdient. Zu fressen brauchte er auch nichts. Sein Futter bestand aus Kleeblättern und Löwenzahn.

»Dann … dürfen wir dich vielleicht um etwas bitten?«, hakte Broc nach.

Nun endlich war der Ziegenmann voll und ganz in seinem Element. Jemand wollte seine Hilfe! Und wenn er eines in Perfektion beherrschte, dann, sich bis zur Selbstaufgabe für andere aufzuopfern. Freudig strahlend richtete er sich ein Stückchen auf. »Aber natürlich! Ghobwin hilft immer! Sprich, was er für dich und den werten Druiden tun kann!«

»Ghobwin – ist das dein Name?«

Der Urisk nickte eifrig mit dem kahlen Kopf. »So heißt er, ja, ja!«

Broc lächelte, nein, er strahlte ihn dermaßen an, dass Mylo von all der Warmherzigkeit ringsum ganz schlecht wurde. »Könntest du uns vielleicht ein Schlückchen Milch von einer deiner wilden Verwandten besorgen? Ein winzig kleines würde schon reichen.«

Diese Aussage stimmte nur gesetzt den Fall, dass der schüchterne Halbmann dieselben Vorstellungen von Mengen- und Größenverhältnissen hatte wie Broc. Davon abgesehen zog es sicherlich keine einzige Wildziege so tief in den Wald hinein. Der Urisk aber nickte begeistert und deutete auf den See hinaus, dorthin, wo immer noch die schauderhaften Blasen aufstiegen. »Das Monster hat gerade Junge. Ghobwin ist sicher, er kann es melken. Tagsüber schläft es.«

»Ich glaube kaum, dass Monstermilch …«, warf Mylo ein, doch Broc unterbrach ihn mit einer wegwerfenden Handbewegung.

»Ach was! Eine Milch ist wie die andere.« Er ging zum Wagen, holte den leeren Krug hervor und drückte ihn dem Urisken in die Hand.

»Wie soll das funktionieren? Hast du schon einmal unter Wasser ein Monster gemolken? Die Milch wird danebenlaufen … oder das Seewasser in den Krug«, begehrte Mylo auf, der bereits das Gesicht der Banshee vor sich sah, wenn er ihr ein solches Mahl vorsetzte.

Der Urisk warf sich in die Brust. »Ghobwin schafft das! Monsterzitze ist groß genug. Passt genau da rein!«

Mylo schlug sich eine Hand vor die Stirn, sagte jedoch nichts mehr. Sollte die aufdringliche Ziege es doch versuchen – anschließend konnte er immer noch entscheiden, ob er den Inhalt des Gefäßes lieber ausschüttete, anstatt ihn der Todesfee zu übergeben.

Selig lächelnd klemmte der Urisk sich den Krug unter den Arm und sprang ins Wasser. Mit ungelenken Schwimmzügen paddelte er ein Stück weit hinaus, dann tauchte er ab.

Mylo und Broc starrten auf die Wellenkreise, die sich von der Stelle, an der er verschwunden war, immer weiter ausbreiteten und schließlich mit dem stillen Wasserspiegel verschmolzen. Herzschlag für Herzschlag verging, doch der Urisk kehrte nicht zurück an die Oberfläche. Lediglich die Blasen in der Seemitte schienen dicker zu werden.

»Hast du je eines der Loch-Monster gesehen?«, fragte Broc, vermutlich um die angespannte Stille zu durchbrechen.

Mylo schüttelte den Kopf.

»Es heißt, sie sehen aus wie riesige Schildkröten ohne Panzer.«

»Mir hat man gesagt, wie dünne Wale mit Schlangenkopf und vier Flossen.«

»Ist doch das Gleiche!«

»Völlig egal!«, presste Mylo hervor. »Ich will jedenfalls keine Milch von einem Schildkrötenwal trinken.«

»Och!« Der Brownie zuckte mit den Achseln. »Gut, dass du keine Banshee bist. Wir Wesen aus Licht und Schatten haben andere Ansprüche an das Leben als ihr Menschen. Und wir sind weniger verbohrt.«

»Lieber verbohrt als vergiftet.«

Sie schwiegen abermals gespannt. Kurz darauf schwebte ein heller Schatten aus der schwarzen Tiefe heran, dann tauchte der Glatzkopf des Urisks knapp vor ihnen auf.

