DSA 41: Und Altaia brannte - Momo Evers - E-Book

DSA 41: Und Altaia brannte E-Book

Momo Evers

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Beschreibung

Im Jahr 1017 nach Bosparans Fall starb auch eine Borongeweihte in der Feuersbrunst von Altaia. Tulameth lässt der Tod ihrer Schwester keine Ruhe; sie versucht, Licht in das Dunkel des schrecklichen Geschehens zu bringen... und stößt auf eine Schar tatendurstiger Abenteurer auf dem Weg nach Altoum. Keiner der Reisenden ahnt, daß sich das Dunkel über der Insel bereits zusammengezogen hat ...

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Titel

Momo Evers

Und Altaia brannte

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses Spiele Band 41

Aventurien-Karte: Ralph HlawatschE-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright © 1999, 2014 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE,MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN 3-453-15609-9 (vergriffen) E-Book-ISBN 978-3-86889-880-4

Widmung

Für Bernd und Rosiund für alle, die sich in diesen Zeilen wiederfinden

Meiner Schwester Taija zugedacht

Und Altaia brannte

Eine Geschichte über Lebensfreude, Sehnsüchte, Liebe, Pflichtgefühl, Verzweiflung, Abgrund und Traum, Hoffnung, die Welt der Anderwesen, die Abgründe in den Seelen der Gottlosen, die dunklen Schatten am Horizont des aufgehenden Heldenzeitalters

Dankesworte

Verfaßt und zusammengetragen zu Ehren der Frau Hesindevon TULAMETH NARYAD

MEIN BESONDERER DANK gilt den Verfassern der wis­senschaftlichen Abhandlungen über das Leben der Waldmenschen, dem Freiherrn von Wiesersgrund und dem Junker Jergan Radab, aus deren Werken ich ent­nehmen konnte, was zu erforschen mir selbst nicht ge­lungen ist, sowie den Reiseberichten des Mimosioll von Mayringhoff und den anschaulichen Kampfstudien der Fechtlehrerin Yadvige Grobensen und des Junkers Caraskan von Hohenlohe.

Dank schulde ich des weiteren den ehrenwerten Ma­gistern Aleya Ambareth, Gor von Gargamel und Drinji Barn, deren Werke über die Magietheorie es mir in mondelangen Studien ermöglicht haben, mich tief in das Wesen der ›astralen Welten‹ einzuarbeiten, so daß ich viele Dinge, die ich ohne ihre Ausführungen wohl nur in gänzlich stümperhafter Unwissenheit hätte wie­dergeben können, zuordnen und in einen Zusammen­hang bringen konnte.

Schlußendlich möchte ich noch den Dienern und Die­nerinnen der ehrenwerten Hesinde im Tempel zu Kuslik danken, die mich in meinen abschließenden Forschungen unterstützten und mich nicht nur in die Wissenschaften der Feen- und Drachenwelt einführten, sondern gleichfalls mein Wissen in aventurischer Ge­schichte schulten und mich auf die Zusammenhänge zwischen den Zeichen unseres Zeitalters und den Pro­phezeiungen des Nostria Thamos aufmerksam mach­ten und auch ansonsten keine meiner vielen Fragen un­beantwortet ließen, sowie den Unzähligen, die mir auf meiner langen Reise durch Aventurien begegneten und mich an ihren Geschichten teilhaben ließen.

Diese Worte sind kein Nachruf auf die Toten. Wir wollen nicht trauern! Wir wollen staunen, lachen und leben, wie sie es taten! Denn in den Geschichten, die wir über sie erzählen, leben sie weiter. Und mit der Macht der Phantasie, Geschenk der Unsterblichen Götter, hauchen wir ihnen das ewige Leben ein ...

aus: Lindaia Hewanger;Geschichten aus Alt-Bosparan;

Wie alles begann

Seit vier Götterläufen steht es nun auf dem Sims aus Sandstein neben dem bunten Flickenteppich mit dem immerzu dampfenden Samowar: das Porträt der frem­den Frau, die meine Schwester gewesen ist.

Es ist nicht viel von ihr geblieben: ein Buch, in dunk­les Leder gebunden, mit dem metallenen Symbol des Boronrades darauf, einige Briefe, ein geschnitzter Be­cher, mit rankendem Efeu verziert; alles riecht noch immer nach kaltem Rauch und ist an einigen Stellen verkohlt.

Mutter verwahrt diese Dinge in einer Schatulle neben der Kreidezeichnung. Hier hebt sie auch den Brief aus Punin auf, den der Beilunker Reiter zusam­men mit dem Nachlaß überbrachte. Ein kurzes Schrei­ben:Euer Gnaden Taija Naryad folgte dem Ruf des Herrn Boron auf den Schwingen des Raben. Der Tempel in Altaia ist mit der ganzen Stadt in Rauch und Asche versunken. Sie ging mit denen, die ihr anvertraut waren, und sie ging in ihrer Mitte. Möge sie in Seinen Hallen ewig sein. Bahram Nasir

Und immer wenn Mutter den unzähligen Gästen, die in unserer Karawanserei aus und ein gehen, ein Glas des süßen roten Tees einschenkt, verharrt sie kurz und starrt beides an. Und für einen Augenblick schwindet das Lächeln aus ihrem sonst so fröhlichen Gesicht, wel­ches ihr bei den Kameltreibern den NamenDschamai­dasheingebracht hat, was in der Sprache der Tulamiden soviel bedeutet wie ›Strahlende Sonne‹.

Alle sagten zu mir, ich müsse über Taijas Tod nicht weinen. Der Herr Boron habe sie zu sich gerufen, nach­dem ihr Lebenswerk vollendet gewesen sei.

Ja, ich weiß, meine Schwester hat ihr Leben dem Herrn des Todes geweiht. Wir alle werden, so die Göt­ter es wollen, Einlaß finden in die zwölfgöttlichen Para­diese, obgleich ich für meinen Teil bete, eines Tages in Hesindes Hain alle Rätsel dieser Welt erforschen zu können. Meine Schwester wird wohl andere Wünsche gehabt haben, und ich bin gewiß, daß es wahr ist, was der Rabe von Punin schrieb: daß der Herr Boron sie in Seine Hallen geholt hat.

Dennoch: Nachts, wenn die Gäste schlafen und nur das leise Säuseln des Windes über dem unendlich wei­ten Sand zu hören ist... nachts höre ich zuweilen, wie die Mutter weint. Und wie der Vater sie nicht zu trö­sten vermag.

Nein, meine schöne, fremde Schwester mit den dunk­len Augen... viel war es nicht, was damals von dir ge­blieben ist - auch nicht in meinen Erinnerungen.

Du hattest eine angenehme Stimme - warm, weich und dunkel. Ich weiß noch, wie du mich oft in den Schlaf gesungen und mir schöne Traumanfänge zuge­flüstert hast, wenn ich mich vor der Nacht und der Dunkelheit ängstigte.

Als du nach Altaia fortgingst, war ich wütend, fühlte mich verraten und von dir im Stich gelassen. Mit den Jahren dann fand ich mich mit dem Gedanken ab, daß dein Leben nichts mehr mit dem meinen gemein hatte. Daß du es einem Gott geweiht hattest und darin kein Platz mehr für mich blieb.

Als der Reiter die Nachricht von deinem Tode brachte, fühlte ich mich, der Herr Boron möge es mir verzeihen, um dein Leben betrogen.

Ich hasse es, wenn eine Erzählung kein Ende hat. Und ich hasse es, wenn ich mir ihren Ausgang nicht zumin­dest erträumen kann. Die Geschichte meiner verlorenen Schwester hatte für mich kein Ende, das ich verstehen, das ich als ein solches hinnehmen konnte. Und so bin ich den Spuren gefolgt, habe mich führen lassen von ihren letzten Worten, niedergeschrieben in der Nacht, da der Dunkle sie zu sich rief.

Vier Götterläufe lang bin ich durch Aventurien ge­wandert, habe die Spur ihres letzten Schutzbefohlenen aufgenommen, mit dessen Auftauchen im altaischen Borontempel meiner Schwester - ihren Aufzeichnun­gen zufolge - die Botschaft vom nahenden Untergang der Stadt zuteil geworden ist. Raskir Ingramsson war sein Name, und ich habe mich lange Zeit gefragt, was ihn in den Tempel des Boron verschlagen hat, habe viele Ottaskin befragen müssen, bis ich die seinige fand und die Namen derer, die ihn auf seiner Reise nach Altoum begleitet hatten. Während ich nachzuvollzie­hen versuchte, was sich damals in Altaia zugetragen hat, stieß ich auf fremde Namen und fremde Gebräu­che. Und mit den Monden bekamen sie ein Gesicht und eine Stimme, führten und begleiteten sie mich auf mei­ner Reise, hielt ich Zwiesprache mit ihnen, erklang ihr helles, rauhes Lachen spöttisch-verzweifelt des Nachts an meinen Lagerfeuern. Ich habe ihr Leben zu finden gesucht und die Geschichte meiner Schwester, die man ›Euer Gnaden« nannte. Und war enttäuscht, daß ich sie nicht habe finden können.

