Die Talente: Alle Bände der mitreißend romantischen Serie in einer E-Box! (Die Talente-Reihe) - Mira Valentin - E-Book
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Die Talente: Alle Bände der mitreißend romantischen Serie in einer E-Box! (Die Talente-Reihe) E-Book

Mira Valentin

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Beschreibung

Wenn sich die schönsten aller Wesen unter uns mischen, darfst du deinem Herz nicht mehr trauen … "Besser kann man ein Buch gar nicht schreiben!" (Leserstimme auf Amazon) Mira Valentin katapultiert ihre Leser*innen in eine Geschichte, deren Sog man sich absolut nicht entziehen kann. Tauch ein in eine Welt voller Geheimnisse, außergewöhnlicher Figuren und romantischer Verwicklungen. Dieser Sammelband enthält alle Bände der mitreißend romantischen "Talente"-Erfolgsserie: "Das Geheimnis der Talente (Die Talente-Reihe 1)" **Traue niemandem, der dich küssen will** Melek ist alles andere als ungewöhnlich. Sie lebt in einer Kleinstadt, schreibt mittelmäßige Noten und hat nur einen einzigen Freund. Oder auch gar keinen, wenn man bedenkt, dass er lieber mehr als nur eine Freundschaft mit ihr hätte. Doch dann wird sie von den "Talenten" entdeckt, einer Gruppe Jugendlicher mit übernatürlichen Fähigkeiten, die ihr offenbaren, dass sie eine versteckte Begabung in sich trägt. Von einem Tag auf den anderen wird Melek in ein gefährliches Doppelleben verstrickt und muss einem strengen Regelwerk folgen, dessen oberstes Gesetz lautet: Küsse niemanden, wenn dir dein Leben lieb ist. Dass der gutaussehende Anführer der Talente ausgerechnet den charismatischsten Mann darstellt, dem Melek je begegnet ist, macht diese Regel dabei nicht gerade einfacher …   "Das Bündnis der Talente (Die Talente-Reihe 2)" **Die verführerischsten Wesen sind oftmals die gefährlichsten …** Melek ist schon lange kein gewöhnliches Mädchen mehr. Bis eben noch eine Außenseiterin, steckt sie nun in einer Armee, deren Bündnis die Menschheit zusammenhält. Jede ihrer Entscheidungen beeinflusst den Lauf der Welt, jedes ihrer Gefühle kann sie zerrütten. Doch auch die anderen Talente haben es nicht leicht. Sie opfern ihr Leben für das Wohlergehen anderer, kämpfen bis zur Erschöpfung und trainieren bis zum Morgengrauen. Sie müssen gegen jegliche Gefahr gewappnet sein. Vor allem, wenn die Dschinn aus ihrem Winterschlaf wiederkehren und Melek auf eine harte Probe gestellt wird: Denn mit den Dschinn kommt auch ihr verführerischster Feind zurück …   "Der Krieg der Talente (Die Talente-Reihe 3)" **Im Gegensatz zum Verstand kann das Herz nicht überlistet werden ...** Melek hat die Menschenwelt hinter sich gelassen und ist zu einer der Anderen geworden. Endlich ist es ihr erlaubt, der Sehnsucht nach ihrem verführerischsten Feind zu folgen und vollends in ihrer Leidenschaft für ihn aufzugehen. Aber ihr Verschwinden lässt den großen Endkampf zwischen den Talenten und Faunen mit großen Schritten näherkommen. Für Jakob und seine Truppe ist es unvorstellbar, ihr ehemaliges Mitglied derart ausgeliefert zu wissen. Für sie steht fest, dass Melek sich ein für alle Mal entscheiden muss, für wen ihr Herz wirklich schlägt. Denn ihre Liebe ist der Schlüssel zu allem …   //Diese Reihe enthält noch einen Prequel und ist ansonsten abgeschlossen.//

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Seitenzahl: 2416

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Impress Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH © der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2020 Text © Mira Valentin, 2015, 2016, 2017 Coverbild: shutterstock.com / © andreiuc88 / © CURAphotography / © anetta / © Olha Tsiplyar / © Ollyy / © kiuikson / © Matva Covergestaltung: formlabor Gestaltung E-Book-Template: Gunta Lauck / Derya Yildirim Satz und E-Book-Umsetzung: readbox publishing, Dortmund ISBN 978-3-646-60688-1www.carlsen.de

Mira Valentin

Das Geheimnis der Talente

**Traue niemandem, der dich küssen will** Melek ist alles andere als ungewöhnlich. Sie lebt in einer Kleinstadt, schreibt mittelmäßige Noten und hat nur einen einzigen Freund. Oder auch gar keinen, wenn man bedenkt, dass er lieber mehr als nur eine Freundschaft mit ihr hätte. Doch dann wird sie von den »Talenten« entdeckt, einer Gruppe Jugendlicher mit übernatürlichen Fähigkeiten, die ihr offenbaren, dass sie eine versteckte Begabung in sich trägt. Von einem Tag auf den anderen wird Melek in ein gefährliches Doppelleben verstrickt und muss einem strengen Regelwerk folgen, dessen oberstes Gesetz lautet: Küsse niemanden, wenn dir dein Leben lieb ist. Dass der gutaussehende Anführer der Talente ausgerechnet den charismatischsten Mann darstellt, dem Melek je begegnet ist, macht diese Regel dabei nicht gerade einfacher …

© Kathi Fink

Mira Valentin arbeitet hauptberuflich als Journalistin für Jugend- Frauen- und Pferdezeitschriften. Hoch zu Ross, mit Laufschuhen oder Fahrrad streift sie regelmäßig durch die ausgedehnten Wälder des Hessischen Hinterlands. Hier, zwischen mystischen Quellen und imposanten Steinbrüchen, kam ihr die Idee für »Das Geheimnis der Talente«. Seither sieht sie ständig Dschinn in den Baumkronen sitzen und kann kein Dorffest mehr feiern ohne sich zu fragen, welches arme Opfer heute wohl ausgesaugt wird.

Für meine Mutter

Prolog

Wenn man wählen kann zwischen tröstlicher Unwissenheit und beängstigendem Wissen, dann sollte man sich für das Wissen entscheiden. Ich habe immer gespürt, dass mein Leben auf einen Punkt zusteuert, an dem ich diese Entscheidung treffen muss. Da war seit jeher diese seltsame Ungereimtheit zwischen mir und der Welt. Diese Ahnung, dass hier viel mehr läuft, als in der Zeitung steht. Nun weiß ich, was es ist. Ich bereue meine Entscheidung nicht. Auch wenn das Wissen eine Bürde ist. Genau wie die Verantwortung. Beides trage ich wie meine Waffen: schweigend und mit Stolz. Bis zu dem Tag, an dem es zu Ende geht. So oder so. Einen anderen Weg gibt es nicht.

Das Schicksal trifft dich niemals aus Versehen

Der Tag, an dem sie mich finden, ist ein Freitag. Es ist Spätsommer, doch heute strahlt die Sonne vom Himmel, als hätte sie eine Wette gegen den Herbst zu verlieren. Ich habe acht unendlich lange Schulstunden hinter mir und spiele mit dem Gedanken, das Basketballtraining in der düsteren Halle sausen zu lassen. Alle anderen Mädchen liegen wahrscheinlich längst in ihren Bikinis auf der Präsentierwiese im Freibad und lassen sich ein letztes Mal die Bäuche bräunen. Sie reden über Haarfarben, attraktive Lehrer, angesagte Filme und wahrscheinlich über mich. Ich beneide sie nur um die Sonne. Alles andere, was Mädchen in meinem Alter gemeinhin mögen, stößt mich ab. Am meisten verabscheue ich das aufgesetzte Flirten mit den Jungs, das die anderen so perfekt beherrschen. Aber vielleicht stimmt auch, was Jana über mich sagt, nämlich, dass ich keinen Sinn für Lifestyle habe. Und für Style schon gar nicht. Ich trage fast jeden Tag bequeme Bluejeans, binde mir die langen dunklen Haare zum Pferdeschwanz und halte mich konsequent von Einrichtungen fern, die dauerhafte Haarentfernung und Wimpernverlängerungen anbieten. Nie möchte ich so enden wie Jana, die durch einen Dschungel aus Synthetikwimpern blinzelt und das Ganze auch noch mit Floskeln wie »garantiert schöne Augenblicke!« untermauert.

Noch zwei Jahre am Gymnasium und ich bin sie los: die zickigen Mädchen und die oberflächlichen Jungs. Womit ich mein Leben stattdessen füllen werde, weiß ich allerdings nicht. Basketball wird keine realistische Lösung sein. Zumindest nicht nach dem heutigen Tag, wenn der einzige Talentsucher, der jemals eine hessische Kleinstadt betreten hat, zurück nach Frankfurt fährt, ohne sich meinen Namen gemerkt zu haben.

Vielleicht ist es besser, mich dieser albtraumhaften Eliteauswahl überhaupt nicht zu stellen. Noch habe ich die Gelegenheit zu verschwinden. Überall in der Sonne wird es besser sein als in der muffigen Turnhalle. Selbst im Freibad.

In dem Moment höre ich Paul, meinen Trainer, aus dem Eingangsbereich der Halle brüllen. »Melek!«, bellt er. »Schwing auf der Stelle deinen Hintern hier rein!«

Damit ist meine Bedenkzeit vorüber. Wenn Paul mich erst einmal gesehen hat, gibt es kein Zurück mehr. Er ist ein unbarmherziger Schinder und ein fieser, sexistischer Mistkerl. Mein einziger Trost ist, dass ich ganze zwei Zentimeter größer bin als er: 1,82 Meter. Und ich bin erst sechzehn. Wenn ich mich nur genug anstrenge, kann ich ihm vielleicht eines Tages auf den Kopf spucken.