»Hat es funktioniert?«, rief Broc aufgeregt.

Triumphierend hob Ghobwin den verkorkten Krug aus dem Wasser. »Randvoll gefüllt mit süßer Milch!«, behauptete er, wobei ihm doch tatsächlich ein winziges Lächeln über die Mundwinkel huschte.

Mylo trat vor und nahm ihm das Gefäß aus den Händen. Wortlos entkorkte er es und betrachtete den Inhalt. In der Tat handelte es sich dabei um eine weiße Flüssigkeit, die weder aufdringlich roch noch sonstige Anzeichen von Widerwärtigkeit in sich barg. Lediglich ein schwaches Aroma von Algen und Seewasser ging davon aus, was bei einer Unterwassermelkung vermutlich unvermeidbar war.

Er streckte Broc den Krug hin. »Probier sie! Aber nur den Finger reintauchen und den Tropfen ablecken. Selbst ein winziges Schlückchen wäre schon zu viel!«

Folgsam tauchte der Brownie einen Zeigefinger in die Milch und leckte ihn ab. Mylo beobachtete sein Gesicht genau, um ja kein Anzeichen von Widerwillen oder Ekel zu übersehen, doch nichts dergleichen war darauf auszumachen.

»Ganz wunderbar!«, urteilte Broc. »Eine vollmundige Milch mit dem Geschmack von Seelilien und einem Hauch von Karpfenrogen. Wenn du mich fragst: Die Banshee wird begeistert sein.«

»Und da bist du sicher?«

»Vollkommen!« Zur Bekräftigung seiner Aussage hieb sich der Brownie die kleine Faust auf die Brust.

Mylo zögerte immer noch, aber ihm grauste davor, selbst einen Schluck von der Monstermilch zu nehmen. Es hieß, Brownies seien wählerisch bei der Auswahl ihrer Speisen und Getränke – immerhin waren sie jahrhundertelang mit den besten Stücken aus der Menschenküche verwöhnt worden. Einen Versuch war die Sache also allemal wert. Und falls die Banshee sich doch ungehalten zeigen sollte, konnte er ja behaupten, die Milch sei während der Fahrt eben schlecht geworden. Oder alles auf Broc schieben.

Er wies seinen Gehilfen an, die Knochen vom Wagen zu laden, und trug dem Urisken auf, sie später als Monsterfutter in den See zu werfen. Sicherheitshalber wollte er weit genug weg sein, wenn das Untier erwachte und feststellte, dass jemand es im Schlaf gemolken hatte.

Waschtag

Die Banshee saß an einem der Zuflüsse zum See und weichte ihren Lappen ein. Aufgrund ihres ausgeprägten Waschzwangs hatte Mylo ihr bereits vor Wochen einen ausgebleichten Lumpen überlassen, der nachweislich nie von einem lebenden Menschen am Leib getragen worden war, denn jedes Kleidungsstück verwandelte sich in ihren Händen zum Totenhemd. So wie die Redcaps und Baobhan-Siths lieber echtes Menschenblut gehabt hätten, verlangte es die Banshee dauerhaft nach einem Hemd, das noch warm vom Körper seines Trägers war. Aus diesem Grund musste man in ihrer Nähe stets auf der Hut sein und durfte niemals eine Tunika oder ein Unterkleid unbewacht herumliegen lassen.

Also schrubbte die Todesfee nun tagein, tagaus in gebückter Haltung ihren Ersatzlappen. Ihr Rücken war entsprechend krumm, und ihre Hände sahen bleich und aufgequollen aus, aber wenigstens war sie beschäftigt. Wenn sie nämlich nichts zu waschen hatte, fing sie zu klagen an, was sich kaum aushalten ließ. Ihr durchdringendes Geschrei schallte dann durch den ganzen Wald, machte das Seemonster aggressiv, verschreckte den armen Urisken und raubte Mylo den letzten Nerv.

Dem »todsicheren« Plan von Broc folgend, trat Mylo nur mit seiner Hose bekleidet vor die Todesfee. Die graue Kutte und den Umhang hatte er zusammengerollt zwischen die Weinfässer geschoben, wo sie im Zweifelsfall unerreichbar sein sollten. Schließlich konnte niemand wissen, wie die alte Moira auf das außergewöhnliche Mahl reagieren würde, das er ihr heute überbrachte.