Erst jetzt, da ich wieder heimgekehrt bin nach Tha­lusa, erst jetzt, da ich das ledergebundene Buch in Hän­den gehalten und noch einmal die Zeilen gelesen habe, die sie hinterlassen hat, habe ich verstanden, daß sie amEndedieser Geschichte gestanden hat, am Ende die­ser Geschichte hat stehen müssen. Daß es nicht ihre Ge­schichte war, die ich fand und niedergeschrieben habe, sondern daß ihr Leben nur einen kleinen - wenn auch mitnichten geringen - Platz im unergründlichen Plan der Götter eingenommen hat.

Auf deine Art hast du, Schwester, mir die Welt ge­zeigt. Hast du mich gelehrt, daß es Geschichten gibt, die kein gutes Ende haben, die sinnlos scheinen in ihrer Ausweglosigkeit - und es dennoch nicht sind.

Die Zeichen sind dunkel, dunkler noch, als Taija es vermutet haben mag. Und doch ist nichts aussichtslos, und doch gibt es immer eines, das uns, den Überleben­den, bleibt, das uns Kraft zu geben vermag: das Ver­trauen in die Götter und der Mut, den wir daraus zie­hen können.

Aber die Wege der göttlichen Vorsehungen sind ver­schlungen wie die Pfade in Hesindes Hain; sprunghaft wie die Gedanken Tsas, der Jungen Göttin. Und so sehe ich es nun als meine Bestimmung weiterzutragen, was damals geschah, und somit den Kreis zu schließen. Möge Hesinde meine Feder führen, auf daß ich nichts Unüberlegtes schreibe, aber auch Tsa, die Launenhafte, damit ich hinzufüge, was nur die Phantasie mir ein­geben kann, und zusammenfasse, was ich erfahren, zu einer Geschichte, die denen gerecht werden mag, die ihr Leben ließen, und jene aufzurütteln vermag, die sich erheben müssen, um dem Dunkel zu trotzen.

Mögen die Dinge, die ich mir nicht erklären kann, den Helden unseres finsteren Zeitalters Fingerzeig und Hilfe sein. Mögensieim rechten Augenblick die rechten Schlüsse daraus ziehen und mit der Kraft der Unsterb­lichen Zwölf und ihren Kindern verhindern, daß die Zeichen sich erfüllen, verhindern, daßerFuß fassen kann auf Dere. Er, der Verhaßte, der Finstere, der schon einmal einen blühenden Landstrich in Ödnis verwan­delte, durch dessen ekle Wesenheiten schon Tausende den Tod fanden...

Er,dessen Kreaturen bis heute auf Dere wüten.

Er,der selbst nach so vielen Jahrhunderten noch in der Lage ist, den Geist der Lebewesen zu verfinstern und ihnen die Gier und den Zweifel einzugeben - die Gier nach Macht und den unseligen Zweifel am gött­lichen Gefüge der Welt.

Und wäre ich keine Bardin, sondern eine mächtige Hexe, so schriee ich es hinaus in den trügerischen Frie­den dieser lauen Praiosnacht: »Borbarad, ich verfluche dich! Dich und all diejenigen, die dein Werk fortzu­führen trachten!«

Doch ich bin nur eine Geschichtenerzählerin, und so wird es Hesinde gefallen, mir meinen Platz in dieser Welt zuzuweisen, und ich werde mein Bestes tun, ihr Wohlwollen zu erlangen, und auch das Deine, fremder Leser...

1. Kapitel

Unsere Erzählung beginnt im Lieblichen Feld, dort, wo das stolze Vinsalt, Hauptstadt des gleichnamigen König­reiches, in einer lauen Perainenacht des Jahres 1017 nach Bosparans Fall friedlich in der Beuge des mächti­gen Yaquir schlummert. Das Mondlicht taucht die hun­derttürmige Feste in weiches Licht, die große Oper der Stadt hat schon vor vielen Stunden ihre Tore geschlos­sen, in den Tempeln der Zwölfgötter sind die Portale gleichfalls versperrt, und in den Tavernen der Südstadt erlöschen die letzten Lichter, während die Laternen in der Nordstadt, Residenz der vornehmeren Vinsalter Bürgerschaft, schon lange abgedunkelt worden sind. Und wie es der Zufall will, finden wir uns ebendort wieder, in den ›sicheren Armen des Gesetzes‹. Genau­genommen in der Schreibstube (auch als Wachstube ge­nutzt) des dortigen Gesetzesvertreters, des Amtmanns Okenheld, der gleichfalls die Ehre hat, die vergitterten Zellen zur Ausnüchterung und Zurechtweisung allzu Vorwitziger sowie einen Büttel der Stadtwache unter seinem Dach zu beherbergen.

Leider werden wir den guten Herrn Okenheld zu dieser nachtschlafenden Zeit nicht mehr antreffen, da er bereits vor etlichen Stunden zu Bett gegangen und über einem guten Schmöker selig entschlummert ist (selig, da er einen wahrlich gesegneten Schlaf sein eigen nen­nen kann). Darüber hinaus, auch das müssen wir an­merken, hat er sich seine Ruhe in dieser Nacht redlich verdient. Denn am heutigen Tage hatten Gaukler in der Nordstadt gastiert. Das war weiter nichts Verwerf­liches, im Gegenteil, der Gesetzeshüter hatte ihrer Vor­Stellung beigewohnt und seine helle Freude an dem bunten Treiben gefunden.

Doch als sie weiterzogen, waren zwei der Gaukler zurückgeblieben; die kleine Bauchrednerin und Illu­sionistin und eine Hochseilakrobatin, deren feuerrote Haarmähne und anmutige Bewegungen ihn bereits während der Vorstellung in rahjagefälliges Träumen versetzt hatten. Ebendiese zierliche Person war dann auch am späten Nachmittag in seiner Wachstube er­schienen und hatte sich und ihre Gefährtin in der Stadt angemeldet. Eine Woche hatten sie bleiben wollen, und Orlan Okenheld hatte der Rothaarigen mit Freuden die schlanke Hand geführt, um ihr beim Unterzeichnen der Anmeldeurkunde behilflich zu sein.

»Nun, Verehrteste, so ein wundervoller Name wie der Eure gehört doch ausgeschrieben und nicht durch drei liederliche Kreuze ersetzt!« hatte er schmunzelnd ­und auch mit ein wenig Stolz - gesagt, nachdem er be­merkt hatte, daß die Gauklerin des Schreibens nicht mächtig zu sein schien. Und wenige Wimpernschläge später hatten seine fleischigen Amtmannsfinger bereits nach der zierlichen Hand der Hochseilakrobatin gegrif­fen und mit geschwungenen Buchstaben ihren Namen unter das Dokument gesetzt: Zoe. Bei dieser Gelegen­heit hatte er sich sogleich nach möglicherweise geplan­ten Einzelauftritten der beiden Fahrenden erkundigt.

Ja, hatte Zoe geantwortet, sie und ihre Begleiterin Tokahe würden am heutigen Abend eine Vorstellung auf dem großen Platz unweit der östlichen Hügel geben, auf denen der Herrscherpalast sich über die Stadt erhebt.

So hatte Orlan am Abend seine Uniform gebürstet, die wenigen längeren Haarsträhnen an der linken und rechten Kopfseite sorgsam über den ansonsten recht kahlen Schädel verteilt, sich den Bart geschabt und auf den Weg in Richtung des Palastes gemacht, um viel­leicht noch den ein oder anderen längeren Blick auf die Kleine und ihre Kunststücke zu werfen, und sich vor­genommen, sie hernach auf ein Glas Wein auszuführen. Die gutbesuchte Vorstellung hatte ihn fast noch mehr begeistert als die nachmittägliche - was, um bei der Wahrheit zu bleiben, zu großen Teilen an den nur spär­lich bekleideten Rundungen der Rothaarigen gelegen hatte, die im flackernden Schein der Fackeln noch ein­nehmender auf ihn wirkten. Und so hatte er sich nach der Vorstellung zu ihr gesellt, um ihr sein Anliegen einer gemeinsamen Abendgestaltung vorzutragen.

