Dschingis Khan – Sohn der Wölfe - Conn Iggulden - E-Book

Dschingis Khan – Sohn der Wölfe E-Book

Conn Iggulden

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Beschreibung

Er kam aus der Steppe – und erschütterte die Welt! Nach dem Tod seines Vaters wird der junge Temujin mit seiner Familie verbannt, wie es die strengen Gesetze seines Volkes verlangen. Doch entgegen aller Erwartungen gelingt es ihnen, ohne den Schutz der Sippe in der mongolischen Steppe zu überleben. Mehr noch: Temujin schart weitere Geächtete um sich und gründet einen neuen Stamm. Bald wird er zurückkehren und unter seinem neuen Namen die Welt erschüttern – Dschingis Khan!  Der großartige Auftakt zu einer farbenprächtigen Saga um Dschingis Khan!  Ein atemberaubendes historisches Lesevergnügen – fesselnd von der ersten bis zur letzten Seite!

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Dies ist ein fiktives Werk. Alle in diesem Roman dargestellten Personen, Organisationen und Ereignisse sind entweder ein Produkt der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet.

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Deutsche Ausgabe 2023Copyright der Originalausgabe Wolf of the Plains © Conn lggulden 2007

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 Ronin Hörverlag: Ronin Hörverlag, Heusteg 47, 91056 Erlangen

Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Andreas Hellweg liegen beim Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Covergestaltung: by HildenDesign München unter Verwendung von Motiven von ©Iacopo Bruno

E-Book-Konvertierung: wayan-design.de

ISBN: 978-3-98955-004-9 (E-Book)

Für Informationen wende dich an Ronin Hörverlag, Heusteg 47, 91056 Erlangen

www.ronin-hoerverlag.de

SOHN DER WÖLFE

Conn Iggulden

Aus dem Englischen von Andreas Helweg

Für meine Brüder John, David und Hal

»Niemals frommt Vielherrschaft im Volk; nur einer sei Herrscher, einer König allein.« Homer, Ilias

Inhalt

Danksagung

Prolog

Erster Teil – Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Zweiter Teil – Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Nachwort

Über den Autor

Danksagung

Dieses Buch hätte nicht geschrieben werden können ohne die Menschen der Mongolei, die mir erlaubt haben, eine Zeit lang unter ihnen zu leben, und die mir ihre Geschichte bei Salztee und Wodka näherbrachten, während aus dem Winter allmählich Frühling wurde.

Prolog

Im blendenden Schneegestöber umzingelten die mongolischen Bogenschützen die räuberischen Tataren. Die Pferde lenkten sie mit den Knien, standen in den Steigbügeln und schossen Pfeil um Pfeil ab, wobei die Treffsicherheit allmählich nachließ. Grimmiges Schweigen herrschte, nur der Hufschlag der galoppierenden Pferde mischte sich unter die Schreie der Verwundeten und das Heulen des Windes. Die Tataren konnten dem sirrenden Tod nicht entkommen, der vom Gegner ausging und auf dunklen Flügeln heranschwirrte. Ihre Pferde gingen ächzend in die Knie, helles Blut spritzte aus den Nüstern.

Von einem großen Felsen aus beobachtete Yesügai das Gefecht, tief in sein Fell gehüllt. Der Wind brauste wie ein Teufel über die Ebene, zerrte an seiner Haut, wo sich die Schutzschicht aus Hammelfett aufgelöst hatte. Yesügai ließ sich sein Unbehagen jedoch nicht anmerken. Er ertrug es bereits seit so vielen Jahren, dass es eigentlich gar nicht mehr zu spüren war. Es gehörte ebenso zu seinem Leben wie die Krieger, die auf seinen Befehl losritten – und wie der Feind, den man töten musste.

