DSA: Das Blut der Castesier 3 - Stadt der Hundert Türme - Daniel Jödemann - E-Book

DSA: Das Blut der Castesier 3 - Stadt der Hundert Türme E-Book

Daniel Jödemann

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Beschreibung

Lucia ist tief gefallen und ihrer Familie droht die Verdammnis. Verraten von den Menschen, denen sie einst vertraute, findet sich Lucia nun in Ketten auf dem Sklavenmarkt wieder. Sabella wendet sich nach Bosparan, der Stadt der hundert Türme, wo sie an der bedeutendsten Magierakademie des Reiches vorstellig wird. Doch in der Hauptstadt des Bosparanischen Reiches hat alles einen hohen Preis. Valerius ist ebenfalls in Bosparan eingetroffen, angetrieben von seinem Wunsch nach Rache. Schon bald stellt er fest, dass in der Stadt der hundert Türme andere Spielregeln gelten und er unweigerlich in sein Verderben zu laufen droht. Stadt der hundert Türme ist der dritte Teil der sechsteiligen Reihe Das Blut der Castesier, eine epische Geschichte in den Dunklen Zeiten Aventuriens.

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Impressum

Ulisses SpieleBand US25720Titelbild: Dagmara MatuszakAventurien-Karte: Daniel JödemannRedaktion: Nikolai HochLektorat: Frauke ForsterKorrektorat: Claudia WallerUmschlaggestaltung und Illustrationen: Nadine Schäkel, Patrick SoederLayout und Satz: Nadine Hoffmann, Michael Mingers

DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN, UTHURIA und THE DARK EYE sind eingetragene Warenzeichen der Ulisses Spiele GmbH, Waldems. Copyright © 2019 by Ulisses Spiele GmbH. Alle Rechte vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN 978-3-96331-184-0Ebook-ISBN 978-3-96331-340-0

Daniel Jödemann

Stadt der hundert TürmeDas Blut der Castesier III

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Mit Dank anMareike Aurora und Thomas Ritzinger

Was bisher geschah

»Natürlich war es notwendig, den Mussadin bisweilen einen Hinweis zu geben, damit sie auch mal einen der Diebe stellen konnten, die ich angeheuert hatte. Damit sie auch weiterhin auf meine Dienste zurückgriffen. Ein schwieriges Unterfangen, denn zur gleichen Zeit mussten die Rückschläge der Tulamiden so gravierend ausfallen, dass Abu’Keshal irgendwann selbst nach dem Rechten sehen würde. Natürlich war er nie bereit, mich zu treffen. Einen jungen, ambitionierten und feqzgläubigen Dieb dagegen, das war etwas anderes. Selbstverständlich dachte ich zunächst an Sylvius. Der tragische Tod seiner Schwester durch die Hand der Mussadin hätte ihn bestimmt dazu getrieben, Rache zu nehmen. Dann hast du dich aber so beeindruckend in den Vordergrund gedrängt. Ich beschloss daraufhin, dich zu motivieren und zu testen, ob du womöglich der bessere Kandidat bist. Nachdem du Sylvius dann auf dem Altar deiner Rache geopfert hast, wusste ich, dass der Richtige vor mir sitzt.«

»Dann gab es also niemals einen Procurator? Es handelt sich lediglich um ein Märchen?«

»Natürlich existiert er. In der Stadt der hundert Türme kontrolliert er alles. Mein kleines Unterfangen hier ist gegen den Procurator und die Fünf Banden Bosparans eine Lappalie.«

— Tacitus Puninius und Valerius Castesius, am 24. Tag der Travina im Jahre XVII Yarum

»Ich bin schon lange kein Kind mehr. Dafür hast du gesorgt, als du vor meinen Augen die Sonnenlegionäre gemordet hast! Du hast ein Kind von drei Jahren aus ihrem Blut gehoben. Blut, das du vergossen hast, um meiner habhaft zu werden!«

»Ich fand dich so auf, im Blut dreier Legionäre. Drei Menschen, die du selbst gemordet hattest! Was glaubst du, wie ich damals, in jener Nacht, das außerordentliche Potential erkannte, das in dir schlummert? Warum ich deine Kräfte eindämmen wollte, verhindern wollte, dass sie jemals zur Gänze hervorbrechen und dich verschlingen? Warum die Dämonin immer nur dich wollte? Warum Quintus deiner habhaft werden wollte und warum sie dich immer jagen werden? Ich vermag dich nun nicht mehr vor all dem zu bewahren«, fuhr er hastig fort, »du bist nun auf dich allein gestellt. Hüte dich vor der Finsternis, Sabella, oder sie wird dich verschlingen!«

— Sabella Castesia und Andronicus Bosparanius, am 25. Tag der Travina im Jahre XVII Yarum

Band I: Blutnacht

Nur kurze Zeit nachdem Yarum-Horas den Thron des Bosparanischen Reiches errungen hat, ordnet er den Tod mehrerer einflussreicher Comites an, dem auch die Familie der Castesier zum Opfer fällt. Drei Kinder entkommen dem Massaker: Livia, die unter dem Namen Lucia Arponia von einer Comes als ihre Erbin großgezogen wird, Valerius, der auf der Straße aufwächst, und seine Zwillingsschwester Sabella, die von dem Magier und Nekromanten Andronicus aufgefunden und ausgebildet wird.

Vierzehn Jahre später tritt Lucia Arponia in die Legion ein und schließt sich dem Feldzug von Cassus Bosparanius an, einem Sohn des Horas, der seine Truppen nach Süden führt, um sich mit Eroberungen als Erbe für den Adlerthron zu empfehlen. Dank Cassus steigt Lucia zur Centuria auf und lässt sich zudem auf eine Affäre mit Tribun Flavius Aedinius ein. Sie ernennt den Veteranen Rufus Pulcher zu ihrem Stellvertreter.

Valerius schlägt sich in Puninum mit Diebstählen und Einbrüchen durch und arbeitet für den Nandurios-Priester Tacitus, der ihm bisweilen Aufträge vermittelt. Zwei Banden strecken in dieser Zeit ihre Hand nach Puninum aus: Die tulamidischen Mussadin unter ihrem Anführer Abu’Keshal, und die Fünf Banden Bosparans, die von dem rätselhaften Procurator kontrolliert werden. Valerius beginnt zu dieser Zeit eine Liebschaft mit der abenteuerlustigen Patrizierstochter Ariana Lusia.

Sabella folgt nach Jahren in der Provinz ihrem Meister Andronicus an die Akademie von Puninum. Obwohl sie das nötige Alter erreicht hat, weigert sich ihr Lehrmeister, sie zur Prüfung zuzulassen und aus seinen Diensten zu entlassen. Eines Nachts führt Andronicus eine Beschwörung durch, bei der eine mysteriöse körperlose Dämonin – der Geflügelte Schatten – auf Sabella aufmerksam wird.

Band II: Schwarze Schwingen

Eines Nachts wird Cassus von Wudu aus dem Feldlager entführt. Flavius setzt Lucia daraufhin das Messer auf die Brust: Er offenbart ihr, dass er das Geheimnis ihrer Herkunft kennt, und weist sie an, Cassus zu retten. Andernfalls wird er den Verrat der Arponier öffentlich machen, was das Ende für die Familie und für Lucias Sohn Lucius bedeuten würde.

Gemeinsam mit Rufus und einigen anderen Legionären verfolgt Lucia die Entführer durch die Dschungel Meridianas bis zum Dorf der Wudu. Die Wudu planen, Cassus ihrem finsteren Todesgott zu opfern und zu einem Untoten zu erheben. Lucia kann nicht verhindern, dass der Wudu-Schamane Taohate mit dem Ritual beginnt, Cassus’ Leibmagierin vermag den Strategus allerdings zu retten. Dabei erscheint die Dämonin mit den Schwarzen Schwingen, der Geflügelte Schatten, den Andronicus in diese Welt rief.

Lucia, Rufus und Cassus gelingt mit dem Schamanen als Gefangenen die Flucht, und sie schaffen es zurück bis ins Feldlager. Unterwegs ist Lucia gezwungen, dem verletzten Rufus einen Arm zu amputieren.

Im Lager lässt Flavius sie verhaften und gibt vor, dass der Strategus von Lucia entführt wurde, um zu vertuschen, was Cassus bei den Wudu durchleben musste. Lucia bemerkt Veränderungen an Cassus: Sie ahnt, dass das Wudu-Ritual Spuren an ihm hinterließ und die Dämonin ihn immer noch beeinflusst.

Flavius will Lucia und Rufus aus dem Weg schaffen, um alle Zeugen zu beseitigen. Den beiden gelingt die Flucht, dabei opfert sich Rufus für Lucia. Kurz darauf wird die dem Tode nahe Lucia von Sklavenjägern aufgefunden.

Valerius findet eines Nachts Ariana und ihre Familie von den Mussadin ermordet auf – als Rache dafür, dass sich Arianas Vater mit den Fünf Banden Bosparans einließ. Valerius brennt auf Vergeltung. Da Abu’Keshal neue Bandenmitglieder rekrutiert und Tacitus plant, ihm entweder Sylvius oder Valerius zu empfehlen, übernimmt Valerius weitere Aufträge. Dann kommt Sylvius ums Leben und lässt Valerius als einzigen Kandidaten zurück.

Tatsächlich wird er nun zu Abu’Keshal vorgelassen. Valerius tötet die Anführerin der Mussadin und entkommt. Dabei erkennt Valerius, dass sein einstiger Hauslehrer, der Sklave Umbra, vor vierzehn Jahren bei der Flucht aus Bosparan ums Leben kam und seitdem nur noch in seiner Vorstellung existiert. Valerius kommt ebenfalls dahinter, dass Tacitus von Beginn an für den Procurator gearbeitet und Valerius manipuliert hat, um Abu’Keshal auszuschalten. Dazu ordnete Tacitus den Mord an Ariana an und gab den Mussadin die Schuld.