Die Mädchen-Umkleide ist schon leergefegt, als ich meine Sporttasche mit Schwung auf die erste freie Bank werfe. Ich bin die Einzige, die an diesem Tag nicht vor lauter Aufregung eine halbe Stunde früher gekommen ist. Alle anderen laufen sich längst warm oder werfen ihre ersten Körbe. Selbst in diesem Team aus acht unkomplizierten, sportlichen Mädchen schaffe ich es eine Außenseiterin zu sein. Man sollte glauben, hier würde es mir leichter fallen, etwas mehr aus mir herauszugehen. Immerhin gibt es in der kompletten Mannschaft nicht einen einzigen künstlichen Fingernagel. Es schaut mich auch niemand schief an. Und trotzdem schaffe ich es nicht ein Teil des großen Ganzen zu werden. Ich bin wie eine Glasmurmel, die jemand in einen Kuchenteig geworfen hat – immer voll dabei und doch deutlich als Fremdkörper zu erkennen. Deshalb spiele ich auch in der Center-Position. Ich habe keine Probleme damit, meine Gegner körperlich abzudrängen. Und ich treffe fast aus jeder Distanz. Als Center mache ich mein eigenes Ding und werde am Ende noch dafür belohnt und von meinen Mitspielerinnen hochgejubelt. Sie und ich. Ich und sie. Das ist unser Team.

»Melek, verdammt!«

»Ich komme!«

Als ich die Turnhalle betrete, spüre ich sofort die angespannte Stimmung. Sie liegt in der Luft wie eine miefige Dunstglocke. Alle hoffen, dass der heutige Tag ihr Leben verändern wird, so unrealistisch der Gedanke auch sein mag. Sogar Paul verbreitet diese schrecklich kindische Unruhe. »Langsamer ging’s wohl nicht? Wärm dich auf«, brummt er in meine Richtung.

Ich habe keine Ahnung, wie viele Frauen in Deutschland hauptberuflich Basketball spielen. Aber viele können es nicht sein. Und diejenigen, die es doch tun, leben wahrscheinlich in langweiligen Reihenhäusern, fahren Mittelklassewagen und jobben nebenher im Sportgeschäft. Vielleicht ist das der Traum von Amelie und Emma, unseren beiden Guards. Ich aber will mehr vom Leben. Oder weniger. Aber auf keinen Fall ein kleinbürgerliches Spießerleben wie meine Eltern. Während ich meine Runden entlang der Halle laufe, stelle ich mir vor, wie Amelie und Emma die Vorgärten ihrer Häuschen mit Primeln bepflanzen und abends vor dem Fernseher Yoga-Übungen machen. Wahrscheinlich ist das ihr großer Traum, aber mir nimmt diese Vorstellung nur die Luft. Vielleicht wählt der Scout die beiden heute aus. Sie hätten es verdient. Ich habe keine von ihnen je ein Foul spielen sehen und mit mir, dem chronisch maulfaulen Center, haben sie immer viel zu viel Verständnis. Soll der Scout sie doch glücklich machen und ihnen den Weg zu dem Mittelklasse-Leben ebnen, von dem sie insgeheim träumen.

»Na, was denkst du?«, fragt Amelie mich, die plötzlich neben mir joggt. »Werden wir heute berühmt oder nicht?«

Sie weiß genau, dass ich von selbst kein Gespräch anfange. Deshalb tut sie mir den Gefallen und läuft ein zweites Mal ihre Runden.

»Ich habe gerade daran gedacht, dass es dich treffen sollte«, sage ich. »Dich und Emma. Ihr hättet es am meisten verdient.«

»Sei nicht albern«, sagt sie, leicht beschämt. »Die ganze Mannschaft hätte es verdient. Aber es ist wahrscheinlich ziemlich ausgeschlossen, oder? Ich meine, selbst wenn jemand genug Talent hätte … wie soll das gehen? Wir müssten hundert Kilometer umziehen, um für die Rhein-Main Baskets zu spielen. Meine Eltern würden das niemals erlauben.«

»Stimmt«, sage ich. »So etwas tun Eltern nur für ihre Söhne. Und für Fußball.«

Amelie lacht. Wir joggen noch fünf Runden weiter, ohne ein Wort zu reden.

***

Den Talentscout renne ich dann um ein Haar über den Haufen. Ohne Vorwarnung kommt er plötzlich aus der Jungen-Umkleide, anstatt durch den offiziellen Eingang. Amelie sieht ihn ebenso wenig kommen wie ich und bietet mir keine Möglichkeit, nach innen auszuweichen. Ich pralle mit meiner linken Schulter gegen seine rechte und gerate durch die unerwartet harte Gegenwehr selber ins Straucheln. Reflexartig versteift sich der Körper des Scouts, sein rechter Arm saust hoch und blockt mich ab wie ein angreifendes Tier. Erst einen Sekundenbruchteil später ändert sich seine Reaktion grundlegend. Der Blick seiner stechend blauen Augen wird sanfter, sein Arm greift nach meinem rudernden Ellbogen und zieht mich hoch.

»Hoppla«, sagt er. »Entschuldige.«

Ich bin viel zu perplex, um etwas Schlaues zu erwidern.

»Kein … Problem«, nuschle ich und entziehe ihm meinen Arm. »Ich … lauf dann mal weiter.«

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie der Scout mir noch eine ganze Weile hinterhersieht, bevor er sich Paul zuwendet, der mit großen Schritten auf ihn zuläuft und sich wahrscheinlich für seine tollpatschige Spielerin entschuldigen will. Mein Kopf ist von dem Zusammenstoß noch leicht benommen. Der Scout sieht aus, als wäre er einem Plakat für Zigarettenwerbung entsprungen. Er ist sehr groß und schlank, vielleicht Anfang zwanzig, hat halblanges rötlichbraunes Haar, einen Dreitagebart und dichte Augenbrauen, die über der Nase in eine besorgt wirkende Falte münden. Nach der Härte meines Aufpralls zu urteilen geht er ins Fitnessstudio.

»Hast du dir wehgetan?« fragt Amelie besorgt.

»Nein, überhaupt nicht.«

»Ein seltsamer Typ«, sagt sie, mehr zu sich selbst. »Mir wird kalt bei seinem Anblick.«

Ich antworte nichts darauf, wundere mich aber einmal mehr darüber, wie unterschiedlich meine Schulfreundinnen und ich die Welt wahrnehmen. Auch ich finde den Scout irgendwie unheimlich, doch auf mich hat das eine ganz andere Wirkung: Ich will plötzlich alles daransetzen, ihn zu beeindrucken. Und ich glaube, das kann ich auch.

Paul lässt uns das übliche Training durchlaufen. Wir absolvieren unsere Dribblingübungen einigermaßen zufriedenstellend, spielen uns Pässe zu und machen ein paar Freiwürfe. Wer den Ball nicht in den Korb trifft, muss einen Sprint bis zum Ende der Halle und wieder zurück hinlegen. Amelie und Emma werfen je zwei Mal daneben. Ihre Stärke ist die Abwehr, nicht der Angriff. Ich treffe immer. Für mich ist es ganz leicht. Warum das so ist, weiß ich nicht. Mein Vater behauptet, meine Mutter hätte in der Schwangerschaft Zielwasser getrunken. Einer seiner vielen dummen Sprüche, aber bisher die einzige Erklärung für meine Treffsicherheit. Scheinbar fällt es auch dem Talentscout auf. Er redet eine ganze Weile mit Paul, ohne mich aus den Augen zu lassen. Dann winkt er mich zu sich.

Meine Knie sind ein bisschen wackelig, als ich zu ihm hinübergehe.

»Hallo noch mal«, sagt er grinsend und streckt mir die Hand entgegen. »Ich bin Jakob Seifert von den Rhein-Main Baskets. Wie heißt du?«

»Melek Weber.«

»Melek?« Seine besorgten Augenbrauen tanzen für einen Moment amüsiert nach oben. »Das heißt ›Engel‹, nicht wahr?«

Ich nicke, obwohl ich nicht weiß, was ihn daran so erheitert.

»Bist du Türkin?«

»Meine Mutter.«

Seine Augen sind so eisblau, dass ich ihren Blick am liebsten abschütteln würde. Aber gleichzeitig bin ich vollkommen fasziniert davon. Er verschränkt die Arme vor der Brust und taxiert mich wie eine Ware auf dem Jahrmarkt. Mir fällt auf, dass er mindestens zehn Zentimeter größer ist als ich. Das muss erst mal jemand schaffen.

»Und du triffst immer?«, fragt er ohne eine Spur von Zweifel in der Stimme.

»Ich glaube, ja«, sage ich.

»Nur mit Bällen oder auch mit anderen Wurfgeräten?«

Ich zucke die Schultern. So genau weiß ich das nämlich selber nicht.

»Mit den meisten Bällen funktioniert es. Alles andere müsste man wohl testen. Speerwerfen und Bogenschießen hab ich noch nicht probiert.«

Das sollte witzig sein, aber Jakob verzieht nicht einmal die Mundwinkel.

»Für welche Entfernung gilt das?«, will er stattdessen wissen.

Ich komme mir allmählich dumm vor, denn ich kann all seine Fragen nicht beantworten. Diese Begabung mit der Wurfgenauigkeit habe ich immer als Tatsache angesehen und nie hinterfragt. Es war auch völlig egal, solange ich beim Basketball die Körbe getroffen habe.

Jakob greift in seine Jackentasche und zieht einen kleinen, mit Reis gefüllten Lederball hervor. Hat er den zufällig dabei?

»Hier«, sagt er und drückt ihn mir in die Hand. Dann zeigt er an die Decke der Turnhalle, genau auf die hochgezogenen Turn-Ringe in der Mitte.