»Sei gegrüßt, Gevatterin«, sprach Mylo die Banshee an, der er aufgrund ihrer Gefährlichkeit mit mehr Respekt begegnete als allen anderen Waldbewohnern.

Die Todesfee hob den Kopf und musterte ihn durchdringend. Sie war eine Greisin mit schlohweißem Haar, hervorstehenden Zähnen und nur einem Nasenloch. Ihre ausgeprägten Hängebrüste waren unbedeckt, nur um den Unterleib trug sie eine fleckige Schürze, die eindeutig seltener gewaschen wurde als ihr geliebter Lumpen. »Ah, der zukünftige Druide«, lispelte sie. »Musst du immer noch die Bestien des Waldes pflegen, weil kein Gott sich deiner erbarmt und dir ein Fünkchen Magie zuspielt?« Ein leises boshaftes Lachen erklang, dann widmete sie sich wieder ihrer Arbeit, tauchte den Stoff ins Wasser, wrang ihn aus und tunkte ihn erneut unter.

Mylo ließ sich nicht provozieren. Mit dem Milchkrug in der Hand trat er an sie heran und stellte ihn neben sie ans Ufer. »Teile sie dir gut ein. Ich komme erst nächste Woche wieder.«

Er wollte sich eben abwenden und zurück zum Wagen gehen, da hievte die alte Moira sich hoch und richtete ihren stechenden Blick auf ihn. So abstoßend ihre sonstige Gestalt war – ihre Augen strahlten in einem leuchtenden tiefklaren Blau wie zwei kleine Gebirgsseen von unermesslicher Tiefe. »Wo sind deine Kleider, Bursche? Du wirst sie doch nicht vor mir verstecken?«

»Nein, Mütterchen. Aber innerhalb der Dämmerfeste wird von einem Anwärter erwartet, sich stets sittsam zu kleiden. Also habe ich beschlossen, dass wir beide kein unnötiges Risiko eingehen müssen und ich ein wenig Sonne an meine Haut lassen kann. So schlage ich zwei Fliegen mit einem Lappen, verstehst du?«

Sie kicherte. »Hast du auch die Baobhan-Siths ohne Hemd aufgesucht? Das grenzt an Vampirquälerei!«

Er antwortete nichts darauf, sondern setzte nur ein vielsagendes Lächeln auf, das ihn einiges an Überwindung kostete. Innerlich war er nur halb so gelassen, wie er sich gab.

»Lass dir deine Milch schmecken.« Er kletterte auf den Wagen und nahm die Zügel zur Hand. »Wir sehen uns nächste Woche.«

Noch während er das Maultier wendete, beobachtete er aus den Augenwinkeln, wie Moira nach dem Milchkrug griff. Sie entkorkte ihn, roch am Inhalt und setzte ihn dann an die Lippen. Mylo drehte sich nicht mehr um, sondern steuerte den Wagen in die Gegenrichtung. Dabei hielt er den Atem an und zählte innerlich jeden seiner Herzschläge mit, bis er schon glaubte, Brocs Plan wäre aufgegangen.

Mitten in seine Erleichterung hinein ertönte ein derart durchdringender Schrei, dass ihm das Blut in den Adern stockte. Es begann mit einem kehligen »Äääääähhhh!«, steigerte sich zu einem klirrenden »Iiiiiiieeeehhh!«, gefolgt von einem überdeutlichen »Komm sofort zurück, du Balg einer Aasnatter!«.

»O weh«, murmelte Broc vom Sitz nebenan. »Es hat ihr wohl doch nicht geschmeckt!«

Mylo schnalzte mit der Zunge, um das Maultier schneller voranzutreiben, da erscholl der Schrei der Banshee erneut: »Brollachan!«, kreischte sie. »Brollachaaaaaan!«

»Gar nicht gut!«, piepste Broc, während er auf seinem Sitz immer mehr zusammenschrumpfte und schließlich sogar unter dem Kutschbock in Deckung ging.

Verflucht!, schoss es Mylo durch den Kopf. Wenn er eines nicht brauchen konnte, dann eine Banshee, die sich mit einem Brollachan verbündete! Er hatte nicht einmal gewusst, dass sich eines dieser gestaltlosen Wesen im Druidenwald niedergelassen hatte. Kein Wunder, denn Brollachans waren so gut wie unsichtbar, solange sie nicht von einem anderen Geschöpf Besitz ergriffen. Lediglich ihre Augen und ihren Mund sah man manchmal durch aufsteigenden Nebel blitzen.