Bei dem Versuch, Tacitus zu stellen, wird Valerius gefangen genommen und kommt nur knapp mit dem Leben davon. Er folgt Tacitus nach Bosparan. Unterwegs wird ihm bewusst, dass ihm nicht nur Umbra erscheint: Er sieht auch die verstorbene Ariana und ein kleines Mädchen mit dunklen Haaren.

Sabellas Hoffnung, von Quintus als Schülerin übernommen zu werden, wird zerstört, als Andronicus ihrem Plan auf die Schliche kommt und Quintus im magischen Duell tötet.

Schließlich erkennt Sabella, dass Andronicus den Geflügelten Schatten, die geheimnisvolle Dämonin, wiederholt beschworen hat. Im Austausch für dämonisches Wissen stellte er der körperlosen Dämonin dabei Sabellas Körper zur Verfügung und nahm Sabella die Erinnerungen an diese Vorfälle. Sie kann einige dieser Erinnerungen wiederherstellen und entsinnt sich so auch wieder, dass sie einst einen Zwillingsbruder hatte.

Sabella entschließt sich, ihren Lehrmeister zu töten, ehe Andronicus’ Beschwörungen ihr Leben fordern. Sie stellt ihn des Nachts auf einem Friedhof, läuft jedoch in eine Falle. Andronicus beschwört erneut die Dämonin, die Sabella auffordert, sich gegen ihren Lehrmeister zu stellen. Und tatsächlich kann sie ihn nun bezwingen.

Andronicus offenbart ihr mit seinem letzten Atemzug, dass Sabella schon als Kind eine dunkle Seite in sich trug, was sie für Menschen wie Quintus zu einem lohnenden Ziel macht. Er hat diese um ihrer selbst willen stets eingedämmt und sie vor ihren Häschern beschützt. Sabella reist nun nach Bosparan, um dort endlich ihre Prüfung zur Magierin abzulegen und damit wirklich frei zu sein.

Kapitel 1

Lucia starrte die Ketten zwischen ihren Handgelenken an. »Bidarius, lass es ein schlechter Traum sein«, murmelte sie. Ein weiteres Mal lagen ihre Hände in Eisen, nachdem sie sich doch schon ihre Freiheit erkämpft hatte. Die Götter zürnten ihr wahrhaftig. War das die Strafe für ihre Verfehlungen? Für das Blut, das an ihren Händen klebte? Für Marcellus und Rufus, für Lucius und Lucia – die richtige Lucia –, für Anthea, Genadius, Falco und all die anderen Legionäre unter ihrem Kommando, die sie in ihr Verderben geführt hatte?

»Es ist kein Traum«, raunte Lucias Nebenmann ihr zu. »Je eher du das begreifst, desto besser.«

Sie hatte Mühe, sich aufrecht zu halten. Die nur oberflächlich versorgte Wunde an ihrem Bauch pochte und brannte. Sie konnte sich nur noch verschwommener Bilder aus den vergangenen Tagen entsinnen: die Flucht entlang der Ufer des Lacus Harotrus, Rufus’ Opfer, der Armbrustbolzen, ihre Gefangennahme und die Reise nach Belenas.

Besser war ihr die beruhigende Kälte und die tröstende Dunkelheit in Erinnerung geblieben, dieses Gefühl der Geborgenheit und des Schwebens. Jetzt, in der schwülwarmen Hitze, sehnte sie sich danach.

Gestern hatten ihre ›Retter‹ sie gemeinsam mit einigen Waldmenschen an den Sklavenhändler Ucurianus verkauft. Ucurianus hatte sie in Augenschein genommen und sich lautstark über ihren Zustand beschwert. Lucia bemühte sich, ihm zu erklären, dass sie keine Sklavin sei, was ihn nur noch mehr aufbrachte. Am Ende zahlte er dann doch für sie. Nach einer Nacht in einem nach Exkrementen stinkenden Verlies zerrten Ucurianus’ Helfer sie hervor, legten sie und die übrigen Gefangenen in Ketten und trieben sie quer durch die Stadt zur Sklaveninsel.

Die Insel beherbergte den Sklavenmarkt von Belenas. In Lucias Augen hatte sie den Vorhof zu den Niederhöllen betreten: Verdammte Seelen, in Ketten gelegt, schmutzig und nackt, oder nur mit Fetzen am Leib, reihten sich vor den Ständen der Menschenhändler aneinander. Das Angebot bestand zum größten Teil aus dunkelhäutigen Waldmenschen, vorwiegend muskulösen jungen Frauen und Männern, begehrt aufgrund ihrer Kraft. Es fanden sich auch weniger kräftig gebaute darunter, die aber ebenmäßige, exotische Zügen besaßen. Diese waren aus anderen Gründen für die Einkäufer interessant.

Ketten an den Füßen verbanden Lucia mit ihren beiden Nachbarn und den übrigen Sklaven. Ein Entkommen war unmöglich. Selbst wenn sie alle gemeinsam die Flucht anträten, würden Ucurianus’ Wachen sie mühelos einholen.

Lucia schüttelte den Kopf. Sie war von den besten cyclopäischen Hauslehrern, erfahrensten Fechtlehrern und angesehensten Rhetorikern des Horasiats unterrichtet worden. Dazu kamen die zwei Jahre in der Offiziersschule in Arivor und mehrere Monate Legionsdienst. Ihre Mutter hatte ihre Laufbahn exakt geplant. Lucia sollte selbst Sklaven besitzen und nicht verramscht werden wie ein Pferd.

»Ist es dein erstes Mal?«, erkundigte sich ihr Nebenmann, ein junger Tulamide. »Dass du verkauft wirst, meine ich?«

Der Tulamide schaute zu ihr auf, er maß einen halben Kopf weniger als Lucia. Er war etwa fünfundzwanzig Sommer alt und drahtig gebaut, die eine oder andere längst verheilte Narbe schmückte seinen bloßen, sonnenverbrannten Oberkörper. Sein dunkles Haar war ungekämmt und dreckig, sein scharf geschnittenes Gesicht zierte ein struppiger Bart. Er hatte schon einige Zeit der Gefangenschaft hinter sich. Er sprach Bosparano mit deutlichem Akzent und trug lediglich einen Lendenschurz am Leib.

»Erstes Mal«, presste sie hervor und rang eine weitere Welle des Schmerzes nieder, die sich von ihrem Unterleib aus ausbreitete. Zu allem Überfluss fand sie sich nun neben Tulamiden und Wilden wieder. Sie wich seinem Blick aus. »War noch nie auf einem Sklavenmarkt.«

Das war gelogen. Fastidia hatte sie schon früh mit auf die Bosparaner Sklavenmärkte genommen. Mit den Jahren waren Einfluss und Reichtum der Arponier gewachsen, sodass sie sich mehr Sklaven zu leisten vermochten.

Lucia hatte niemals ernsthaft darüber nachgedacht, was Sklaven bis zu dem Moment durchmachten, in dem sie einen Käufer fanden. Im Haus der Arponier fehlte es ihnen an nichts: Man wusch sie, kleidete sie und gab ihnen Essen. Sie wurden gut behandelt und konnten sich glücklich schätzen, in einem so guten Haus untergekommen zu sein.

Lucia hatte nie ihre Hand gegen einen Sklaven erhoben. Selbst ihre strenge Mutter griff nur hart gegen die durch, die sich ungehorsam zeigten und aufbegehrten. So war nun einmal der Lauf der Dinge: Brajanos hatte Comites und Patrizier zu Herren bestimmt und andere zu Dienern. Nun stand alles kopf.

»Für mich auch«, seufzte der Tulamide. »Eine bosparanische Galeere brachte unser Schiff auf, Feqz war uns nicht gewogen.« Er lächelte verschmitzt. Weiße Zähne blitzten in seinem struppigen Bart auf. »Mein Name ist Alef, Alef ibn Khalid.«

Ihr stand nicht der Sinn nach Konversation, vor allem nicht mit einem Tulamiden. Er machte aber nicht den Eindruck, sie in Frieden lassen zu wollen. »Lucia«, antwortete sie knapp. Was spielte es für eine Rolle, wenn der Tulamide ihren Namen erfuhr. Sicherlich lief er nicht sogleich los, um sie an die Legion zu verraten.

Die Legion. Lucia schaute sich um. Soldaten der Fulminata waren in der hiesigen Garnison stationiert und bewachten sicher auch die Straßen und Plätze von Belenas.

»Fleht besser die Götter an, dass die Richtigen auf euch aufmerksam werden«, raunte der Mann zu ihrer Linken ihnen beiden zu. Es handelte sich bei ihm um einen Bosparaner, aber die leicht dunkle Haut wies darauf hin, dass es auch Südländer unter seinen Vorfahren gab. Er mochte vielleicht vierzig Sommer zählen, lange Jahre der Entbehrungen hatten ihn aber schneller altern lassen.

Alef musterte ihn aufmerksam. »Dein Name ist Gustafo, habe ich recht? Wer sind denn diese richtigen Käufer, wenn du einem unwissenden Sohn Tulams diese bescheidene Frage gestattest?«

Gustafo trug den Ausdruck eines Mannes in den Augen, der bereits mit seinem Schicksal abgeschlossen hatte. »Nicht Einkäufer aus Duyar oder gar Laisor. Du willst sicher nicht nach Laisor.«

»Was ist in Laisor?«, hakte Lucia nach.

»Bist wohl nicht von hier?« Gustafo musterte sie. »Hofft darauf, dass ihr einen guten Eindruck macht und euch ein Einkäufer für die Purpurfärbereien nimmt. Das ist schmutzige Arbeit, aber immer noch besser als Laisor. Du siehst kräftig aus. Vielleicht endest du auch auf einer Plantage.«

»Eine Plantage«, wiederholte Lucia leise. Das klang wie ein Ort, von dem eine Flucht nicht vollkommen aussichtslos war.

