DSA 97: Satinavs Auge - Tobias Radloff - E-Book

DSA 97: Satinavs Auge E-Book

Tobias Radloff

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Beschreibung

Jedes Kind im Horasreich träumt davon, zur Palastgarde zu gehören und mit seinem Degen das Leben der Kaiserin von Vinsalt zu beschützen. Für Silvanessa, eine junge, ungestüme Fechterin, steht der Traum kurz vor der Erfüllung. Doch dann wird ihr Bruder vor ihren Augen ermordet. Gemeinsam mit Anconio, dem ungeschicktesten Magieschüler der Stadt, heftet Silvanessa sich dem Mörder an die Fersen. Die Jagd führt vom Kaiserpalast bis ins Armenviertel Alt-Bosparan und hoch über die Dächer hinaus. Bald schweben die beiden in höchster Gefahr - und mit ihnen eine ganze Stadt. Können sie das Geheimnis von Satinavs Auge ergründen, ehe ihre Zeit abgelaufen ist?

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Seitenzahl: 539

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Biografie

Tobias Radloff wurde 1977 in Langen (Hessen) geboren. Er studierte Informatik und Philosophie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Nach Abschluss des Studiums wandte er sich dem Schreiben zu und arbeitet seitdem hauptberuflich als Autor.

Zu den bisherigen Werken des Autors gehören Abenteuer undSpielhilfen für das Fantasy-Rollenspiel Das Schwarze Auge. Mit „Satinavs Auge“ liegt nun sein erster Aventurien-Roman vor. Darüber hinaus stammen Beiträge für Cthulhu und andere Rollenspiele, Kurzgeschichten sowie ein historischer Roman aus seiner Feder.

Tobias Radloff lebt und schreibt in Hamburg.

Tobias Radloff

Satinavs Auge

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses SpieleBand 11021EPUB

Titelbild:Terry Oakes Aventurien-Karte: Ralph HlawatschBuchgestaltung: Tobias HamelmannE-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright © 2014 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE,MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN 978-3-89064-495-0 E-Book-ISBN 9783868899054

Widmung

Für Katja

Der Empfang

Sie würde Vasper umbringen, mit ihren eigenen Händen. Dieser verräterische Hund!

Noch nie war Silvanessa so wütend gewesen wie heute, und sie war häufig wütend. Doch als sie durch das große Tor des Palastgeländes preschte und ihr Pferd hügelabwärts nach Vinsalt trieb, dessen Türme und Dächer sich träge vor ihr im Abendlicht erstreckten, bebte sie vor Zorn. Wie konnte er es wagen, ihre Karriere zu sabotieren? Er war ihr eigener Bruder!

Sie erreichte den Fuß des Hügels und knallte ungeduldig mit den Zügeln, um ihre Stute zu größerer Schnelligkeit anzuspornen. Im Galopp sprengte sie die König-Khadan-Parade hinab, geradewegs auf die sinkende Praiosscheibe zu, die bereits den westlichen Horizont berührte. Sie passierte die Magierakademie und hielt sich weiter auf der Prachtstraße, anstatt in die engen Gassen von Albornsschenck abzubiegen. Sie war nicht auf dem Weg zu Vaspers privater Stube. Von dem Moment an, als sie die Nachricht erhielt, war Silvanessa davon überzeugt gewesen, dass Vasper seine Hand im Spiel hatte. Wutschnaubend war sie in die Garnison der Palastgarde gestürmt, um ihn zur Rede zu stellen. Ein Unteroffizier hatte ihr schließlich eingeschüchtert verraten, dass der Herr Leutnant heute drunten in Yaquirpark Dienst tat, bei irgendeiner Ordensfeier. Der Mann hatte Vaspers Offiziersgrad in einer Art betont, als glaube er, die Leutnantsstreifen könnten ihn vor der Wut einer einfachen Corporalya bewahren. Dabei war Vaspers Rang an allem schuld!

Ihr Zähneknirschen ging im Klappern der wirbelnden Hufe auf dem Kopfsteinpflaster unter, ebenso die Flüche der Passanten, die sich mit hastigen Sätzen in Sicherheit brachten, um nicht niedergeritten zu werden. Die Stimme der Vernunft riet Silvanessa, langsamer zu reiten. Sie schenkte ihr so wenig Beachtung wie einem Juckreiz mitten im Fechtkampf. Als vor ihr ein Händler mit seinem Marktkarren die breite Parade überquerte, wich sie nicht aus, sondern setzte in einem weiten Sprung darüber hinweg. Hinter ihr krachte es. Erschrocken warf sie einen Blick über die Schulter und erkannte zu ihrer Erleichterung, dass sie lediglich einen Korb mit Äpfeln vom Wagen gerissen hatte. Der Händler sprang vom Wagen herunter, um die kullernden Früchte einzusammeln, auf die sich bereits die ersten Straßenjungen stürzten, soviel sah sie noch, dann erzwang der pfeilschnelle Ritt wieder ihre gesamte Aufmerksamkeit.

Auf Höhe der Freilichtbühne zwang sie das Pferd in eine harte Wendung und preschte quer über den Theaterplatz, dass die Menschen vor ihr zur Seite stoben. In der Mitte des Platzes glühte der Uhrturm im Abendrot.

Sie fröstelte, teils wegen der Enttäuschung über ihren ehrlosen Bruder und teils, weil sie soeben den langen Schatten des Uhrturms durchquerte. Der scharfe Galopp ließ ihr nicht die Zeit, zu den von Wasserspeiern eingerahmten Uhrzeigern emporzublicken. Doch Silvanessa wusste von allein, wem bald die Stunde schlagen würde.

Wenig später erreichte sie Yaquirpark, eines der besten Viertel der Stadt. Als der ehemalige Palazzo Galahan in Sicht kam, zügelte sie ihr Pferd und näherte sich im Trab. Der Palazzo übertraf die umliegenden Häuser an Prunk, als sei die Familie Galahan nie in Ungnade gefallen. Wie ein vergessener Flügel des Kaiserpalasts lag er vor der südlichen Flanke des Tempelbergs. Mannshohe Fenster aus buntem Glas, Türmchen, Erker und Balkone machten einander den Raum entlang der Fassade streitig. Dazwischen erhoben sich die steinernen Abbilder ehemaliger Herrscher von Kuslik, die streng in die Ferne blickten und an die Zeiten gemahnten, als sich ihr Fürstengeschlecht noch nicht des Hochverrats schuldig gemacht hatte. Der Garten vor dem Haus war groß genug, um die seit Jahren ungepflegten Hecken und Baumgruppen zu unbedeutenden Details schrumpfen zu lassen.

Der Erlass von Kaiserin Amene-Horas, ihrem Hausorden den Palazzo Galahan als neues Haupthaus zu überlassen, war nur wenige Wochen alt. Doch in dieser kurzen Zeit hatten die Ritter des Ordens vom Heiligen Blute das Kunststück vollbracht, dem Anwesen ihren pompösen Stil aufzuzwingen. An den Fahnenmasten im Garten wehte das Ordensbanner, ein Zwölfkreis von Blutstropfen auf weißem Grund, auf gleicher Höhe mit der Reichsflagge. Auf jedem Türmchen und Erker war ebenfalls eine weißrote Fahne gehisst. Anstelle der üblichen Öllampen oder magischen Lichtkugeln erhellten lodernde Scheiterhaufen die einbrechende Dämmerung, und ein Spalier von Fackelträgern säumte die Treppe zum Eingangsportal. Ihre scharlachroten und purpurnen Wappenröcke wiesen sie ebenso sicher als Ordensritter aus wie der zur Schau getragene Pathos, mit dem sie Blicke und Fackeln gen Alveran reckten. Trotz ihres Zorns glitt ein abfälliges Lächeln über Silvanessas Lippen.

Ein schmiedeisernes Tor durchbrach den Zaun, der das Anwesen umgab. Davor standen mehrere Ordensleute und begrüßten die eintreffenden Gäste. Sie trugen Fackeln in den Händen, und aus ihren Gürteln ragten die Griffkörbe von Fechtwaffen. Silvanessa unterdrückte einen Fluch. Sie besaß keine Einladung, und so viele Wachen konnte sie kaum im Stillen niederschlagen, um sich dennoch Einlass zu verschaffen. Sie musste einen anderen Weg ins Innere des Palazzos finden.

Sie fand ihn in einer schmalen Gasse, die von einem Seitenflügel des Gebäudes und einem Wirtschaftsgebäude auf dem Nachbargrundstück gebildet wurde. Hier sollte es einen Eingang geben. Silvanessa band ihr Pferd ein paar Schritte weiter am Zaun an und tat einen Schritt in den Häuserspalt. Die Mauern ragten über ihrem Kopf in die Höhe wie die Kiefer eines Gigantenmauls und standen so dicht beieinander, dass die junge Soldatin sich seitlich hindurchzwängen musste, um nicht mit den Schultern anzustoßen. Der Gestank nach Unrat und Pisse raubte ihr den Atem.

Die Dämmerung war mittlerweile hereingebrochen, und das spärliche Licht reichte kaum noch bis zum Boden der Gasse. Doch die nahende Dunkelheit konnte nicht die armlangen Risse im Marmor des zukünftigen Ordenshauses verbergen, und auch nicht die Fenster mit den gesprungenen Scheiben, die teils mit Brettern vernagelt waren. Die Instandsetzungen der Ordensritter an dem seit Jahren unbewohnten Haus beschränkten sich offenbar auf die Vorderseite.

Schritt für Schritt arbeitete Silvanessa sich weiter vor. Sie trat auf etwas Weiches, das quiekend davonhuschte, und war plötzlich froh darüber, so wenig zu sehen. Als sie um eine Ecke bog, konnte sie vor sich Lichtschein ausmachen.

Beim Näherkommen vernahm sie Stimmen.