»Werte Dame Zoe«, so hatte er seinen Antrag begon­nen, »der Liebreiz Eurer Darbietungen hat mein Herz derart erfreut, daß ich mich nun glücklich schätzen würde, Euch auf ein Glas edlen Weines...« Doch weiter war er nicht gekommen, denn in diesem Augenblick ­– oSchreck! – hatten sich mit einem leisenKlackdie sil­bernen Schnallen seiner frisch gesäuberten Uniform gelöst, und von staunender Hilflosigkeit übermannt, hatte er mit großen Augen zugesehen, wie seine Klei­der wie von Zauberhand an ihm hinabgeglitten waren und er binnen weniger Wimpernschläge splitterfaser­nackt mitten auf dem Platz gestanden hatte und die Fackeln ihr Licht auf seinen behaarten Bauch mit der stattlichen Rundung und sein rahjagefällig in die Höhe gerecktes Glied geworfen hatten. Als er, noch immer völlig perplex, seinen staunenden Blick erneut auf sein Gegenüber gerichtet hatte, hatte er in die erschrocken aufgerissenen Goldaugen Zoes geblickt, hinter deren Rücken unbemerkt Tokahe, die Bauchrednerin, getreten war. Ihr glucksendes Lachen und die in Richtung seiner Männlichkeit deutende Hand hatten ihn in die Wirk­lichkeit zurückgeholt. Binnen weniger Augenblicke hatte er seine Röcke gerafft, die Rothaarige beiseite ge­stoßen und die Verfolgung der flüchtenden Spötterin aufgenommen. Und wie es der Zufall wollte - oder es der gerechte Zorn des Herrn Praios angesichts einer derartigen Bloßstellung eines Gesetzesvertreters für angemessen befinden mochte -, war die flüchtende Tokahe wenige Straßen weiter einer Handvoll Gardi­sten der Stadtwache geradewegs in die Arme gelaufen, von ihnen ergriffen und von Orlan Okenheld daraufhin bis auf weiteres unter Arrest gestellt worden. Derart von seinem Traum von roten Locken kuriert, hatte er die Bewachung der inhaftierten Unperson seinem Ge­hilfen überlassen, Zuflucht und Entschädigung in dem jüngst erstandenen WerkRahjalieb in Fesselngesucht und gefunden und war hernach selig entschlummert. Auch die Geräusche aus der Wachstube, die im Laufe der Nacht immer lauter geworden waren und um die dritte Stunde in einem Konglomerat aus Poltern, La­chen und Singen endeten, hatten Orlan nicht zu wek­ken vermocht.

Und so lassen wir ihn, just da ein wackerer Geweih­ter im Praiostempel viermal den Gong schlägt und die hellen Töne über dem nächtlichen Vinsalt verklingen, mit seinen Träumen allein und wenden unser Augen­merk auf die rothaarige Zoe, die in diesem Augenblick in der Deckung der Häuserschatten zum Eingang der Wachstube huscht.

Ein kurzer, sichernder Blick, und schon hören wir das leise Klimpern metallener Dietriche. Wenige Wim­pernschläge später öffnet sich die Tür.

Lauschen wir der jungen Gauklerin Zoe, die nun, nachdem sie durch die Tür geschlüpft ist und diese leise hinter sich geschlossen hat, ihre dunkle Stimme er­hebt und damit den Stein unserer Erzählung ins Rollen bringt...

2. Kapitel

9. Peraine 1017 nach Bosparans Fall

Vinsalt, früh am Morgen

»Schnür dein Bündel, geh nach Grangor am Meer der Sieben Winde und rette Dere. Sofort! Weiteres nach dem Abmarsch! Also los, geh schon! Hopp, Hopp! Etwas schneller, wenn ich bitten darf!« flüsterte Zoe und knuffte die schnarchend unter einem Tisch lie­gende Tokahe unsanft in die Seite.

»Klar, geht klar, sofort... ich steh gleich auf... ich komm ja schon, geh ja schon los... Geh ruhig schon mal vor ...«, murmelte es zurück.

Die Bauchrednerin mit dem pechschwarzen Haar rieb sich verschlafen die Augen und wunderte sich, warum die dunkle Holzdecke ihr so nahe zu sein schien. Muß mich wohl täuschen, bin ja gar nicht da­heim, dachte Tokahe dann, streckte die dünnen Arme so weit wie möglich in die Höhe und rekelte sich gemächlich.

An ihrer Seite fuhr der flachsblonde Hüne mit der kleidsamen Uniform der Vinsalter Stadtgarde aus dem Schlaf und wollte gerade nach seinem Schwert greifen, als sein Kopf unsanfte Bekanntschaft mit der Unterseite der eichenen Tischplatte schloß. Es klirrte, und tönerne Trinkgefäße und hölzerne Schalen polterten zu Boden. Der Tisch kippte mit lautem Krachen auf die Seite und gab nun auch für den verschlafenen Blick Tokahes und ihres Vinsalter Trinkgefährten die Aussicht auf eine ausgesprochen unordentliche Kammer frei - Essens­reste klebten an Decke und Wänden, der Inhalt der Regale, die die ganze Nord wand des Zimmers einnah­men, war auf dem Boden verstreut und mischte sich dort mit halb ausgelaufenen Weinschläuchen und zer­tretenen Schreibutensilien.

Während Tokahe immer noch mit halbgeschlossenen Augen am Boden lag und alle möglichen Einwände für die Notwendigkeit des Weiterschlafens suchte und fand, bestaunte Zoe kopfschüttelnd die Unordnung um sich herum und schüttelte lächelnd den Kopf.

Auch die Schleier vor den Augen des wackeren Vins­alter Gardisten lichteten sich langsam, aber stetig, und er begriff, daß die ihn umgebende Wüstenei tatsächlich einmal seine Wachstube gewesen war. Die Vorstellung allein bereitete ihm Grauen.

Inmitten dieses Durcheinanders stand breitbeinig, die Arme in die schmalen Hüften gestemmt, die vol­len Lippen zu einem spöttischen Lächeln verzogen, die schönste Gauklerin Deres. Just in diesem Augenblick griff sie nach der auf dem Boden stehenden hölzernen Laterne, wobei das Feuerrot ihres Haars im Schein der Kerze hell aufloderte.

Der Gardist suchte sich verzweifelt einen Reim auf die Anwesenheit der ihm unbekannten Person in der Wachstube zu machen. Es gelang ihm nicht. Nachdenk­lich rieb er sich die schmerzende Stirn und betrachtete versonnen die goldschimmernden Augen der rothaari­gen Unbekannten. Warum lächelte sie so sonderbar?

»Zoe, da bist du ja endlich!« ertönte nun erneut Tokahes Stimme seltsam krächzend von unterhalb des Tisches. Es stank nach Bier und Erbrochenem.

»O nein, nicht immer noch Vinsalt!« Die Schwarzhaa­rige wandte ihren schmerzenden Kopf fort von dem flammengerahmten Gesicht Zoes und ließ den Blick durch die Kammer und dann langsam zum Gesicht des Mannes neben ihr schweifen. Dieser runzelte die dich­ten Brauen und schien nur langsam zu begreifen. Aber die Bauchrednerin hatte augenscheinlich keine Lust, auf seinen Kommentar bezüglich der, wie sie zugeben mußte, radikalen Wandlung der Wachkammer zu war­ten. Das Zechspiel der letzten Stunden war wohl ein wenig außer Kontrolle geraten - sei‘s drum, Tokahe störte es nicht.

Wieselflink sprang sie nun auf, klaubte ihren Beu­tel unter einem Berg metallener Rüstungsteile heraus, kramte kurz in dem Haufen aus Pergament und Schreib­utensilien, zog einen engbeschriebenen Bogen hervor, steckte ihn mit einem breiten Grinsen in die weiten Ta­schen ihres viel zu großen Kleides und war schon wie­der an der Tür. »Hab Wichtiges zu tun, muß die Welt retten, hast wohl keine Lust mitzukommen, was?« fragte sie in Richtung des nächtlichen Trinkgefährten.

Es vergingen etliche Wimpernschläge, bis der Hüne verstand, daß er gemeint sein mußte. Sein Blick wurde stetig klarer, und als er jetzt nach seinem Schwert ta­stete, war die Bauchrednerin sich sicher, was er damit tun würde. So zuckte sie nur bedauernd die Schultern, faßte die immer noch schmunzelnde Zoe bei der Hand, stieß einen schrillen Pfiff aus und rannte mit ihr hinaus auf die noch dunklen, nahezu menschenleeren Straßen der Stadt, dem stolpernden Getrappel ihres herbeieilen­den Maulesels und dem gleichmäßigen Hufschlag von Zoes dunklem Shadif entgegen.