Ucurianus wanderte die Reihe hinab. Einer seiner Helfer, ein tulamidischer Sklave mit nacktem Oberkörper, folgte ihm auf den Fuß. Der Sklavenhändler fächerte sich mit einem Wedel Luft zu. Sein weites seidenes Gewand hing an seinem dürren Leib wie an einem Kleiderständer.

»Es geht viel zu langsam voran«, verkündete Ucurianus laut, »ihr Jammergestalten macht mir nicht den Eindruck, als ob ihr ernsthaft darauf aus seid, einen guten Dominus zu finden.«

Lucia griff nach ihm. »Ich bin keine Sklavin!«, beteuerte sie hastig. »Es handelt sich um ein Missverständnis. Ich sagte es dir bereits, ich bin eine freie Frau!«

Ucurianus gab seinem Helfer einen kaum merklichen Wink. Der holte ohne zu Zögern aus. Sein Schlag ließ Lucia zusammensinken. Nur die Ketten, die sie mit Alef und Gustafo verbanden, hielten sie auf den Beinen.

Der Sklavenhändler schüttelte den Kopf. »Du vermagst kaum aus eigener Kraft aufrecht zu stehen. Reiß dich zusammen, zumindest noch für einige Stunden!« Er wies mit dem Wedel auf ihren Bauch und den groben Verband unter ihrer Tunika. Seine Helfer hatten ihn am Morgen erneuert. »Immerhin blutest du nicht mehr wie eine angestochene Sau. Du fühlst dich besser, nicht wahr? Du bist mir dankbar? Für meine Fürsorge?«

Sie zwang sich zu einem Nicken und rang ihre Wut nieder. Warte, bis du deine Freiheit errungen hast, ermahnte sie sich selbst.Dann würde er für seine Anmaßung zahlen. Wahre die Kontrolle.

Ucurianus starrte ihr prüfend in die Augen. »Gut so.« Er schaute die Reihe hinauf und hinab. »Ich werde keine von euch Elendsgestalten auch nur einen weiteren Tag lang durchfüttern! Lieber verschachere ich euch an Scaro, als dass ihr mir noch länger auf der Tasche liegt. Wer bei Sonnenuntergang nicht aus eigener Kraft gehen kann, kehrt auch nicht mehr mit uns zurück.«

Prüfend musterte er Alef, dann riss er ihm den Lendenschurz hinunter. Er nickte anerkennend. »So ist es besser! Jeder soll sehen, was zwischen deinen Beinen hängt. Vielleicht findet Silius Interesse an dir. Oder eine Patrizierin, die auf der Suche nach was Ordinärem ist.« Er wandte sich ab.

Alef schaute an sich hinunter und warf Lucia ein Lächeln zu. »Vielleicht ist heute doch noch mein Glückstag. Lasst die Damen von Belenas sehen, was ich ihnen zu bieten habe! Soll Raia ihre Herzen und ihren Schoß entflammen.«

Lucia nickte. »Meinen Glückwunsch. Ebenso könnte die Liebesgöttin aber die Lenden eines Patriziers entflammen. Und wenn ich mich recht erinnere, betreibt Silius ein Lupanar. Sicherlich vermietet er seine Sklaven an einen zahlenden Gast nach dem anderen. Frauen und Männer gleichermaßen.«

»Männer?« Alefs Lächeln schwand, dann wandte er sich hastig an Gustafo. »Wer ist dieser Scaro, von dem du erzählst? Ist er wirklich so unerfreulich?«

»Einkäufer für die Minen von Laisor.« Die Farbe wich aus Gustafos Gesicht. »Laisor hat großen Bedarf an neuen Sklaven.«

»Warum das?«, hakte Lucia nach. »Was geschieht dort?«

Der Sklave warf ihr einen ungläubigen Blick zu und schwieg.

In den folgenden Stunden wanderten immer wieder Interessenten an ihnen vorbei, meist Patrizier in Begleitung ihrer Leibsklaven oder Einkäufer für die Plantagen und Färbereien von Belenas, die kritisch die Muskeln und Zähne der Gefangenen prüften. Auch junge Söhne und Töchter aus gutem Hause, gerade erst dem Kindesalter entwachsen, machten sich einen Spaß daraus, die angeketteten nackten Sklaven genau in Augenschein zu nehmen. Ucurianus hatte Mühe, seine Geduld und ein freundliches Lächeln zu wahren.

Lucias Kräfte schwanden mit jeder verstreichenden Stunde. Ihre Kehle war ausgedörrt und die Schwüle setzte ihr zu. Wenn sie sich doch nur einen Augenblick lang hinlegen oder zumindest setzen könnte! Wann immer ihr die Kräfte schwanden, holte Alef sie in die Wirklichkeit zurück, indem er an Lucias Ketten riss oder sie anstieß. Es fiel ihr mit jeder weiteren Stunde schwerer, nicht vor der Erschöpfung zu kapitulieren.

Gegen Abend erschien tatsächlich der besagte Silius, um das Angebot in Augenschein zu nehmen. Sein Name war Lucia nicht unbekannt: Damals, als die Coverna vor Belenas lagerte, hatte sie ihn oft von ihren Legionären gehört.

Der Bordellbesitzer erwies sich als beleibter, dunkelhäutiger Tulamide, der seine Augen mit Kohlestiften betonte und sich von einer leicht bekleideten Sklavin einen Sonnenschirm halten ließ. Silius wählte nach reiflicher Überlegung zwei Waldmenschenfrauen aus und nahm auch Alef in Augenschein. Am Ende lehnte er es aber ab, Gold für den Tulamiden hinzulegen, auch wenn Ucurianus Alefs vermeintliche Fähigkeiten als Liebhaber so ausgiebig schilderte, dass selbst Leuthanios vor Scham errötet wäre. Am Ende verwies Silius auf Alefs zu viele und zu unansehnliche Narben und lehnte dankend ab.

Kaum, dass der Lupanarbetreiber mit seinen beiden Neuerwerbungen um die Ecke gebogen war, hieb Ucurianus mit dem Griff seines Wedels auf seinen Helfer ein. »Dieser arrogante tulamidische Bastard! Erst stiehlt er mir meine Zeit und dann? Zwei! Zwei Sklavinnen! Tasfarilor muss mir zürnen. Welch eine Schmach!«

Die Sonne neigte sich nun dem Horizont zu und die Schatten wurden allmählich länger. Inzwischen kümmerte es Lucia nicht mehr, ob sie Ucurianus’ Missfallen erregte, oder welches Schicksal ihr drohte – wenn ihr Körper aufgab, dann würde sie ihn nicht mehr zurückhalten.

Es mussten dreißig Tage verstrichen sein, seitdem Flavius eine Depesche nach Bosparan entsandt hatte, vielleicht auch mehr. Wie schnell ritt ein Bote auf einem guten Pferd wohl bis in die Capitale?

Sicherlich wusste bei Hofe schon jeder Bescheid. Sicherlich hatte der Horas schon längst die Sonnenlegion zum Anwesen der Arponier entsandt – wie damals in der Blutnacht, als das Massaker an ihrer eigentlichen, ihrer ersten Familie begann. Lucius ereilte nun dasselbe Schicksal wie ihre Geschwister, wie die Zwillinge. Sogar wenn ihr bereits am ersten Tag auf einer Plantage die Flucht gelang, war der Weg nach Bosparan lang, insbesondere für eine entflohene Sklavin.

Alef zog an der Kette. Lucia schaute auf. »Ein neuer Käufer«, raunte er ihr zu.

Ucurianus führte zwei neue Interessenten die Reihe entlang. Lucia zwang sich, tief einzuatmen, und löste damit sofort weitere Schmerzen aus.

Es handelte sich um einen Mann und eine Frau, die von zwei Bewaffneten mit Lederpanzer, Helm und Gladius eskortiert wurden. Der Mann trug einen Malacar, eine leichte graue Weste, über seiner Tunika. Mehrere Beutel und ein verzierter Dolch, der in der Sonne glänzte, baumelten an seinem Gürtel. Er hatte sicher schon fünfzig Sommer gesehen, sein braunes Haar war schütter und Falten zierten sein Gesicht. Er musterte die Gefangenen aus dunklen Augen unter buschigen Augenbrauen eingehend und mit kundigem Blick.

Ucurianus wies auf Alef. »Nehmt den Tulamiden einmal genauer in Augenschein, werter Darius.« Er brachte dem Mann trotz seiner eher einfachen Gewandung den Respekt entgegen, der einem Patrizier zustand. »Er ist sehr erfahren mit dem Schwert und wie du zweifelsfrei sehen kannst, strotzt er nur so vor Manneskraft. Braziraku selbst bestieg einst seine Mutter, davon bin ich fest überzeugt!«

»Braziraku, sagst du?« Darius kratzte sich skeptisch das Kinn und gab dann der Frau in seiner Begleitung einen Wink. »Ursina.«

Bei der Angesprochenen mit dem ungewöhnlichen Namen handelte es sich um eine tulamidische Sklavin. Die Initialen DM zierten ihre Handrücken. Neben einer einfachen braunen Leinentunika trug sie noch abgeschabte lederne Armschienen mit darin eingravierten Bären. Sie war muskulös, ihre Haut dunkel und wettergegerbt. Viele helle, lange verheilte Narben zierten ihre Arme und Beine, ihre dunkelbraunen, fast schwarzen Haare hatte sie mit Lederbändern zurückgebunden. Ein bitterer Zug lag um ihre dünnen Lippen.

Ursina packte Alef grob am Kinn, zwang seinen Mund auf und musterte sein Gebiss. »Gesund.« Sie prüfte seine Oberarme und schlug ihm schließlich mit der flachen Hand auf den Bauch. Wenig beeindruckt verzog sie das Gesicht. »Sprichst du die Sprache Bosparans?«, herrschte sie ihn an.

Alef nickte hastig.

»Dann krieg auch die Zähne auseinander! Welchen Beruf hast du gelernt, Tulamide?«

»Ich bin … war Seemann«, antwortete Alef nach kurzem Zögern.