DenTatarenfehlteesnichtanMut,dasmussteerihnenbeiallerVerachtung zugestehen. Yesügai sah, wie sie sich um einen jungen Krieger scharten, dessen Rufe durch den Wind bis zu ihm herübergetragen wurden. Der Tatar trug einen Ringelpanzer, um den ihn Yesügai beneidete, da es ihn so sehr danach verlangte. Mit einem knappen Befehl verbot der Anführer seinen Männern, die Formation aufzulösen, und Yesügai stellte fest, dass der Augenblick gekommen war loszureiten. Sein Arban, seine neun Begleiter, fühlten es, es waren die Besten des Stammes, Schwurbrüder und Gefolgsleute. SiehattensichdiewertvolleRüstung,diesietrugen,verdient:gekochtes Leder, in das ein springender junger Wolf geprägt war.

»Seidihrbereit,meineBrüder?«,fragteerundspürte,wiesiesichihm zuwandten.

EinederStutenwieherteaufgeregt,undseinErsterKriegerlachte.

»Wir töten sie für dich, Kleine«, sagte Eeluk und kraulte dem Pferd die Ohren. Yesügai stießmitdenHackenzu,undmühelostrabtensieaufdas Geschrei undKampfgetümmeldortimSchneezu.AusderHöheüberdemGefecht konntensiesehen,wiestarkderWindwar.Yesügaimurmelteehrfürchtigvor sichhin,währenderbeobachtete,wiedieArmevonVaterHimmelwieweißeSchärpen,schwervonEis, die zerbrechlichenKriegerumkreisten.

ImGaloppgingesweiter,ohnedieFormationzuverändernundauchohne nachzudenken,dennjederMannhieltdenAbstandzumanderenein,wieseit Jahrzehnten schon. Sie dachten nur daran, auf welche Weise sie den Feind am besten aus dem Sattel hauen konnten, um ihn kalt auf der Ebene liegen zu lassen.

Yesügais Arban preschte in die Mitte der feindlichen Kämpfer hinein und hielt auf den Anführer der Gegner zu, der sich in den letzten Augenblicken zuvorerhobenhatte.Wennesihmgestattetwäre,weiterzuleben,wollteerzu einerFackelwerden,derseinganzerStammfolgenkonnte.Yesügailächelte, während sein Pferd den ersten Feind niedertrampelte. Heute nicht.

Die Wucht des Aufpralls brach dem tatarischen Krieger das Genick, als sichderMannumwandte,umsichderneuenBedrohungzustellen.Miteiner Hand hielt Yesügai sein Pferd an der Mähne, mit der anderen führte er das Schwert und hinterließ rechts und links Tote. Zweimal verzichtete er auf einen Hieb, weil er dabei die Klinge seines Vaters leichthätteverlierenkönnen,stattdessenließerseinPferddieMänner niedertrampeln, und einen erschlug er mit dem Griff wie mit einem Hammer. DannwarervorbeiundhattedasZentrumdestatarischenWiderstandserreicht.YesügaisneunGefolgsleuteumringtenihnundbeschütztenihren Khan, wie sie es geschworen hatten. Er brauchte sich nicht umzusehen, erwusste, sie waren da und deckten ihm den Rücken. Ihre Gegenwart fand er auchindenAugendestatarischenAnführersbestätigt,alsdieseranihm vorbeiblickte.Inihrenrunden,grinsendenGesichternmusstederTatarseinen eigenenToderblicken.VielleichthatteernunauchalldieTotenumihnherum bemerkt, aus deren Leibern Pfeile ragten. Sein Überfall war vereitelt worden. Yesügai war zufrieden, als sich der Tatar in den Steigbügeln aufstellte und dielange,roteKlingeaufihnrichtete.InseinemBlicklagkeineAngst,nurWut undEnttäuschungdarüber,dassderTageinsolchesEndenahm.Diestarren LeichenwürdedieBotschaftnichtmehrerreichen,dochdietatarischen Stämme,daswussteYesügai,würdensieohneFrageverstehen.ImFrühjahr würdensiedieKnochenfindenundesnichtwagen,seineHerdenabermals

zu überfallen.