»Sag einmal, meineYakound liebste aventurische Raubkatze, wie lautete noch gleich deine neue Auf­gabe? Grangor? Meer der Sieben Winde und so? Was wollen wir denn da? Ratten jagen? Und überhaupt: Ich glaube, du bist gar nicht an der Reihe! Deine Aufgaben haben bislang nämlich immer ganz grauenvoll geendet! Ich erinnere mich da an den folgenden Satz: Geh nach Nostria und verschaffe uns eine Audienz beim dortigen König! - Schrecklich! Langweilig! Wie wäre es denn mit: Geh in die Drachenei-Akademie und bring mir das Drachenei? Findest du nicht...«

Zoe unterbrach die lamentierende Tokahe: »Nein, nein,ichbin an der Reihe! Ich erinnere dich nur un­gern an deine letzte Aufgabe: Reise nach Vinsalt und rette deine beste Freundin Tokahe aus den Fängen der Praioshäscher! - Und?! Was habe ich getan? Furchtlos, unerschrocken und prompt erledigt, Liebste! Und jetztzivil ichauf einem Schiff reisen! Und außerdem, meine Hübsche, hast du mir offensichtlich nicht richtig zu­gehört: Wir werden die Welt retten! Du mußt zugeben, dagegen ist dein dummes Drachenei ein Nichts!«

»Ach so, na denn, wenn‘s weiter nichts ist! Dann laß die gute alte Tokahe nur machen! Du bekommst dein Schiff,Karjagg,und auch deinen Weltuntergang, mein Rotpüschel. Aber meine Rache wird fürchterlich sein! Ich glaube, ich sollte dir wieder etwas erholsamere Auf­gaben stellen. Zum Beispiel: Geh mit deiner besten Freundin in eine gute Thorwaler Hafenkneipe und be­trinke dich hemmungslos! Könnten wir nicht rasch die Spielregeln ändern und diese Aufgabe vorziehen?«

Die Rothaarige schüttelte den Kopf und deutete mit hochgezogenen Brauen zur Tür des Wachhauses, in der - schwankend und mit ungläubig glotzenden, blut­unterlaufenen Augen - der flachsblonde Hüne auf­tauchte. Wimpernschläge später hallte ein krächzendes »Alaaarm!« durch die Gassen, und der Gardist bewegte sich torkelnd in ihre Richtung. Im Obergeschoß des Hauses wurde Orlan Okenheld unsanft aus dem Schlaf gerissen, griff nach seiner Waffe und rannte zum Fen­ster.

Während Zoe sich nun auf den Rücken des Shadif schwang, biß die Schwarzhaarige ihrer Begleiterin herzhaft in das feste, außerordentlich wohlgeformte Hinterteil.

»Tokahe, du gerissenstes aller aventurischen Groß­mäuler, schwing die Hufe, oder willst du wirklich, daß dein neuer Freund von der Stadtgarde uns begleitet?« klang es lachend vom Rücken des Pferdes. Die Ange­sprochene grinste breit. »Tut mir leid, Zoe, ich konnte einfach nicht anders!« Dann endlich sprang sie auf den Rücken des Maulesels - rittlings, wie sie es immer tat -, und Orlan Okenheld vernahm, als er kurz darauf die Treppe heruntergestürmt kam, nur noch das entfernte Getrappel der Hufe und das Stöhnen seines trunkenen Gardisten.

Ohne zu zögern, verpaßte er dem flachsblonden Hünen eine Ohrfeige, die diesen auf der Stelle in das Reich der Träume zurückbeförderte, und verständigte die Stadtwache.

Währenddessen verließen die zwei Frauen auf dem schnellsten Weg die Hauptstadt des Vinsalter Königrei­ches in Richtung Norden. Zoe hielt die katzenhaft gel­ben Augen liebevoll auf die spöttischen grünen Augen Toks gerichtet, die vor ihr ritt, ohne auch nur einmal nach vorn zu blicken. Sie hatten wirklich Glück, daß die Stadtgardisten sie nicht mehr erwischten. Natürlich hatten sie Glück - sie kannten viele Wege...

3. Kapitel

10. Peraine 1017 nach Bosparans Fall

Grangor, am Mittag

Während Tokahe und Zoe nach einer kurzen Rast noch immer lachend und scherzend auf ihren Reittieren in Richtung der Hafenstadt Grangor ziehen und Orlan Okenheld endgültig die Hoffnung aufgibt, der entflohe­nen Spötterinnen habhaft zu werden, schließen wir, wer­ter Leser, Bekanntschaft mit einer weiteren wichtigen Person unserer Erzählung: dem jungen Thorwaler Ras­kir Ingramsson. Am Mittag des 10. Peraine 1017 nach Bosparans Fall steht er mit seinem Oheim, dem Kapitän Liskolf, an der Schiffswerft von Grangor und bewundert staunend das mächtige Schiff, mit dem ihrer beider Otta­jasko bereits einen Tag später in See stechen wird.

Noch ahnt er nicht, wohin seine Reise ihn letztend­lich führen, und auch nicht, wer ihn auf dieser beglei­ten wird...

»Was sagst du, Liskolf? Fünfhundert Quader Fracht­raum hat dieses Monstrum von einer Karracke? Bei Swafnir, ein ganz schöner Brocken, das Mädchen! Wa­renlieferung, hm? Also, mit dem, was das Schiff hier fassen kann, stampft man auf dieser Südmeerinsel mühelos eine ganze Stadt aus dem Boden! Sind doch vor allem irgendein Holz und Metalle, die wir trans­portieren, oder? Na, Holz sollten sie da unten ja wirk­lich genug haben, hm?«

Die zwei Männer, die an einem abgelegeneren Teil der Grangorer Schiffswerft standen, blickten ehrfürch­tig zu der Karracke auf, die in ihrer Massigkeit das ganze Hafenbecken auszufüllen schien. Von Bord des Schiffes wehte Efferds Odem vereinzeltes Klopfen und Rufen der Handwerker herüber, die letzte kleine Ausbesserungen vornahmen. Denn morgen sollte das stolze Schiff sich erstmals dem Wassergott stellen.

»Weißt du irgend etwas Genaueres?« nahm Raskir seinen Monolog wieder auf. »Wo genau soll das Zeug denn hin? Was wollen sie damit? Und wer hat dieses Mordsding bauen lassen? Bei Swafnir, welch ein Riese von einem Schiff!«

Der alte Liskolf antwortete nicht, sondern stopfte statt dessen bedächtig seine Pfeife und ließ den Blick zum wiederholten Male zum Bug des Schiffes gleiten, wo sich in schmiedeeisernen Lettern der Name der Karracke von dem Eichenholz abhob:Golgaris Schwinge.

»Ein reichlich sonderbarer Name für ein Handels­schiff, hmhmhm, reichlich sonderbar«, murmelte er dann.

Der Jüngere neben ihm schien noch immer ganz in den Anblick des Schiffes versunken. Reglos stand er da, hoch gewachsen, kräftig, die langen Strähnen seines dicken, rotblonden Haares rechts und links des mar­kanten Gesichts zu Zöpfen geflochten. Dort, wo die Kleider aus hellem Leinen den muskulösen Körper nicht bedeckten, glänzte wettergegerbte Haut; er hielt die vollen Lippen fest zusammengepreßt, und seine strahlendblauen Augen waren unter den dichten Brauen zu schmalen Schlitzen verengt.

Liskolf entzündete seinen Pfeifentabak und antwor­tete, während Rauchwolken ihn einhüllten: »Länge vierunddreißig Schritt, Breite zwölf Schritt, fünf Schritt Tiefgang, fünfhundert Quader Schiffsraum, acht Dut­zend Matrosen, sechs Dutzend davon angeheuerte See­leute aus Grangor. Fast so groß wie die legendäreFürchtenichts!Ins Südmeer soll‘s gehen, Brabak, einmal ums Kap, schäbige Gegend, Seeschlangen und anderes unschönes Kroppzeug, aber das weißt du ja schon, mein Junge. Und dann nach Altoum, diese Südmeer­insel, die ich euch bei der letzten Besprechung auf der Karte gezeigt hab. Hmhmhm, hab kein gutes Gefühl bei der Sache...Golgaris Schivinge,hm, will ja nichts ver­lauten lassen gegen den guten, alten Herrn Boron, aber ein Schiff nach dem Totenvogel zu benennen ...«

»Was sagtest du gerade? Totenvogel? Wieso? Wie heißt es denn, das Mädchen?« Der rotblonde Hüne be­trachtete forschend die schmiedeeisernen Lettern am Schiffsbug. Ein langes Wort. Und dieses Zeichen am Anfang, das war ein G ...»Güldenland?«schlug er vor. Liskolf zog nachdenklich an seiner Pfeife. Die meisten Seeleute waren des Lesens nicht mächtig. Bei ihm als Kapitän war das natürlich anders, und er war stolz dar­auf. In der Tat wäre es besser, wenn niemand seiner Leute um den wahren Namen des Schiffes wüßte. Es würde nur Unruhe in die Mannschaft bringen. Doch Lügen war noch nie seine Sache gewesen. »Nein«, sagte er also.›Golgaris Schwinge‹heißt es. Wie der Totenvogel des Herrn Boron. Schwarzer Humor, den diese Bra­baker Adelssöhnchen haben. Also, wenn‘s nach mir ginge ... ach was!« Verärgert spuckte er aus.