Seine Landsfrau wandte sich wieder an Darius. »Pirat, Dominus. Nicht das, was wir suchen. Tulamiden sind faul und ungehorsam, wenn sie nicht als Sklaven geboren wurden. Dass er Pirat war, macht’s nur noch schlimmer.«

»Aber schau nur, wie ergeben er ist!«, wandte Ucurianus sofort ein. »Er wagt es nicht einmal, die Stimme in deiner Anwesenheit zu erheben, werter Darius! Er ist Entbehrungen gewohnt und seine Hände sind kräftig, wie du unzweifelhaft siehst. Eine Investition, die niemand bereuen würde!«

Darius seufzte. »Ich könnte schon jemanden wie ihn gebrauchen, aber ich möchte auch nicht eines Tages aufwachen und feststellen, dass er mir davongelaufen ist.« Sein Blick fiel auf Lucia, die nächste in der Reihe.

Sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten und nicht den Kopf zu senken. Dies war vielleicht ihre letzte Gelegenheit.

Ursina trat vor sie hin. »Wo kommt sie her?« Der durchdringende Blick aus ihren kleinen, fast schwarzen Augen bohrte sich tief in Lucias Kopf.

»Sie wurde in Drôl zur Sklaverei verurteilt«, erklärte der Sklavenhändler rasch. »Ich erwarb sie, da ich dir etwas Robusteres bieten wollte, Darius. Ich hoffe, sie sagt dir zu.«

»Ich bin nicht …«, setzte Lucia an, aber Ucurianus versetzte ihr sofort einen Hieb mit dem Griff seines Wedels. »Sei still!«

Ursina musterte den Sklavenhändler skeptisch. Der lächelte sofort wieder. »Es ist Feuer in ihr, das weißt du sicher zu schätzen, werter Darius! Ein heißes Eisen, das nach deinen Wünschen geschmiedet werden kann. Betonst du das nicht stets?«

Die Tulamidin verzog das Gesicht. Sie nahm Lucias Hände. »Sie weiß mit Waffen umzugehen, aber ich sehe kaum Verletzungen an ihr.« Sie schüttelte den Kopf. »Deserteurin. Sicher sucht die Legion sie.«

Darius presste nachdenklich die Lippen aufeinander, dann wandte er sich an den Sklavenhändler. »Wie viel für die Deserteurin und den Piraten?«

Ucurianus deutete eine Verneigung an. »Ich sehe, du hast ein Auge für wahre Qualität. Da du es bist, überlasse ich dir beide zusammen für gerade einmal fünfhundert Aureal.«

Darius schmunzelte. »Fünfhundert Goldstücke? Dafür bekomme ich bei Vernus gleich drei Deserteure und einen Piraten noch kostenlos als Zugabe obendrauf!«

Ursina musterte Lucia immer noch eindringlich. Schweiß trat Lucia auf die Stirn. Nur einen Schluck zu trinken, nur etwas Ruhe und sie wäre wieder bei Kräften.

Abrupt holte die Tulamidin aus und schlug ihr mit der flachen Hand gegen die Seite. Lucia stöhnte auf und konnte nicht vermeiden, dass sie sich zusammenkrümmte. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen.

Ursina trat zurück. »Sie vermag sich kaum auf den Beinen zu halten. Sicher verendet sie in der kommenden Nacht. Das ist kein Feuer, das ist Fieber, das du da in ihren Augen siehst, Dominus.«

Darius wandte sich an Ucurianus. »Wolltest du mir das etwa verschweigen? Gibst du etwa minderwertige Ware als makellos aus? Was sagt wohl der Marktrichter dazu?«

Der Sklavenhändler hob die Hände. »Eine oberflächliche Wunde, die kaum der Rede wert ist!«, wehrte er hastig ab. »Sie wurde von meinem besten Medicus versorgt. Die Verletzung ist nahezu verheilt. Gib ihr noch einen Tag und sie ist so gut wie neu!«

Darius musterte Lucia noch einmal eindringlich. Dann wies er auf Alef. »Der Tulamide. Zweihundert Aureal. Dafür vergesse ich, dass du mich hintergehen wolltest, und nehme auch nicht den Umweg zum Marktrichter auf mich. Es ist ein heißer Tag.«

Ucurianus hob die Hand. »Zweihundertdreißig. Weiter herunter kann ich nicht gehen. Ich hatte Ausgaben.«

»Zweihundertzehn Aureal, oder aber ich gehe zu Vernus und zum Marktrichter.«

Der Sklavenhändler lächelte. »Ich zahle zwar beinahe schon drauf bei diesem Handel, aber ich hoffe, dich auch in Zukunft als zufriedenen Kunden zu begrüßen. In Tasfarilors Namen, er gehört dir!« Er gab den Helfern einen Wink. Diese befreiten Alef rasch von seinen Fußfesseln. Der Tulamide warf Lucia einen bedauernden Blick zu, dann zogen ihn Darius’ Wachen aus der Reihe heraus.

Ucurianus legte einen Arm um Darius’ Schulter und führte ihn weiter. »Hast du denn schon meine Wilden gesehen? Sei zumindest so freundlich, sie in Augenschein zu nehmen, da ich dir doch einen so guten Preis gemacht habe. Vielleicht findest du auch Gefallen an einer hübschen Jungfrau, die des Nachts dein Bett wärmt.«

Lucia sank zusammen, kaum dass sich Darius und Ursina abwandten. Das Blut rauschte durch ihren Kopf, Sterne tanzten vor ihren Augen.

»Da ist er«, raunte Gustafo neben ihr.

Sie schaute auf. Zwei Stände weiter stand ein korpulenter Mann in einer dreckigen Tunika, an dessen Gürtel eine Peitsche und eine eisenbeschlagene Keule baumelten. Auch er wurde von Bewaffneten begleitet. »Wer?«, krächzte sie.

»Scaro.« Blanke Angst lag in Gustafos Augen. Seine Unterlippe zitterte. »Kauft billig auf, was niemand sonst haben will.«

»Ist jemals ein Sklave aus Laisor entkommen?«

»Entkommen?« Gustafo schüttelte den Kopf. »Wer einmal in den Gruben verschwindet, kehrt nie mehr zurück. Es heißt, jeder Stein dort ist rot, getränkt mit dem Blut von Dutzenden von Sklaven.« Er schlug sich mit der Hand gegen die Wangen, atmete tief durch und schüttelte den Kopf, so als wollte er sich selbst wachrütteln.

Lucia tastete nach der Wunde an ihrer Seite. Sicherlich fütterte Ucurianus sie nicht noch eine weitere Nacht durch. Sie schloss die Augen und sog Luft in ihre Lungen. Es konnte nicht zu Ende sein. Nicht hier, nicht an diesem von allen Göttern verlassenen Ort. Sie war eine Comes, in Brajanos’ Namen! Sie musste entkommen! Für Lucius. Sie durfte ihn nicht kampflos aufgeben, sie durfte sich nicht selbst aufgeben.

Sie öffnete wieder die Augen. Ucurianus und Darius standen einige Schritt entfernt. Der Sklavenhändler wies mit seinem Wedel auf die körperlichen Vorzüge eines nackten Waldmenschenmädchens hin, das den Kopf senkte und es nicht wagte, Ucurianus anzublicken. Darius machte den Eindruck eines Mannes, der sich weit weg wünschte.

Lucia richtete sich auf und atmete tief durch. Sie begrüßte nun den Schmerz, ließ sich von ihm aufrütteln. Feuer. Es ist Feuer in ihr. Sie wandte sich an Gustafo. »Verzeih mir.«

Er schaute sie fragend an. »Was …«

Lucia hieb ihm die aneinandergeketteten Fäuste ins Gesicht. »Meine Mutter war was?«, stieß sie dabei hervor, so laut sie nur konnte. »Deine Mutter war eine Hure, du Bastard!« Sie schlug erneut zu.

Gustafo taumelte, Blut rann aus seiner Nase. »Was tust du …«

Lucia riss ihn herum und legte ihm den Arm um den Hals. »Nimm es zurück!« Sie suchte nach Darius.

Ucurianus rief wütend nach seinen Helfern. Diese setzten sich in Bewegung und zogen die Knüppel von ihren Gürteln.

Lucia biss die Zähne zusammen. Sie behielt Gustafo fest im Griff, achtete dabei darauf, dass sie ihm nicht die Luft abschnürte. Darius musterte sie. Erneut rieb er sich das Kinn.

Zwei, drei Hiebe prasselten auf Lucia nieder. Selbst einen vierten ertrug sie noch, dann ließ sie von dem Sklaven ab. Ucurianus’ Helfer ließen jedoch nicht von ihr ab. Ein heftiger Schlag traf sie an der Seite, eine Welle aus Schmerz raste durch ihren Leib. Sie taumelte. Bleib stehen!

Drohend hob sich erneut eine Keule.

»Wartet«, unterbrach Darius ihre Bestrafung.

Lucia rang nach Luft. Blut rann von ihrer Stirn. Sie biss die Zähne zusammen, schwankte. Bleib stehen, bleib auf den Beinen!

»Ich gebe dir noch einmal sechzig Goldstücke für die Deserteurin.« Ucurianus setzte bereits zu einem Protest an, Darius winkte aber umgehend ab. »Wenn du wahrhaftig der Meinung bist, dass irgendjemand anderes als ein Einkäufer aus Laisor sie dir abnehmen wird, dann schlag mein Angebot aus. Ich habe dir gerade vier Mal so viel geboten als das, was Scaro dir geben wird.« Ursina starrte ihren Dominus entsetzt an, widersprach aber nicht.

Ucurianus rang mit sich. Lucia schwankte. »Einverstanden!«, rief der Händler dann rasch aus. »Sechzig für die Frau! Tasfarilor hat dich gehört, werter Darius. Der Handel ist beschlossen!«

Lucias Blick fiel auf den roten Fleck, der sich an ihrer Tunika bildete und rasch größer wurde. Schwärze umfing sie. Bleib stehen! Es war vergebens. Sie sank zu Boden.