»Wirf durch den rechten Ring!«

Ich höre, wie Paul neben mir scharf die Luft einzieht. Er hält es für unmöglich, so genau zu treffen. Und dann auch noch in dieser Höhe. Außerdem hat Jakob nicht gesagt, ich solle auf den Ring werfen, sondern durch ihn hindurch. Keine klassische Aufgabe für jemanden, dessen Talent man gerade erst kennenlernt.

»Du willst es ja gleich richtig wissen«, murmele ich und fange mir dafür einen hoch verärgerten Blick von Paul ein.

Ich weiß, dass ich den Ring treffen kann. Aber mir ist auch bewusst, dass die Höhe mich an meine Grenzen bringt. Es ist keine Frage des Zielens, sondern eine Frage der Kraft. Jakob beobachtet mich ganz genau, wie ich aushole und werfe. Was dabei in meinem Gehirn passiert, ist eine Sache von Millisekunden. Während ich mich auf das Ziel konzentriere, werde ich eins mit ihm. Der Ring und die Flugbahn des Balls verbinden sich wie durch ein unsichtbares Band mit meiner Wurfhand. Wenn ich loslasse, habe ich das Gefühl, als würde ich den Ball ganz sachte direkt ins Ziel hineinlegen.

Das Geschoss zischt durch die Luft und trifft mitten durch den rechten Ring.

»Wow, Wahnsinn!«, brüllt Paul und schlägt mir seine Pranke auf die Schulter. Ich fühle eine kribbelnde Genugtuung in meiner Brust.

Jakob starrt mich immer noch an. Er hat nicht einmal den Weg des Balls beobachtet. Er wusste, dass ich treffen würde. Worum es ihm stattdessen ging, ist mir nicht ganz klar. Vielleicht hat er nur gehofft, in meiner Miene einen Hinweis darauf zu finden, wie mein Talent funktioniert.

»Schön«, sagt er und drückt mir wieder den Basketball in die Hand. »Und jetzt, Engelchen, zeig mir noch einen Dunking.«

Erst als das Schweigen zwischen uns störend wird, begreife ich, was er da gesagt hat. »Engelchen«! Jedem anderen würde ich jetzt einen Vortrag über Sexismus halten, aber dieser seltsame Typ mit dem stechenden Blick … der darf das irgendwie. Nur warum empfinde ich so? Ich bin derart irritiert von mir selbst, dass ich die Sache mit dem Dunking fast vergesse. Seiner ungläubigen Miene nach zu urteilen, geht es Paul ganz anders.

»Einen Dunking?«, fragt er dümmlich. »Sie kann keinen Dunking. Genauso wenig wie jede andere Spielerin von euch, oder? Wie viele Frauen gibt es überhaupt, die das geschafft haben? Drei oder vier? Und die waren alle über zwei Meter groß.«

Ich bin also einfach zu klein. Das höre ich zum ersten Mal in meinem Leben und es klingt selbst in dieser Situation ziemlich ulkig. Noch seltsamer ist allerdings die Aufforderung des Scouts. Er muss doch wissen, dass ich nie und nimmer bis an den Korbrand springen kann.

»Es gibt Männer, die dunken mit einem Meter fünfundsiebzig«, sagt Jakob. »Das liegt nicht unbedingt am Geschlecht, sondern am Ehrgeiz und am Arbeitswillen. Du musst noch an deiner Sprungkraft arbeiten. Ich schicke dich ins Fitnessstudio, Melek. Tu was für deine Muskulatur und dann sehen wir weiter.«

Wieder fasst er in seine Jackentasche und diesmal zieht er die Visitenkarte des einzigen Fitnessstudios in Biedenkopf heraus. Darauf steht in einer geschwungenen Handschrift der Name »Albert Klingelhöfer« und ein Termin: »Samstag, zehn Uhr.«

»Das ist morgen«, sage ich unsinnigerweise.

»Wirst du da sein?«, fragt er und ich bilde mir ein, so etwas wie eine Bitte in seinen Eisaugen zu sehen, was natürlich unmöglich ist. Trotzdem klammere ich mich an die pure Vorstellung davon. Ich sage Ja.

***

Nachdem er verschwunden ist, belagern mich die anderen Mädchen wie eine Horde wilder Affen. An Training ist nicht mehr zu denken.

»Was war das denn?«, kreischt Emma mit ihrer Sopran-Stimme. »Wie hast du nur diesen Ring getroffen?«

»Gehst du jetzt zu den Baskets?«, fragt Amelie fast ein bisschen wehmütig.

»Hat er erwähnt, ob er 'ne Freundin hat?«, will Katja grinsend wissen.

Alle kichern aufgeregt, bis Paul ein Machtwort spricht.

»Es wurde noch nichts Konkretes vereinbart«, sagt er förmlich. »Offiziell soll Melek erst mal ihre Sprungkraft trainieren.« Dann fügt er etwas leiser in meine Richtung hinzu: »Aber wahrscheinlich hat er bloß keinen Bock auf eine mürrische Spielerin, die seine Fragen nicht beantworten kann und ihn einfach mit Du anredet.«

Ich zucke mit den Achseln. Die Einladung von dem Profi-Verein ist mir nach wie vor fast egal, aber es würde arrogant klingen, das laut auszusprechen. Was mich reizt, ist das Geheimnisvolle und Herausfordernde an dieser Begegnung. Ich hätte hundert Fragen stellen müssen, bevor ich dem Termin im Fitnessstudio zugestimmt habe. Was erwartet mich da? Und wie geht es dann weiter? Wer bezahlt das alles? Und wann sehen wir uns wieder?

Ich habe keine gestellt, weil nichts davon von Bedeutung ist. Und weil ich glaube, alle Antworten garantiert zum rechten Zeitpunkt zu bekommen, was auch immer mich zu dieser Annahme verleitet. Aber das kann ich meinen Teamkolleginnen natürlich nicht sagen.

In der Umkleide lasse ich mir heute länger Zeit als üblich. Ich verschwinde unter der Dusche, bevor die anderen mich mit ihren Fragen bombardieren können, und bleibe so lange darunter stehen, bis auch die Letzte die Kabine verlassen hat. Als ich meine Sachen packe, hoffe ich inständig, dass mich keines der Mädchen vor der Turnhalle abpasst. Ich habe Glück: Die anderen steigen gerade in den Bus, den ich eigentlich auch erwischen wollte. Also werde ich wohl eine Stunde auf den nächsten warten.

Erst als sich jemand einen Meter neben mir räuspert, bemerke ich, dass ich nicht allein bin. Da steht Erik, lässig an einen Baum gelehnt, die Hände in den Hosentaschen.

»Hallo Melek«, sagt er. »Wie war’s?«

Erik Sommer ist seit mindestens zwei Jahren mein wandelnder Schatten. Die gesamte Schule zerreißt sich das Maul darüber, aber ihm scheint das nichts auszumachen. Er folgt mir in den Pausen, setzt sich bei Theaterfahrten im Bus neben mich und macht sogar blau, wenn ich eine Freistunde habe. Ich habe keine Ahnung, warum er das tut, denn er hat niemals versucht, mich zu küssen oder erkennbar mit mir zu flirten. Deshalb habe ich auch keinen Grund, ihn zur Rede zu stellen oder wegzuschicken. Wir könnten so etwas sein wie beste Freunde, wenn ich nicht so genau wüsste, dass wir etwas anderes, viel Komplizierteres sind.

Erik ist eigentlich kein übler Typ. Er ist etwa so groß wie ich, aber sehr viel breitschultriger und gedrungener. Er hat eine nette Art, sich die blonden Strähnen aus dem Gesicht zu schnippen, und kann einem immer das richtige Hustenmittel empfehlen, weil sein Vater Apotheker ist. Aber grundsätzlich wäre es mir lieber, wenn er sich nicht ständig an mich dranhängen würde. Das hat er nicht mal nötig. Im Gegensatz zu mir ist er ziemlich beliebt. Keine meiner Klassenkameradinnen würde ihn von der Bettkante schubsen. Warum er ausgerechnet meine Nähe sucht, ist mir ein Rätsel.

»Erik«, sage ich. »Was machst du denn hier? Gibt’s im Freibad keine Karten mehr?«

Anstatt darüber hinwegzusehen, dass ich seine Frage nicht beantwortet habe, stellt er sie einfach noch mal.

»Lenk nicht vom Thema ab, sondern erzähl schon, wie es war.«

Ich gebe es auf ihn abwimmeln zu wollen, weil ich weiß, dass es ohnehin nicht funktioniert.

»Ich muss eine Stunde auf den nächsten Bus warten. Lass uns ein Eis essen gehen, dann erzähl ich’s dir.«

Den ganzen Weg zum Marktplatz klebt Erik ziemlich exakt im Abstand von einem halben Meter an mir. Das ist weit genug weg, um keine Abfuhr zu kassieren, aber nahe genug dran, um möglichen entgegenkommenden Mitschülern zu suggerieren, dass wir nicht auf der Suche nach Gesellschaft sind. Er macht das ziemlich geschickt, finde ich.

In den zwei Jahren, die er bereits hinter mir herläuft, hat Erik mich recht gut kennengelernt. Er weiß, dass ich die Prolo-Eisdiele der In-Eisdiele vorziehe. Ich sitze lieber neben den Hartz-IV-Empfängern als neben Jana und ihrer frisch manikürten Clique. Er steuert also gleich das richtige Haus an und rückt mir sogar den Stuhl an meinem Lieblingstisch zurecht. Ich seufze innerlich, denn ich hätte gern einen Bruder oder einen guten Freund, der solche Sachen macht. Aber bei Erik bin ich mir nie ganz sicher, was das wirklich zwischen uns ist.