Yesügailachte,woraufhinderTatardieStirnrunzelte,währendsieeinander anstarrten. Nein, sie würden die Botschaft nicht begreifen. Tataren verhungerten, weil sie sich nicht für eine Brust der Mutter entscheiden konnten. Siewürdenwiederkommen,undYesügaiwürdewiedergegen siereitenundnochmehrKriegerdiesesehrlosenBlutestöten.DieseAussicht gefiel ihm.

Der Tatar, der ihn herausforderte, war jung. Yesügai dachte an den Sohn, der gerade hinter den Hügeln im Osten das Licht der Welt erblickte, und er fragtesich,obauchseinSohneinesTageseinemgrauhaarigenKriegerüber die Länge eines Schwertes ins Gesicht sehen würde.

»SagmirdeinenNamen«,verlangteYesügai.

Der Kampf um sie herum war zum Ende gekommen, Yesügais Mongolen gingen bereits von einem Toten zum anderen und nahmen ihnen alles Nützliche ab. Der Wind brauste wie zuvor, doch die Frage wurde gehört, und Yesügai bemerkte erneut die gerunzelte Stirn seines jungen Gegners.

»Sagdumirdochdeinen,Yak-Schwanz.«

Yesügai lachte, aber langsam schmerzte seine Haut dort, wo sie ungeschütztwar,underwarmüde.FastzweiTagelanghattensiedieRäuber quer durch sein Land verfolgt, hatten nicht geschlafen und am Tag nur eine Handvoll feuchtenQuarkgegessen.SeinSchwertwarbereit,einweiteres Leben auszulöschen, und so hob er die Klinge in die Höhe.

»Istauchnichtsowichtig,Junge.Kommher.«

DertatarischeKriegermussteetwasindenAugenseinesGegnersgesehen haben,dasgefährlicherwaralseinPfeil. Er fügtesich dem Unvermeidlichenund nickte.

»IchheißeTemudschin-Uge«,sagteer.»MeinTodwirdgerächt.Ichbinder Spross eines großen Hauses.«

Dann stieß er dem Pferd die Hacken in die Flanken und preschte auf Yesügailos.DerKhanführteseinSchwertineinemvollendetenStreichdurch dieLuft.DieLeichefielzuseinenFüßen,dasreiterlosePferdrannteüberden Kampfplatz.

»Du bist Futter für die Aasfresser, Junge«, sagte Yesügai, »und so wird es allen ergehen, die meine Herden überfallen.«

Er wandte sich um und betrachtete seine Krieger, die sich versammelt hatten. Siebenundvierzig hatten die Gers verlassen, um seinem Ruf zu folgen. Vier ihrerBrüderhattensiedurchdenerbittertenWiderstandderTatarenverloren, dochkeinerderzwanzigRäuberwürdeheimkehren.DerPreiswarzwarhoch, doch der Winter trieb die Männer in jeder Hinsicht bis an die Grenzen.

»Zieht die Toten rasch aus«, befahl Yesügai. »Um zum Stamm zurückzukehren, ist es zu spät. Wir werden das Lager im Schutz der Felsen aufschlagen.«

Wertvolles Metall oder Bögen waren begehrt, um damit Handel zu treiben oder um beschädigte Waffen zu ersetzen. Doch abgesehen vom Ringelpanzer war die Beute armselig, und das bestätigte Yesügais Verdacht, dass diese Gruppe junger Krieger ihre Männlichkeit mit einem Raubzug beweisen wollte. Allerdings hatten sie nicht geplant, auf steinhartem Boden kämpfen zu müssen.ErhängtedasblutigeKleidungsstückausMetallüberdasSattelhorn, als man es ihm zuwarf. Es war eine gute Arbeit und würde zumindest einen Dolchabwehrenkönnen.WoherdieserjungeKriegerwohleinensowertvollen Harnisch hatte, fragte er sich und wiederholte denNamen im Kopf. Er zuckte die Achseln. Das spielte keine Rolle. Seinen Anteil an den Beutepferden würde er gegen starke Getränke und Felle tauschen, wenn sich die Stämme zumHandeltrafen.ObwohlihmdieKältetiefindenKnochensaß,waresein guter Tag gewesen.