»Dominus, bitte, schau sie dir nur an!« Ursinas Stimme drang aus weiter Ferne zu ihr durch. »Sie schafft es nicht einmal mehr bis in die Minen.«

Nun war Lucia dankbar dafür, dass ihr endlich die Sinne schwanden.

Kapitel 2

Sabella folgte einem schmalen gepflasterten Weg den Lameal hinauf, einen der sechs Hügel Bosparans. Bisweilen wechselte sich der Weg mit einigen Stufen ab, auf denen sie kurz verharrte, um sicherzugehen, dass Derosus und Flaccus mit ihrer Reisekiste nicht stolperten.

Schließlich erreichten sie die Spitze des Hügels. Sabellas Blick wanderte den monumentalen achteckigen Bau hinauf, der sich auf dem höchsten Punkt des Lameal in den Himmel schraubte: Das Oktogon, wie das Bauwerk aufgrund seines Grundrisses genannt wurde. Die stumpf leuchtende Wintersonne vermochte nur wenig Wärme zu spenden, brachte aber den Aeterni-Marmor des Oktogons zum Gleißen, so als stünde die Akademie in roten Flammen. Acht Stockwerke ragten vor ihr auf, die obersten drei bildete ein Turm, den wiederum eine im Sonnenlicht strahlende Kuppel krönte.

Der Anblick verschlug Sabella den Atem. Das Pentagrammaton von Puninum war schon ehrfurchtgebietend, aber die Accademia Arcomagia Horasiens Imperatique übertraf all ihre Erwartungen. Vor ihr erhob sich die größte, einflussreichste und bedeutendste aller Magierschulen des Bosparanischen Reiches.

Sie wandte sich an ihre Begleiter. »Seht ihr? Unser neues Zuhause.«

Die beiden Skelette starrten sie stumm an.

»Ihr zwei wisst, warum wir hier sind?«

Derosus legte leicht den Kopf schief.

»Du hast nicht unrecht. Wir könnten auch nach Firdana oder Cuslicum gehen, um an deren Akademien vorstellig zu werden. Vielleicht machen sie es uns dort auch einfacher, stellen uns weniger Fragen. Ich bin mir auch bewusst, wer diese Akademie leitet. Sicherlich wäre das Risiko in Firdana geringer. Doch dort oben«, sie wies mit dem Stab auf den Turm, »sammeln die Magister seit 350 Jahren die bedeutendsten arcanen Werke des ganzen Reiches. Wenn wir irgendwo Antworten auf unsere Fragen finden, dann dort. Wenn wir der Dämonin auf die Spur kommen wollen, dann in den Traktaten von Prinz Fran, der Urfassung des Compendium Maleficarum und den verbotenen Werken von Meister Ustaphëos.«

Sie gab ihren untoten Begleitern einen Wink und betrat den lichten Park, der das Akademiegebäude umgab. Keine Mauer umfasste das Gelände, auf dem sich neben dem Oktogon auch noch eine Handvoll kleinerer Gebäude erhob, eines davon ein mit einem Kolonnadengang umgebener Schrein.

Sie hatte viel über Bosparan und die Akademie gelesen und alles in ihrem Inneren Vademecum festgehalten. »Der Schrein ist Lamea geweiht, der Gattin des Heiligen Horas«, erläuterte sie Derosus und Flaccus im Weitergehen. »Sie bereiste vor 700 Jahren gemeinsam mit Gylduria, der Mutter des Horas und ersten Magierin auf aventurischem Boden, den damals noch unerforschten Kontinent und …« Sie stockte. Es war Andronicus’ Angewohnheit gewesen, im Gehen auf diese Weise zu docieren.

Saubere weiße Kieswege führten durch den Park, in dem uralte Bosparanien lange Schatten warfen. Zwischen Beeten, Rasenflächen und Rosenhecken wanderten disputierende Magister und Studiosi entlang. Der eine oder andere musterte Sabella und ihre Begleiter im Vorbeigehen interessiert. Sie passierten Dutzende Statuen berühmter Gildenmagier der Vergangenheit, manche bereits mehrere Hundert Jahre alt und vom Wetter gezeichnet.

Jenseits des Lameal ragte die gigantische Horaszitadelle auf dem Horatin empor. Zu Füßen dieser beiden Hügel und zu beiden Seiten des Yaquiro erstreckte sich Bosparan aeterna, das ewige Bosparan, die Stadt der hundert Türme. Die Metropole bestand aus einer unüberschaubaren Fülle an Gebäuden und Bauwerken. Goldene Kuppeln glänzten in der Sonne. Siegessäulen, Triumphbögen und Türme – weit mehr als die sprichwörtlichen hundert – reckten sich über den Häusermassen dem Himmel entgegen. Blaugoldene Banner wehten im Wind, der Rauch etlicher Kamine kräuselte sich dem Winterhimmel entgegen.

Sie erreichten den von wuchtigen Säulen gestützten Porticus, über dem das Relief eines grimmigen dreiköpfigen Adlers seine Flügel ausbreitete. Marmorstufen führten zum Hauptportal hinauf. Sabella schaute ein letztes Mal an dem Gebäude empor. An der ehrwürdigen Accademia Arcomagia Horasiens Imperatique ging es hoffentlich respektabler und gesitteter zu als in Puninum. Sie war die Intrigen und Ränkespiele satt. »Dennoch sollten wir Vorsicht walten lassen«, warnte sie ihre Begleiter. »Schon einmal bin ich davon ausgegangen, dass ich einem Magister vertrauen kann und ihr wisst, was dabei herauskam.« Sabella bedeutete ihren Skelettdienern, ihr zu folgen.

Am Eingang sprach sie ein Akademiegardist an, der sie und ihre beiden Begleiter eindringlich musterte. »Ich grüße dich. Was ist dein Begehr?«

Sabella fasste Andronicus’ Magierstab – ihren Magierstab – fester. Sie konnte kein Siegel vorweisen, sie war noch kein ordentliches Mitglied der Gilde. »Ich bin gekommen, um meine Examinatio vor dem Rat der Akademie zu absolvieren«, erklärte sie wahrheitsgemäß und schaute der Wache fest in die Augen. »Ich wünsche einen Magister zu sprechen, der sich mein Anliegen anhört.«

Die Wache zögerte kurz, dann bedeutete er Sabella, ihm in die Akademie zu folgen. Sie trat in eine weitläufige Eingangshalle, die sich über zwei Stockwerke erstreckte. Kühle Luft schlug ihr entgegen.

»Warte hier.« Der Gardist wies auf eine Marmorbank.

Sabella bedeutete Derosus und Flaccus, die Reisetruhe abzustellen, und setzte sich. Die Eingangshalle wurde von leuchtenden Gwen Petryl-Steinen erhellt, die in reich verzierten Einfassungen an den Wänden und zwischen den Säulen hingen, welche die Gewölbe und die hohe Galerie stützen. Breite Treppen schwangen sich zu der Galerie hinauf, die den ganzen Saal umgab. Aus einem großen Becken mit tiefschwarzem Wasser in der Mitte der Halle erhob sich eine grüne Marmorstatue der Heschint. Die Göttin der Magie beobachtete mit strengem Blick das Kommen und Gehen im Saal. Bisweilen erwachte ein plätscherndes Wasserspiel im Becken zum Leben und bedeckte die Statue mit einem glänzenden Wasserfilm.

Magister, Adepten, Schüler, Akademiesklaven, Gäste und Lieferanten eilten durch die Halle. Manche standen am Rand des Beckens beisammen oder wanderten in ein Gespräch vertieft vorbei. Die Magister trugen reich verzierte Calare und viele von ihnen Stirnreife, oft mit einem Edelstein verziert, der ein drittes Auge auf der Stirn symbolisierte.

Sabella drehte den Magierstab zwischen ihren Händen. Sie musste Entschlossenheit demonstrieren und ihre Sache überzeugend vorbringen. Vor allem anderen musste sie aber einen guten Eindruck hinterlassen und die Magister mit ihren Kräften beeindrucken. Niemand würde sie aufnehmen, wenn man sie für unfähig und des Aufwands nicht wert hielt.

Schließlich kehrte der Gardist zurück, nun in Begleitung einer Adepta, einer jungen Magierin mit schulterlangem brünetten Haar und einem betagten kahlköpfigen Magister, der jedoch so zügig und mit weit ausholenden Schritten auf sie zueilte, dass die beiden Jüngeren Mühe hatten, mit ihm Schritt zu halten. Sein langer grauer Bart, den der Magus vor dem Bauch zusammengebunden hatte, fiel auf seinen schwarzen Calar herab. Der Magister trug einen Stirnreif mit einem Onyx und in der Rechten einen mit kunstvollen Runen und Glyphen übersäten Stab aus blutrotem Ulmenholz. Er musterte Sabella von oben herab aus kleinen dunklen Augen.

Rasch erhob sich Sabella und verneigte sich. »Ich grüße dich, Magister.«

Der Magus musterte sie schweigend und studierte dann ebenso eingehend ihre beiden untoten Begleiter. »Cornificius Berlînghan«, stellte er sich vor, »Magister invocatio und Spectabilitas secundus. Wie lautet dein Name, Studiosa?«

»Sabella, Magister.«

»Du trägst keinen Familiennamen?«

»Das tue ich nicht, Magister.«

»Wer hat dich geschult, Sabella?«

Auf keinen Fall durfte bekannt werden, dass ein ehemaliger Spectabilitas des Oktogons sie ausgebildet hatte oder dieses Verhör würde nie enden. »Meine Meisterin trug den Namen Calamia«, log sie.

»Der Name ist mir nicht geläufig.«

»Sie besaß eine Anstellung als Leibmaga beim Dominus von Ragathium.« So viel war zumindest zutreffend, auch wenn sie Calamia nie begegnet war. Sabella schaute dem Alten fest in die Augen. »Leider verstarb sie, ehe es ihr möglich war, mit mir bei einer Akademie vorstellig zu werden.« Auch das war im Grunde genommen keine Lüge.