Wir bestellen jeder einen Spaghettieis-Becher. Ich, weil ich einfallslos bin, und Erik, weil er so tut, als wäre er mir ähnlich. Dann kann er nicht mehr länger warten.

»Nun schieß schon los!«, sagt er.

»Also gut. Du weißt, dass heute ein Talentsucher bei uns war?«

Er nickt.

»Er hat mich zu sich gerufen und wollte sehen, ob ich mit einem Jonglierball durch die Ringe an der Decke der Turnhalle schießen kann.«

Erik zieht die Augenbrauen hoch.

»Und? Kannst du?«

»Sieht ganz so aus.« Ich kann nicht verhindern, dass etwas Stolz in meiner Stimme mitschwingt. »Allerdings schaffe ich keinen Dunking. Ich habe es nicht einmal probiert. Und deshalb hat er mich auch nicht gleich verpflichtet, sondern will, dass ich stattdessen erst mal ins Fitnessstudio gehe.«

Etwas ungläubig runzelt Erik die Stirn. »Solltest du so was können? Einen Dunking, meine ich?«, fragt er.

»Das ist es ja gerade. Es gibt praktisch keine Frauen, die einen Dunk zustande bringen. Meiner Meinung nach nicht einmal in der Bundesliga. Ich war nach meinem Wurf durch den Ring eigentlich davon überzeugt, dass ich ihn ziemlich beeindruckt hätte. Aber dann hat er mit dieser Dunking-Sache alles zunichte gemacht.«

Als ich das ausspreche, merke ich wieder einmal, dass die Sache tatsächlich ganz schön seltsam ist. Erik geht es genauso.

»Das ist Irrsinn«, sagt er.

»Na ja, aber er hat mir eine Visitenkarte gegeben.«

Ich fummele in der Sporttasche zwischen meinen Beinen auf dem Boden herum und kann es nicht verhindern, dabei mit meinem Knie das von Erik zu berühren. Er sitzt schon wieder im 50-Zentimeter-Abstand. Zum Glück finde ich die Karte ziemlich schnell.

»Hier!« Ich halte sie ihm hin. »Morgen, zehn Uhr im Easyfit.«

»Albert Klingelhöfer«, sinniert Erik und legt die Stirn in Falten. »Ach ja, ein Typ mittleren Alters, der zwei Mal in der Woche die Talentschmiede macht. Das ist ein geschlossener Kurs. Ich hab nie verstanden, wer da mitmachen darf.«

Erst jetzt fällt mir wieder ein, dass Erik regelmäßig in dieses Fitnessstudio geht. Irgendwo müssen die breiten Schultern ja herkommen. Ich neige dazu, detailliertere Informationen über ihn zu vergessen. Das spricht nicht gerade für mich, aber ich will mich nicht zwanghaft für jemanden interessieren, nur weil er sich mir aufdrängt.

»Nun, ich jedenfalls bin fortan wohl eingeladen. Weißt du etwas über die Leute in diesem Kurs?« frage ich.

Er schüttelt den Kopf.

»Nein, keine Ahnung. Sie sehen alle ein bisschen seltsam aus und sind körperlich ziemlich fit. Aber ich habe noch nie ein Wort mit einem von denen gesprochen. Sie sind irgendwie gruselig.«

In dem Moment wird unser Spaghettieis gebracht. Ich vergesse die Frage, die mir eben noch auf der Zunge lag, und fange an es mechanisch in mich hinein zu löffeln. Dabei grüble ich über Jakob Seifert und seine mysteriöse Einladung. Nicht einmal Paul hat irgendeinen Verdacht geschöpft, dass an der Sache etwas faul sein könnte. Bestimmt täusche ich mich einfach, weil ich in diese Begegnung viel zu viel hineininterpretiere. Erik neben mir habe ich schon fast vergessen, als er plötzlich mit dem Eislöffel in meine Richtung wedelt und herausplatzt: »Vielleicht war das gar kein Talentscout!«

»Was denn sonst?«, sage ich. »Ein Vertreter vom Fitnessstudio? Das wäre aber eine Menge Aufwand für ein Probetraining.«

Ich will es nicht zugeben, aber ein wenig beleidigt mich diese Theorie. Sie würde ja auch bedeuten, dass sich kein Profi-Verein für mich interessiert, sondern nur ein Betrüger, der mir einen Jahresvertrag aufschwatzen will. Egal, ob ich im Basketball meine Zukunft sehe oder nicht, ein bisschen stolz hat mich das Ganze ja schon gemacht.

»Nein, das glaube ich auch gar nicht«, sagt Erik aufgeregt. »Du müsstest die Typen in dieser Talentschmiede mal sehen. Ehrlich, Melek, die sind total schräg. Das wirkt auf mich eher wie irgendein abgefahrener Club.«

»Was für ein Club denn?«

»Ich weiß nicht.« Er überlegt kurz und schiebt sich eine Ladung Spaghettieis in den Mund. »Ein bisschen wie Rocker. Vielleicht auch Pfadfinder oder Drogensüchtige. Freikirchler könnten es auch sein.«

Ich muss lachen. Beim besten Willen kann ich mir keine Menschen vorstellen, die eine Kombination aus diesen vier Themenbereichen verkörpern. In meiner Phantasie turnen plötzlich lauter bleiche, schwergewichtige Gestalten mit Augenrändern, Bärten und Khakihosen durch den Trainingsraum, dealen mit Marihuana und bekreuzigen sich nach jeder Übung. Vor Lachen verschlucke ich mich und muss husten. Erik klopft mir ungeduldig auf den Rücken. Ihm ist anzusehen, dass er ernst genommen werden will.

»Und was in aller Welt sollten diese Hardcore-Jesus-Freaks von mir wollen?«, frage ich zwischen den Hustenanfällen so interessiert wie möglich.

»Du wirst wohl etwas können, was sie interessiert. Zielen womöglich.«

Irgendwie ist mir mit einem Mal nicht mehr zum Lachen zumute. Ich denke an Jakob und den Moment, als ich das Speerwerfen und Bogenschießen erwähnt habe. Er hat nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Ganz so, als sei genau dieser Test tatsächlich noch geplant.

»Du meinst also, irgendein durchgeknallter Club will mich … rekrutieren?«

Erik schaut mich ernst an.

»Entweder das, oder … oder es war wirklich ein Talentsucher von den Baskets.«

Wir löffeln eine Weile schweigend unsere Eisbecher leer. Dann kramt er in seiner Hosentasche, fischt sein Handy heraus und tippt eine Weile darauf herum. Ich sehe ihm schweigend zu und bin gespannt. Auch wenn ich mich nur schwer dafür erwärmen kann, mehr über Erik Sommer zu erfahren, so habe ich doch mittlerweile oft genug erlebt, dass er ein Mensch ist, der in jeder Situation gute Ideen hat. Egal, ob er nun eine Ausrede für eine zusätzliche Freistunde braucht oder sich ohne Stadtplan in einer fremden Umgebung zurechtfinden muss. Irgendeinen Ausweg findet er immer. Schließlich notiert er sich eine Nummer, murmelt: »Wir werden es gleich wissen«, und wählt. Es klingelt ein paarmal, dann geht jemand ran. Den Namen kann ich nicht verstehen.

»Guten Tag, hier spricht Erik Sommer.« Wie hübsch er das macht. Meine Mutter wäre begeistert von ihm. »Ich habe eine Frage: Beschäftigen die Rhein-Main Baskets eigentlich Talentsucher?« Kurze Pause. »Ist es möglich, dass ein Scout namens Jakob Seifert heute Nachmittag das Basketballtraining einer Regionalmannschaft in Biedenkopf besucht hat, um dort junge Frauen zu casten?«

Danach sagt er nur noch ein paarmal »Aha« und »Okay« und »Vielen Dank«.

Als er auflegt, kann ich es kaum erwarten die Neuigkeit zu erfahren. Erik holt triumphierend Luft und zieht eine Augenbraue in die Höhe. Ihm ist anzusehen, dass er gerade ziemlich stolz auf sich ist.

»Es gibt keinen Talentscout mit dem Namen Jakob Seifert«, platzt er heraus. »Und wenn es ihn gäbe, würde er nicht in Biedenkopf nach Talenten suchen, sondern ein Auswahlturnier mit Sichtung veranstalten.«

Als ich nicht gleich reagiere, unterschreitet Erik seine Individualdistanz zu mir und kommt mit seinem Gesicht gefährlich nahe an meine Nase heran.

»Es war alles eine große Lüge!«, flüstert er.

Ich bin sprachlos. Ist es wirklich möglich, dass ich von einer Horde gruseliger Typen verfolgt werde? Ich bin doch nur eine unbedeutende Schülerin, die ziemlich gut mit Bällen umgehen kann. Wie um alles in der Welt sind sie auf mich aufmerksam geworden? Und noch wichtiger: Was wollen sie von mir?

Ein nicht unerheblicher Teil von mir kämpft plötzlich gegen den Drang an, zur Toilette zu laufen und mich zu übergeben. Doch mitten in meinen beschleunigten Herzschlag hinein spüre ich die Botschaft eines ganz anderen Teils. Plötzlich geistert das Wort »Schicksal« durch meinen Kopf.

Mit leisem Klirren fällt mir der Eislöffel aus der Hand und landet auf dem Boden. Erik bückt sich, um ihn aufzuheben. Dabei befindet sich sein Kopf zwischen meinem Bein und der Tischkante, aber ich registriere es kaum.

»Melek«, raunt er mir zu, als er wieder auftaucht. »Sag irgendwas!«

Wie unter Drogeneinfluss nehme ich ihm den Löffel aus der Hand und lege ihn zurück auf den Tisch. Es dauert ewig, bis ich es schaffe, ihm in die Augen zu schauen.