Der Jüngere warf dem Kapitän einen erstaunten Blick zu. Da war er wieder - der besorgte, entmutigende Ausdruck im Gesicht des Oheims. Der verbitterte Zug um den sonst stets zufrieden lächelnden Mund. Ge­wöhnlich hatte Liskolf mit ihm immer ausführliche Er­kundungsgänge über die Schiffe in der Werft gemacht, erst recht, wenn sie beide es auf seiner Jungfernfahrt begleiten sollten. Darüber hinaus war er, Raskir, auf dieser Fahrt erstmalig von der Ottaskin dazu auser­wählt worden, Liskolfs Platz einzunehmen, falls die­sem auf der Fahrt etwas zustoßen sollte. Eigentlich bin ich sozusagen zweiter Kapitän - erst recht ein Grund, mich ein bißchen genauer in Kenntnis zu setzen, so dachte Raskir bei sich.

Doch bei derGolgaris Schwingewar alles anders ge­wesen. Der alte Kapitän hatte die Ottajasko wie im­mer genauestens über Route und Bauart des Schiffes in Kenntnis gesetzt. Die Summe, die bei dieser Sache für die Mannschaft heraussprang, war beträchtlich. Doch über die Auftraggeber und das, was es zu transportie­ren galt, hatte der Alte kein überflüssiges Wort ver­loren.

Genaugenommen wußte Raskir selbst nichts weiter darüber, als daß es sich um einen Auftrag irgendwel­cher feinen Herrschaften aus Brabak handeln sollte, die irgendwelche Materialien in den Süden schaffen woll­ten. Warum diese ihr Schiff hier und nicht weiter im Süden bauen ließen, war keine Frage: Grangor war be­kannt für seine Zimmermänner und Baumeister, und wer etwas Besonderes haben wollte - was dieses Schiff zweifelsohne war -, tat gut daran, sich an die besten Schiffbauer Aventuriens zu wenden. Der Grund, warum gerade seine und Liskolfs Ottajasko ausgewählt worden war, um die Karracke zu überführen, lag gewiß nicht zuletzt daran, daß sie seit kurzem einen der führenden Zimmermänner dieser Region in ihren Rei­hen hatten: Fjornwulf, dessen hochgewachsene Gestalt Raskir auch jetzt zwischen den Handwerkern an Bord der Karracke ausmachen konnte. Fjornwulf stammte aus einer anderen Ottaskin und hatte vor gut einem Götterlauf mit Firinja, der Tochter Liskolfs, den Travia­bund geschlossen. Firinja hatte ihr Leben dem Swafnir geweiht, und sie und ihre Familie waren innerhalb der Ottaskin hoch angesehen. Gewöhnlich war die junge Swafnirgeweihte bei den Fahrten der Ottajasko dabei, doch diesmal würden sie ohne sie in See stechen, da Fi­rinja vor einigen Monden überraschend nach Prem auf­gebrochen war. Fjornwulf begleitete die Ottajasko erst zum zweiten Mal, und für die anstehende Fahrt hatte er sich bei Liskolf ausgebeten, für die Koordination und Wartung der Lagerräume eingeteilt zu werden, was der Alte ihm gern zugestanden hatte. Fjorn könnte ich fra­gen, ob er mich einmal durch die Lagerräume führt, fiel es Raskir denn auch ein... obwohl ich viel lieber mit Liskolf gehen würde, beendete er seinen Gedanken. Doch derlei schien nicht möglich zu sein. Liskolf war, seit er von der Grangorer Werft als Kapitän dieses Schiffes bestellt worden war, immer stiller geworden, und man hatte ihn nur noch selten in den Hafenknei­pen der Stadt zu Gesicht bekommen. Aber so sicher Raskir war, daß der Oheim ihn mochte, so sicher wußte er auch, daß man den Kapitän niemals nach etwas fra­gen sollte, über das dieser nicht sprechen wollte. Denn der Jähzorn des Alten war so gewaltig wie Swafnirs Leib...

Liskolfs Stimme unterbrach den Hünen in seinen Gedanken. »Ach, Raskir, sei doch so gut und treib mir noch zwei Gehilfen für den Koch auf. Norhild wollte ihre Söhne mitnehmen, aber daraus wird wohl nichts, die beiden liegen mit Dumpfschädel zu Hause.«

Dann, ohne eine Antwort seines Neffen abzuwarten, erhob sich der alte Kapitän und entfernte sich grußlos in Richtung der Hafenkneipen. Traurig sah ihm Raskir nach, bis die Gestalt mit dem langen grauen Haar zwischen umhereilenden Werftarbeitern und Matrosen nicht mehr auszumachen war.

»Was ist nur mit dem Alten los?« seufzte er miß­mutig. Raskir überlegte, ob er Fjornwulf jetzt gleich sein Anliegen bezüglich einer Führung durch die Lade­räume vortragen sollte, entschloß sich aber kurzerhand dagegen. Geladen war die Fracht ohnehin schon, und ob er sie nun heute inspizierte oder morgen, war im Grunde einerlei. So stieß er lediglich einen trillernden Pfiff aus, machte Fjornwulf ein Zeichen, das soviel hieß wie »Wir treffen uns gleich auf einen Humpen!«, und machte sich dann auf zum Efferdtempel. Wie vor jeder Fahrt hoffte er, sich den Meeresgott durch eine groß­zügige Spende gewogen zu machen. Ehe die Karracke seinem Blick entschwand, wandte er sich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf das Schiff, welches aus der Entfernung eher noch riesenhafter wirkte.

Ungehalten schüttelte er den Kopf und stampfte mit dem Fuß in den dicken Fellschuhen auf, um die trüben Gedanken zu vertreiben. »Bei Swafnir, Raskir, jetzt reicht‘s! Schau dich doch einmal um! Welch ein Schiff! Und Kap Brabak! Dazu noch das seltsame Verhalten des Oheims. Und du willst Trübsal blasen, weil dem alten Liskolf ein paar Läuse über das Fell gelaufen sind?! Also, wenn das nicht nach einem Abenteuer klingt, was dann? Und du, Raskir Ingramsson, bist dabei!«

Mit einem zufriedenen »Jau!« klatschte er die rechte Faust in die Handfläche der Linken und tauchte ein in die schmalen Gassen Grangors.

Grangor, später Nachmittag

»Tokahe! Was in der Zwölfe Namen trägst du da am Leib? Und was ist mit deinen Haaren geschehen? Du siehst ja aus wie ein gestreiftes Selemferkel!«

Zoe saß auf dem Geländer einer der unzähligen Brücken, die die einzelnen Inseln Grangors zu einer Stadt zusammenfügen. Sie hatte das bunte Treiben auf dem Marktplatz vor sich genossen, während Tokahe bei Freunden ein Quartier für Pferd und Maulesel suchte. Nun betrachtete sie staunend die abenteuerliche Aufmachung der ihr entgegeneilenden Freundin. Diese hatte sich das ehemals schulterlange Haar halbfinger­kurz geschnitten und ihr weites Kleid gegen ein seltsa­mes rosarot und schmuddelgrau gestreiftes leinenes Etwas getauscht, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einem nostrischen Rübensack mit angenähten Hosen­beinen und einer Taillenkordel aufwies.

Die Angesprochene strahlte, schwang sich dann mit einem zufriedenen Seufzer neben Zoe auf die Mauer und streckte ihr triumphierend einen Tuchbeutel in den Farben ihrer Kleidung entgegen, auf dem in grünen Lettern ›Aldomarra Sgirra, Reliquienhändler‹ zu lesen war. »Hab dir was mitgebracht, meine kleineYako!«

Da Zoe sie weiterhin fassungslos anstarrte und kei­nerlei Anstalten unternahm, nach dem Beutel zu greifen, fügte Tok hinzu: »Heißt ›meine kleine Raub­katze‹...›Yako‹,meine ich.«

Ein kurzes Lächeln huschte über das Gesicht der Rot­haarigen, ehe sie ihre schlanken Arme in gespielter Ver­zweiflung der Praiosscheibe entgegenstreckte. Die Vor­liebe der Freundin für fremde Sprachen würde sie eines Tages zu den Noioniten bringen!

Sie waren vor einigen Monden, als sie noch mit den Gauklern über Land zogen, in Almada bei einem dort lebenden Moha zu Gast gewesen. Tok hatte er stets ›Tokahe‹ geheißen, was er ihr mit ›Großmaul‹ ins Garethi übersetzt hatte. Seitdem nannte sie sich so -Tokahe oder aber ›Tok‹, der Einfachheit halber. Und seit dieser Begegnung spickte sie ihre Reden stets mit der Handvoll mohischer Wörter, die sie von dem alten Mann erlernt hatte.