Das Maultier trabte so hastig von dannen, als wüsste es genau, dass Unheil blühte. Schnell genug war es indes nicht. Denn mit einem Mal schwebte von einer gewaltigen Eiche über ihnen ein Schatten auf die Ladefläche herab. Eine riesige Krähe nahm die Lücke zwischen den Weinfässern ins Visier und versenkte ihre Krallen in Mylos Kutte. Doch erst als sie mit ihrem Diebesgut wieder in die Lüfte stieg, konnte man ihre hell leuchtenden Augen sehen. Noch weitaus abscheulicher fand Mylo die Tatsache, dass der Vogel keinen Schnabel besaß, sondern eine Nase und einen menschlichen Mund. Damit schrie er triumphierend nur ein einziges Wort, aber dieses dafür gleich mehrfach hintereinander: »Ich! Ich! Ich!«

»Grauenvoll!«, stieß Broc bibbernd hervor.

Mylo brachte das Maultier zum Stehen. Hilflos sah er mit an, wie der Brollachan seine Kutte zur Banshee trug und in deren gierig ausgestreckte Arme fallen ließ.

»Monstermilch hast du mir gebracht!«, kreischte diese, wobei sie mehrmals hintereinander ausspie. »Bittere, scharfe Monstermilch, die in meiner Kehle brennt wie Feuer! Dafür wirst du büßen!«

»Du! Du! Du!«, krächzte der Brollachan.

Und ehe Mylo sich verteidigen, geschweige denn in irgendeiner Weise eingreifen konnte, hatte die alte Moira sein Kleidungsstück in den Bach geworfen und angefangen, es zu schrubben. Er spürte einen eisigen Schauder über seinen Rücken jagen, als hätte man ihn selbst ins kalte Wasser getaucht. Tausend kleine Nadelstiche fuhren auf seine Haut nieder, und für einen kurzen Moment fühlte er die Umklammerung frostiger Finger um sein Herz.

Ohne auf Broc, den Wagen oder das Maultier zu achten, sprang er vom Bock und rannte zum Bach. Die Todesfee sah ihn kommen und stieß ein unangenehmes Kreischen aus, während sie nur noch schneller weiterschrubbte. Gierig wie ein Raubtier zog sie das Gewand über ihren Waschstein, tunkte, scheuerte, wässerte wie von Sinnen, wobei der Geifer aus ihrem zahnlosen Mund rann. Als Mylo sie erreichte und ihr die Kutte entwinden wollte, krallte sie die gichtgeplagten Finger um den Stoff. Es kostete ihn einiges an Mühe, doch letzten Endes behielt er die Oberhand. Schwer atmend brachte er sein Gewand in Sicherheit. Dann stand er da und starrte darauf hinab, wie es tropfend in seinen Händen lag.

»Das hast du jetzt davon!«, keifte die Banshee.

»Ich … ich werde …«, setzte Mylo an, doch sie fuhr ihm sofort über den Mund.

»Gar nichts wirst du! Ein tragisches Unglück war das. Wer konnte schon ahnen, dass ein völlig unbekannter Brollachan sich deiner Kutte bemächtigen würde, um sie an eine arme ausgemergelte Banshee zu übergeben? Niemand wird mich dafür zur Rechenschaft ziehen, dass ich dieses unverhoffte Geschenk angenommen habe, ebenso wenig wie man den Wolf bestraft, weil er das Lamm gefressen hat, das sich in seine Höhle verirrte. Aber du, mein hinterlistiger Freund … wirst nun ste-her-ben!« Sie grinste so breit, dass er ihre wenigen verbliebenen Zahnstummel sehen konnte.

»Du!«, bestätigte die Krähe, die sich ganz selbstverständlich auf der Schulter der Banshee niedergelassen hatte.

»Nimm auf der Stelle diesen Fluch von mir!«, forderte Mylo.

»Ich?« Fragend richtete der Brollachan seine roten Augen auf die alte Moira.