»Das ist seltsam«, sage ich. »Wirklich seltsam.«

Auf einmal sieht Erik ziemlich wütend aus.

»Seltsam? Ich würde sagen, das ist kriminell! Du solltest zur Polizei gehen und ein Phantombild anfertigen lassen!«

Ich wundere mich selber über meine innere Ruhe. Meine Antwort klingt klarer, als ich mich tatsächlich fühle: »Nein, das … das wird schon alles seine Gründe haben. Ich werde ihn morgen einfach danach fragen.«

Jetzt ist es um Eriks Selbstbeherrschung geschehen.

»Du willst immer noch da hingehen?« ruft er entgeistert aus.

Die Leute an den Tischen neben uns wenden alle die Köpfe in unsere Richtung. Das Aufsehen ist mir peinlich. Ich will hier raus.

»Lass uns zahlen!«, sage ich.

Von den Dingen, die ich an Erik mag, ist das Beste wahrscheinlich seine Fähigkeit, den Mund zu halten, wenn die Umstände es erfordern. Er sagt tatsächlich kein Wort mehr, bis der Kellner uns die Rechnung gebracht hat. Ich schiebe das Geld für meinen Eisbecher schneller über den Tisch als er, damit er gar nicht in Versuchung kommt für uns beide zu bezahlen. Aber heute scheint ihn das überhaupt nicht zu interessieren.

Als wir das Lokal verlassen haben, packt er mich sofort am Ärmel meiner Jacke und hält mich davon ab, schnurstracks zur Bushaltestelle zu laufen.

»Sag mir bitte, dass du diesen Termin sausen lässt!«, fordert er in drängendem Tonfall.

Ich schlage seine Hand etwas fester beiseite, als ich es beabsichtigt hatte.

»Was geht dich das eigentlich an?«, zische ich. »Du führst ein Telefonat mit irgendeiner Sekretärin oder vielleicht einem Praktikanten in Frankfurt und willst, dass ich deshalb eine Chance sausen lasse, die vielleicht mein Leben verändert? Mann, Erik, ich treffe mich nicht nachts allein im Wald mit ihm, sondern bin mitten am Tag an einen öffentlichen Ort eingeladen worden. Was soll da schon passieren?«

Meine Reaktion war heftig genug, um jeden vernünftigen Jungen abzuschrecken. Aber Erik bleibt hartnäckig. Zumindest verzichtet er darauf, mich noch einmal anzufassen.

»Er ist aber kein Basketball-Scout«, stellt er noch einmal klar.

»Das ist deine Theorie«, sage ich genervt. »Und morgen werden wir wissen, was es damit auf sich hat. Solltest du in der Zwischenzeit mit dem Gedanken spielen, selber zur Polizei zu gehen, dann finde dich damit ab, dass die letzten zwei Jahre die beiden einzigen in deinem Leben waren, in denen ich mit dir geredet habe!«

Das hat gesessen. Ich kann zuschauen, wie sämtliches Blut aus Eriks Gesicht weicht. Er macht eine ungelenke Armbewegung und schüttelt dann nur fassungslos den Kopf. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass mein Bus schon an der Kreuzung hinter der Ampel auftaucht.

»Na gut, Melek, mach, was du willst«, sagt er schließlich. »Es ist dein Leben.«

Als ich mich umdrehe und zur Bushaltestelle renne, höre ich ihn noch rufen: »Wir sehen uns dann morgen im Studio!«

Es bleibt keine Zeit mehr, ihm das auszureden. Ich schreie trotzdem über die Straße in seine Richtung: »Ich brauche keinen Aufpasser!«

»Aber ich brauch mein Training wie jeden Samstag!«, schreit er zurück.

Dabei grinst er schon wieder. Ich steige in den Bus, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen.

Was am Gefüge der Welt nicht stimmt

Meine Eltern sind nicht sonderlich begeistert von der Einladung ins Fitnessstudio. Und das, obwohl sie nicht einmal wissen, unter welch mysteriösen Umständen sie ausgesprochen wurde. Es ist einfach so, dass sie sich etwas anderes für mich gewünscht hätten. Das gilt zumindest für meine Mutter. Ich kann mich noch genau erinnern, wie akribisch sie immer meine Wachstumsschübe auf einer hölzernen Messlatte in Giraffenform notierte. Ich musste mich an die Giraffe stellen, bekam ein Buch auf den Kopf gelegt und meine Mutter machte einen Strich auf der Skala. Dabei hatte sie seit meinem fünften Lebensjahr einen auffällig angespannten Gesichtsausdruck. Je klarer ihr wurde, dass ich schneller wuchs als andere Mädchen, desto verkniffener wurde ihre Mimik. Wäre ihr eine Lösung eingefallen, wie man mein Wachstum bremsen konnte, sie hätte es hundertprozentig getan, selbst wenn sie dafür zu unlauteren Mitteln hätte greifen müssen.

Stattdessen musste sie hilflos mit ansehen, wie ihre Tochter in die Höhe schoss und dabei nicht einmal versuchte, mit den vielen schönen türkischen Mädchen aus unserer Familie und ihrem Drang zur äußeren Selbstvervollkommnung mitzuhalten. Tief in ihrem Inneren ist meine Mutter nämlich selber eine von denen. Eine, die ihre orientalische Schönheit zu jeder Tages- und Nachtzeit perfekt in Szene setzt und darin ihre Erfüllung findet. Auch wenn sie nach außen hin die erfolgreiche Geschäftsfrau mimt, bei der die Frisur nur ganz zufällig immer perfekt sitzt. Sie arbeitet im Verkauf einer etablierten Lampenfabrik. Allein im letzten Jahr war ihr angeblich ein Umsatz von drei Millionen Euro zu verdanken. Trotz dieser bemerkenswerten Karriere schlüpft sie immer noch täglich in die Rolle der anständigen Ehefrau, die abends ein warmes, wenn auch fades, Essen auf den Tisch bringt und niemals ungeschminkt nach draußen geht. Meine Mutter ist sowieso generell die Vorzeige-Türkin für sämtliche Vertreter beiderlei Staatsbürgerschaften und sie hätte garantiert kein Problem damit, ihre Tochter auf eine Elite-Uni (um zu beweisen, wie klug wir Türkinnen sind) oder in das Casting einer Modelshow zu schicken (um zu beweisen, wie schön wir Türkinnen sind). Aber eine Zukunft als Basketballspielerin wünscht sie sich nicht für mich.

Mir ist das alles ziemlich egal. Ich habe mich noch nie damit befasst, ob ich nun Türkin oder Deutsche bin. Würde ich darüber nachdenken, so käme doch nichts Hilfreiches dabei heraus. Außer vielleicht, dass Menschen wie ich immer irgendwie zwischen den Stühlen sitzen.

Meinem Vater sind jegliche Gedanken über meine tiefere Bestimmung als halbtürkisches Mädchen völlig fremd. In der Beziehung ist er wie ich. Er taucht bei fast jedem Spiel von mir auf und spielt selber gar nicht mal schlecht als Guard. Von ihm habe ich auch meine Größe geerbt: Er ist knapp zwei Meter lang. Aber leider ist er trotzdem so spießig wie die Nacht. Bis heute ist ihm, glaube ich, nicht klar, dass ich ein Mädchen bin. Aber für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich einen Jungen mit nach Hause bringen und ihn als meinen Freund vorstellen würde, hätte ich ein bisschen Angst, dass mein Vater seinen Waffenschrank öffnen und den Bewerber in den Wald hinausjagen würde. Als Revierförster von Dautphetal-Ost hat er immerhin genug Schrotflinten und Pistolen hinter Schloss und Riegel in seinem Schlafzimmer verstaut. Nicht weniger konservativ ist er beim Thema Lebensplanung. Wenn es nach ihm ginge, würde ich eine Ausbildung beim örtlichen Versicherungsvertreter machen oder mich auf besagter Elite-Uni einschreiben. Nur über weibliche Basketballprofis denkt er genauso wie ich: Das ist ein schönes Hobby, aber kein Zukunftsplan für Mädchen, die Reihenhäuser so attraktiv finden wie Eiterpickel.

Wir wohnen ein Stück abseits des Örtchens Buchenau auf einer Anhöhe Richtung Wald im Forsthaus. Von meinem Zimmer aus blicke ich direkt in die Stromschnellen der Lahn, die diesen Namen nur bei Hochwasser verdienen. Es ist ein wunderschönes Fleckchen Erde, auch wenn man sich mit Waschbären abfinden muss, die nachts die Mülltonnen ausräumen, und allerlei Getier, das schlimmstenfalls sogar durch die Schlafzimmer rennt. Ich bin damit groß geworden und kann auch bei deutlichem Mäusebefall im Raum schlafen wie ein Stein. Meine Mutter hingegen kreischt bereits wie eine Furie, wenn ihr im Bett eine Spinne übers Gesicht huscht. Aber aufgeben will sie das schicke Fachwerkhäuschen am Wald dann doch nicht. Dafür ist es tagsüber einfach zu vorzeigbar.

Wie also erwartet löst meine Nachricht vom Basketball-Talentscout keine besonders überschwänglichen Gefühle bei meinen Eltern aus. Aber zumindest haben sie den Anstand, mir ihren Willen nicht aufzuzwängen. Das ist wahrscheinlich der einzige völlig unspießige Charakterzug an den beiden und ich rechne es ihnen hoch an. Ich zwinge sie im Gegenzug auch nicht, Begeisterung zu heucheln. Das Gute an all dem ist, dass weder mein Vater noch meine Mutter auf die Idee kommen, Nachfragen zu stellen und Telefonate zu führen wie Erik.