Cornificius wies auf Derosus und Flaccus. »Sie instruierte dich in der Magica necromantia?«

Sabella nickte. »Das ist korrekt, Magister. Deshalb war es auch immer ihr Wunsch, mich an der Accademia Arcomagia Horasiens Imperatique prüfen zu lassen. Ich bin einen weiten Weg gekommen, um meiner Meisterin diesen Wunsch auch nach ihrem Ableben noch zu erfüllen.«

»Hast du diesen Stab gefertigt?«

»Das habe ich nicht, Magister. Er gehörte meiner Meisterin. Sie vererbte ihn mir.«

Der Magister runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Dann wandte er sich an die junge Adepta in seiner Begleitung. »Talvia, hol Magistra Arcavia. Sag ihr, wir erwarten sie in ihrem Lehrsaal. Es finden derzeit keine Vorlesungen statt und sie wird es uns sicher verzeihen, wenn wir den Saal requirieren.« Die Adepta nickte und eilte davon. Cornificius bedeutete Sabella, ihn zu begleiten. »Befiehl deinen Skeletten, uns zu folgen!«

Sie wies die beiden an, die Truhe aufzunehmen, und schloss sich dem alten Magister an.

»Ist der Stab an dich gebunden?«

»Das ist er«, bestätigte sie wahrheitsgemäß. »Meine Meisterin lehrte mich die erforderlichen Riten.« Der Stab hatte seine Bindung an Andronicus mit dessen Ableben verloren und sie hatte auf der Reise nach Bosparan das Ritual vorgenommen.

»Dir ist sicherlich bewusst, dass Studiosi erst dann permittiert sind, einen Stab an sich zu binden, nachdem sie erfolgreich die Examinatio absolviert haben?«, erkundigte sich Cornificius stirnrunzelnd.

»Dieser Umstand war mir nicht bewusst«, log sie. »Ich bitte um Verzeihung, Magister.«

»Deine Lehrmeisterin sollte um Verzeihung bitten«, grummelte er. Er hielt ihr eine zweiflügelige Tür auf und Sabella trat in einen halbrunden Lehrsaal ein. Steinerne Stufen, auf denen einfache Holzbänke standen, erhoben sich rundum. An der Längsseite des Saals reihten sich Regale aneinander, in denen Folianten, Totenschädel, Knochen, Schriftrollen und Urnen mit fremdartigen Glyphen dicht an dicht gestapelt lagen. Dazwischen standen zwei Skelette zu Anschauungszwecken, aufgehängt an hölzernen Ständern. In der Mitte des Saals erhob sich ein grober, mit dunklen Flecken übersäter Holztisch mit einer Blutrinne, die zu einem Abfluss im Boden führte.

Cornificius lehnte seinen Stab an die Wand und wies Sabella an, in der vordersten Sitzreihe Platz zu nehmen. »Gib ihn mir!«

Sie überreichte ihm ihren Magierstab. Er ließ prüfend seine altersfleckige Hand über das glatte, fast weiße Mohagoniholz gleiten und musterte den Schlangenkopf des Stabs eingehend. Dank des Bindungsrituals war er in all den Jahrzehnten, die Andronicus ihn besessen hatte, nicht um einen Tag gealtert und hatte sich nicht abgenutzt.

Die Tür schwang auf und die brünette Adepta ließ zwei Personen in den Saal ein: eine Magierin, die in einem Stuhl mit Rädern saß, und einen Sklaven, der den Stuhl schob.

Sabella bedeutete Derosus und Flaccus, beiseitezutreten. »Stellt die Truhe ab.«

Die Magierin trug ein langes dunkelgrünes Gewand mit weiten Ärmeln und kostbaren blutroten Stickereien. Sie war etwa fünfzig Sommer alt, übertünchte die kleinen Falten und Krähenfüße in ihrem Gesicht jedoch mit Gesichtsfarbe, was sie blass und puppenhaft erscheinen ließ. Ihr braunes Haar trug sie aufgesteckt, ein Magierstab lag locker gegen ihre Schulter gelehnt. Sie machte nicht den Eindruck einer gebrechlichen oder kränklichen Frau, vielmehr schien es Sabella so, als könnte sie jederzeit aufspringen.

Ihr Lehnstuhl, den ihr Sklave auf zwei größeren Rädern hinten und zwei kleineren vorne vor sich herschob, bestand aus kostbarem dunklem Mohagoni-Holz. Der Sklave besaß die gebräunte Haut eines Tulamiden, war aber keiner. Muskulöse Arme schauten aus seiner Tunika hervor. Er hatte sich den Kopf bis auf einen langen Haarschopf geschoren, den er mit Lederbändern zähmte. Es handelte sich wohl um einen Alhanier.

Cornificius schaute auf. »Arcavia, verzeih mir, wenn ich dich in deinen Studien gestört habe.«

Die Angesprochene lächelte flüchtig. »Das hast du nicht, Collega, sorge dich nicht.« Doch ihr Blick ruhte auf Sabella. »Deine Secretaria sagte mir, dass diese junge Studiosa in Begleitung zweier Skelette das Oktogon betrat?«

Der Sklave schob die Magistra in die Mitte des Saals. Arcavia musterte Sabella mit Interesse unter langen dunklen Wimpern hindurch. Ihre Augen hatte sie mit schwarzen Kohlestiften betont. Ihr Stuhl war mit aufwendigen Schnitzereien von Skeletten und Raben verziert.

»Sabella, dies ist Arcavia Lucerna, Magistra necromantia«, stellte Cornificius sie einander vor. »Dieses Mädchen berichtete mir, dass sie von der Leibmaga des Dominus von Ragathium instruiert wurde – Calamia, habe ich recht? Es war wohl Calamias Wunsch, dass Sabella am Oktogon die Examinatio ablegt. Mehr hatten wir noch nicht disputiert.«

»Ist das so?« Arcavia studierte Sabella genau. »Woher kommst du? Wer sind deine Eltern?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Sabella. »Meine Meisterin kaufte mich einem Waisenhaus ab, als ich sehr klein war.« Es war das Beste, wenn sie so nah wie möglich an der Wahrheit blieb.

»Wo hat deine Meisterin ihre Zauberkünste erlernt?«

»Sie erwähnte bisweilen einen Lehrmeister, aber sie hat mir nie viel über jene Zeit erzählt. Ihre Examinatio legte sie in Puninum ab.« Letzteres entsprach der Wahrheit, schließlich konnte sie nicht ausschließen, dass die Gilde Akten über alle Absolventen führte.

»Du bist in Ragathium aufgewachsen?«, hakte Cornificius nach. »Wie alt bist du?«

»Ich bin aus Ragathium, das ist richtig. Und ich bin siebzehn Jahre alt, fast achtzehn.«

Der Alte rieb sich das Kinn. »Deine Meisterin hätte dich nach Puninum bringen müssen, ehe es zu spät war. Kam ihr Ableben denn so plötzlich?«

»Sie verlor die Kontrolle über einen invocierten Dämonen«, bestätigte Sabella. »Der Dominus von Ragathium wollte nicht mehr für mich aufkommen und lehnte es ab, mich auf seine Kosten examinieren zu lassen, damit ich die Nachfolge meiner Meisterin antreten könnte.«

Cornificius runzelte die Stirn. »Wenn ihm eine Leibmagierin verlorengegangen ist, hätte er dich besser behalten. Magier wachsen in Ragathium nicht auf Bäumen. Gibt es etwas, womit du dich legitimieren kannst? Ein Schriftstück, eine Referenz des Dominus oder deiner Lehrmeisterin? Kannst du auf ein gewisses Vermögen zurückgreifen?«

»Ich bedauere, das kann ich nicht, Magister. Der Dominus jagte mich fort. Ich trage nur wenig Silber bei mir.«

Cornificius schüttelte den Kopf. Er warf Arcavia einen Blick zu. »Was sagst du?«

Die Nekromantin lehnte sich nach vorne. »Welche Canti lehrte dich deine Meisterin? Nenn mir diejenigen, auf die sie besonderen Wert legte!«

»In erster Linie Formeln der Magica necromantia und Magica invocatio wie Corpomortus Agitum, Invitatio Animus, Invocatio Minima, Invocatio Minor und Invocatio Maior, Nekropathia, Pentagramma, Skelettarius und Unitatio. Ich beherrsche auch Ecliptifactus, Ignifaxius, Nuntiovolo und den Custos Astralis. Darüber hinaus …«

Arcavia winkte ab. »Deine Meisterin ließ dich ein Vademecum führen?«

»Das hat sie, Magistra.«

»Zeig es mir!«

Sabella zog das Vademecum aus ihrer Umhängetasche und reichte es der Nekromantin. Arcavia schlug das Buch auf. Cornificius trat näher und beugte sich über ihre Schulter. »Diese Thesen sind außergewöhnlich gut transkribiert worden«, urteilte die Magistra.