Der Sturm hatte am folgenden Morgen noch nicht nachgelassen, als Yesügai und seine Männer zum Lager aufbrachen.

NurdieKundschafterbewegtensichunterwegsraschundhieltennacheinem plötzlichenÜberfallAusschau.DieanderenhattensichinPelzegehüllt,waren mit Beute beladen, unförmig und halb erfroren ritten sie, mit Raureif und Fett bedeckt, durch die Kälte.

Die Sippen hatten den Platz sorgfältig ausgewählt, er lag im Windschatten einesschroffen,felsigenBerges,dermitFlechtenüberzogenwar.ImSchnee waren die Gers, die mongolischen Jurten, beinahe unsichtbar. Das einzige Licht fiel durch eine trübe Öffnung hinter wogenden Wolken herab, dennoch wurden die heimkehrenden Krieger von einem der Jungen, die mit scharfen Augen nach Angreifern Ausschau hielten, entdeckt. Die schrillen Warnrufe hoben Yesügais Stimmung.

Die Frauen und Kinder des Stammes waren gewiss noch nicht aufgestanden, dachte er. Bei solcher Kälte unterbrachen sie den Schlaf lediglich, um die eisernen Öfen zu befeuern. Erst in ein oder zwei Stunden wäreesZeit,wenndieLuftindengroßenZeltenausFilzundFlechtwerknicht mehr so eisig war.

Währendsienäherkamen,hörteYesügaiGeschrei,dassich wiedergraue RauchausHoelunsGer erhob,undvorAufregungklopfteihmdasHerz.Einen Sohn hatte er bereits, doch der Tod lauerte stets auf die Kleinen. Ein KhanbrauchtesovieleErben,wieinseinenZeltenPlatzfanden.Erflüsterteein Gebet,indemerumeinenweiterenJungenbat,einenBruderfürdenersten. SeinFalkeantworteteaufdenhohenTonimGer,währendsichYesügaiaus demSattelschwang.DerLederharnischächztebeijedemSchritt.DenMann, derausdruckslosinPelzegehülltdastandundYesügaidieZügelabnahm,

bemerkteerkaum.

Er drückte die hölzerne Tür auf, betrat sein Zuhause, und sofort schmolz der Schnee auf seiner Rüstung und bildete Pfützen auf dem Boden.

»Ha! Weg mit euch!«, rief er und lachte, als seine beiden Hunde an ihm hochsprangen,ihnablecktenundeinenwildenTanzumihnherumaufführten. DerFalkehießihnmiteinemSchreiwillkommen,odervielleichtwaresnurdie Sehnsucht danach, auf die Jagd zu gehen. Yesügais Erstgeborener Bekter krabbelte nackt in einer Ecke herum und spielte mit Quarkkäse, der so hart wie Stein war. All das nahm Yesügai wahr, ohne den Blick von der Frau auf den Fellen zu lösen. Hoelun war rot von der Hitze, die der Ofen ausstrahlte, doch ihre Augen leuchteten hell im goldenen Lampenschein. Auf ihrem schönen, markanten Gesicht glänzte der Schweiß, auf der Stirn aber sah er verschmiertes Blut, dort wo sie mit dem Handrücken entlanggewischt hatte. DieHebammebeschäftigtesichmiteinemStoffbündel,undHoelunsLächeln verriet ihm, dass er einen zweiten Sohn bekommen hatte.

»Gibihnmir«,befahlYesügaiundtrat vor.

Die Hebamme wich zurück und verzog gereizt den Mund. »Mit deinen großenHändenwirstduihnzerdrücken.ErsollersteinmalseineMuttermilch haben. Du kannst ihn später halten, wenn er stark ist.«

YesügaikonntedemDrangnichtwiderstehen,denHalszurecken,umeinen BlickaufdenkleinenJungenzuwerfen,alsdieHebammeihnablegteunddie kleinen Gliedmaßen mit einem Tuch wusch. In seinen Fellen ragte er über beiden auf. Als Säugling ihn bemerkte, stieß er einwildesGebrüllaus.