»Kläre aber bitte mit denen ab, dass sie das Fitnessstudio bezahlen müssen. Es wäre ziemlich unseriös, wenn uns dadurch Unkosten entstünden«, sagt meine Mutter. Ich verspreche, mich darum zu kümmern. Aber die Wahrheit ist: Ich würde lieber Zeitungen austragen oder in der Hartz-IV-Eisdiele servieren, als Jakob Seifert so eine Frage zu stellen. Wenn ich auch keine Ahnung habe, worum es bei dieser ganzen Sache geht, so ist mir doch klar: Um Geld geht es nicht.

***

Am nächsten Morgen packe ich gleich nach dem Frühstück meine Sporttasche und nehme den Neun-Uhr-Zug nach Biedenkopf. Zehn Minuten später bin ich am Bahnhof und schlendere Richtung Industriegebiet. Das Easyfit liegt zwischen einem Baumarkt und mehreren undefinierbaren Produktionshallen versteckt. Es ist ein Fußmarsch von einer Viertelstunde bis dorthin. Ich lasse mir Zeit, denn ich will auf keinen Fall zu früh kommen. Sollen sie ruhig denken, ich kneife. Wenn ich schon selber derartig im Ungewissen gelassen werde, schlage ich wenigstens mit gleicher Münze zurück. Außerdem habe ich keine Lust, Erik über den Weg zu laufen, der garantiert schon zwischen Hantelbänken und Kursraum lauert, um mich abzufangen.

Sosehr ich auch trödle, bin ich trotzdem bereits zwanzig Minuten später am Baumarkt. Ich sehe auf die Uhr und entscheide, noch mal zurück zur Bäckerei zu gehen, um mir eine Apfelschorle zu kaufen und mich damit in den Schatten zu setzen. Schon am Eingang zum Laden muss ich erkennen, dass das keine besonders gute Idee war: Jana und ihre Freundin Olga thronen dort an einem Tisch in der Sonne, jede mit einem Fruchtcocktail in der Hand.

Ich hasse Jana.

Erstens, weil sie jede Gelegenheit nutzt, um mir klarzumachen, dass ich keine einzige Fähigkeit mitbringe, um es je in ihren It-Girl-Club zu schaffen. Und zweitens, weil Jana genau so ist, wie meine Mutter mich gern hätte: wunderschön, superweiblich – und total affektiert. In der Grundschule waren wir noch befreundet. Aber dann, in der sechsten Klasse, begriff sie wohl, dass man seinen Freundeskreis ausmisten muss, um es zur obersten Schultussi zu bringen. Ich weiß noch genau, wie sie mich zum ersten Mal einen »langweiligen Freak« nannte und unsere Verabredung für den Nachmittag absagte. Ich bin viel zu stolz, um mir solche Kränkungen anmerken zu lassen. Aber die Tatsache, dass ich eine von denen war, die auf ihrer Abschussliste standen, lässt mich bis heute nicht los.

»Na«, begrüßt mich Jana. »Weißt du nicht mehr, wo du hinwillst? Du läufst ziemlich planlos durch die Gegend.«

Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, mit einer Portion Schlagfertigkeit gesegnet zu sein. Wann auch immer mir ein dummer Spruch begegnet, habe ich niemals eine flotte Antwort parat. Stattdessen bin ich einfach unfreundlich, was mein Gegenüber meistens genauso mundtot macht. Aber ich selber renne hinterher mindestens eine Stunde lang mit einem fiesen, brennenden Knödel im Hals herum und ärgere mich über mich selbst und über die Menschheit an sich.

»Ich bin mit meinem Talentscout verabredet«, sage ich schlicht. »Bin zu früh dran.«

Jana und Olga tauschen amüsierte Blicke. Sie glauben mir nicht, was mir eigentlich herzlich egal sein müsste. Die Tatsache, dass es das nicht ist, lässt bereits die ersten Anzeichen meines Adrenalin-Knödels entstehen. Ich versuche, ihn hinunterzuschlucken. Keine Chance.

»Ach, du willst ins Easyfit«, schlussfolgert Jana und nippt an ihrem Cocktail. »Keine schlechte Idee. Du hast irgendwie zugenommen, oder?«

Es gibt Momente, da würde ich ihr am liebsten ins Gesicht springen. Was für ein gutes Gefühl müsste es sein, ihr die Faust auf die Nase zu donnern. Na ja, für den Fall, dass ich heute wirklich von einer Horde muskelbepackter Jesusfreaks rekrutiert werde, ist es gar nicht so ausgeschlossen, dass ich lerne, wie man das macht. Stattdessen kommt mir ein selten schlagfertiger Spruch über die Lippen.

»Ja, stimmt«, sage ich. »Und ich muss etwas dagegen tun, bevor ich so fett werde wie du.«

Ich pfeife auf die Apfelschorle, drehe mich um und marschiere wieder Richtung Studio. In meinem Rücken spüre ich die hasserfüllten Blicke von Jana. Olga hingegen höre ich leise kichern. Ich grinse gut gelaunt vor mich hin. Der Knödel in meinem Hals ist verschwunden. Jana auf ganzer Linie besiegt – was schrecken mich da noch die furchterregenden Typen aus dem Fitnesscenter!

Es ist Viertel vor zehn, als ich das Studio betrete. Hastig lasse ich meinen Blick umherschweifen, finde aber weder Erik noch Jakob auf Anhieb. Mal davon abgesehen, dass ich nicht einmal weiß, ob der Scout überhaupt hier sein wird. Reines Wunschdenken.

»Kann ich dir helfen?« fragt mich ein langhaariges Mädchen in hippen hellgrünen Sportklamotten vom Tresen aus.

»Ja, ich soll mich um zehn bei Albert Klingelhöfer melden.«

Das Mädchen strafft sofort die Schultern und setzt ein gewinnendes Lächeln auf.

»Dann musst du Melek Weber sein«, sagt sie und streckt mir die Hand hin. »Ich bin Sabine. Komm mit, dann zeige ich dir schon mal alles.«

Ich folge ihr durch das Fitnessstudio, bekomme Umkleiden, Duschen und Toiletten gezeigt, erfahre, wo ich mir Getränke zapfen und Eiweißshakes ziehen kann. Dabei plappert Sabine unaufhörlich und ich komme mir vor, als hätte ich im Lotto gewonnen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob alle Neulinge hier so sagenhaft protegiert werden. Es fühlt sich jedenfalls ziemlich gut an. Während Sabine mir die Funktion des Laufbands erklärt, sehe ich durch die große Fensterfront vier Leute über den Parkplatz kommen. Es sind drei Jungs und ein Mädchen, alle nur wenig älter als ich. Sie bewegen sich wie Katzen. Alle vier tragen ziemlich abgerissene Outdoorklamotten, Sonnenbrillen und lederne Fingerhandschuhe. Ihre Füße stecken in schweren Lederstiefeln. Das Mädchen trägt dazu eine kurze, ausgefranste Jeans mit einem schwarzen Nietengürtel, die Jungs schwarze, halblange Hosen. Sie sehen alle ziemlich ernst aus und reden kein Wort.

Als sie das Studio betreten und ihre Sonnenbrillen abnehmen, erkenne ich, was Erik meinte, als er das Wort Drogensüchtige ins Spiel brachte: Die lilafarbenen Ränder, die sich um die Augen der vier ranken, verleihen ihnen das Aussehen von Untoten, die soeben aus ihrer Gruft gekrochen sind. Nur die braungebrannten Gesichter passen nicht dazu. Sie sehen aus wie Leute, die viel Zeit mit Zelten an der frischen Luft verbringen. Und ganz sicher sind sie auf jedem Campingplatz die coolsten Typen weit und breit.

»Ach«, sagt Sabine, die meinem Blick gefolgt ist. »Da kommen schon deine Trainingspartner.«

Einer nach dem anderen lassen sie am Drehkreuz ihre Transponder einlesen und verschwinden in den Umkleidekabinen. Das Mädchen hat einen kurzen Emo-Haarschnitt, der sie noch düsterer wirken lässt. Sie streift mich im Vorübergehen kurz mit ihrem Blick, bevor sie in der Damenkabine verschwindet. Der Ausdruck in ihren Augen ist unergründlich. Man könnte Gereiztheit oder Desinteresse hineininterpretieren. Entgegenkommend ist er jedenfalls nicht. Prima, die ideale Trainingspartnerin für mich. Bis wir einander mit Namen kennen, werden zwei Jahre vergehen! Mir dreht sich der Magen um. Welcher Teufel hat mich geritten, als ich es versäumt habe Nachfragen zu stellen, und in diesem Termin eine willkommene Herausforderung gesehen habe?

Um nicht mit dem unheimlichen Mädchen in der Umkleide aufeinanderzutreffen, interessiere ich mich nun doch für das Laufband und stelle noch ein paar sinnlose Fragen, die Sabine eifrig beantwortet.

»Na dann«, sagt sie mit einem Blick auf die Uhr. »Mach dich mal fertig, der Kurs geht gleich los. Und melde dich, wenn du irgendwas brauchst.«

Ich zapfe mir noch umständlich ein Mineralgetränk, bevor ich meine Tasche schultere und in die Umkleide marschiere. Noch in der Tür kommt mir das Emo-Mädchen entgegen. In Sportklamotten sieht sie etwas weniger unheimlich aus.

»Hallo«, sagt sie und stürmt an mir vorbei.

Es ist fünf nach zehn, als ich den Fuß über die Schwelle des Kursraums setze. Die anderen haben sich bereits mit diversen Hanteln, Gewichten und Steppern bewaffnet. Außerdem sind plötzlich noch vier weitere Leute da – ebenfalls drei Jungs und ein Mädchen. Ich habe sie nicht kommen sehen. Wahrscheinlich waren sie schon länger im Studio und haben sich aufgewärmt. Im Hintergrund läuft House-Musik und ein untersetzter Mann um die fünfzig fummelt auf der Bühne an einer Reihe Gewichten herum.