»Nein, er spricht mit mir«, erklärte diese und streichelte dem Dämon übers Gefieder. Allein diese Geste machte klar, dass die beiden sich schon länger kannten. »Man merkt, dass der Bursche noch keine umfassende Ausbildung erhalten hat. Sonst wüsste er, dass ein einmal gewaschenes Totenhemd den Schmutz des Lebens für immer abstößt. Da ist nichts mehr zu machen!«

Ein dumpfes Pochen dröhnte durch Mylos Kopf. Wie hatte er sich nur in diese verfahrene Situation gebracht? Unermesslicher Groll gegen Broc stieg in ihm auf, zugleich mit einer Frage – der einzigen, die jetzt noch von Bedeutung war: »Wann?«

Moira zuckte mit den Schultern. »Sagen wir, in drei Tagen? Genau weiß ich es nicht. Lange hast du mir dein Kleidchen ja nicht gelassen. Wenn du willst, dass es schneller geht, gib es mir noch mal. Es wird eine Erlösung für dich sein.« Sie rieb sich die Hände.

»Und da ist nichts, was ich dagegen tun kann? Niemand, der es ungeschehen machen kann?«

»Nichts und niemand!« Kein Funken von Mitleid oder Reue schwang in dieser Aussage der Banshee mit, sondern einzig und allein die Genugtuung, endlich wieder ihrer Leidenschaft gefrönt zu haben. Wie sehr sie dieser Umstand beflügelte, konnte man an der frischen Röte sehen, die sich auf ihren faltigen Wangen abzeichnete.

»Wenn das so ist, nehme ich dich mit in Terans Reich, damit du dich für deine Gräueltaten vor ihm verantworten kannst«, zischte Mylo, während er seinen eisernen Dolch hervorzog.

Bei dessen Anblick schwand jegliche Überheblichkeit aus dem Gesicht der Banshee. Ihr einzelnes Nasenloch bebte. »Das darfst du nicht tun! Nur dem Großmeister ist es erlaubt, Recht zu sprechen!« Sie machte einen Schritt zurück und wäre dabei fast über den Felsen gefallen, auf dem sie vorhin gesessen hatte.

Wütend warf Mylo seine Kutte zu Boden. Seine Faust umklammerte den Griff seiner Waffe fester.

»Weiß denn irgendjemand sonst, wie man dem Herrn Druiden helfen kann?«, meldete sich auf einmal Broc zu Wort. Klammheimlich wie immer war er zu ihnen getreten, was die Banshee zu einem jugendlich anmutenden Sprung über den Felsen veranlasste. Diese ungewohnte Bewegung brachte sie aus dem Gleichgewicht, und sie schlug der Länge nach ins Gras. Jammernd rappelte sie sich wieder auf. Doch bevor sie zu einer Schimpftirade gegen den ungebetenen Gast ansetzen konnte, mischte sich der Brollachan in seinem Krähenkörper ein: »Ich!«

»Du?«, entfuhr es Mylo, Broc und der alten Moira gleichzeitig.

»Ich!«, beharrte der Brollachan.

»Und was müssen wir tun?«, fragte Mylo, obgleich er ziemlich sicher war, dass er keine verständliche Antwort erhalten würde.

Er sollte recht behalten. »Du! Ich!«, krächzte die Krähe.

»Es ist sinnlos, sich mit ihm zu unterhalten, denn mehr als diese zwei Wörter beherrscht er nicht«, knurrte Moira.

»Das macht gar nichts«, trumpfte Broc auf, als wäre all dies nur ein spannendes Rätsel, das es zu lösen galt. »Pass auf, Dämon: Ich stelle dir Fragen, und du beantwortest sie mit Ja oder Nein. Ich heißt ja. Und Du heißt nein. Alles klar?«

»Du«, antwortete der Brollachan, während er fragend die Flügel hob.

Mylo stöhnte. »Das hat doch keinen Zweck. Ich muss zurück zur Dämmerfeste. Wenn mir irgendjemand helfen kann, dann Großmeister Adair.«

»Gedulde dich noch einen Moment. Unser glutäugiger Freund wird gewiss ebenfalls dazu in der Lage sein!«, versuchte Broc, ihn zu beschwichtigen.

Die Banshee lachte gehässig. Sie schien von der Hilfsbereitschaft des Dämons nicht überzeugt zu sein.