»Ererkenntmich«,sagteYesügaivollerStolz.

Die Hebamme prustete. »Der ist noch zu klein«, murmelte sie. Yesügai antwortete nicht. ErlächeltedenKleinenmitdemrotenKopfan,dannaberverändertesichsein Gebaren ohne Vorwarnung, und er packte die alte Hebamme am Unterarm.

»WashälterinderHand?«,fragteerleise.

Die Hebamme hatte die Finger gerade abwischen wollen, doch unter Yesügais scharfem Blick öffnete sie sanft die Hand des Säuglings und enthüllteeinenBlutklumpenvonderGrößeeinesAuges,derbeiderleisesten Bewegung zitterte. Das schwarze Blut glänzte wie Öl. Hoelun hatte sich aufgerichtet und schaute nach, was an ihrem Neugeborenen Yesügais Aufmerksamkeit erregt hatte. Als sie den dunklen Klumpen sah, stöhnte sie.

»Er hält Blut in der Hand«, flüsterte sie. »Sein Leben lang wird er vom Tod begleitet werden.«

Yesügai holte tief Luft und wünschte, sie hätte nichts gesagt. Es war leichtsinnig,einsolchesSchicksalfürdenJungenzubeschwören.Eineganze Zeit langbrüteteerschweigendvorsichhinundüberlegte.DieHebammefuhr unruhig damit fort, das Kind zu waschen und zu wickeln, der Blutklumpen wackelte auf den Decken. Yesügai nahm den glänzenden Brocken.

»Er wurde mit dem Tod in der rechten Hand geboren, Hoelun. Das passt gut. Er ist der Sohn eines Khans, und der Tod ist sein Gefährte. Er wird ein großerKriegerwerden.«Yesügaisahzu,wiederSäuglingseinererschöpften Mutter gereicht wurde und gierig an der Brust saugte, die sie ihm anbot. Die Mutter zuckte zusammen und biss sich auf die Lippe.

Yesügais Miene zeigte noch immer Besorgnis, als er sich der Hebamme zuwandte.

»Wirf die Knochen, alte Mutter. Wir wollen sehen, ob dieser Blutklumpen Gutes oder Schlechtes für die Wölfe bedeutet.«

Angesichts seines unfreundlichen Blickes musste er nicht erst aussprechen, dass das Leben des Kindes vom Ausgang des Orakels abhing. Er war der Khan, und der Stamm erwartete Stärke von ihm. Gern wollte er die Worte glauben, mit denen er die Eifersucht von Vater Himmel abzuwenden versuchte, doch fürchtete er, Hoeluns Prophezeiung könne sich bewahrheiten.

Die Hebamme neigte den Kopf und verstand, dass die Geburtsrituale um einen schrecklichen, ungewöhnlichen Teil erweitert worden waren. Sie griff zumOfen,woderBeutelmitSchafsknochenlag,diedieKinderdesStammes rotundgrüngefärbthatten.Jenachdem,wiesiefielen,nanntemansiePferd, Kuh, Schaf oder Yak, und es gab tausend Spiele, die man damit spielen konnte.DieÄlterenwussten,dass die Knochen noch mehrenthüllten,wenn sie zur rechten Zeit am rechten Ort geworfen wurden. Die Hebamme hob schon den Arm, doch erneut hielt Yesügai sie zurück, und sie zuckte zusammen.

»Er ist von meinem Blut, dieser kleine Krieger. Ich werde es tun«, sagte er und nahm ihr die vier Knochen ab. Sie verweigerte es ihm nicht, denn sein kalter Ausdruck schüchterte sie ein. Sogar die Hunde und der Falke waren verstummt.

Yesügai warf die Knochen, und der Hebamme stockte der Atem, als sie liegen blieben.