»Zu spät, Melek!«, sagt er, ohne aufzusehen. »Das macht zehn Sit-ups pro Minute.«

Dann springt er erstaunlich agil auf und kommt mir grinsend entgegen.

»Aber erst beim nächsten Mal. Für heute drücke ich noch mal ein Auge zu!«

Er streckt mir die Hand hin.

»Albert«, sagt er und quetscht mir die Knöchel zu Brei. Ich beiße die Zähne aufeinander.

»Melek.«

Er deutet auf die anderen Jugendlichen und sagt schnell ihre Namen: »Lennart, Rafail, Tina und Henry«. Das waren die Gestalten vom Anfang. »Finn, Nils, Nadja und Kadim. Du wirst sie schon noch kennenlernen. Lass dich nicht von ihrer rauen Schale beeindrucken. Darunter sitzt in den meisten Fällen ein weicher Kern.«

Er gibt mir einen Aerobic-Stepper, eine Langhantel-Stange mit drei Gewicht-Paaren und zwei kleinere Hanteln.

»Mach’s dir da drüben neben Rafail bequem. Ach ja, und: Willkommen in der Talentschmiede!«

Damit lässt er mich stehen und springt wieder mit einem raubtierhaften Satz auf die Bühne. Ich baue meine Trainings-Utensilien an der zugewiesenen Stelle auf und schiele vorsichtig hinüber zu Rafail. Was ich sehe, ist insgesamt ziemlich beunruhigend. Muskelberge türmen sich auf seinen massigen Schultern wie Hefeklöße. Beide Oberarme sind tätowiert. Ich erkenne Jesus und irgendeinen Erzengel. Hätte ich nur auf Erik gehört!

Es grenzt fast an Telepathie, dass genau in diesem Moment die Tür des Kursraums aufgeht und Erik plötzlich dasteht. Mit seinem blonden Wuschelkopf und dem gesunden Teint sieht er inmitten meines Zombie-Kurses aus wie ein rettender Engel. »Hallo!«, sagt er selbstbewusster, als ich das von ihm gewohnt bin. »Was muss ich tun, um hier mitmachen zu können?«

Tina lässt ein genervtes Stöhnen hören.

»Zieh Leine, das hier ist nichts für dich«, blafft sie ihn an.

Albert gibt ihr ein Zeichen, ruhig zu sein.

»Das ist ein geschlossener Kurs, junger Mann«, sagt er zu Erik gewandt. »Leider nur geladene Gäste. Wenn du uns jetzt bitte anfangen lassen würdest.«

Erik schaut prüfend zu mir herüber. Er erkennt auch auf die Entfernung, wie aufgewühlt ich bin.

»Na schön, willst du vielleicht lieber draußen mit mir trainieren, Melek?« fragt er.

Ich schüttele den Kopf. Noch stärker als meine Unsicherheit ist der Drang, mich hier zu beweisen.

»Ich bleib jedenfalls in der Nähe«, sagt er. Das sollte wahrscheinlich eher eine Beruhigung für mich sein, aber für die anderen klingt es wie eine Drohung.

»Arschloch!«, zischt das eben als »Tina« vorgestellte Emo-Mädchen, aber so leise, dass Erik es durch die Musik hindurch nicht hören kann.

Er wirft mir einen letzten besorgten Blick zu und verschwindet wieder im Fitnessraum. Aber er geht nicht zu den Geräten, sondern bleibt hinter der Tür stehen und schaut uns zu.

»Sehr besorgt, dein Freund«, sagt Rafail im Plauderton. Seine Stimme klingt wärmer und jünger als ich gedacht hätte.

»Das ist nicht mein Freund«, murmele ich. »Nur jemand, den ich kenne.«

»Oh!«. Rafail grinst bis über beide Ohren. »Das ist gut. Sehr gut für dich.«

Der Kurs ist eine Katastrophe. Nach zwanzig Minuten bin ich völlig am Ende. Es ist eine Sache, ein 80-minütiges Basketballspiel mit all seinen Pausen durchzuhalten. Aber eine ganz andere, mit einer schweren Langhantel im Genick Kniebeugen und Ausfallschritte zu machen. Kaum, dass ich die Stange aus meinem Nacken entfernen darf, lässt Albert uns Liegestütze machen. Dabei brüllt er drei Mal einen Countdown von zehn herunter. Beim dritten Mal versagen meine Armmuskeln und ich krache wie ein nasser Sack auf die Matte. Tina wirft mir einen selbstgefälligen Blick zu und stemmt sich munter weiter. Ich bin mit Abstand die Schlechteste in der Gruppe. Außerdem bin ich mittlerweile überzeugt davon, dass Jakob Recht hatte: Meine Muskeln haben das Training bitter nötig. Wenn ich je den Ehrgeiz haben sollte, einen Dunking zu probieren, dann würde ich wirklich nicht um diese Schinderei herumkommen.

Ich gehe noch weitere vierzig Minuten durch die Hölle, ohne einen einzigen Klagelaut von mir zu geben. Diese Genugtuung will ich Tina nicht geben. Als Albert endlich die Musik abstellt und uns auffordert, unsere Hanteln aufzuräumen, gibt es keine Stelle an meinem Körper mehr, die nicht schmerzt.

»Gut gemacht«, sagt Albert grinsend, als ich meine Gewichte an die Bühne bringe. »Du hast mehr Kraft, als ich dachte. In ein paar Monaten schlägst du deinen Freund im Armdrücken!«

»Er ist nicht ihr Freund«, bemerkt Rafail, der sich gerade um ein riesiges 20-Kilo-Gewicht erleichtert. »Nur jemand, den sie kennt.«

»Na, dann ist ja gut«, sagt Albert und klingt ehrlich erleichtert. Ich runzele die Stirn, bin aber zu müde und kaputt, um mehr darüber nachzudenken. Ich will nur noch duschen und so schnell wie möglich in den nächsten Zug steigen. Im Moment interessiert mich nicht einmal, wie die ganze Sache weitergehen soll.

Da wird plötzlich die Tür aufgerissen und Jakob betritt den Raum. Er sieht ganz anders aus als gestern beim Basketball: die rotbraunen Haare sind eher nachlässig gestylt, der Dreitagebart ist ab. Er trägt ein ausgewaschenes schwarzes T-Shirt, eine Armeehose, dieselben Fingerhandschuhe wie die anderen und eine Halskette aus Holzperlen. Nur seine eisblauen Augen haben sich nicht verändert. Darunter erkenne ich auch bei ihm den Ansatz der Augenränder, die hier wohl zur Standardausstattung gehören. Warum ist mir das gestern nicht aufgefallen? Wahrscheinlich sieht man immer nur das, was man sehen will. Insgesamt wirkt er mehrere Jahre jünger. Jetzt bin ich mir nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt schon zwanzig ist. In diesem Moment ist mir auch klar, dass Jakob nie und nimmer ein Talentscout der Baskets ist. Und er weiß, dass ich es weiß. Sonst hätte er sein seriöses Styling von gestern nicht aufgegeben.

»Hallo, Engelchen«, sagt er lächelnd und wirft mir ein Handtuch zu. »Ich finde es großartig, dass du gekommen bist.«

»Ich … hab ein paar Fragen an dich!«

»Ich weiß. Und ich werde sie alle beantworten, nachdem du dich geduscht und umgezogen hast. Wir treffen uns draußen vor dem Eingang.«

***

Es ist nicht gerade einfach Erik abzuschütteln. Vorhin im Kurs war ich ihm fast dankbar dafür, dass er an der Tür Wache geschoben hat. Aber nun sieht die Sache plötzlich wieder ganz anders aus. Jakob ist gekommen und ich werde endlich erfahren, welches Geheimnis er und die anderen hüten. Allein dafür hat es sich gelohnt, die Tortur mit den Langhanteln auf mich zu nehmen. Ich kann immer noch fühlen, wo die Stange in meinem Genick auflag, und habe leichte Schürfwunden an den Ellbogen von meinem Schwächeanfall bei den Liegestützen.

Als ich ihm sage, dass ich noch einen »Termin« mit Jakob habe, zieht Erik ein Gesicht wie ein beleidigtes Kind. Er verengt die Augen zu schmalen Schlitzen und starrt feindselig nach draußen, wo Jakob mit Tina und einem anderen Jungen steht – ich glaube, er hieß Henry. Sie tragen alle wieder ihre abgerissenen Extremsportlerklamotten und verstecken ihre Augen hinter den verspiegelten Sonnenbrillen. Ansonsten fällt mir nichts Beunruhigendes auf. Sie stehen einfach nur da und reden. Keine Bierflaschen, keine Zigaretten. Drogen sind wohl nicht im Spiel.

»Du willst es richtig wissen, ja?«, sagt Erik. »Na dann geh doch und lass dich vergewaltigen. Ich kann ja zumindest die Täter beschreiben, wenn du es überlebst.«

»Erik, steigere dich bitte nicht so rein …«

»Das tu ich nicht, Melek!«, unterbricht er mich. »Ich würde im Gegenteil sogar behaupten, dass ich mich vorbildlich zurückhalte. Denn was du hier bringst, ist lebensmüde. Und ich verstehe rein gar nicht, warum du es tust! Obwohl …«

Wieder gleitet sein Blick zu Jakob hinüber.

Das reicht mir jetzt. Erik übertreibt maßlos. Ich schüttle nur den Kopf und schultere meine Sporttasche. Dann überwinde ich mich doch noch, ihm zum Abschied auf die Schulter zu klopfen. Ich will zumindest deutlich machen, dass ich seine Sorge zu schätzen weiß.