»Also, lieber Brollachan, befindet sich die Person, die Meister Mylo helfen kann, in diesem Wald?«

»Ich!«

Broc klatschte in die Hände. »Handelt es sich um einen Druiden?«

»Du!«

»Also ein Wesen aus Licht und Schatten … hm … Aber welches?« Er dachte kurz nach. »Vielleicht die Black Annis? Nein, die hat nur scharfe Klauen, aber kaum Magie.«

»Du«, bestätigte der Brollachan. Zum ersten Mal fiel Mylo auf, dass dessen Lippen so voll waren wie die einer schönen Frau.

»Meinst du … etwa mich?«, hakte Broc nach.

Die Krähe verdrehte ihre Menschenaugen. »Du.«

»Vielleicht die Fuaths? Oder der Beithir? Ein Kelpie?« Broc nannte ein Monster nach dem anderen, doch jedes Mal erhielt er dieselbe niederschmetternde Antwort.

Einzig Moira, die sich zwischenzeitlich wieder mit ihrem Lappen zum Bach zurückgezogen hatte, schien die Befragung zu erheitern. »Wie wär’s mit dem Nuckelavee?«, schlug sie kichernd vor. »Immerhin ist das ein entfernter Vetter von dir, nicht wahr, Brollachan?«

»Ich!«, rief die Krähe entzückt. »IIIIIIIIch!«

»Ja, ihr seid verwandt, oder ja, der Nuckelavee kann helfen?«, fragte Broc.

Aufgeregt schlug der Brollachan mit den Flügeln. »Ich!« Er stieg ein Stück weit in die Luft und flog in Richtung der Waldesmitte davon. Über einem Fichtendickicht, so schwarz wie sein Gefieder, verharrte er und krächzte auffordernd.

»Kluges Kerlchen. Aber natürlich – sein freundlicher Verwandter verfügt gewiss über ausreichend Zauberkraft, um dich zu heilen. Es heißt, er wäre mächtiger als alle Druiden zusammen«, säuselte Moira. Doch der Blick ihrer kristallklaren Augen sagte etwas anderes: Ich hätte nie gedacht, dass meine Wäsche derart schnell wirkt, obwohl sie so kurz andauerte.

Mylo war geneigt, Letzteres zu glauben. Brollachans legten es seit jeher darauf an, Tod und Leid über jeden Menschen und jedes Tier zu bringen. Weshalb sonst hatte der Dämon seine Kutte direkt in die Arme einer Banshee geworfen? Sicher nicht, um ihm kurze Zeit später das Leben zu retten. Stattdessen wollte er ihn und Broc direkt in die Fänge des Nuckelavees führen. Das alles war ein abgekartetes Spiel!

Mylo schauderte. Trotz der unsäglichen Niedertracht, die den Wesen des Druidenwaldes innewohnte, konnte keines von ihnen es mit jenem aufnehmen, das die Druiden ins innerste Dickicht verbannt hatten, wohin sich niemand je verirrte, nicht einmal die Wildhüter. Er kannte die Gestalt des Nuckelavees nur aus Erzählungen und dennoch suchte sie ihn oft genug in seinen Albträumen heim: der riesenhafte Leib eines Pferdes, auf dessen Rücken ein Mann ohne Beine festgewachsen war. Es hieß, die Arme des Reiters wären so lang, dass sie über den Boden schleiften, und sein Kopf rolle auf seinen Schultern hin und her, weil er keinen Hals besaß. Das Schauerlichste am Nuckelavee aber war, dass keine Haut seinen grauenvollen Körper bedeckte. Man konnte jede Bewegung seiner Sehnen und Muskelstränge deutlich sehen, auch das gelbe Blut, das durch seine Adern pulsierte. Kaum ein Mensch hatte je eine Begegnung mit ihm überlebt. Allein sein Atem ließ ganze Felder verdorren und das Vieh in den Ställen scharenweise tot umfallen.

»Wir werden dieser lügenhaften Krähe nicht folgen, sondern zurück zur Feste fahren«, beschloss Mylo.

»Hm …«, machte Broc. »Das ist wohl das Klügste.«

Die Banshee hingegen ließ ein Seufzen hören, vermutlich weil ihr ein schneller Tod ihres Opfers lieber gewesen wäre. Und zudem lief sie nun Gefahr, dass die Druiden sie für den angeblichen »Unfall« mit dem Brollachan doch noch richteten. Aber Mylos Entscheidung war getroffen, so leidenschaftlich die Todesfee auch versuchte, ihn ins dunkle Herz des Waldes zu locken.