»Du hast den letzten Schluck genommen, also besorgst du auch eine neue Flasche«, sagte ein Mann. Die Antwort des Angesprochenen bestand aus einem Knurren, das irgendwo zwischen Langeweile und Unzufriedenheit rangierte.Nur zwei, dachte Silvanessa. Ohne zu zögern trat sie ins Licht.

Zwei Männer in Ordenstracht standen auf einem schäbigen Hinterhof, der die Bezeichnung ‚Hof‘ kaum verdiente. Er war nicht größer als die Stallfläche eines Pferdes, auf dem Boden schimmerten unzählige Pfützen. An den Wänden standen Kisten und Bretterstapel. Außer dem Eingang zu der Gasse, in dem Silvanessa stand, gab es noch eine hölzerne Tür, über der eine Ölfunzel hing. Erfreut registrierte Silvanessa, dass die Tür in den Palazzo führte.

Die beiden Ordensmänner passten zueinander wie Graf und Esel. Einer war so dünn wie eine Vogelscheuche, sodass ihm der Scharlachrock um den Leib schlotterte. Mit langen, schmutzigen Fingern versuchte er, einer leeren Schnapsflasche den letzten Tropfen zu entlocken. Der Leibesumfang seines Kameraden dagegen war deutlich imposanter; Rock und Umhang spannten sich über seinem Bauch, dass die Knöpfe abstanden. In dem schlechten Licht verliehen die Tränensäcke dem Mann für einen Moment etwas Nachdenkliches. Der Eindruck verschwand, sobald er Silvanessa bemerkte und sein Gesicht in dümmliche Falten legte.

»Halt, wer da?« Auch der Dünne hatte sie entdeckt. Im nächsten Moment verfinsterte sich sein Gesicht schlagartig, als er sah, dass sie die blaue Uniform der Horasgarde trug. Angewidert spuckte er aus.

»Verschwinde, Blaurock! Deinesgleichen ist hier nicht erwünscht.«

»Ja, troll dich«, ergänzte der Dicke, »sonst wird es dir schlecht bekommen.«

Silvanessa mahlte mit den Zähnen. Diese beiden Scharlachfiguren kamen ihr zum falschen Zeitpunkt in die Quere. Mit zügigen Schritten ging sie auf den Dürren zu, wobei sie bis zu den Knöcheln in der Pfütze eintauchte.

»Horas zum Gruße! Ich wollte mir lediglich -«

Unvermittelt schlug sie dem Ordensmann mit aller Kraft die Faust gegen das Kinn. Er krachte gegen einen Kistenstapel und ging zu Boden.

»- gewaltsam Eintritt verschaffen«, beendete Silvanessa ihren Satz.

»He!« Der andere riss die Augen auf. Silvanessa versetzte auch ihm einen Fausthieb, doch ihre Finger schmerzten noch vom ersten Schlag, sodass sie nicht viel Kraft hineinlegen konnte. Sie erreichte nur, dass der andere aus seiner Starre erwachte und seinerseits die Fäuste hob.

Hinter ihm spuckte der erste Blut und Zähne. »Renzo, schnapp dir die Dirne!«, heulte er.

»Du hättest Sander nicht schlagen dürfen«, knurrte der und ließ seine Fäuste sprechen.

Er war langsam, aber stark wie ein Ochse, und seine längeren Arme verliehen ihm in dem engen Hof einen Vorteil. Silvanessa hatte alle Hände voll zu tun, um ihn auf Distanz zu halten. Sie wehrte mehrere Schläge ab, dann stand sie mit dem Rücken zur Wand und konnte nicht weiter zurückweichen. Sie hob die Arme eine Winzigkeit zu spät, um Renzos nächsten Schwinger abzuwehren. Die Faust streifte nur ihr Gesicht, aber die Wucht des Schlages genügte, um grelle Lichter vor ihren Augen explodieren zu lassen. Sie taumelte gegen den Bretterstapel und musste sich daran festhalten, um nicht in die Knie zu sinken. Undeutlich sah Silvanessa, wie Renzo erneut ausholte. Blindlings griff sie hinter sich, bekam ein Brett zu fassen und schlug es dem Ordensmann mit voller Wucht gegen den Schädel.

Renzos Vormarsch kam zu einem abrupten Halt. Er wankte, als überlege er, ob er umfallen oder auf den Beinen bleiben solle. Silvanessa konnte förmlich sehen, wie er mit der Benommenheit rang – und den Kampf gewann. Sein glasiger Blick wurde fest und richtete sich erneut auf Silvanessa. Als er die Fäuste ballte, blickte er geradezu gekränkt.

»Das wirst du bereuen!«

»Ganz sicher nicht.«

Erneut schlug Silvanessa mit dem Brett zu. Diesmal zersplitterte es auf Renzos Kopf. Er verdrehte die Augen und landete mit einem lauten Platschen in der Pfütze.

»Dich schlitze ich auf wie ein Spanferkel!« Sander überwand den Schreck über die Niederlage seines Kameraden schneller, als Silvanessa ihm zugetraut hätte. Dennoch war er nicht schnell genug.

Bevor er seinen Degen zur Hälfte aus der Scheide ziehen konnte, hatte sie ihre Klinge gezogen und einen Schritt auf ihn zugemacht.

»Eine falsche Bewegung, und ich entwaffne dich auf die schmerzhafte Art und Weise.«

Silvanessas Tonfall ließ Sander innehalten. Auf ihr Nicken hin blickte er an sich hinunter – und erstarrte zum Basiliskenopfer. Die Spitze ihres Rapiers lag auf dem Stoff seines roten Beinkleids, direkt über seiner Männlichkeit.

»Bitte nicht«, stammelte er. Bis auf den Blutfaden, der ihm aus dem Mundwinkel rann, war er bleich wie Mammutbein.

Silvanessa starrte ihn drohend an. »Hast du dir schon überlegt, wie du deinen Vorgesetzten erklärst, dass ein Mädchen von der Horasgarde deinen Kumpan niedergeschlagen und dich entmannt hat? Das wird sicher hässlich.«

Sander schluckte stumm.

»Das dachte ich mir«, versetzte sie. »Besser, du behältst unser Intermezzo für dich. Wenn du es nicht weitersagst, tue ich es auch nicht. Nun?«

Sander beeilte sich zu nicken. »Ich … Ich habe dein Gesicht schon vergessen«, nuschelte er. »Renzo auch.«

»Solltest du mich belügen, dann …« Silvanessa verstärkte den Druck ihres Rapiers um eine Winzigkeit. Sander erbleichte noch ein bisschen mehr.

»Und jetzt kümmere dich um deinen Freund, sonst ertrinkt er noch in der dreckigsten Pfütze Vinsalts.« Silvanessa steckte ihr Rapier ein und trat zur Tür, die in den Palazzo führte. Bevor sie hindurchging, drehte sie sich noch einmal um. Sander blickte geschlagen hinter ihr her.

»Eins noch«, rief sie ihm mit zuckersüßem Lächeln zu. »Scharlach und Purpur beißt sich!« Dann warf sie lachend die Tür hinter sich zu und eilte den Gang hinab.

Ihre Laune hatte sich erheblich gebessert. Wie die meisten Soldaten der Horasgarde verachtete Silvanessa das großspurige Gehabe und das Maulheldentum, das die Heiligblutleute an den Tag legten. Noch nie hatte der Orden in einer entscheidenden Schlacht gefochten, und doch wurden seine Ritter nicht müde, sich als patriotische Kämpfer darzustellen. Dagegen neidete der Orden der Garde deren Privilegien, vor allem die Nähe zum Palast und zur Kaiserfamilie. Seit der Orden zum Hausorden der Kaiserfamilie Firdayon aufgestiegen war, bemühten sich die Heiligblutritter nach Kräften, diese Privilegien an sich zu reißen. Erst im vergangenen Jahr hatte es einen Vorstoß gegeben, dem Orden das Recht zu sichern, für die Sicherheit der Herrscherfamilie zu sorgen. Dabei wusste jedes Kind im Reich, dass der Schutz der Kaiserfamilie dem Ersten Banner der Horasgarde oblag, den Männern und Frauen der berühmten Palastgarde. Die Duelle zwischen Angehörigen der beiden Gruppierungen hatten zugenommen, und auch Silvanessa hatte schon häufig Fäuste und Klingen mit den Scharlachroten gekreuzt.

Der Palazzo war riesig. Auf der Suche nach den Gästen der Ordensfeier verlief sie sich mehrmals in dem Gewirr aus Gängen, Dielen und Treppenfluchten. Trotz des heruntergekommenen Zustands, in dem sich der größte Teil der Zimmer befand, sprang ihr hinter jeder Tür der Luxus ins Auge. Allein für den Gegenwert des gewaltigen Kristallleuchters, den sie in einem Salon entdeckte, konnte man sich vermutlich einen Adelstitel kaufen. Wer immer dafür gesorgt hatte, dass dieses Haus dem Orden zugeschlagen wurde, hatte ihm einen großen Dienst erwiesen.

Endlich entdeckte Silvanessa am Ende eines Ganges einen livrierten Diener. Indem sie ihm folgte, gelangte sie in einen Flur, an dessen Ende eine halb geöffnete Tür lag. Dahinter lag ein Saal, in dem sich Menschen bewegten und Musik erklang. Auf halbem Weg zur Tür hing ein hoher Spiegel an der Wand. Silvanessa nutzte die Gelegenheit, um ihr Äußeres zu überprüfen. Immerhin war sie im Begriff, sich unter Grafen und Herzöge zu mischen.

Eine energische junge Frau blickte ihr aus dem Spiegel entgegen. Sie hatte schwarze Haare, hohe Wangenknochen, eine etwas zu breite Nase und graue Augen. Eines davon war dunkel umrandet. Erschrocken tastete Silvanessa nach der Stelle, wo Renzos Schlag sie getroffen hatte. Ein Veilchen hatte ihr gerade noch gefehlt.