Wenn Tok doch nur einmal eine Sprache ganz er­lernen würde!

Als sie einander kennenlernten, auf dem Havenaer Neujahrsjahrmarkt im Praios vor nunmehr... Sie über­legte kurz und nahm dann doch ihre langen, schlanken Finger zur Hilfe. Ja, drei Götterläufe mußte es wohl her sein, da hatte die Freundin sich noch ›Badoc‹ genannt. Ein elfischer Name, wie sie ihr damals mit stolzge­schwellter Brust erklärte. Später hatte sie diesen Namen wieder abgelegt.

»Ich hab so ´nem Elf meinen Namen gesagt, und da hat er so seltsam zwischen den Ohren ausgesehen und gemeint, ›Nurdradha‹, das wäre ein schöner Name für mich, und den anderen, den solle ich doch lieber weg­lassen, das würde ihn an irgendwelche hochgeistigen Dinge erinnern, die ich schon wieder vergessen habe, aber jedenfalls habe ich gedacht, wenn ich mir immer soviel Elfenweisheit anhören muß, wenn einer von denen meinen Namen hört, da heiße ich lieber anders, und dann haben wir ja auch den Moha kennengelernt, und da war ich schon deshalb froh, weil dieser andere Name mir viel zu lang war«, hatte Tok in einem ihrer heißgeliebten Bandwurmsätze ihren Namenswechsel erklärt.

Zoe war sich bis heute nicht sicher, ob sie diesem Elfen dankbar sein sollte.

Wahrscheinlich würde sich in absehbarer Zeit her­ausstellen, daß ›Tokahe‹ in Wahrheit das mohische Wort für ›Abfallgrube‹ war...

Nachdenklich betrachtete die Gauklerin ihr Gegen­über. Die moosgrünen Augen unter den feingeschwun­genen schwarzen Brauen glänzend, das Stupsnäschen in winzige Falten gekraust, auf denen die unzähligen Sommersprossen wie Seesternchen auf Efferds Wogen zu treiben schienen, die Zungenspitze aufgeregt die Li­nien des etwas zu großen Mundes entlangfahrend, mit den Füßen rechts und links des Geländers unablässig hin und her schwingend, den ganzen schlanken, drah­tigen Körper beständig in Bewegung - so saß sie da und kramte mittlerweile aufgeregt in den Tiefen des mitgebrachten Tuchbeutels.

Ach, Tok, dachte sie da, und wenn du dich ›Flinker Diffar‹ nennen würdest... Nun gut, das wäre ein wirk­lich dummer Name, aber lieben würde ich dich den­noch!

Ein empörter Aufschrei der Freundin riß sie aus ihren Gedanken: »Ha! Dieser Fuchs von einem mittel­reichischen Händler hat mir den Zehnagel dieser Elida von Salza unterschlagen! Wie soll uns denn ohne die­sen götterverdammten Zehnagel jemals auch nur ir­gendein dahergelaufener Seefahrer anheuern, kannst du mir das verraten? Der wird uns doch niemals glau­ben, daß wir waschechte Seeleute ... Aber nein! Hier ist er ja! Gleich zweimal hab ich ihn erstanden, einen für dich und einen für mich. Und beide Male ist es der Nagel des rechten kleinen Zehs! Ist das nicht ein Zu­fall?« Sie zwinkerte verschwörerisch, während sie zwei gelbliche Nägel, jeder gewiß einen halben Spann breit und fingerdick, an außerordentlich robusten Lederbän­dern an ihrem Finger baumeln ließ.

»Ach, die heilige Elida war ein Troll? Nun, das habe ich nicht gewußt! Und das Leder, an dem ihr Nagel hängt, ist gewiß aus Drachenhaut.« Lachend fuhr Zoe der Freundin über die dichten schwarzen Stoppelhaare. Diese strahlte, gab ihr einen innigen Kuß und sprang dann mit einer gekonnten Rückwärtsrolle auf die Hände, so daß sie nun im Handstand auf dem Brücken­geländer, mit Kopf und Beinen zappelnd, ein recht abenteuerliches Bild abgab.

Hatten die Augen der vorbeischlendernden Markt­besucher und Händler die beiden Frauen bislang nur kurz gestreift, viele mit einem ungläubigen, staunen­den, fast ängstlichen Blick auf Zoes makelloses, feuer­gerahmtes Gesicht und einige mit einem »Welch dämo­nische Schönheit!« auf den Lippen, so blieben sie jetzt vereinzelt stehen, in Erwartung einer Gauklervorstel­lung.

Ein kleiner Junge in arg zerlumpter Kleidung nutzte die Gunst der Stunde und rief, von einem zum anderen laufend: »Gaukler! Gaukler! Große Vorstellung! Nur einen Kreuzer! Kommt und staunt!« Wer ihm nichts gab und ihn nicht beachtete, dem suchte er den Beutel zu schneiden. Heute war ein guter Tag, denn Phex war mit ihm; niemand bemerkte sein Treiben, und ein gut­gefülltes Säckchen fand den Weg in die viel zu weiten Ärmel seiner abgewetzten Joppe.

Und dann erhob Tok tatsächlich ihre klare Stimme: »Volk von Grangor! Ein Rätsel!« Von irgendwoher er­scholl ein Trommelwirbel, doch die, die suchend den Kopf nach dem Trommler wandten, vermochten ihn in der Menschentraube, die sich mittlerweile gebildet hatte, nicht auszumachen.

»Wer ist groß und breit und schön

besegelt Efferds Meer und Seen

hat die Zehen eines Trolls

und stinkt dazu wie nasses Holz?

Na, Volk von Grangor, wer weiß die Antwort?«

»Wer weiß die Antwort, wer weiß die Antwort?« echote der Junge in der zerlumpten Kleidung. »Einen Silber schenke ich dem, der die Antwort weiß!«

Dann erst wurde er sich des Gesprochenen gewahr und runzelte verwirrt die Brauen. Was redete er denn da? Aber nein, er hatte ja überhaupt nicht gespro­chen... Aber das war doch gerade seine Stimme gewe­sen, oder?

Unsicher blickte er zu den beiden Gauklerinnen hin­über. Die kleine Schwarzhaarige zwinkerte ihm zu. Und dann ertönte unmittelbar neben seinem Ohr ein leises spöttisches Lachen.

Da nahm er die Beine in die Hand und rannte los ...

Brabak, Nachmittag

Am südwestlichen Zipfel Aventuriens auf dem höch­sten Punkt der Hügelstadt am Mysob thront der herr­schaftliche Palast König Mizirions. Seine Türme und Dächer glänzen gülden im hellen Licht der Praios­scheibe und verschwimmen doch von unten gesehen in der hitzeflirrenden Luft dieses sommerlichen Tages. Hier unten, im Hafenviertel der Stadt, stinkt es zu die­ser Jahreszeit ebenso erbärmlich wie in den finsteren Tiefen des Alanfanischen Schlundes, denn die Funda­mente ruhen auf Holzpflöcken, und diese wiederum sind irgendwo in den Tiefen des sumpfigen Untergrun­des verankert. Auch die Gassen sind aus hölzernen Planken gefertigt, doch einige Stellen sind dünn und brüchig; im Hafenviertel Brabaks herrscht viel Betrieb, so daß man mit dem Auswechseln der Dielen kaum nachkommt.

In den unzähligen schmuddeligen Hafenkneipen trifft sich nahezu alles, was Dere an Lebewesen zu bie­ten hat; Menschen aus allen Teilen Aventuriens, einige Angroschim, Echs, Goblin und Ork - diese meist als Sklaven der hohen Herren. Nur Elfen sieht man selten, was nicht wundernimmt, wenn man bedenkt, daß die­ses Volk von Schöngeistern mit seinen hochempfindsa­men Sinnen den beißenden Geruch von Fisch, Reptil, Schweiß, Dreck und Verwesung wohl nicht lange ertra­gen könnte. Manchmal ertönt ein dunkles Grollen über der Stadt, Sumu bebt, fast ist es, als liefe ein Frösteln durch ihren Leib. In diesen Momenten sind die Augen der Brabaker angstvoll gen Osten gerichtet, dorthin, wo ein turmhoher Granitblock das Licht der Praiosscheibe zu schlucken scheint. Und viele greifen schutzsuchend nach ihren Talismanen, senden ein Stoßgebet zu ihren Göttern und stellen ein weiteres Mal voller Schrek­ken fest, daß noch nicht einmal eine Efeuranke diesen

grauen Koloß zu erklimmen wagt, es überhaupt kein Leben zu geben scheint im Umkreis dieses dunklen Ge­bäudes,des Konvents der verfinsterten Sonnenscheibe, des sphärenkundlichen Instituts, der dunklen Halle der Geister zu Brabak.