 

Lange nach Sonnenuntergang erreichte der Wagen die Dämmerfeste, eine kreisförmig angelegte Ansammlung runder Bauwerke, umgeben von einem Wall aus hölzernen Palisaden. Exakt die Hälfte der Anlage lag innerhalb des Waldes, der andere Halbkreis außerhalb. So war stets sichergestellt, dass der Kontakt zu den Bauern und Fischern der Insel nicht abriss, die regelmäßig zur vorderen Pforte kamen, um ihre Waren abzuliefern, aber es nur selten wagten, einen Fuß über die Baumgrenze zu setzen.

Bevor die Druiden das abgelegene Eiland als ihren Zufluchtsort auserkoren hatten, war es ausschließlich von Buschwerk überwuchert gewesen. Doch Adair, Drostan und andere mächtige Magier hatten es geschafft, dass innerhalb kürzester Zeit ein Wald gewachsen war. »Sterninsel« nannten sie ihre neue Bleibe, da die zahlreichen Buchten dem Land die Form eines strahlenden Himmelsgestirns verliehen.

In düsteres Schweigen und seine immer noch nasse Kutte gehüllt, lenkte Mylo den Wagen zum Stall, wo er den mittlerweile recht schweigsamen Broc anwies, das Maultier zu versorgen. Er selbst machte sich auf zur Halle des Zwielichts, die genau in der Mitte des Häuserkreises aufragte. Sie war ein kolossales Bauwerk, das von zwölf mächtigen Eichenbalken gestützt wurde, in welche die Symbole des Jahreskreises eingeschnitzt waren. Diese standen gleichermaßen für die zwölf auserwählten Priester des Großmeisters: sechs Dorchas in schwarzen Gewändern und sechs Geals mit weißer Kleidung. Adair selbst stammte aus letzterem Lager, doch aus Respekt vor den Dienern des Mondes trug er stets eine schwarze Schärpe über seiner Kutte, in die mit hellen Fäden die Zeichen der Druiden gestickt waren: Sonne und Mond. Sie prangten zudem auf dem dreizehnten Balken, der aus einem hundertjährigen Stamm gehauen worden war und die Spitze des Strohdaches in Richtung des Himmels hob.

Als Mylo eintrat, befand sich der Großmeister in innerer Einkehr. Unbewegt saß er auf der Plattform aus geschliffenem Feldstein, die den Mittelbalken umgab, die Augen geschlossen, eine Hand an seinem Druidenstab, die andere auf das angewinkelte Knie gelegt. Kein Muskel seines Körpers zuckte, selbst sein Atmen war so verzögert, dass es den Anschein hatte, er wäre dabei, langsam in die Anderwelt hinüberzugleiten. Neben ihm brannten mehrere Feuerschalen, und davor standen zwei Wachen, ein Geal und ein Dorcha, bewaffnet mit langen Eisenspeeren.

»Der Meister befindet sich in Trance. Störe ihn nicht!«, knurrte der schwarz gewandete Dorcha und hielt Mylo eine flache Hand entgegen, die ihn zum Stehenbleiben aufforderte.

Ungeduldig verharrte der junge Anwärter in einigen Schritten Entfernung. »Ich bringe eine Botschaft von äußerster Dringlichkeit. Die Wesen des Waldes werden zunehmend unkontrollierbar.«

Der Dorcha legte die Stirn in Falten. »Das ist dein Problem. Die Magie des Großmeisters ist zu wertvoll, um sie an einen unfähigen Wildhüter wie dich zu verschwenden. Such dir einen Gleichgestellten, der dir bei der Pflege der Bestien beisteht.«

»Es gibt aber keine Gleichgestellten mehr!«, zischte Mylo, wütend über ein derartiges Maß an Ignoranz. »Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Der vorletzte Anwärter hat die Feste vor einer Woche verlassen. Ich bin der einzige, der noch hier ist, um die Drecksarbeit zu erledigen. Und bald werdet ihr auch auf mich verzichten müssen!«

Der Dorcha verstand ihn eindeutig falsch, denn er kniff wütend die Augen zusammen und richtete seinen Speer auf Mylos Brust. »Du willst die Gemeinschaft der Druiden verraten und feige dein Heil in der Flucht suchen?«

»Was gäbe ich darum, wenn das noch helfen würde!«, brummte Mylo.