»Mach’s gut, Erik. Wir sehen uns dann am Montag in der Schule.«

Als ich das Fitnessstudio verlasse, ist auch der letzte Rest an Vorbehalten verschwunden. Ich könnte platzen vor Spannung und Abenteuerlust. Es ist ein bisschen wie Weihnachten. Nicht einmal Tinas abweisender Gesichtsausdruck kann mir die Freude auf die Bescherung trüben. Einen Moment lang senke ich die Augen und atme tief durch, bevor ich Jakobs Blick begegne. »Wohin?«

Er lächelt, doch die Falte zwischen seinen Augenbrauen gibt mir einen Hinweis darauf, dass ich eigentlich in ein ernstes Gespräch hineingeplatzt bin.

»Lass uns ein Stück zusammen laufen«, sagt er, dann nickt er Henry und Tina zu. »Bis morgen dann!«

Nach der Plackerei im Fitnessstudio hatte ich gehofft, wenigstens dieses Gespräch in einem netten Café im Sitzen führen zu dürfen. Nur dahocken, die schmerzenden Muskeln schonen und dabei zuhören, wie ein gut aussehender Junge mir seine Geheimnisse offenbart. Wenn ich richtig Glück gehabt hätte, wäre uns dabei sogar Jana über den Weg gelaufen. Bei der Vorstellung, wie sie Jakob angesehen hätte, wird mir ganz warm ums Herz. Leider werde ich in den Genuss nicht kommen. Jakob schlägt den Weg über die Zuggleise zur Hauptstraße ein. Ich folge ihm entlang der Straße und bleibe dabei immer auf Schrittlänge hinter ihm, um die Autofahrer nicht zusätzlich zu verärgern, die haarscharf an uns vorbeirasen. Ich frage mich, wo er hinwill. Als ich es dann ahne, wird mir doch ein wenig flau im Magen. Tatsächlich biegt er keine hundert Meter weiter nach links in einen Feldweg ein und steuert auf den Wald zu. Ich könnte stehen bleiben, ihm sagen, dass er mich gerade ziemlich erschreckt, dass ich umdrehen und ganz dekadent ein Eis essen gehen will. Aber da ist wieder diese zweite Stimme in mir, die mir zuflüstert, dass ich keine Angst zu haben brauche. Dass schon alles seine Richtigkeit hat. Ich neige dazu dieser Stimme zu glauben. Vielleicht nur deshalb, weil es mir an angenehmen Alternativen fehlt. Als er merkt, dass ich immer noch hinter ihm gehe, bleibt Jakob stehen und wartet, bis ich zu ihm aufgeschlossen habe.

»Wie hast du’s herausgefunden?«, fragt er. Ich stelle keine sinnlose Nachfrage. Ich weiß genau, was er meint.

»Das war nicht ich, das war Erik. Er hat bei den Rhein-Main Baskets angerufen und nach dir gefragt.«

Jakob nickt, nicht im Geringsten überrascht.

»Woher weißt du, dass ich’s rausgefunden hab?«, frage ich.

»Das wusste ich auch nicht von selbst. Sylvia wusste es.«

Ich bin verwirrt. »Wer ist Sylvia?«

Er schweigt einige Sekunden lang, wie um sich zu sammeln.

»Okay, Melek. Du musst mir versprechen, dass du mich bis zum Ende ausreden lässt, ja? Das alles ist schwierig genug für mich in Worte zu fassen und ich will vermeiden, dass du nach zwei Minuten kehrtmachst, mich für verrückt erklärst und uns verloren gehst. Wirst du mir das also versprechen?«

Deshalb also der Spaziergang in den Wald. Er wollte eine Situation schaffen, in der ich nicht einfach aufstehen und gehen kann. Soll mir recht sein. So feige bin ich nicht. Ich nicke und hebe die Hand zum Pfadfindergruß. Er guckt etwas irritiert. Pfadfinder ist er also schon mal nicht. »Ich schwöre«, übersetze ich.

Jakob holt noch einmal tief Luft. Dann beginnt er zu erzählen:

»Nach außen hin ist Sylvia ein einfaches dreizehnjähriges Mädchen. Tatsächlich ist sie aber ein Orakel. Sie kann manche Dinge vorhersehen und die Nähe anderer Menschen spüren. In den meisten Fällen liegt sie mit ihren Prophezeiungen richtig. Zum Beispiel hat sie mir gesagt, dass ich zum Basketballtraining gehen soll. Ich würde dort mit einem Engel zusammenstoßen. Erst wusste ich nicht, was sie damit meinte, aber dann liefst du mir gleich im ersten Moment in die Arme und ich erfuhr, dass du Melek heißt.«

Er macht eine kurze Pause und sieht mich prüfend an. Sein Körper ist angespannt. Er sieht aus, als wäre er darauf gefasst, dass ich flüchten würde und er mich wieder einfangen müsste. Ich schweige, wie ich es versprochen habe, und versuche dabei meinen Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu halten.

»Das ist Sylvias Talent«, redet Jakob weiter. »Jeder von uns hat ein Talent. Manche sind unglaublich stark, andere besonders schnell. Wieder andere können Tiere beherrschen, über Telepathie kommunizieren, durch ihren Geist Gegenstände bewegen – oder jedes Ziel der Welt treffen, wenn ihnen dabei nicht die Kraft ausgeht. Henry ist übrigens auch ein Volltreffer, wie du.«

Nun breche ich mein Schweigegebot doch, weil ich lachen muss. Jakob sieht mich irritiert an. Er versteht nicht, dass der Ausdruck mich erheitert, und erwartet scheinbar immer noch, dass ich ihm durchbrenne.

»Du sammelst also Talente«, stelle ich fest.

Er nickt. »Könnte man so sagen.«

»Was ist dein Talent?«

»Taktik und Führung. Ich führe euch an.«

Ich muss schlucken. Etwas in der Art habe ich geahnt. Es aus seinem Mund zu hören hat allerdings noch ein ganz anderes Gewicht.

»Euch? Uns … also auch mich!«, stammle ich. »Und gegen wen soll ich kämpfen?«

Mittlerweile sind wir am Waldrand angekommen. Mir fällt auf, dass Jakob exakt im gleichen Abstand wie Erik neben mir läuft. Und es passiert noch etwas anderes: Wenn er sich in eine Richtung bewegt, folge ich ihm ganz automatisch nach. Geht er langsamer, so verkürze auch ich meinen Schritt. Wie eine Marionette, die durch unsichtbare Fäden an ihn gebunden ist. Kann es sein, dass ich seinen Führungsanspruch widerspruchslos bereits in dem Moment akzeptiert habe, als er ihn erhoben hat? Oder ist das sein Talent? Fühlt es sich so auch für die anderen an? Jakob lässt die einladende Bank am Wegesrand links liegen und marschiert weiter in den Wald hinein.

»Gegen das Böse wahrscheinlich«, sagt er. »Wir wissen nicht, wer sie wirklich sind. Manche glauben, sie seien Außerirdische. Andere sagen, es sei der Satan mit seinen Dämonen. Wir in Biedenkopf nennen sie Dschinn. Das dürftest du von deiner Mutter kennen. Unser zweites Orakel ist auch Türke.«

»Kadim«, sage ich.

»Genau. Er liest aus dem Kaffeesatz. Wenn er von den Dämonen spricht, benutzt er immer den Namen ›Dschinn‹, und wir fanden diese Bezeichnung gut. Sie klingt nicht so beängstigend.«

»Ja«, murmele ich. »Klingt lustig: gegen Dschinn kämpfen! … Was tun sie?«

Ich merke, dass ich nun auf den heikelsten Punkt der Geschichte zusteuere. Meine Beine versagen langsam ihren Dienst. Aber nun will ich mich gar nicht mehr hinsetzen. Es fühlt sich sicherer an in Bewegung zu bleiben. Der kühle Biedenkopfer Wald schluckt uns.

»Sie saugen uns die Gefühle aus dem Leib. Wen sie einmal erwischt haben, der hat keine Chance mehr. Die Opfer werden völlig willenlos. Wenn die Dschinn mit ihnen fertig sind, ist nichts mehr übrig: keine Liebe, kein Mitleid, kein Hass. Die Menschen sind einfach gefühlskalt. Es gibt schlimmere und weniger schlimme Ausprägungen. Die meisten Leute sind danach durchaus noch in der Lage, ihr Leben weiterzuleben. Doch sie verlieren jedes Gefühl von Moral, Humor und Mitgefühl. Andere sind so schlimm betroffen, dass sie zum Beispiel ihre Mutterinstinkte verlieren und ihre eigenen Kinder verhungern lassen. Sie morden und vergewaltigen, zünden Atombomben und versklaven ganze Völker. Schlag einfach eine beliebige Zeitung auf und du kannst ihre Geschichten lesen.«

Die Wucht dieser Aussage haut mich regelrecht um. Ich habe immer gewusst, dass irgendetwas am Gefüge der Welt nicht stimmt. Jakobs Worte passen nahtlos in das Bild, das ich von all dem habe.

»Was tun wir dagegen?« flüstere ich.

»Wir spüren die Dschinn auf und töten sie.«

Eigentlich müsste ich spätestens jetzt mein rationales Denken einschalten und so schnell davonlaufen, wie ich nur kann. Stattdessen knicken meine überanstrengten Beine unter mir weg und ich sinke mitten auf dem Waldweg in die Knie.

Jakob beugt sich zu mir herunter und legt mir besänftigend seine warme Hand auf die Schulter. »Das ist in Ordnung. Ruh dich eine Weile aus«, sagt er ruhig. »Ich bin gleich wieder da.«