»Sie entsprechen nicht den Standards des Oktogons«, widersprach Cornificius. »Deine Meisterin war nachlässig.«

Arcavia schaute auf und wies auf eine Thesis. »Du beherrschst den Aurarcania-Cantus? Ungewöhnlich. Für Nekromanten umso mehr.«

»Die Aufzeichnungen sind rudimentär«, urteilte Cornificius, »und zeugen nicht gerade von einer profunden Instruktion. Was hat es hiermit auf sich? ›Necromantia restitutio v Necromantia utilitas‹ – ist das alles, was du schriftlich festgehalten hast?«

Sabella vergaß niemals etwas von dem, was sie gehört, gesehen oder gelesen hatte. Sie musste nur die korrespondierende Seite in ihrem Inneren Vademecum aufschlagen, dem in ihrem Kopf. Dort war alles verzeichnet. »Die Necromantia restitutio sucht fürnehmst nach der Verlängerung des Lebens im Tode zur Wiederbringung Verstorbener«, rezitierte sie auf Aureliani. »Die Necromantia utilitas will fürnehmst verstorbene Gehilfen, Kämpfer und Wächter schaffen, die den Zwecken …«

Arcavia brachte sie mit einem Wink zum Schweigen. »Wort für Wort aus dem Original der Viae sine nomine.« Sie schlug das Vademecum zu. »Die beiden Skelette dort hast du selbst erhoben?«

Sabella nickte. »Das habe ich, Magistra.«

»Demonstriere mir, wie sie dir gehorchen.«

Sabella gab Derosus und Flaccus einen Wink. »Kommt zu mir!« Die beiden setzten sich ohne zu Zögern in Bewegung. Sabella hob die Hand und sie verharrten. »Halt!« Sie wandte sich an Arcavia. »Wünschst du, dass ich etwas Bestimmtes demonstriere? Sie gehorchen mir aufs Wort, wie du siehst.«

»Das sehe ich.« Die Magistra necromantia des Oktogons nickte langsam. »In der Tat.«

Cornificius musterte erneut Sabellas Magierstab. »Es behagt mir nicht, Collega. Weder sollte sie bereits jetzt einen Stab an sich gebunden haben, noch mit erhobenen Untoten durch die Welt ziehen. Sie vermag keinerlei Legitimation vorzulegen, wer sagt uns also, dass sie die Wahrheit sagt? Wer behauptet, dass sie die Examinatio ablegen kann, wenn wir die Befähigung ihres Mentors nicht evaluieren können? Von den Kosten der Unterbringung und Prüfung selbst einmal ganz zu schweigen.«

Arcavia grübelte.

»Es ist alles so, wie ich es euch sagte«, versicherte Sabella den Magistern rasch. »Ich beweise euch gerne, dass ich für die Examinatio bereit bin.«

Der Alte bedeutete ihr zu schweigen und wandte sich erneut an Arcavia. »Dies hier ist nicht Puninum, wir sind kein Auffangbecken für gescheiterte Studiosi. Das Oktogon ist die renommierteste Akademie des Reiches und wir haben eine Reputation, die es aufrechtzuerhalten gilt!«

»Es ist aber auch seit Frans Zeiten Tradition, dass wir Schüler einfacher Herkunft, selbst solche aus dem Pöbel, aufnehmen, sofern sie über das notwendige Talent verfügen.«

Cornificius schüttelte den Kopf. »Ich sehe keinen Anlass, sie zuzulassen. Die Spectabilitas wird mir da sicher beipflichten.«

Verzweiflung stieg in Sabella auf. Sie mussten sie einfach aufnehmen! Sie hatte sich endlich von Andronicus befreit, dennoch trug sie auch nach seinem Tod noch immer Fesseln mit sich herum, die sich nicht abstreifen ließen.

Sie musterte die Regale und die beiden menschlichen Skelette an ihren Haken. Sie fixierte sie und tastete mit ihrem Geist nach den toten Knochen. Behutsam ließ sie ihre Kraft fließen, die astralen Fäden reckten sich den Gerippen entgegen, erreichten ihre Ziele. Schweiß sammelte sich auf ihrer Stirn. »Skelettarius!«, rief sie laut vernehmlich aus.

Cornificius und Arcavia schauten auf. »Was tust du da?«, stieß der Alte barsch hervor. »Unterlass es!«

Die Skelette regten sich an ihren Halterungen, hoben die Arme und bemühten sich sogar, zu gehen. Ihre Beine erreichten aber nicht den Boden. Klappernd und knirschend öffneten und schlossen einige der Totenschädel im Regal ihre blanken Kiefer. Knochen fielen von den Regalbrettern.

Cornificius’ Miene blieb finster. »Bereite dem ein Ende!«, befahl er. »Sofort!«

Sabella atmete aus und unterbrach den Cantus. Das Unleben wich sofort wieder aus den Skeletten, Schädeln und Knochen.

»Glaubst du, eine solch undisziplinierte Spielerei spricht für dich?«, fuhr der alte Magister sie zornig an.

Sabellas Hände zitterten. Glücklicherweise saß sie, sie fühlte sich leer und kraftlos. »Ihr wolltet mir nicht glauben, dass ich für die Examinatio bereit bin«, entgegnete sie leise.

Cornificius schüttelte den Kopf. »Und du hast diese Beurteilung mit deinem Verhalten vortrefflich untermauert!« Er wandte sich an Arcavia. »Ich lasse sie von den Wachen hinausschaffen. Verzeih mir, dass ich deine Zeit verschwendet habe, Collega.«

Die Nekromantin hob die Hand. »Warte.«

Er musterte sie. »Sag nicht, dass dich diese kindische Demonstration amüsiert hat?«

Arcavia schaute zu Cornificius auf. »Ich bin mir sicher, dass in den Regularien der Gilde Direktiven hinterlegt sind, wie mit Studiosi umzugehen ist, deren Lehrmeisterin vorzeitig verstirbt. Möchtest du eine offenbar fähige Studiosa einfach wieder auf die Straße hinausjagen, ohne dass die Gilde irgendeine Form der Kontrolle über sie ausübt?«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich sage nur, dass sie vom Akademierat angehört werden sollte.« Arcavia wahrte ihre Ruhe, auch wenn der Ältere sie immer noch von oben herab anfunkelte. »So viel müssen wir ihr zumindest zugestehen. Bis es so weit ist, bürge ich für sie. Gib mir Gelegenheit, ihre Qualifikation genauer in Augenschein zu nehmen und dem Rat eine Empfehlung auszusprechen.«

Cornificius presste die Lippen aufeinander. »Sie soll ihre Anhörung erhalten. Wenn sich jedoch kein Fürsprecher findet, der bereit ist, für Unterkunft und Examinatio zu zahlen, hat sie diese Hallen umgehend wieder zu verlassen.« Damit rauschte er hinaus. Auf dem Weg zur Tür hob er den Arm und sein Magierstab flog in seine Hand. Adepta Talvia, seine Secretaria, folgte ihm.

Sabella schloss erleichtert die Augen. Dann nickte sie Arcavia zu. »Ich danke dir, werte …«

»Hör mir gut zu!«, unterbrach die Magistra sie scharf und beugte sich in ihrem Stuhl vor. »Dieser Firlefanz mag in der Provinz üblich gewesen sein, und sicher hast du damit bei Weinbauern und Schafhirten sehr viel Eindruck gemacht. Deine Meisterin wird es nicht besser gewusst haben, aber mit derart törichten Demonstrationes machst du dir hier mehr Feinde als Freunde!« Ihre Stimme nahm einen unerwartet bedrohlichen Unterton an. »Cornificius hat recht: Dies ist die angesehenste Akademie des Reiches, Sabella. Trotz der Regularien, die noch auf Fran-Horas’ Reformen zurückgehen, gibt es genug Magister, die nur zu gerne ausschließlich Comites und Patrizier zulassen würden. Für solche, die von einfacher Geburt sind, ist es also schon schwierig genug. Vom Adlerthron einmal ganz zu schweigen, für den diese Schule nur ein Spielball ist, der sich ganz nach Gusto hin und her werfen lässt.« Sie gab ihrem Sklaven einen Wink. »Silero.« Der Alhanier trat stumm an ihren Stuhl heran. »Warte hier. Man wird dir eine Unterkunft zuweisen. In den kommenden Tagen entscheidet dann der Akademierat über dein Schicksal.«

»Ich danke dir, Magistra«, entgegnete Sabella leise und schaute Arcavia nach, bis Silero sie aus dem Saal geschoben hatte.

Wenig später führte eine kahlköpfige Akademiesklavin Sabella zu einem kleinen Gästezimmer im ersten Stockwerk des Oktogons. Durch ein schmales Fenster fiel Licht, neben einem einfachen Bett gab es hier auch einen Kamin, in dem einige erloschene Holzscheite lagen.

»Der Regens wird entscheiden, ob du eine eigene Kammer erhältst, oder in den Schlafsälen der Studiosi untergebracht wirst«, erklärte die Sklavin. Sie verneigte sich leicht und schloss die Tür hinter sich.

Seufzend stellte Sabella ihren Magierstab in eine Ecke des Raums.

Derosus und Flaccus starrten sie vorwurfsvoll an.

»Ihr müsst nichts sagen, ich war töricht«, gab sie zu. »Zumindest haben sie uns nicht direkt wieder rausgeworfen.« Sie gab den beiden einen Wink und die Skelette stellten die Reisetruhe behutsam an der Wand ab. Sabella musterte die schwere, mit eisernem Zierrat versehene Truhe. Sie war Andronicus’ ständiger Begleiter gewesen, soweit sie zurückdenken konnte. Andronicus Bosparanus – ein ehemaliger Vorsteher der Akademie Bosparan.

»Apropos töricht.« In einem Anflug von Panik öffnete Sabella den Deckel der Kiste. Hastig zog sie die Bücher, Schriftrollen und Aufzeichnungen hervor, blätterte durch die Zauberbücher. Sie fand zwei, in denen Andronicus handschriftliche Notizen hinterlassen hatte, und einige Schriftrollen mit den persönlichen Manuskripten ihres Meisters. Sie warf sie in den Kamin. »So töricht«, murmelte sie. »Habe ich denn meine Lektion immer noch nicht gelernt?« Sie schnippte mit den Fingern. Eine kleine Flamme entsprang ihrem Daumen. Rasch fachte sie damit das Feuer an. Ihr Herzschlag beruhigte sich erst, nachdem die Flammen die Bücher und Pergamente vollständig verzehrt hatten.