Diese Aussage schien den Dorcha zu irritieren, denn er klappte den Mund auf und dann wieder zu. Seine Hände umklammerten weiterhin den Speer.

»Wie meinst du das?«, schaltete sich der andere Wachmann ein. Wie üblich für einen Geal fiel ihm das Haar offen über die Schultern, was ihm den Anschein eines Gelehrten verlieh, während die Dorchas sich stets einen Kriegerzopf flochten, der ihnen im Falle eines Kampfes nicht im Wege war.

»Zusammengefasst könnte man sagen: Die Redcaps sind aggressiver denn je, die Baobhan-Siths wollten mich verführen, und die Banshee hat mein Totenhemd gewaschen. Außerdem treibt ein Brollachan in der Mitte des Waldes sein Unwesen und versucht, Menschen zum Nuckelavee zu locken.«

Der Geal sog scharf die Luft ein. Er tauschte einen kurzen Blick mit dem anderen Druiden, doch der schüttelte nur den Kopf. »Dieser Wildhüter ist nicht sehr begabt«, urteilte er mit eiskalter Miene.

Unsägliche Wut machte sich in Mylo breit. Jeder in der Dämmerfeste wusste, dass er selbst danach strebte, dereinst ein schwarzes Gewand anzulegen. Die Stärke und Wehrhaftigkeit der Dorchas beeindruckten ihn, ebenso ihr Mut und der unbedingte Wille, auch die grauenvollste Bestie zu besiegen. Doch zum ersten Mal wünschte er sich, sie wären zudem mit einer Portion Einfühlungsvermögen ausgestattet.

Der weiße Krieger aber schien Mitleid zu verspüren oder zumindest die Dringlichkeit des Anliegens zu begreifen, denn er lenkte ein. »Ich werde Großmeister Adairs Geist zurückrufen!«, beschloss er, was sein dunkler Kumpan mit einem missmutigen Brummen kommentierte.

Andächtig schloss der Geal die Lider, murmelte Beschwörungsformeln vor sich hin und hieb dreimal in Folge mit seinem Speer auf den Lehmboden.

Einen Herzschlag lang geschah gar nichts, dann flatterten Adairs Lider, und er schlug die Augen auf.

Mylo wusste nicht, wie lange der Großmeister in seiner Entrückung verharrt hatte, doch entgegen allen Erwartungen war dessen Blick sofort klar, sein Verstand so scharf wie die Umrisse von Sonne und Mond auf seiner Stirn. Er benötigte keinen Moment des Erwachens, sondern wandte sich gleich an den jungen Anwärter, der mit gesenktem Haupt vor ihm stand: »Mylo. Du wirkst aufgewühlt. Was hat dich aus deinem inneren Gleichgewicht gebracht?«

»Nun, wenn Ihr so fragt: mein bevorstehender Tod.«

»Jeder Tod ist nur ein Übergang in ein neues Dasein«, antwortete der Großmeister. »Wer ihn herannahen sieht, sollte seiner Seele Raum geben, damit sie ihre Schwingen entfalten und zu den Göttern fliegen kann.«

»Ich würde lieber noch eine Weile auf dem Boden der diesseitigen Welt verharren«, gab Mylo zu. Er nahm einen tiefen Atemzug, ehe er in allen Einzelheiten von den Geschehnissen im Wald berichtete.

Der Großmeister lauschte seiner Erzählung mit unbewegtem Gesicht, ohne die hohe Stirn in Falten zu legen oder den schlohweißen Bart zu zwirbeln. Erst als die Rede auf den Nuckelavee kam, hob er seine Augenbrauen. »Du hast gut daran getan, diesem Ratschlag nicht zu folgen. Ich werde Jäger ausschicken, um den Brollachan zu fangen. Er muss ausgetrieben und in einen Eisenkäfig gebannt werden. Die Vampirinnen erhalten eine Strafe. Die Zusammenkunft der Meister wird über ihr Schicksal entscheiden – ebenso wie über das der Banshee.«

»Und was wird mit mir geschehen?«, hakte Mylo nach, denn diese Frage interessierte ihn weitaus mehr als das Schicksal der Monster.