»Ei.VierPferdebedeutenviel Glück. Er wirdeingroßartiger Reiter.Erwird vom Pferd aus Eroberungen machen.«

Yesügainickteheftig. Er wollteseinenSohndemganzenStammvorführen, und das hätte er auch sofort getan, wenn der Sturm nicht um das Ger getobt und einen Weg in die Wärme gesucht hätte.

DieKältewareinFeind,trotzdemhieltsiedenStammstark.DieAltenlitten nicht lange in solch harten Wintern. Die schwächlichen Kinder raffte es bald dahin. Sein Sohn aber würde nicht zu ihnen gehören.

Yesügai beobachtete das winzige Wesen, das noch immer an der Brust seinerMuttersaugte. DerJungehattegoldeneAugenwieerselbst,siewaren fastsogelbwiedieeinesWolfes.HoelunsahihrenMannanundnickte. Denn seinStolzvertriebihreSorgen.SicherlichmochtederBlutklumpeneinungutes Vorzeichen sein, doch die Knochen hatten sie ein wenig beruhigt.

»HastdueinenNamenfürihn?«,fragtedieHebammeHoelun.

Yesügai antwortete, ohne zu zögern. »Der Name meines Sohnes lautet Temudschin. Er wird sein wie Eisen.« Draußen toste der Sturm, und nichts deutete darauf hin, dass er bald nachlassen würde.

Erster Teil – Kapitel 1

AneinemFrühlingstaginseinemzwölftenLebensjahrjagteTemudschinmit seinenvierBrüderndurchdieSteppeimSchattendesBerges,densieDeli’un-Boldakhnannten.Bekter,derÄlteste,rittmitGeschickundKonzentrationeine graue Stute, und Temudschin hielt sein Tempo und wartete auf eine Gelegenheit, an ihm vorbeizuziehen. Hinter ihnen jauchzte Khasar wild auf, während er zu den beiden Anführern aufschloss. Der Zehnjährige war im Stammsehrbeliebt,weilersofröhlichwarwieBektermürrischundtrübsinnig. Sein rot gescheckter Hengst schnaubte, wieherte hinter Bekters Stute und brachtedenkleinenJungenzumLachen.AlsNächsterindergaloppierenden ReihefolgteKatschiun,achtJahrealt,demesanderOffenheitmangelte,die an Khasar alle so mochten. Von den Brüdern schien Katschiun der ernsteste und verschwiegenste zu sein. Er sprach nur selten und beschwerte sich nie, gleichgültig, was Bekter mit ihm anstellte. Katschiun konnte mit Pferden umgehen wie nur wenige andere, und er vermochte sein Tier noch zu schnellererGeschwindigkeitanzuspornen,wenndenanderenbereitsdieKraft ausging.TemudschinblickteüberdieSchulterzuKatschiunhin,dervollendet im Sattel saß. Er ritt ganz locker, und sie waren schon häufig von ihm überrascht worden, daher behielt Temudschin ihn genau im Auge.

EinganzesStückhinterseinenBrüdernfolgtederKleinsteundJüngste,der bereitsquengelte,siesolltenaufihnwarten.TemugewareinfaulerJungemit einer großen Vorliebe für Süßes, und das zeigte sich auch in seinem Reitstil. TemudschingrinstebeimAnblickseinesrundlichenBruders,derwildmitden Armen fuchtelte, um sein Tier anzuspornen. Ihre Mutter hatte sie davor gewarnt, den Jüngsten bei den Wettrennen mitmachen zu lassen. Temuge war gerade erst groß genug, um nicht mehr am Sattel festgebunden werden zu müssen, aber er begann zu jammern, sobald er zurückblieb. Bekter hatte noch kein freundliches Wort für Temuge gefunden.