Als sie den Rest ihrer Erscheinung inspizierte, sank ihre Laune noch weiter. Der Garderock wies schmutzige Streifen auf, wo sie gegen den Bretterstapel geprallt war, und ihre Hosen waren von Schlammspritzern verunziert. Auch die Stulpenstiefel waren keineswegs mehr blitzblank und ließen Silvanessa vermuten, dass sie auf den Teppichen weiter hinten deutliche Spuren hinterlassen hatte. Zu allem Überfluss schien sie auch noch zugenommen zu haben.

Missmutig löste Silvanessa eine Strähne aus ihrem Pferdeschwanz und versuchte, mit ihr das blaue Auge zu kaschieren. Das Ergebnis war nicht überzeugend, doch es war alles, was sie im Moment erreichen konnte. Während sie hantierte, spürte Silvanessa ihren Zorn auf Vasper erneut wachsen, was sie zu einem erbosten Lächeln veranlasste. Nach dem erbaulichen Geplänkel mit Renzo und Sander hatte sie schon befürchtet, so milde gestimmt zu sein, dass er sich aus der Angelegenheit herausreden konnte, bevor sie ihm die Quittung für seine Hinterlist auf die Nase stempeln konnte.

Sie korrigierte den Sitz ihres Rapiers und rückte den ledernen Leibgurt zurecht. Dann atmete sie tief durch und betrat den Saal. Stimmengewirr schwappte über ihr zusammen wie die Wasser des Yaquir.

Es war heiß im Saal. Unzählige Fackeln brannten an den Wänden und Säulen, und zu ihrem Erstaunen entdeckte Silvanessa entlang der Wände Kohlebecken, die dem Sommermonat Praios völlig unangemessen waren. Die Halle war weitläufig wie ein Tempelschiff und mindestens zehn Schritt hoch. Die Decke war bemalt und zeigte ein gewaltiges Schlachtenpanorama von der Eroberung der Tulamidenlande durch Kaiser Murak-Horas, durch die das Reich auf den Zenit seiner geographischen Ausdehnung gelangt war. Weitere Gemälde von Triumphen aus der Hochzeit Bosparans hingen an den Wänden des Saales und auf der Galerie, die ihn auf halber Höhe umlief. Das Interieur war ganz in Scharlach und Purpur gehalten. Von den kleinen Fähnchen, die überall am Galeriegeländer befestigt waren, bis hin zu den Livreen der Lakaien, überall sah man die Farben des Ordens. Besonders auffällig waren deckenhohe Banner, die von den Marmorsäulen bis zum Boden herabhingen. Auf jedem von ihnen prangten die zwölf Blutstropfen in beeindruckender Größe. Doch sie verblassten vor dem enormen Ordenssignet, das die segelgroße Stoffbahn an der Stirnwand zierte und nicht durch Kunstfertigkeit, sondern durch schiere Riesenhaftigkeit beeindruckte. Silvanessa argwöhnte, dass das Tuch tatsächlich ein Segel gewesen war, bevor die Ordensritter damit die Empore gegenüber des Eingangsportals verhüllt hatten. Auf dem schmalen Sims, der auf der Empore freigeblieben war, drängten sich Musiker und spielten ebenso tapfer wie vergeblich gegen den Lärm im Saal an.

Silvanessa schätzte, dass sich an die dreihundert Gäste im Saal befanden. Sie waren in teure Gewänder gekleidet, die entweder in der Tradition der Vinsalter Kaisermode gehalten waren oder den schlichten Schnitt aufwiesen, der neuerdings von den reichen Patriziern gepflegt wurde. An vielen Stellen blitzte der Ornat des Ordens auf, und am anderen Ende des Saales entdeckte Silvanessa die vertrauten Umhänge des Ersten Banners.

Sie scheuchte einen Lakaien zur Seite, der ihr einen Weinkelch reichen wollte, und setzte sich in Richtung der Horasgardisten in Bewegung, vorbei an den noblen Gästen, die in kleinen Grüppchen beieinanderstanden und bei Wein und Hummerhäppchen parlierten. Silvanessas Hoffnung, in dieser illustren Gesellschaft nicht aufzufallen, erwies sich schon nach wenigen Schritten als frommer Wunsch.

Eine üppige Baronin betrachtete sie mit hochgezogener Augenbraue und machte hinter vorgehaltenem Fächer eine Bemerkung zu ihrer Nachbarin. Beide kicherten. Silvanessa ließ die beiden stirnrunzelnd hinter sich, nur um gleich darauf den halblauten Kommentar eines Ordensritters zu vernehmen, der sich über ihr mitgenommenes Äußeres mokierte. Als sie den Saal endlich durchmessen hatte, fühlte sie sich wie nach einem Spießrutenlauf. Unwillkürlich ballte sie die Hand zur Faust. Auch dafür würde Vasper büßen, dass er sie gezwungen hatte, sich in dieses Natternnest zu begeben.

Dann entdeckte sie ihn. Er wandte ihr den Rücken zu, doch sie erkannte ihn an seinen ruhigen Bewegungen und am schwarzen Haar, das noch dunkler war als ihres. Als er sich zu der nahenden Person umdrehte und sie erkannte, hob er überrascht die Augenbrauen. Dieser Heuchler!

»Silvanessa, was tust du hier? Was ist mit deinem Auge geschehen?«

»Du kannst die Maske getrost fallen lassen!«, begann sie. »Du weißt sehr wohl, warum ich hier bin.«

Er spielte den Ahnungslosen. »Wie? Ich verstehe nicht …«

Sie zog eine Depesche aus ihrem Ärmelaufschlag und hielt sie Vasper unter die Nase. »Verstehst du vielleicht das hier?«

Irritiert faltete er das Pergament auf und las halblaut die knappe Mitteilung. »‘Corporalya di Murgavia, ich bedaure, Euch mitteilen zu müssen, dass ich Euren Wunsch auf Aufnahme ins Erste Banner ablehnend beschieden habe. Hochachtungsvoll, Selinde von Ebrinsfurt.‘ O nein. Kein Wunder, dass du furchtbar enttäuscht bist, Schwesterchen. Ich weiß, wie sehr du dir wünschst, in Vaters Fußstapfen zu treten.«

In einer mitfühlenden Geste berührte er Silvanessas Arm. Sie schlug seine Hand beiseite.

»Gar nichts weißt du!«, fauchte sie. »Und glaube nicht, dass mich dein gespieltes Mitleid täuscht. Ich weiß, dass du dahinter steckst. Du bist Selindes Adjutant. Du hast sie gegen mich aufgewiegelt, damit sie mich nicht ins Erste Banner aufnimmt.»

»Silvanessa, warum sollte ich so etwas tun?«

»Vielleicht willst du dir unliebsame Konkurrenz vom Leib halten? Wie hat Vater einmal gesagt: Je höher der Rang, umso dünner die Luft.«

»Silvanessa, was sagst du da?« Vasper stemmte die Hände in die Seite. »Wie kannst du mir unterstellen, ich würde aus Ambition gegen dich intrigieren? Du bist meine Schwester, keine Konkurrentin!«

»Das dachte ich auch«, sagte Silvanessa bitter, »bis du mich zum ersten Mal hintergingst. Dir habe ich es zu verdanken, dass die Ebrinsfurt mich nach Vinsalt abkommandierte, wo ich seit einem Jahr die Abstellkammern im Palast bewachen darf. Hättest du dich nicht eingemischt, hätte ich mir an der Kabashpforte meine ersten Orden verdient.«

»Oder dich ein weiteres Mal schwer verwunden lassen«, hielt er dagegen. »Hast du schon vergessen, wie es dir in deinem ersten Scharmützel mit den Novadireitern ergangen ist? Du wärst beinahe getötet worden, nur weil du unbedacht vorgestürmt bist. Ich mag gar nicht daran denken, was geschehen wäre, wenn kein Perainegeweihter in der Nähe gewesen wäre, um einen Heilsegen auf dich zu sprechen!«

»Wie oft soll ich dir noch erklären, dass dieser Novadi einen Glückstreffer landete?« Ohne es zu wollen, fasste Silvanessa sich an die Stelle, wo die Reiterlanze ihren Leib durchbohrt hatte. Dank der Heilkräfte des Priesters, die ihm seine lebensspendende Göttin verlieh, war die Wunde ohne Narben verheilt. Doch sie spürte die Stelle, wo der Schaft der Lanze aus ihrem Bauch geragt hatte, noch heute.

Im nächsten Moment begriff sie, dass sie sich eine Blöße gab, und nahm die Hand mit einem Ruck fort.

Wieso fiel es Vasper so leicht, sie mit Worten in die Defensive zu drängen?

Obwohl ihr Bruder den Lapsus bemerkt haben musste, verzichtete er auf einen Kommentar. Stattdessen sagte er: »Lass uns morgen weiterreden. Geh jetzt nach Hause, Schwesterchen. Ich bin im Gefolge von Königin Aldare Firdayon hier und kann Euch nicht beide gleichzeitig beschützen.«

Die Tochter der Kaiserin war hier? Silvanessa konnte nicht anders, als den großen Einfluss zu bewundern, über den der Heiligblutorden verfügte.

Im nächsten Moment schalt sie sich für ihre Einfalt. Selbstverständlich sandten die Firdayons zu einer wichtigen Feier ihres Hausordens nicht den Palastgärtner.

Sie wollte sich bereits abwenden, als ihr aufging, dass Vasper sie schon wieder als seine kleine Schwester darstellte, die er beschützen musste. Verdammt, sie war kein Kind mehr! Zornig wirbelte sie herum und stach mit dem Finger nach seinem Gesicht.

»So leicht wirst du mich nicht los, du intriganter Laffe. Ich gehe hier nicht eher fort, als bis du deine Hinterlist rückgängig gemacht hast.« Sie riss ihm Selindes Depesche aus der Hand. »Du gehst jetzt zur Colonellya und sagst ihr, was du -«

»Was genau soll der Leutnant mir sagen, Corporalya di Murgavia?«

Die Stimme war nicht laut, aber von einer stahlharten Note durchdrungen. Silvanessa wandte sich zu der ergrauenden Offizierin um, die unbemerkt hinzugetreten war.