»Noch etwas.« Sabella öffnete das Geheimfach im Inneren der Truhe und zog die Schriftrolle mit dem tulamidischen Beherrschungszauber hervor. »Eine solche Thesis ist auf dieser Seite der Limitantes sicherlich einzigartig«, erinnerte sie Derosus und Flaccus. »Was wird sie wohl wert sein? Andronicus hat sie niemals veräußert, egal wie misslich die Zeiten auch waren.« Sie entrollte behutsam das kostbare schwere Pergament und studierte die feinen Linien und geschwungenen Muster darauf. »Jeder Magus am Oktogon würde sie uns aus den Händen reißen. Wir könnten uns mit dem Erlös jahrelang an der Akademie einquartieren, und auch problemlos die Kosten der Examinatio bezahlen.« Sabella zog Andronicus’ Notizen und Aufzeichnungen zu der Thesis hervor. Jeder einigermaßen fähige Magus konnte mit ihrer Hilfe den fremdartigen Cantus herleiten.

Derosus öffnete den Kiefer und schloss ihn wieder.

»Ich wäre dann nicht auf einen Gönner angewiesen«, gab Sabella zu Bedenken. »Ich müsste mir niemandes Gunst versichern. Wir haben uns gerade erst von Andronicus gelöst. Soll ich mich direkt wieder einer anderen unterwerfen?«

Flaccus starrte sie stur an.

»Es würde aber auch sehr viele Fragen aufwerfen«, murmelte Sabella leise. Sie rang mit sich. »Und ihr habt gesehen, wie Cornificius und Arcavia miteinander umgegangen sind. Es geht hier auch nicht viel anders zu als in Puninum. Wir lassen besser Vorsicht walten und geben uns keine Blöße.« Sie warf die Schriftrolle samt der zugehörigen Aufzeichnungen ebenfalls in den Kamin. Das Feuer verzehrte rasch die letzte Hinterlassenschaft ihres Meisters.

Kapitel 3

Der Händler warf Valerius einen weiteren langen Blick zu.

»Ist wohl besser, wir suchen uns anderes Versteck«, murmelte Valerius und trat vom Stand weg, auf dem Kochtöpfe, Schöpfkellen und Teller ausgebreitet lagen.

Er wanderte zwischen den Ständen des Bosparaner Eisenmarktes hindurch und bahnte sich einen Weg durch das geschäftige Treiben. Schließlich fand er einen anderen Stand, von dem aus er die Taverne an der Westseite des Marktplatzes gut im Blick hatte.

Umbra schloss zu ihm auf. »Nur ein wenig länger und er hätte die Blaumäntel gerufen.«

Valerius duckte sich hinter den Stand und zog seinen Mantel enger um sich. Die Sonnenscheibe hatte es an diesem Wintermorgen noch nicht geschafft, die Kälte der letzten Nacht aus den Gassen und Plätzen der Metropole zu vertreiben.

Umbra verstecke sich nicht, und er fror auch nicht. Mit verschränkten Armen schaute er sich um. »Bist du dir sicher, dass dein Vorgehen klug ist? Tacitus könnte uns entdecken.« Er winkte ab. »Ich meine, er könnte dich entdecken.«

»Es wäre recht hilfreich, wenn du für eine Weile still wärest«, fuhr Valerius den Tulamiden an. Eine Passantin starrte ihn überrascht an und eilte dann rasch weiter. Das war er inzwischen gewohnt. »Warum ist es mir eigentlich nicht schon früher aufgefallen, wenn mich die Leute auf der Straßen anstarrten?«

»Vielleicht wollte es dir nicht auffallen.«

Valerius musterte den Mann, den nur er sehen und hören konnte. Der Sklave erschien ihm so, wie er schon vor vierzehn Jahren ausgesehen hatte, zum Zeitpunkt seines Todes: ein sehniger junger Mann in der einfachen Tunika eines Haussklaven, die Initialen seines einstigen Dominus Capitus Castesius auf dem Handrücken, die braunen Haare nach Art der Bosparaner kurz geschnitten. Umbras dunkle Haut und die ebenso dunklen Augen verrieten jedoch seine tulamidische Herkunft.

Umbra war ein Produkt seines Verstandes. Noch immer begriff Valerius nicht zur Gänze, was das zu bedeuten hatte. Vielleicht war er dem Wahnsinn verfallen. Vielleicht sollte er besser alles hinterfragen, was er sah und erlebte.

»Was hat sich geändert?«, hakte er nach. »Warum bin ich mir nun der Tatsache bewusst, dass du nicht existierst? Wieso ist es nicht einfach wieder wie früher? Du sagtest, ich habe früher wiederholt deinen Tod verdrängt, warum nicht auch jetzt?«

Umbra zuckte mit den Schultern. »Frag nicht mich. Ich habe in dieser Sache nichts zu sagen, ich habe weder Macht über mein Kommen und Gehen, noch über deinen Verstand.«

»Und erneut weichst du meinen Fragen aus«, beschwerte sich Valerius und wandte sich wieder um. Sein Blick fiel auf Tacitus, der in eben diesem Moment seine Taverne verließ. »Da ist er.«

Der Sklave trat näher an ihn heran. »Sei vorsichtig«, raunte er.

»Warum? Er hält mich für tot und begraben.«

»Es gibt genug Dinge, die Tacitus dazu bringen, immer wieder einmal über seine Schulter zu schauen«, gab Umbra zu Bedenken. »Was, wenn die Mussadin misstrauisch werden? Abu’Keshal wird ermordet und kurz darauf verlässt ihr Kontaktmann die Stadt? Ich würde mich darüber wundern.«

Tacitus lebte nun in einem Anwesen am Rande des Eisenmarktes von Bosparan, im angesehenen Viertel Suburbia. Valerius hatte nicht einmal einen Tag in der Hauptstadt gebraucht, um den Sacerdos ausfindig zu machen – aber es war auch nicht so, dass sich Tacitus vor ihm versteckte.

Der Priester des Nandurios, des Gottes der List und Intrigen, hatte seine gesellschaftliche Position verbessert: Er bewohnte nun ein zweistöckiges Atriumhaus und zum Markt hin lag seine neue Taverne. Nichts deutete darauf hin, dass der Besitzer im Bund mit den Fünf Banden war. Ganz sicher deutete nichts darauf hin, dass er ein kaltblütiger Mörder war, der ohne mit der Wimper zu zucken den Tod unschuldiger Frauen und ihrer Kinder anordnete.

Zwei Blaumäntel streiften zwischen den Ständen umher, musterten die Auslagen und Marktbesucher. Beide trugen die charakteristischen blauen Wappenröcke der Bosparaner Stadtgarde, denen die Gardisten auch ihren Spitznamen verdankten. Valerius wartete, bis sie vorbei waren, und wandte sich dann wieder der Taverne zu.

»Sei vorsichtig!«, beschwor Umbra leise. »Du warst schon einmal davon überzeugt, dass du ihn übertölpeln könntest. Er war dir auch zu diesem Zeitpunkt einen Schritt voraus. Mehrere Schritte, genau genommen.«

»Es ist nicht das erste Mal, dass ich jemanden beschatte«, wehrte Valerius ab und trat aus seinem Versteck.

Tacitus schlenderte zwischen den Ständen hindurch, nickte mal hierhin, mal dorthin, wenn Händler ihn grüßten. Er hatte sich bereits einen Namen im Viertel gemacht. Der untersetzte Sacerdos trug eine unscheinbare blaugraue Tunika, die sich über seinem Bauch spannte, einen langen grauen Calar aus dicker Wolle, sowie einen Gürtel, an dem zahlreiche Taschen und Beutel baumelten.

Valerius’ Hand wanderte zu dem Fuchsanhänger, den er an einem Band um den Hals trug – allerdings unter seiner Tunika, schließlich war der tulamidische Mondgott in Bosparan verboten. Er hatte Ariana den Anhänger kurz vor ihrem Tod geschenkt und ihn später wieder aus ihrer leblosen Hand genommen.

Tacitus war nicht allein: Amara und ein zweiter Leibwächter folgten ihm auf den Fuß. Beim Anblick der breitschultrigen Vollstreckerin richteten sich Valerius’ Nackenhaare auf. Sie überragte den untersetzten Sacerdos und die meisten anderen Umstehenden um einen Kopf. Ihre edlen, scharf geschnittenen Züge ließen nicht darauf schließen, dass es sich bei Amara um eine kaltblütige Mörderin handelte – eine, die zudem krankhafte Freude am Töten empfand.

Der andere Leibwächter war fast genauso groß wie Amara und noch muskulöser. Er war kahlköpfig, besaß ein eckiges Kinn und derart breite Schultern, dass ihm die Tunika sicherlich auf den Leib geschneidert worden war.

Valerius blieb auf Abstand und gestattete den Dreien einen Vorsprung. Tacitus war gut gelaunt und entspannt, doch Amara entging bestimmt nichts von dem, was sich rundum abspielte.

Tacitus passierte ein Straßentheater am Rand des Platzes, um das sich eine Menschenmenge drängte. Valerius hielt sich im Schutz der Zuschauer, die lachend die Possen der Schauspieler verfolgten. Er widerstand der Versuchung, sich mit dem einen oder anderen Geldbeutel der abgelenkten Menge zu bereichern. Dies hier war weder der richtige Ort noch der geeignete Zeitpunkt dafür.

Er folgte Tacitus und seinen Begleitern durch die Gassen von Suburbia und achtete darauf, dass sich immer genug Passanten zwischen ihm und seinem Ziel befanden.

Valerius war schon immer der Meinung gewesen, dass eine Stadt mehr als nur eine Ansammlung von Gebäuden und Menschen war. Für ihn war jede Stadt ein lebendiges, fühlendes Wesen mit einem ganz eigenen Charakter, Wünschen und Möglichkeiten. Sei es die Gemütlichkeit von Firdana, die Geschäftigkeit von Vadocia oder Puninum, wo es einem zu jeder Zeit so vorkam, als schaute einem ein Gespenst über die Schulter.

Bosparan dagegen war schwerer zu durchschauen, jeder Stadtteil hatte seinen eigenen Charakter. Suburbia, das Viertel westlich von Alt-Bosparan und dem Bosparaner Hafen wurde von Krämern und Handwerkern bewohnt, enge Gassen und geschäftige Märkte fand man hier zuhauf.