Ihre hohen Stimmen trugen weit über das Frühlingsgras der Ebene. Sie preschten im Galopp dahin, hockten wie Vögel auf den Rücken ihrer kleinen Steppenpferde.YesügaihattesieeinmalseineSpatzengenanntundwarstolz auf ihre Geschicklichkeit. Temudschin hatte dann aber zu Bekter gesagt, er seivielzufettfüreinenSpatz,unddanachhatteersicheineganzeNachtlang vor der Wut des Älteren verstecken müssen.

An einem Tag wie diesem herrschte jedoch im ganzen Stamm guteLaune. Der Frühjahrsregen hatte eingesetzt, die Flüsse füllten sich und wanden sich durchdieEbene,womanvorTagennochvertrocknetenLehmgesehenhatte. Die Stuten spendeten warme Milch zum Trinken, aus der man Käse und kühlen Joghurt machen konnte. Der erste Hauch Grün zeigte sich auf den kahlenHügelnundverhießschondenSommerundheißeTage.Eswarein Versammlungsjahr, und vor dem nächsten Winter würden die Stämme in Frieden zusammenkommen, um sich miteinander im Wettkampf zu messen und Handel zu treiben. Yesügai hatte entschieden, die Sippen der Wölfe solltendieWanderungübermehralstausendMeilenaufsichnehmen,umdie Herden zu ergänzen. Die Aussicht darauf, Ringern und Bogenschützen bei ihren Wettbewerben zuzuschauen, genügte schon, um bei den Jungen das beste Benehmen hervorzurufen. Die Pferderennen jedoch waren es, die sie wirklich in Atem hielten und die ihre Fantasie beschäftigten. AußerBekterhattenalleJungenimStillenihreMutterHoelungebeten,fürsie ein Wort bei Yesügai einzulegen. Jeder wollte an einem Rennen über lange oderkurzeEntfernungenteilnehmen,umsicheinenNamenzumachenundEhre zu gewinnen.

Dabeimusstenichtbetontwerden,dassderjenige,dermiteinem Titel wie »Ausgezeichneter Reiter« oder »Meister des Pferdes« zu den Gers zurückkehrte, eines Tages an die Stelle ihres Vaters treten würde, wenn dieser sich zur Ruhe setzte, um sich ausschließlich um seine Herden zu kümmern. Mit Ausnahme des fetten Temuge durften davon alle träumen. Es ärgerte Temudschin, dass sich Bekter bereits für den Nachfolger hielt, als würden ein oder zwei Jahre Altersunterschied eine Rolle spielen. Seit Bekter vonseinemVerlobungsjahrbeieinemanderenStammzurückgekommenwar, herrschteeinangespanntesVerhältniszwischenihnen.DerältereBruderwar auf eigenartige Weise gewachsen, und obwohl Temudschin körperlich weiterhin der Größere war, hatte der neue Bekter einen befremdlichen Ernst entwickelt.

ZunächstwaresTemudschinaufgesetzterschienen,alswürdeBekterseine Reife nur heucheln. Der grüblerische Junge sagte nichts mehr, ohne vorher darüber nachzudenken, und er wägte seine Meinung genau ab, ehe er sie aussprach. Temudschin hatte ihn wegen seiner Ernsthaftigkeit verspottet, dochderWinterwargekommenundwiedergegangen,ohnedasssichetwas daran geändert hatte. Manchmal musste er nach wie vor über die Aufgeblasenheit seines Bruders grinsen, dennoch respektierte er Bekters Launen meist, wenn auch nicht sein Recht, die Zelte und das Schwert des Vaters zu erben.

Temudschin beobachtete Bekter beim Reiten und achtete sorgsam darauf, dass der Abstand zwischen ihnen nicht zu groß wurde. An diesem schönen Tag wollte er sich nicht über die ferne Zukunft den Kopf zerbrechen, und so gaber sich Tagträumenhin, dassalle vier Brüder – mit Bekter sogar alle fünf – bei der Versammlung der Stämme die Ehrenpreise gewannen. Yesügai würdevorStolzplatzen,Hoelunwürdesieeinennachdemanderenumarmen und sie ihre kleinen Krieger – ihre kleinen Reiter – nennen. Sogar Temuge konnte mit sechs Jahren schon teilnehmen, obwohl das Risiko eines Sturzes großwar.TemudschinrunzeltedieStirn,alsBekterüberdieSchulterschaute und seinen Vorsprung einschätzte. Trotz ihrer zaghaften Vorstöße hatte YesügaijedochjetztimFrühjahrnochkeinemdieErlaubniszurTeilnahmegegeben.