Selinde von Ebrinsfurt war die Kommandantin des Ersten Banners und der gesamten Horasgarde. Zu ihrer perfekt sitzenden Gardeuniform trug sie hohe Stiefel und einen Reitsäbel.

Sie musterte Silvanessa streng. Diese hob geistesgegenwärtig die Faust vor die Brust und schlug die Hacken zusammen. »Rondra zum Gruße, Colonellya!«

Selinde erwiderte den Gruß nicht. »Ich bin ein wenig überrascht, eine Corporalya der Horasgarde hier zu sehen. Bis eben meinte ich mich zu erinnern, dass ich nur Männer und Frauen des Ersten Banners zum Schutz der Kronprinzessin einteilte.« Das Lächeln, das ihre Mundwinkel umspielte, reichte nicht bis zu ihren Augen.

»Ich bin in privater Angelegenheit hier, meinen Bruder betreffend, will sagen, Leutnant di Murgavia.«

»Und die Ordensritter ließen Euch ein? Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie selbst mir und meinen Soldaten den Eintritt verwehren wollten, bis Ihre Kaiserliche Hoheit ein Machtwort sprach.«

Silvanessa schluckte. »Ich, äh … Es hat sich so ergeben.«

Der Blick, den Selinde über Silvanessas ramponierte Uniform schweifen ließ, sprach Bände. Sie glaubte nicht einen Herzschlag lang, dass sie ordnungsgemäß eingelassen worden war.

Vasper wollte etwas sagen, doch ein scharfer Blick von Selinde belehrte ihn eines Besseren. Mit einem beiläufigen »Warum seht Ihr nicht einmal bei Ihrer Kaiserlichen Hoheit nach dem Rechten?« schickte sie ihn fort.

Vasper salutierte wortlos und ließ die beiden Soldatinnen allein. Er warf Silvanessa noch einen aufmunternden Blick zu, den diese geflissentlich ignorierte. Unterdessen nahm Selinde ihr die Depesche aus den Fingern und strich sie glatt.

»Wie ich sehe, habt Ihr meine Antwort auf Euer Gesuch erhalten.«

Silvanessa straffte sich. »Jawohl. Gern möchte ich zu einem späteren Zeitpunkt darauf zurückkommen, wenn Ihr gestattet …«

»Ich gestatte nicht.« Selindes Lächeln war wie weggeblasen. »Ich kenne Euren Ruf, Corporalya, und ich weiß, weshalb Ihr hier seid. Doch mit Eurem Bruder habt Ihr Euch den falschen Gegner ausgesucht. Wenn Ihr jemandem wegen Eurer Ablehnung zürnen wollt, dann bringt wenigstens die Courage auf, Euch an die Verantwortliche zu wenden.«

Die Colonellya hatte sie durchschaut. Der Gedanke ernüchterte Silvanessa ein wenig, doch sie war zu aufgebracht, um klein beizugeben. »Warum habt Ihr meinem Gesuch nicht stattgegeben? Seit Generationen dienen die Töchter und Söhne der Murgavias mit Stolz und Ehre im Ersten Banner.«

»Große Worte für eine Corporalya. Vergesst Ihr, dass dort niemand dient, der nicht mindestens den Rang eines Sergeanten innehat?«

»Es gab Ausnahmen. Mein Vater war Corporal, als er in die Palastgarde aufgenommen wurde.«

»Rhudan di Murgavia wurde dem Ersten Banner zugeteilt, nachdem er ein Attentat auf die junge Kaiserin Amene III. vereitelt hatte. Wenn Ihr etwas Vergleichbares geleistet habt, Corporalya, müsst Ihr vergessen haben, es in Eurem Gesuch zu erwähnen.«

Silvanessa schluckte die zornige Entgegnung herunter, die ihr auf der Zunge lag. So kam sie nicht weiter. Sie wählte eine andere Vorgehensweise. »Colonellya, ich bitte Euch um nichts weiter als um eine Gelegenheit, meine Befähigung zu beweisen. Bitte, gebt mir eine Chance. Ich verdiene sie.«

»Darüber entscheide immer noch ich.«

In Anbetracht von Vaspers Verrat klangen Selindes Worte wie blanker Hohn, doch Silvanessa versuchte, sich ihre Gedanken nicht anmerken zu lassen. »Und wie entscheidet Ihr?«

Die Colonellya bohrte den Blick in ihren, und Silvanessa starrte entschlossen zurück. Sie würde dieser alten Schachtel zeigen, dass sie sich von nichts und niemandem einschüchtern ließ. Wenn sie sie dazu in einem Blickduell niederringen musste, sollte es ihr nur recht sein.

Ihre Entschlossenheit wurde auf keine harte Probe gestellt. Nach wenigen Herzschlägen blinzelte Selinde und sah zu Boden. In Silvanessas Triumph schwang ein Hauch Enttäuschung mit. Von der sonst so eisernen Colonellya hatte sie mehr erwartet.

In diesem Moment schüttelte Selinde den Kopf. »Eine Soldatin, die ihrer Vorgesetzten keinen Respekt entgegenbringt, hat im Ersten Banner nichts verloren. Es bleibt bei meinem Nein.«

Enttäuschung wallte in Silvanessa auf und verwandelte ihre sprießenden Hoffungen in Asche. Mit der Bitterkeit kam der Zorn, auf Selinde, auf Vasper, und auf sich selbst. Was war sie nur eine Närrin, dass sie sich in diese offensichtliche Falle hatte locken lassen?

»Ihr meint, es bleibt bei Vaspers Nein«, spie sie der älteren Frau förmlich ins Gesicht. »Er war es, der Euch gegen mich aufgebracht hat.«

»Ihr vergesst Euch!« Selindes Worte schnitten durch Silvanessas Zorn und brachten sie augenblicklich zum Verstummen. Mehrere der Umstehenden drehten sich zu ihnen um.

Leiser, aber nicht weniger zornig fuhr die Colonellya fort. »Was fällt Euch ein? Ich sollte Euch für Eure lose Zunge auspeitschen lassen. Ich allein habe Euer Gesuch abgelehnt, und angesichts Eures Auftritts habe ich zweifellos die richtige Entscheidung getroffen. Schon Euer offensichtlich gewaltsames Eindringen in diesen Saal zeigt mir, dass Ihr nicht für das Erste Banner taugt. Ihr wollt ins Erste Banner und das Leben der Kaiserin beschützen? Eure Hitzköpfigkeit macht Euch zu einer Gefahr für alle in Eurer Nähe. Also reißt Euch gefälligst zusammen. Wenn Ihr gelernt habt, Euch nicht mehr wie ein liebestoller Rempelkäfer aufzuführen, werde ich Euch möglicherweise erlauben, ein neues Gesuch zu stellen.« Damit ließ Selinde sie stehen.

Silvanessa brauchte einige Momente, bevor sie in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie bemerkte, dass mehrere Gäste des Empfangs zu ihr herüberschauten. Die Colonellya hatte sie laut genug zurechtgewiesen, um von den Umstehenden verstanden zu werden, und tatsächlich tuschelten sie bereits miteinander. Am liebsten wäre Silvanessa im Boden versunken. Stattdessen hielt sie den Kopf hoch erhoben und setzte sich in Bewegung, als sei nichts geschehen. Sie war entschlossen, ihren Abgang so würdevoll wie möglich zu gestalten.

Vasper näherte sich ihr mit einem mitfühlenden Lächeln, und Silvanessa erkannte, dass er sie trösten wollte. Das war mehr, als sie ertragen konnte.

Sie drehte sich um und stürmte blindlings in den Saal hinein. Sie wollte bloß fort, fort von Vasper und seinem Mitleid. Um sie herum verschwammen die Gesichter der Menschen, als ihr Tränen in die Augen schossen.

Magie und Stahl

Sei wie das Florett. Biegsam, ohne zu zerbrechen.

Anconio Fiolesso stieß einen Seufzer aus. Das war der wohl nutzloseste Ratschlag, den er jemals erhalten hatte.

Dabei hatten die Worte gar nicht nutzlos geklungen, als sie aus Andras hübschem Mund kamen. Es war ein kurioses Phänomen, dass ein Satz von ihr weiser schien als alles, was Magister Xhindan je zu ihm sagte. Manchmal fragte Anconio sich, ob Andra ihn vielleicht mit einerGroßen Verwirrungbelegte, wann immer er sie ansah. Sie besaß nicht bloß mesmerisierende Lippen, nein, jeder noch so kleine Teil ihres Körpers verdiente es, ausgiebig betrachtet zu werden. Allein die Art, wie ihre schlichte Novizenrobe bei jedem Schritt die Form der Hüften andeutete und wieder verbarg, verfolgte ihn bis in seine Träume. Außerdem duftete ihr Haar nach Rosen. Ach, wäre er doch in der Lage, einen magischen Bannkreis um sie zu errichten, den sie niemals wieder verlassen könnte!

Als er diesen Gedanken weiterspann, erhielt sein Hochgefühl einen Dämpfer. Selbst wenn er irgendwann in der Lage sein sollte, Bannkreise zu ziehen, Andra würde er niemals darin festhalten können. Sie beherrschte die Magie jetzt schon besser als er, und dabei studierte sie deren Geheimnisse noch nicht halb so lange.

Mit einem weiteren Seufzer starrte er wieder in die übel riechende Dunkelheit der Gasse vor ihm. Er sah nicht das Geringste, doch ein Quieken ließ ihn schaudern. Anconio war kein Feigling – immerhin hatte er sich getraut, Andra anzusprechen, nach nur fünf Monaten –, doch eine stockdunkle Gasse zu betreten, in der es Ratten gab, war etwas anderes. Es half nichts: Er benötigte Licht.