Klein sind die Fensterluken dieses Bollwerkes - sie gleichen eher Schießscharten -, und von innen sind selbst diese zumeist mit schweren Vorhängen aus Samt verschlossen. So auch in der Bibliothek der Akademie, in der an diesem schwülen Perainemittag eine hellhäu­tige Tulamidin von zierlicher Gestalt in einem haut­engen nachtschwarzen Gewand über einem lederge­bundenen Folioband saß. Hoch über ihrem Kopf warf das wenige gebündelte Licht aus einer der Schießschar­ten ein Heptagramm an die Wand.

Jetzt, gegen die dritte Stunde, war die große Biblio­thek bis auf die unzähligen Folianten und Pergament-rollen in den hohen Regalen leer, von den Bücherwän­den einmal abgesehen, die hier und da in den Raum hineinragten und schattentiefe Nischen bildeten. Und dann gab es noch die Fresken dunkler Wesenheiten mit noch dunkleren Augen, welche die Mauern zierten. An der Nordseite entdeckte die grazile Frau einen Jüng­ling, der gleichfalls in einen Folianten vertieft war. Hin und wieder vernahm sie das Schaben einer Feder auf Pergament, wenn der junge Mann sich Notizen zu dem Gelesenen machte. Ansonsten war es vollkommen still in der Bibliothek... still, bis auf das leise Murmeln zweier Stimmen. Die junge Frau hatte diese nicht ab­sichtlich belauschen wollen, doch vor wenigen Minuten hatte sie ihren eigenen Namen vernommen, gedämpft durch die angefüllten Regale, welche sie von den unbe­kannten Sprechern trennten. Sie war überzeugt davon, daß die zwei Männer, zu denen die Stimmen gehörten, nichts von ihrer Anwesenheit ahnten.

»Sssindai Rathilsssdarn heissst die Dame... Und Ihr ssseid Euch sssicher, dasss sssie die Richtige für diessse Aufgabe issst, Magissster?« fragte die hellere der bei­den Stimmen seltsam zischelnd.

»Ohne Zweifel, mein Freund«, entgegnete die an­dere, die, so die Einschätzung der Lauschenden, einem älteren Mann gehören mußte.

»Und wie finde ich sssie?«

»Ihr könnt sie nicht übersehen, die Frau gleicht einer marmornen Katze. Sie trägt stets ein Tuch um den Kopf gebunden, das ihre Haare verdeckt; ihre Haut ist sehr hell, fast durchscheinend, und sie ist schlank, hoch gewachsen, mit ernsten Augen von undefinierbarer Farbe, elfischen Gesichtszügen...«

»Eine Elfe!« Die zischelnde Stimme klang belustigt. »Ich wussste gar nicht, dasss Ihr Euch hier mit Natur­tzzzauberern abgebt, werter Magissster.«

»Nein, nur irgendein Elfenbastard in der Familie, ist wohl schon länger her. Sindai ist eine der Besten auf diesem Gebiet - hat man Euch ihre Präferenzen nicht genannt? Undsiekennt, mit Verlaub, keinen Skrupel, so daß sich die unerfreulichen Umstände, von denen Ihr berichtet habt, gewiß nicht wiederholen werden, da bin ich mir sicher. Die Dame ist außerordentlich selbstbe­herrscht und absolut integer - in unserem Sinne, ver­steht sich.«

Der Unbekannte machte eine bedeutungsschwangere Pause, und die junge Frau war sicher, daß er dabei lächelte. »Integer - in unserem Sinne, versteht sich...« war einer der Lieblingsausdrücke der Brabaker Magi­ster und Magistrae. »Auch möchte ich meinen«, fuhr die Stimme schließlich fort, »daß ihre ... nun, sagen wir einmal... Interessen den unseren keineswegs entgegen­stehen. Darüber hinaus könnte sie diese Barbaren ein wenig im Auge behalten. Eine charismatische Dame ist für das Seefahrervolk gewiß eher eine Respektsperson als ein gebrechlicher Magister oder ein ...« Das leise La­chen des Älteren ging in ein Husten über, so daß die folgenden Worte nicht zu verstehen waren. »... wie Ihr es seid. Mit Verlaub, mein Freund, da müßt Ihr mir recht geben«, schloß er dann.

Man vernahm einen zischenden Laut, als hätte je­mand scharf Luft geholt. Nach einer längeren Pause er­klang wiederum die hellere Stimme, leiser jetzt und sehr gepreßt: »Nun gut, ich werde die Dame Sssindai noch in diessser Woche aufsssuchen. Ich hoffe nur, Eure ›Katzzze‹, werter Magissster, hat sssich wirklich die ge­fühlsssdussseligen Träume ihrer langohrigen Vorfahren ausss dem Kopf geschlagen ...«

Hinter der schützenden Wand aus Folianten biß sich die Hellhaarige so fest auf die Unterlippe, daß Blut hervorquoll, dunkel und rot, und ein Tropfen auf den Mantikor in dem Folioband vor ihr fiel. In ihrem Kopf waren Stimmen, spöttische Stimmen zu hören, »...gar nicht schlecht für einen Elfen...«, sagten sie, und »...höchst erstaunlich für einen Baumhüpfer, meine Liebe...« Von der anderen Seite der Bücherwand ver­nahm man das Rücken von Stühlen und sich entfer­nende Schritte.

Sindai Rathilsdarn schlug den Folianten so heftig zu, daß der Jüngling an der Nordseite erschrocken auffuhr und ihr den Zeigefinger der linken Hand entgegen­streckte, zielte und ihn dann mit einem wütenden »Ruhe, bei Hesinde!« wieder sinken ließ. Sindai sah zu ihm hinüber, sah ihn nur an, fest und kalt. So lange, bis dieser den Blick senkte. Dann wuchtete sie den Folian­ten an seinen Platz zurück, griff nach einem an der Wand lehnenden schlichten Stab aus Blutulmenholz und verließ die Bibliothek.

4. Kapitel

14. Peraine 1017 nach Bosparans Fall

An Bord derGolgaris Schwinge,früher Abend

DieGolgaris Schivingetrieb über das Meer der Sieben Winde, welches seinem Namen am heutigen Tage keine Ehre machte. Es herrschte Flaute, und das schon seit Tagesanbruch.

Jetzt ließen sich bereits die ersten Sterne am Firma­ment erahnen, und noch immer wollte kein Wind aufkommen. Von irgendwoher wehten die melancho­lischen Klänge einer Flöte über das Deck. Ansonsten war es still auf der Karracke. Nur Swafgard, die thorwalsche Steuerfrau, und etwa zwei Dutzend Lieb­felder Matrosen und Mitglieder der Ottajasko würfel­ten um Branntwein. War ein Spiel gewonnen, schallte ein ›Wird die Hucke immer voller, wird der Wind auch wieder doller!‹ über das Deck, gefolgt von dem dumpfen Geräusch aufeinanderprallender Holz­becher.

Tok und Zoe saßen abseits der Seeleute an der Reling der Karracke, letztere mit recht unglücklichem Ge­sichtsausdruck. »Meine gute Tok, ichmöchteaber nicht zu diesem Raskir gehen und einen schönen Abend mit ihm verbringen! Du weißt genau, daß seine Vorstellung von diesem Abend sich nicht mit der meinigen deckt! Und überhaupt war es wieder einmal ein völlig dum­mer Einfall von dir, diesem Menschen zu erzählen, ich sei die Tochter der Leibköchin von König Kasimir von Nostria! Ich kann verdammt noch mal nicht besser ko­chen als ein Oger! Außerdem ...«

Tok unterbrach den Monolog der Freundin: »Meine guteCante-Tinza,wertes Tapferes Herz, duwolltestauf einem Schiff fahren, und nunbistdu auf einem Schiff! Außerdem: Meinst du wirklich, ich ließe dich allein zu diesem Thorwaler gehen? Ich habe mich bereits mit einem einflußreichen Freund in Verbindung gesetzt. Sollte Raskir dir also zu nahe rücken, dann...« Sie setzte eine grimmige Miene auf und rollte wild mit den Augen, was eher komisch als erschreckend wirkte.

Doch die Gauklerin sah nicht zu ihr herüber, ebenso­wenig wie der ›einflußreiche Freund‹ Tokahes sie zu be­eindrucken schien. Ihr Blick war unverwandt auf das weite Meer gerichtet, welches nun, im Licht des auf­gehenden Madamals, aussah wie ein dunkler Spiegel, über dem Goldstaub schwebte. Leise hub sie zu singen an, tief und dunkel schwebte ihre Stimme über den Was­sern und schien eins zu werden mit den Sternen, der Nacht, mit den Träumen der schlafenden Matrosen ...