Auf der Straße hingen in regelmäßigen Abständen Öllaternen, allerdings in zwei Manneslängen Höhe, sodass er nicht herankam. Er verwarf auch die Idee, die Ordenswachen am Haupttor um eine Fackel zu bitten. Nachdem sie ihm bereits den Einlass verwehrt hatten, würden sie ihm wohl kaum eine Fackel geben, mit der er sich zum Hintereingang schleichen konnte. Leider erschöpften sich damit seine Möglichkeiten. Anscheinend blieb ihm nichts anderes übrig, als nach Hause zu gehen. Vielleicht schmerzte Vaters vorwurfsvoller Blick heute Abend nicht so sehr, wenn er Anconios erflunkerte Erfolgserlebnisse mit einem Seufzen quittierte. Vielleicht beschwor Mutter ihn ja wenigstens heute nicht mit brüchiger Stimme, noch härter an sich zu arbeiten, um der vielen Dukaten willen, die die Fiolessos Mond für Mond an Magister Xhindan bezahlten.

Ja, und vielleicht wuchsen ihm über Nacht auch zwei weitere Köpfe und ein Schuppenkleid, und er erwachte als Riesenlindwurm. Es war sinnlos, sich etwas vorzumachen. Seine Heimkehr würde ebenso unangenehm werden wie an jedem anderem Tag. Das Beste, was er tun konnte: den Moment so lange wie möglich hinauszögern. Und ein Weg blieb ihm noch, um eine Lichtquelle aufzutreiben.

Anconio blieb einige Herzschläge unbeweglich stehen und vergewisserte sich, dass ihn niemand beobachtete. Dann konzen­trierte er sich. Seine Gedanken tasteten nach der Astralenergie, die in seinem Innern schlummerte, und er begann vorsichtig, die Stränge der Kraft zum komplexen Muster eines Zauberspruchs zu verweben. Es war ein Vorgang, den ein Mensch, der den Funken der Magie nicht besaß, so wenig begreifen konnte wie ein Blinder das Konzept der Farben.

Es war ein einfaches Zaubermuster, und Anconio hatte Zeit und Ruhe. Eigentlich konnte der Spruch nicht misslingen. Doch als er die ersten unsichtbaren Fäden miteinander verknüpfte, regte sich der vertraute Widerstand in seinem Geist.

Zuerst war es nur ein sachtes Zupfen an den Kraftfäden, nicht stärker, als wenn jemand mit den Härchen auf dem Handrücken über die Saiten einer Harfe streicht. Doch das Zupfen wurde heftiger und erweckte die Fäden zu arhythmischem Eigenleben: Sie wanden sich unter dem Griff seines Geistes und versuchten, dem Tasten zu entgehen, das sie ins Kraftgeflecht einfügen wollte. Die unerklärliche magische Blockade, die Anconio seit Jahren das Leben schwer machte, drohte auch diesen Zauberspruch zunichte zu machen.

Er verstärkte seine Bemühungen, und es gelang ihm, einen Teil der Verknüpfungen zu bilden, ohne dass ihm die Magie entglitt. Doch die Astralfäden wichen immer stärker vor ihm zurück, so wie Rauchwölkchen, die man mit der Hand zu fangen versuchte. Bald drohte selbst der Teil des Thesismusters sich aufzulösen, den er bereits gewebt hatte. Anconio benötigte seine gesamte Kraft, um den Zaubervorgang einfach nur aufrecht zu halten.

Sei wie das Florett.

Der Gedanke zuckte durch seinen Kopf und weckte die flüchtige Erinnerung an Rosenduft. Intuitiv verringerte er seine Bemühungen, den magischen Block mit Gewalt zu überwinden. Stattdessen stemmte er sich nur so kraftvoll dagegen, dass ihm das halbfertige Muster des Zauberspruchs nicht verloren ging.

Biegsam, ohne zu zerbrechen.

Beim zweiten Anlauf zerrte Anconio nicht mehr blindlings an den Astralfäden, sondern stellte sich auf ihr störrisches Schwingen ein. Gaben sie ein Stück nach, nutzte er die Gelegenheit und webte das Zaubermuster weiter. Zogen sie in die falsche Richtung, ließ er locker und achtete lediglich darauf, die vollendeten Teilmuster nicht zu verlieren. Seine Konzentration wurde auf eine harte Probe gestellt. Anconio fühlte sich, als stecke er bis zur Nase im Sumpf und verharre stocksteif, während sein Überlebensinstinkt ihn immer stärker drängte, gegen das langsame Versinken anzukämpfen. Seine Stirnlocken waren schweißfeucht, als die Astralfäden einander endlich in der exakten Ordnung umschlangen, die das arkane Muster verlangte.

Verblüfft begriff Anconio, dass der Zauber trotz seiner magischen Blockade gelungen war. Er schnippte mit den Fingern und sagte laut die Formel des Zaubers:

»Flim Flam Funkel!«

Die astrale Energie manifestierte sich zu einem kleinen Lichtpunkt, der über seiner Hand in der Nacht schwebte. Er war nicht größer als ein Glühwürmchen und unwesentlich heller.

Einige Momente starrte Anconio den winzigen Leuchtfleck mit offenem Mund an. Dann sprang er in die Luft, dass ihm die Robe um die Beine flatterte wie ein Königsmantel. »Heureka!« jubelte er. »Bei Hesinde, ich habe einen Zauber gewirkt!«

Zum dritten Mal in zehn Jahren, die Anconio mit der Ausbildung zum Gildenmagier zubrachte, hatte er erfolgreich gezaubert.

Im nächsten Augenblick setzte der Schmerz ein. Eine weißglühende Nadel bohrte sich zwischen Anconios Rippen, und er musste sich zusammenreißen, um nicht aufzuschreien. Er hatte diesen unangenehmen Effekt seines magischen Blocks ganz vergessen, da er nur dann auftrat, wenn er erfolgreich einen Zauber wirkte. Hesinde sei Dank dauerte es nur ein paar Herzschläge, bis das Stechen verebbte. Doch da hatte Anconio es bereits völlig vergessen. Etwas anderes fesselte seine Aufmerksamkeit voll und ganz.

Bedächtig schwenkte er seine Hand hin und her. Zu seiner Verwunderung folgte das magische Licht der Bewegung. Er tat einen Schritt zur Seite, und auch hierhin begleitete ihn das Licht. Als nächstes schüttelte er die Hand so wild, als habe sich ein Borbarad-Moskito darauf gesetzt und wolle ihm die Erinnerungen aussaugen. Er ging in die Hocke, sprang dann hoch in die Luft und rannte zweimal im Kreis herum. Egal, was er tat, der Lichtpunkt schwebte gehorsam über seiner Hand.

Das war faszinierend. Für gewöhnlich erschuf derFlim Flamein Licht, das an seinem Ort verharrte, wenn der Zaubernde sich fortbewegte. Anconio wusste, dass zu dem Zauber eine Variante existierte, die eine bewegte Lichtkugel hervorrief, aber er hatte sie noch nie angewendet. War es möglich, dass er das Thesismuster des Zaubers unbemerkt verändert hatte, sodass er ohne es zu wollen die Variante gewirkt hatte?

Widerwillig verschob Anconio die Lösung dieses Rätsels auf später. Er musste sich beeilen; sein magisches Licht würde nicht ewig leuchten.

In der Gasse hüllte ihn dichte Schwärze ein. Das schwache Zauberlicht war gerade hell genug, dass er die Hand vor Augen sehen konnte. Sein Mut kam ins Wanken, aber Anconio ging stur weiter geradeaus. Er war nur noch eine Stabesbreite von der Lösung eines weiteren Rätsels entfernt, das ihn seit langer Zeit beschäftigte.

Vor sich sah Anconio Licht. Erleichtert schritt er schneller aus und erreichte wenig später er einen Hinterhof. Er war so winzig, dass nicht einmal ein Beschwörungshexagramm darauf Platz gefunden hätte, selbst wenn man vorher die Bretterstapel fort geräumt hätte. Ein scharlachrot gekleideter Mann lag in einer Pfütze, ein spindeldürrer zweiter kniete bei ihm. Er fuhr herum, als er Anconio bemerkte.

Dieser schalt sich in Gedanken einen Narren. Er hatte nicht damit gerechnet, dass auch der Hintereingang des Palazzo Galahan bewacht sein könnte. Dabei war er so kurz vor dem Ziel. Nur noch zwei oder drei Schritte trennten ihn von der Tür in die Villa.

Der andere setzte die Lampe ab und erhob sich. Sein Kiefer war angeschwollen, und als er die Fäuste ballte, knackten seine Knöchel. »Und was willst du?«

Anconio schluckte, blieb jedoch stehen. Er hatte dem Mann ja nichts getan, und außerdem schlug man Frauen und Magier nicht. Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen hob er zu sprechen an, wobei er Xhindans dozierenden Tonfall imitierte.

»Mada zum Gruße, Freund des Reiches. Ihr fragt Euch sicherlich, wer ich bin und zu welchem Behufe ich vor Euch stehe. Nun, Eurer Neugier will ich Genüge tun. Magister Magnus Anconio Dracomagico ist mein Name, und weithin bekannt noch dazu. Sicherlich habt Ihr von mir schon gehört, einem der Lehrmeister der Magica Combattiva an der Halle des Vollendeten Kampfes zu Bethana. Ihr wisst doch, wovon ich spreche? Die berühmte Kampfmagierakademie?« Die Ratlosigkeit im Gesicht des Dürren verriet Anconio, dass dieser noch nie von den Kampfmagiern aus Bethana gehört hatte. Hesinde, wer für die nachlässige Ausbildung der Ordensknechte verantwortlich war, verdiente Koboldsbesuch!