»Das kleine Mädchen mit dem silbernen Haar

sitzt immer am See bei Mitternacht.

Schweigend.

Kleine, zarte Kinderhände fügen Teile

aus Holz ineinander,

Schmerz zu Schmerz,

Rot zu Rot.

Wenn die Nacht am dunkelsten ist

und die Zeit der Prophezeiungen

heller strahlt als der Glanz der Sterne,

nimmt es den Dolch und stirbt,

wie so viele Nächte zuvor,

den tiefsten und einsamsten aller Tode.

Seine Lider zucken ein letztes Mal,

wenn der Morgen graut.

Dann geht die Sonne auf.

Erst die Nacht erwartet wieder an einem See

ein kleines Mädchen mit silbernem Haar

und einer weiteren tiefen Narbe im Herzen ...«

Zoe ließ sich mit einem leisen Seufzer zurücksinken.

»Ein Lied der Mada. Mein Vater sang es immer für mich, als ich klein war. Ja, ich weiß, eigentlich ist Mada eine erwachsene Frau, eine Kämpferin, groß und strahlend. Doch mein Vater sagte immer, in Wahr­heit sei sie ein kleines Mädchen, einsam und doch stark genug, ihr Los zu tragen. Sie stirbt jede Nacht erneut, damit sie uns das Licht schenken kann. Das Licht und die Magie... Schau, Tokahe, Praios ist strah­lend, aber das Madamal... es ist einfach nur wunder­schön!« Und sie summte leise die eben gesungene Me­lodie, während der aufkommende warme Wind mit ihrem Haar spielte.

Tokahe sah die Freundin an, und ihr war, als wäre Zoe, deren Gesicht, deren Körper sie so gut kannte, ihr in diesem Augenblick ferner als das Madamal oder ir­gendein kleines Mädchen an einem fernen Ufer.Siewar so wunderschön! So schön, daß die meisten Wesen sie fürchteten. Eigentlich, so dachte die Dunkelhaarige, mochte sie diesen Raskir, diesen Thorwaler. Er schien keine Angst vor der Freundin zu haben, er schien sie so zu sehen, wie auch sie, Tokahe, sie sah. Als ein Wesen der Sterne und des Feuers. Die Bauchrednerin schmun­zelte, als sie sich ihrer pathetischen Wortwahl bewußt wurde. Nun, Zoe, manchmal scheinst du doch auf mich abzufärben, dachte sie. Und dann rief sie sich noch ein­mal die Umstände ins Gedächtnis, die sie auf dieses Schiff geführt hatten.

Letztendlich war es Zoe selbst gewesen, die sie auf die Karracke gebracht hatte, als die beiden Frauen nach langer erfolgloser Suche nach Heuer am Abend in die Schankstube einer Grangorer Hafenkneipe eingekehrt waren.

»Sollte das mein Schiff sein?« hatte die Freundin nach dem dritten Humpen Branntwein glucksend ge­fragt. »Na, schwanken tut‘s ja schon ganz ordentlich!«

Dann hatte sich ein Thorwaler an ihren Tisch gesetzt und Zoe unverhohlen angestarrt. Diese war viel zu betrunken gewesen, um den Fremden wahrzunehmen, und hatte statt dessen verträumt in ihren leeren Becher gestarrt und lange Reden über das Meer bei Nacht ge­halten: »Und in dem Augenblick, da die silberne Mada das nachtdunkle Blau berührt, sie eine Sehnsucht nach der Ferne gebiert, die all mein Selbst mit sich fort in ihre Träume nimmt...« Grauenvoll! Nun ja, so war sie eben ... Zoe hatte noch nie große Epen dichten können, aber dem Fremden hatte es offensichtlich gefallen. »Ich weiß nicht, warum, fremde Frau, aber ich würde mich freuen, wenn du mich begleiten würdest. Du bist wie das Meer bei Nacht, wunderschön und still«, hatte er zu Zoe gesagt. Und dann hatte er aufgeblickt und mit einem schiefen Grinsen hinzugefügt: »Könnt ihr zwei kochen? Ich suche da nämlich noch zwei, die so was können. Gleich morgen geht‘s los! Wenn ihr was Freß­bares zustande bringt, dann: Bei Swafnir, schlagt ein, Mädels!«

Zoe hatte schon immer eine solche Wirkung auf menschliche und andere Geschöpfe gehabt. Entweder sie flohen vor ihr, oder sie erspürten ihr tiefstes Inneres, all das, was selbst Tokahe schwer beschreiben konnte. Etwas wie Tiefe, Melancholie, Dunkelheit, Wärme, Sanftmut... Und wenn sie es spürten, trat ein warmer Glanz in ihre Augen, und ihre Stimmen und Worte wurden weich und voller Poesie. Auf ihren Reisen durch Aventurien waren sie auf der Suche nach einem Winterlager mit den Gauklern einmal unwissentlich in der Orkschädelsteppe gelandet. Niemand, so heißt es, überlebt ein Zusammentreffen mit einer Horde Orken. Doch einer der Schwarzpelze sah Zoe, blickte sie lange an, das erhobene Schwert in der Hand. Dann ließ er es sinken und rief etwas in seiner rauhen, kehligen Spra­che. Und auch die anderen ließen ihre Waffen sinken, verwirrt und zögernd, wie es schien, doch sie taten es. Sie töteten niemanden, sie plünderten nichts. Sie gelei­teten die Gaukler hinaus aus der Steppe und ließen sie ziehen. Zoe hatte ihr einmal erzählt, daß diese ihr innewohnende Wirkung auf andere sie dazu bewogen hatte, mit den Gauklern zu ziehen. »Dort achtet man das Fremdartige, dort hat es seinen Platz. Dort - oder bei den Göttern«, so hatte Zoe gesprochen.

Tok scharrte mit den Füßen über die Schiffsplanken.»Cepka«,murmelte sie. Zoe blickte sie erstaunt an, dann fragte sie lächelnd: »Und was heißt dieses Wort, meine Geliebte?«

»Ooch«, sagte Tok, »ich glaube, es heißt: Du redest lauter Mist, weil du mein Götze bist.« Sie rollte sich neben der Freundin zusammen und vergrub den Kopf in den weichen Tiefen ihres Haars, das nach Meer und Gewürzen und auch ein wenig nach dem Essigsud roch, mit dem sie das Deck hatten schrubben müssen.

»Weißt du, meine Hübsche«, murmelte Zoe, »ich will nichts anderes, als eine Heldin sein, solange ich noch nicht alt und grau bin und traviagefällig am warmen Herd die Suppe hüten muß. Ich will ganz Dere sehen! Und Abenteuer erleben! Ich willspüren,daß ich jung bin, daß Tsas Odem noch frisch und wild ist. Ich will es spüren, damit ich als alte Frau nicht neidvoll auf die Jüngeren sehen muß! Ich willleben,Tokahe! Und wäre es nicht vermessen, und würde ich nicht die Götter lä­stern, so wünschte ich mir, ewig jung zu sein...« Zoe hatte sich aufgerichtet; ihre Augen glänzten. Von ir­gendwoher ertönte etwas wie ein Applaus, vielleicht war einem der Seeleute beim Würfeln just in diesem Augenblick ein besonders guter Wurf gelungen. »Welch eine Rede, bei Kamaluq!« sagte Tok und griff erneut in die rote Lockenpracht der Freundin.

»Versprich mir, daß wir alle Abenteuer dieser Welt erleben werden, Tokahe!«

»Nichts lieber als das!« entgegnete diese. Und dann zog sie die Geliebte zu sich herab, weiche Körper schmiegten sich aneinander, warme Leiber, über die der Wind strich. Lippen fanden sich, lösten sich kurz, als Tokahe die Freundin herausfordernd anstrahlte, die Hände zu einer Kugel formte und mit einem höchst zu­friedenen Grinsen die Augen schloß. Die Nacht schien um die Liebenden herum dunkler zu werden, und aus dieser Dunkelheit war das Rascheln von Leinenklei­dern zu vernehmen, die sanften Töne der Flöte setzten wieder ein, lauter diesmal und näher, wie es schien. Ein perlendes Lachen aus der Dunkelheit, gefolgt von Zoes rauher Stimme: »Tokahe, willst du mich jetzt küssen oder romantische Theaterstücke aufführen?« Das Flö­tenspiel endete jäh mit einem hohen Pfeifton. »Küs­sen!« klang es aus dem Dunkel, klar und bestimmt.

Dann wurde es still in dieser Ecke des Schiffes, und das, was der Wind auf Efferds Element hinaustrug, war gleichsam ein Gruß der Rahja an ihren Götterbruder.