»Auch was Eure zweite Frage anbetrifft – wie sich meine Anwesenheit erklärt –, kann ich Eurer Ratlosigkeit abhelfen«, fuhr er fort. »Ihr müsst wissen, dass ich zu Eurem Empfang geladen bin. Kraft meiner arkanen Fähigkeiten teleportierte ich mich von meiner bethanischen Studierstube aus mittels einesTransversalisdirekt zum Haupteingang des Palazzo Galahan. Allein, ein eruptives Auftreten in der limbischen Sphärendrift zwang mich, um einige Schritt von meiner intendierten Zielposition abzuweichen, weshalb ich nicht dort, sondern justament hier aus dem Äther rematerialisierte. Nun werde ich mich wohl durch jene dunkle, übelriechende Gasse zum Haupteingang vortasten müssen – es sei denn, Ihr gestattet mir freundlicherweise, diesen Nebeneingang zu benutzen, um ins Innere des Hauses zu gelangen. Also, mit Eurer Erlaubnis …« In der Hoffnung, dass er mit seinem Nonsensgerede genügend Eindruck geschunden hatte, machte Anconio einen Schritt auf die Tür zu.

»Hiergeblieben, Schwätzer.« Eine Hand legte sich schwer auf seine Schulter und hielt ihn fest. »Deine kleine Freundin hat uns bereits lächerlich gemacht, aber zweimal passiert uns das nicht. Hier, das ist für sie.«

Welche Freundin? Anconio verstand kein Wort. Umso deutlicher sah er jedoch, wie der Dürre zum Schlag ausholte. Instinktiv riss er sich los und machte einen unbeholfenen Schritt nach hinten, um aus der Reichweite der heransausenden Faust zu kommen. Etwas klirrte unter seinen Füßen, und die Lampe erlosch mit einem Zischen. In der unerwarteten Dunkelheit verfehlte der Fausthieb Anconios Gesicht so knapp, dass er den Luftzug auf der Wange spürte.

»Wo steckst du, kleine Koschkröte? Los, zeig dich!«

Der Ordensmann rumorte in der Dunkelheit und suchte nach Anconio. Dieser stand mit dem Rücken an einem Bretterstapel und dankte Phex für das unerwartete Verlöschen der Lampe. Was war nur in diesen Kerl gefahren? Nun, er hatte andere Sorgen, als dieser Frage nachzugehen. Er wollte nur noch in Sicherheit. Vorsichtig tastete er sich in Richtung der Gasse vor. Wenn er kein Geräusch machte, würde der andere ihn nicht entdecken.

Anconio hatte diesen Gedanken gerade zu Ende gedacht, als ihm sein magisches Licht einfiel. Bei allen sieben Sphären! So schwach der Zauber leuchtete, in dieser Finsternis genügte er, um ihn zu verraten. Er musste ihn sofort abbrechen, doch ihm fiel partout nicht ein, wie man das machte. Fluch seiner mangelnden Erfahrung im praktischen Zaubern! Da erklang auch schon ein triumphierender Schrei. »Da steckst du also!«

Er war erledigt.

Plötzlich kam ihm eine verzweifelte Idee. »Halt!«, rief er und hob drohend die Hand. Der Lichtfleck erleuchtete den Schemen des nahenden Ordensmannes. »Halt, oder mein Feuerball verbrennt dich!«

Zu seiner Verblüffung hielt sein Gegner tatsächlich an. Un­sicherheit schwang in seiner Stimme, als er ein »Ach ja?« hervorstieß.

Mit neuem Mut bewegte Anconio die Hand durch die Luft. Sein magisches Licht folgte der Bewegung. »Siehst du diesen Zauberfunken? Eine Bewegung von mir, und er gebiert einen Sturm elementaren Feuers, der dich zu Asche verwandelt. Gib den Weg frei oder stirb!«

Der Ordensmann zögerte. »Das ist ein Trick.«

»Greif mich an und finde es heraus!« sagte Anconio mit aller Gelassenheit, die er aufbringen konnte. Viel war es nicht.

Der Ordensmann war eingeschüchtert, zögerte aber noch. Anconios Knie zitterten unter seiner Robe. Wenn der andere nicht bald einknickte …

Endlich nahm die Angst des anderen überhand, und er machte einen hastigen Schritt nach hinten. Anconio wollte gerade erleichtert in die Gasse zurückkehren, um sich aus dem Staub zu machen, als er erkannte, dass sein Gegenüber genau vor den Häuserspalt getreten war.

Dieser Weg war ihm verwehrt. Jetzt gab es nur noch eine Richtung, die er einschlagen konnte.

Es dauerte nur ein paar Augenblicke, bis er die Tür in die Villa erreicht hatte, doch für Anconio dehnten sie sich zu einem Äon. Unter bedrohlichem Schwenken des Lichtpunktes hielt er den Ordensmann auf Distanz. Dieser folgte aufmerksam jeder seiner Bewegungen und wartete darauf, dass der angebliche Kampfmagier einen Fehler machte. Als Anconio endlich die Tür erreichte und mit dem Fuß dagegenstieß, schwang sie zu seiner grenzenlosen Erleichterung auf und ersparte ihm die Suche nach einer Klinke. Rückwärts trat er in einen spärlich beleuchteten Gang.

Er hatte es geschafft! Er war ein Genie!

Anconio bedachte den Ordensmann mit dem herablassendendsten Grinsen, zu dem er imstande war. »Das war sehr klug von dir. Dennoch sollte ich dich verbrennen, du impertinenter Wurm. Hast du wirklich geglaubt, du könntest einen so mächtigen Zauberer wie mich einfach -«

In diesem Moment erlosch derFlim Flam.

Anconio stand mit offenem Mund da. Was war er nur für ein Mindergeist!

Der Ordensmann stürzte brüllend vor. Anconio warf die Tür von innen zu und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen. Der Aufprall warf ihn beinahe zurück, doch die Angst verlieh ihm überderische Kräfte. Draußen nahm der Ordensmann erneut Anlauf, um die Tür endgültig aufzusprengen. Anconio sah sich verzweifelt um und entdeckte einen schweren Riegel. Er hatte ihn kaum vorgelegt, als ein weiterer Stoß die Tür traf. Der Querbalken hüpfte in den Zargen, aber er hielt. Er schien stabil genug, um den Ordensmann die ganze Nacht über draußen zu halten. Anconio wollte jedoch nicht bleiben und es herausfinden.

Wenig später betrat er den Großen Saal. Im selben Moment vergaß er die Ereignisse auf dem Hinterhof. Staunend ließ er seinen Blick über die spektakuläre Dekoration gleiten, die im Licht der vielen Fackeln von innen heraus in Scharlach und Purpur zu glühen schien. Weihrauchdämpfe aus den Kohlebecken und die Düfte teurer Parfums kitzelten den Gestank der unratverstopften Gasse aus seiner Nase. Die Musiker fingen soeben an, zum Tanz aufzuspielen, und in der Mitte des Saals formierten sich Paare zu einer Doppelreihe. Fasziniert trat Anconio näher und beobachtete, wie sich die Tanzenden voreinander verneigten und die Hände reichten.

Ihm war es, als sei er in einen Rausch aus Farben und Bewegung geraten. Diese Eleganz der Bewegungen, und die Pracht ihrer Gewänder! Schon die reich verzierten Wämser der Herren wussten zu beeindrucken, doch sie zeugten geradezu von Schlichtheit im Vergleich zu den Ballkleidern der Damen. Ausladende Röcke aus Samt, Seide oder Brokat rauschten bei jeder Drehung. Darüber trugen die Tänzerinnen enge Corsagen, die von Spitzenkragen abgeschlossen wurden oder, was Anconio weit mehr gefiel, von großzügigen Dekolletés. Viele Kleider waren mit Edelsteinen besetzt, und an Handgelenken, Fingern, Hälsen und Ohren blitzte Gold und Mondsilber.

Die Reihen der Tänzer bewegten sich aufeinander zu und strebten wieder auseinander. Verträumt sann Anconio darüber nach, wie es den Damen trotz ihrer steifen Kleider gelang, sich derart grazil zum Takt der Musik zu bewegen. Es musste das Wirken der Göttin Rahja sein. Welches Geschenk sie den Menschen gemacht hatte, als sie ihnen den Tanz gab! Den Frauen verlieh er ein himmlisches Maß an Schönheit, die die Männer dann bewundern durften.

Mühsam besann er sich auf den Grund, aus dem er eigentlich hier war. Richtig, es ging um den Großmarschall des Heiligblutordens, Timor Firdayon. Viele Gerüchte rankten sich um den zwielichtigen Kronprinzen, und die wenigsten von ihnen waren schmeichelhafter Natur.

Unter anderem hieß es, dass Timor binnen weniger Augenblicke in jede Stadt des Horasreiches reisen könne. Anconio hatte einige solcher Geschichten gesammelt und eine Theorie entwickelt, mit der er erklären zu können glaubte, wie der Ordensherr das Kunststück der gedankenschnellen Reise vollbrachte. Heute wollte er seine Theorie überprüfen.

Er drehte sich langsam im Kreis und betrachtete die Wände des Saals. Seine Augen streiften Spiegel und Tapetentüren, glitten die Reihe der Bilder entlang – und blieben an einem großen Gemälde hängen. Es zeigte Großmarschall Timor, der im prachtvollen Ornat des Ordens auf dem Pferderücken abgebildet war. Die aristokratischen Gesichtszüge trugen einen hochmütigen Ausdruck, und er maß den Betrachter buchstäblich von oben herab, denn das Bild war drei Schritt hoch.

Das musste es sein.

Je näher Anconio dem Bild kam, umso unentwegter schienen Timors grüne Augen ihn zu beobachten. Er spürte ein mulmiges Gefühl im Magen. Auch wenn er hoffte, dass sein Verdacht richtig war, wollte er doch vermeiden, ihn allzu unverhofft bestätigt zu sehen. Aber seine Sorge war unbegründet. Er erreichte das Bild, ohne dass der gemalte Ordensherr lebendig wurde und hinaussprang.

Anconio nestelte den Ärmel seiner Robe hoch. An einem ledernen Band um seinen Arm waren mehrere kleine, purpurne Blätter befestigt. Obwohl er das Blutblatt schon vor Stunden gepflückt hatte, war es noch immer frisch, denn die Pflanze ernährte sich von astraler Energie. Solange sie mit etwas Magischem in Berührung war, etwa der Haut eines Zauberkundigen, konnte sie nicht verdorren.

Anconio löste ein Blatt und befestigte es mit etwas Spucke in einer Ecke des Gemäldes. Dann sah er sich mit klopfendem Herzen um. Aber niemand hatte etwas bemerkt. Gut. Jetzt musste er nur einige Augenblicke warten.

Plötzlich spürte er dürre Finger sein Ohr packen.

»Wen haben meine trüben Augen erspäht?« Anconio jaulte auf, als seine Ohrmuschel schmerzhaft verdreht wurde. Langsam sprach Xhindan weiter, und seine altersbrüchige Stimme klang beinahe belustigt. »Du jammerst in derselben Tonlage wie mein nichtsnutziger Schüler. Und doch kannst du unmöglich Anconio sein. Dieser ist bestimmt in der Magierakademie und erledigt seine Aufgaben, gerade so, wie ich ihn geheißen habe.«

»Magister, Ihr tut mir weh!«, rief Anconio gequält. Innerlich verfluchte er sein Pech. Warum musste der Magier ihn gerade in diesem Moment entdecken!

Xhindan war uralt, und jedes seiner Jahre war ihm zwei- und dreifach anzusehen. Sein Gesicht war mit Runzeln übersät, und die dunklen Augen lagen tief in den Höhlen. Die Greisenhände ragten wie welkende Zweige aus den Ärmeln der grauen Robe hervor, doch ihr Griff an Anconios Ohr war fest und unbarmherzig. Xhindan nahm keine Notiz vom Wehklagen seines Schülers.

»Aber wenn du nicht Anconio bist, wer bist du dann? Habe ich etwa einen Dämon am Wickel, der meine Seele in die Niederhöllen reißen will? Man sagt, die Diener Amazeroths tarnten sich gern als Zauberlehrling.«

Anconio lief ein Schauer über den Rücken, als der Alte einen der Erzdämonen beim Namen nannte. Es hieß, dass die Widersacher der Götter einem die Seele raubten, wenn man ihren Namen zu oft aussprach. Da verstärkte sein Lehrmeister den Griff und rief ihn zurück in seine eigene Misere.

»Ich kann alles erklären, Magister«, keuchte Anconio.

»Beweise mir zuerst, dass du wirklich Anconio bist. Mein Lehrling weiß, wie alt ich bin. Weißt du es auch?«

Der junge Zauberschüler schluckte. »Nein, Magister.«

»Ich weiß, dass du es weißt. Heraus damit, wie alt bin ich?« Xhindan verdrehte das Ohr um eine weitere Winzigkeit.

»Das darf ich nicht sagen!«, rief Anconio verzweifelt. »Ich habe Euch schwören müssen, die Zahl niemals laut auszusprechen!«

Xhindan machte ein zustimmendes Geräusch. »Das ist richtig. Ein Dämon könnte mein Alter herausgefunden haben. Doch nur der echte Anconio kann wissen, welche Dinge er absolut niemals ausplaudern darf.«

Damit ließ er das Ohr los. Blut schoss hinein, und der Schmerz trieb Anconio die Tränen in die Augen.

Xhindan stützte sich wieder auf einen gewundenen Ulmenholzstab. Seine gebeugte Gestalt reichte dem Jüngeren gerade bis zur Brust. »Und nun will ich wissen, was du hier verloren hast«, grollte er mit anklagend ausgestreckter Rechter. Auf der Innenfläche seiner Hand formten Linien das verschlungene Siegel aus magischer Tinte, das ihn als Gildenmagier auswies. »Und wage es nicht, mich zu belügen. Ich kann deine Gedanken leichter lesen als deine Handschrift.«

»Ich bitte um Verzeihung, Magister.« Anconio bereicherte seine betretene Miene um ein Quäntchen Zerknirschtheit, während er innerlich höchste Anspannung verspürte. Er hatte gleich zu Beginn seiner Magierausbildung lernen müssen, dass er den Alten nicht belügen konnte. Xhindan war ein Meister im Gedankenlesen und hatte es mit seiner Hellsichtmagie sogar zum Hofmagier gebracht. Erst mit den Jahren hatte Anconio einige Kniffe gelernt, wie er Xhindan hin und wieder anflunkern konnte. Es klappte leider nicht immer.

»Ich wollte nach Hause eilen, so wie Ihr es mir aufgetragen hattet«, begann er. »Doch als ich durch die Eingangshalle huschte, hörte ich jemanden nach Euch fragen und entschied, mich seiner anzunehmen. Es war ein Bote.« Das entsprach der Wahrheit. Anconio verschwieg lediglich, dass sich diese Episode nicht heute, sondern bereits gestern zugetragen hatte.

Auf Xhindans faltiger Stirn erschienen weitere Runzeln. »Strapaziere meine Geduld nicht über Gebühr, Bursche. Was du hier zu suchen hast, will ich wissen.«

»Eben das versuche ich Euch zu erklären, Magister. Ihr müsst wissen, dieser Bote kam aus dem Raschtulswall.« Anconio machte eine bedeutungsvolle Pause. »Von Drakonia her.«

»Von Drakonia her?« Xhindan rückte näher. Er verströmte seinen vertrauten Geruch, eine Mischung aus Knoblauch, Tarnele und altem Mann. »Was wollte er?«

»Oh, der Arme wollte vor allem eine Nacht der Ruhe genießen. Er hatte zwei Wochen ununterbrochen im Sattel gesessen und war froh, als er das Objekt endlich abgeben konnte. Stellt Euch vor, im Almadanischen versuchte man doch tatsächlich, ihm -«

Xhindan klopfte ungeduldig mit dem Stab auf. »Welches Objekt? Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen!«

»Verzeiht, Magister.« Anconio griff in eine Tasche seiner Robe und holte eine Phiole hervor. Eine erdfarbene Flüssigkeit schimmerte darin. »Er überbrachte Euch dies.«

Xhindan nahm das Fläschchen so ehrfürchtig entgegen, als handle es sich um die verlorenen Schriftrollen der Hela-Horas. »Das Atmon-Elixier,« sagte er voller Ehrfurcht.

»Exakt. Ich erinnere mich genau daran, dass Ihr mir die Anweisung gabt, es Euch unverzüglich zu bringen. Somit befand ich mich in der Situation, eine Eurer Anweisungen nicht befolgen zu können – entweder diejenige, Euch das Elixier schnellstmöglich auszuhändigen oder die, nach Hause zu gehen. Wofür ich mich entschied, wisst Ihr bereits, und ich schäme mich dafür, dass ich offenbar einen Fehler begangen habe. Bitte verzeiht mir, Magister.«

Er sah in gespielter Niedergeschlagenheit zu Boden, beobachtete den Alten jedoch weiter. Xhindans Mundwinkel zuckten. Anconio befürchtete schon, er habe zu dick aufgetragen, doch es war nur ein Lächeln, das über das Gesicht des Alten huschte. »Es ist gut, Anconio. Du hast die richtige Entscheidung getroffen.«

Damit löste Xhindan den Korken von der Phiole, setzte sie mit zitternden Fingern an die Lippen und trank. Fasziniert beobachtete Anconio, wie die Wirkung des magischen Elixiers einsetzte. Als spanne ein Maler eine nachlässig befestigte Leinwand fester ein, straffte sich die Haut über Xhindans Fingern und Wangen. Seine tiefen Falten glätteten sich. Unter der Wirkung des Trankes richtete sich sein gebeugter Rücken ein Stück auf, und selbst das schlohweiße Haar wurde um eine Nuance dunkler.

Der Magier legte die Hand vor die Augen und murmelte ein magisches Wort. Daraufhin überzog sich seine Handfläche mit einer silbern spiegelnden Oberfläche. Als er darin sein Gesicht betrachtete, wirkte er wie ein Güldenlandfahrer, der nach jahrelanger Reise seine Familie wiedersieht.

»Bei allen Dschinnen des Humus, es wirkt tatsächlich!«, raunte er ehrfürchtig. Selbst seiner Stimme war neue Vitalität anzumerken.

»Ihr seht um mindestens dreißig Jahre jünger aus, Magister.« Es waren eher drei, doch Anconio hielt eine kleine Schmeichelei für angebracht.

»Wir wollen sehen, wie lange die Wirkung anhält.« Xhindan holte einen ovalen Gegenstand aus Messing hervor, der ein leises Ticken von sich gab. Unter dem reich verzierten Deckel kam eine kreisrunde Scheibe aus Silber zum Vorschein. An ihrem Rand waren die Symbole der Zwölfgötter eingraviert. Aus der Mitte entsprang ein goldener Zeiger. Derzeit stand er zwischen Eidechse und Fuchs.

»Beginn der Wirkung: Mitte der neunten Stunde«, murmelte Xhindan.

Anconio bewunderte die Taschenuhr, wie jedes Mal, wenn er sie sah. »Es wird meinen Vater freuen, dass das Ovo Fiolesso noch immer seinen Dienst erfüllt. Wie Ihr wisst, ist es sein Meisterstück.« Obwohl sein Vater seither Dutzende von Uhren gebaut hatte, hing sein Herz untrennbar an seinem ersten Werk. Es war ihm eine schwere Prüfung gewesen, das Ovo Fiolesso zu verschenken, trotz allem, was Xhindan für die Fiolessos getan hatte.

»Die Älteste deines Vaters arbeitet tadellos. Im Gegensatz zu seinem Sohn.« Xhindan ließ die Uhr wieder im Ärmel seiner Robe verschwinden und deutete auf das Blutblatt an Timors Gemälde. »Du hast mir noch nicht erklärt, was das hier zu bedeuten hat, Knabe.«

Anconio stöhnte innerlich auf. Er hatte darauf gesetzt, dass das Atmon-Elixier den Magier derart vereinnahmte, dass er die Frage nach dem wahren Grund für die Anwesenheit seines Schülers vergaß. Und das war nicht die einzige Enttäuschung: Das Blutblatt war völlig vertrocknet und zerfiel unter Xhindans Fingern zu Staub. Das Bild war also eindeutig nicht magischer Natur.

»Nun, wird’s bald?«, drängte der Alte.

»Ich habe ein Experiment vorgenommen«, erklärte Anconio missmutig. »Ich wollte herausfinden, ob Großmarschall Timor Firdayon über dunkle Pforten gebietet, die es ihm ermöglichen, auf magischem Wege von einem Ordenshaus ins andere zu reisen. Ich dachte, dieses Bild könnte eine dieser Pforten sein.«

»Du und deine absurden Theorien«, brummte Xhindan. Er sah das Bild an, und auf seiner runzligen Stirn erschien eine weitere steile Falte. »Du behauptest also, der junge Firdayon müsse in Neetha oder sonst wo in ein Bild hineinklettern, um in Vinsalt auf dem Rücken eines gemalten Pferdes aufzutauchen?«

»Es ist zumindest denkbar«, verteidigte sich Anconio.

Xhindan winkte ihn mit einem knotigen Finger zu sich hinab. Anconio bückte sich, und als ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren, versetzte der Alte ihm einen schmerzhaften Klaps auf den Schädel.

»Denkst du denn überhaupt nicht nach, du Scharlatan?«, keifte er. »Wenn jemand tatsächlich Bilder besäße, zwischen denen er hin und her reisen könnte, dann würde ich als Hofmagier wohl davon wissen, meinst du nicht?«

»Ja, aber -«

Ein weiterer Schlag brachte Anconio zum Verstummen. »Außerdem würde derjenige einen derartigen Schatz kaum unbewacht in einen belebten Saal hängen. Hier kann sich ja jeder Tunichtgut daran zu schaffen machen.« Wieder ein Hieb. »Was hast du überhaupt damit angestellt?«

»Ich habe mit Blutblatt überprüft, ob das Bild magisch ist.«

»Blutblatt, soso. Wo hast du das her?«

»Ich habe es im Garten des Anatomischen Instituts gepflückt.« Unmerklich zog Anconio das Handgelenk, an dem die anderen Blätter hingen, tiefer in seinen Ärmel zurück.

»Gepflückt? Stibitzt!« Ein weiterer Klaps. »Warum bedienst du dich überhaupt solcherlei Hilfsmittel, anstatt das Bild mit einem Zauberspruch zu untersuchen?«

»Ohne Eure Aufsicht darf ich doch gar nicht zaubern, Magister«, warf der Schüler ein.

Prompt langte Xhindan erneut zu. »Red nicht dazwischen. Das weiß ich schließlich selbst. Außerdem gelingt dir das Zaubern noch nicht einmal in meinem Beisein. Du musst dich mehr anstrengen, Junge, sonst wirst du deine Lehrzeit auch in diesem Jahr nicht beenden.«

Anconio war versucht, Xhindan seinen geglücktenFlim Flamentgegenzuhalten. Im letzten Moment verkniff er es sich. Wenn Xhindan erfuhr, dass sein Scholar unerlaubt gezaubert hatte, würde er nur noch wütender.

»Könnte meine Theorie denn möglicherweise stimmen?«, fragte er stattdessen.

»Hmm«, machte Xhindan. Sein nächster Schlag blieb aus, und Anconio nutzte die Gelegenheit, um sich den Hinterkopf zu reiben. »Auch ich habe schon darüber nachgedacht, ob die Raffinesse des Prinzen durch Magie zu erklären ist. Es ist nicht wahrscheinlich, aber auch nicht unmöglich. Also ist es denkbar, dass du prinzipiell richtig liegst – doch ich halte das für abwegig, hörst du?«

»Ja, Magister.« Der Scholar strahlte. Wenn Xhindan eine seiner Ideen nicht komplett verwarf, war das so gut wie ein Lob. Und irgendwann würde Anconio eine Theorie aufstellen, die dem Alten echte Anerkennung abrang.

Xhindans Räuspern brachte ihn zurück ins Hier und Jetzt. »So, Bursche, und nun will ich wissen, was du mir verschweigst.«

»Verschweigen? Ich?«, fragte er alarmiert.

»Ich kenne dich, Anconio, besser, als du glaubst. Ich sehe dir von Weitem an, dass du etwas ausgefressen hast, das du bisher nicht erzählt hast. Also, heraus damit. Und in dieser Sache dulde ich keine Ausflüchte. Du weißt, es ist mir ein Leichtes, eine Lüge zu entlarven.«

Anconios Gedanken rasten. Der Alte ließ ihm die Wahl zwischen dem Scheiterhaufen und den Dämonen. Wenn er seinen unerlaubten Zauberspruch zugab, würde er viel Ärger kriegen. Doch schwindeln konnte er ebenso wenig, denn Xhindan konnte seine Gedanken lesen.

»Nun? Will dir keine Ausrede einfallen?«

»Ich … Ich habe einen Zauber gesprochen, Magister,« gestand er.

»Die Wahrheit will ich hören.«

»Aber das ist die Wahrheit!« Anconio konnte sich einen Unterton der Entrüstung nicht verkneifen. »Mir ist sogar eine Zaubervariante gelungen.«

Xhindan zog ihn am Ohr zu sich hinunter. Sein Griff nötigte Anconio einen Schmerzenslaut ab. »Bei Madas Frevel, jetzt ist es aber genug! Ich soll glauben, du hättest eine Matrixvariante gewirkt? Ich brauche nicht in deine Gedanken zu blicken, um diese Behauptung als dreiste Lüge zu erkennen. Dass du dich trotz meiner Warnung dafür entschieden hast, mich täuschen zu wollen, soll dir noch leidtun. Zur Strafe wirst du -«

Xhindan verstummte mitten im Satz. Seine Augen fixierten einen Punkt hinter Anconio. »Wir werden später über deinen Ungehorsam sprechen. Bis dahin bleibst du in meiner Nähe und gibst denSilentiumzum Besten. Keinen Mucks, hast du verstanden?«

Er gab Anconio frei. Dieser rieb sein geschundenes Ohr und nickte stumm.

Zwei Männer näherten sich. Der vordere trug eine bodenlange Scharlachrobe aus Brokat, die an den Säumen großzügig mit Purpur abgesetzt war. Ebenfalls purpurn waren die Schärpe um den Leib und die Haube, die seinen Hinterkopf bedeckte. Ihm folgte ein zweiter Mann, der ebenfalls die Farben des Ordens trug. Eine Narbe, die bis über das linke Auge reichte, verunzierte seine Wange.

»Horas zum Gruß, Magister Xhindan,« sagte der erste. Seine Mundpartie wurde von einem akkurat gestutzten Bart einge­rahmt, der die harten Linien des Kiefers betonte. »Es ist mir eine besondere Freude, den Ersten Hofmagier unter meinen Gästen begrüßen zu dürfen. Ihr seht jünger aus, als man sich erzählt.«

»Comtur ya Scalantino, seid auch Ihr gegrüßt« entgegnete Xhindan. »Ich bin wie immer froh, Gast des Ordens zu sein, Euer Gnaden.«

Der Neuankömmling hob eine Augenbraue. »Dass Ihr mich als Geweihten eines Gottes anredet, schmeichelt mir. Doch diese Ehre gebührt mir leider nicht. Wie Ihr wisst, steht im Heiligen Horarium geschrieben, dass der Horas kein leibhaftiger Gott ist, sondern ein Gesandter der Zwölfe. Darum huldigen wir ihm nicht mehr als Kirche, sondern als Orden, und mein Titel lautet nicht Geweihter, sondern lediglich Comtur.«

»Dann bitte ich Euch, mir zu verraten, wie Eure korrekte Anrede lautet.«

»Erweist mir die Ehre und sagt einfach Gastos, Magister.«

»Nur, wenn Ihr mich Xhindan nennt.« Der Alte streckte seine Hand aus, und Gastos ergriff sie mit kaum merklichem Zögern. Scalantinos Finger waren lang und feingliedrig wie die eines Elfen, und kein Krümel Schmutz befand sich unter den gefeilten Nägeln. Anconio sah weder Schwielen noch Blasen daran, nicht einmal einen Tintenfleck. Nach einem knappen Händedruck zog der Comtur die Hand wieder zurück und verbarg sie im Ärmel.

»Mir kam zu Ohren, dass Ihr unlängst eine interessante Entdeckung gemacht habt«, sagte Xhindan.

»Ihr seid gut informiert«, gab Gastos zurück. »In der Tat stieß ich in den Kellern dieses unseres neuen Ordenshauses wie durch ein Wunder auf eine Schriftrolle, die sich als höchst bedeutsam erweisen könnte.«

Anconio war dem Gespräch nur beiläufig gefolgt, doch die letzte Bemerkung des Ordenscomturs weckte seine Aufmerksamkeit. Höchst bedeutsame Angelegenheiten hatten ihn schon immer neugierig gemacht.

Auch Xhindan schien interessiert. »Nun müsst Ihr mir mehr verraten, Gastos.«

»Ich werde in meiner Ansprache ausführlich darauf eingehen. Doch wenn sich der Erste Hofmagier persönlich dafür interessiert, kann ich ihn unmöglich so lange warten lassen, nicht wahr?« Der Comtur lächelte. »Doch vorher habe ich eine Frage an Euch, werter Xhindan. Sagt, könnt ihretwas mit dem Begriff ‚Satinavs Auge‘ anfangen?«

»Das ist eine Uhr.«