Hoelun war wieder schwanger und näherte sich dem Ende ihrer Zeit. Diesmal hatte sie es schwer gehabt, ganz anders als bei den vorherigen Schwangerschaften.DerTagbegannundendetedamit,dasssiesichineinen Eimerübergab,bissieroteFleckenimGesichtbekam.IhreSöhnezeigtenihr bestes Benehmen und warteten, bis Yesügai endlich aufhörte, vor den Gers auf und ab zu schreiten. Schließlich wurde der Khan ihre Blicke und ihr besorgtes Schweigen leid und schickte sie los, den Winter aus ihren Pferden zu treiben. Temudschin hatte zu betteln angefangen, bis Yesügai ihn mit den kräftigen Händen packte und in Richtung des Hengstes mit den weißen Fesseln schleuderte. Temudschin hatte sich in derLuft gedreht, war auf dem Pferderücken gelandet und hatte das Tier sofort zum Galopp angetrieben. Weißfuß war ein bösartiges, aber schnelles Tier, und sein Vater hatte bereits geahnt, dass sein Sohn gern auf ihm ritt.

Yesügai hatte den anderen beim Aufsteigen zugeschaut, ohne sich seinen Stolz in dem breiten, dunklen Gesicht anmerken zu lassen. Wie schon sein eigener Vater zeigte er seine Gefühle nicht, schon gar nicht seinen Söhnen, denndadurchbestanddieGefahr,siezuverweichlichen.Esgehörtezuseinen Pflichten als Vater, Furcht bei ihnen auszulösen, obwohl er sich manchmal danachsehnte,dieJungenindieArmezuschließenundindieLuftzuwerfen. Lieber zeigte er ihnen seine Zuneigung, indem er sich merkte, welches Pferd siebevorzugten,undwennsieseineGefühleauseinemBlickoderdemGlanz inseinenAugenerschlossen,sowardasnichtmehr,alsseinVatervorvielen Jahren ebenfalls zugelassen hatte. Diese Erinnerungen schätzte er hoch, denn sie waren rar, und er wusste noch genau, wie sein Vater schließlich geschnaubt hatte, als er damit zufrieden war, wie er eine schwere Last verknotet und verschnürt hatte. Viel war das nicht, und doch dachte Yesügai jedes Mal daran zurück, wenn er sein Knie in einen Ballen drückte und einen Knoten festzurrte. Nun blickte er seinen Söhnen hinterher, wie sie im hellen Sonnenschein davonritten, und als sie ihn nicht mehr sehen konnten, wurde sein Ausdruck milder. Sein Vater hatte gewusst, dass man in einem harten Land auch harte Männer brauchte. Sie mussten Kämpfe, Durst und Hunger überstehen, wenn sie das Mannesalter erreichen wollten. Nur einer konnte der Khan des Stammes werden. Die anderen würden entweder das Knie vor ihm beugen oder mit der Gabe für den Wanderer, die aus Ziegen und Schafen bestand, fortziehen. Yesügai schüttelte bei diesem Gedanken den Kopf und blicktederStaubfahnehinterher,diediePferdeseinerSöhneaufwirbelten. Die Zukunftlauerteaufsie,währendsienurAugenfürdenFrühlingunddiegrünen Hügel hatten.

Die Sonne schien Temudschin hell ins Gesicht, während er dahingaloppierte. Er schwelgte in dem Gefühl, das schnelle Pferd unter sich und den Wind in den Haaren zu spüren. Vor ihm fasste Bekters graue Stute wieder Tritt, nachdem sie über einen lockeren Stein gestrauchelt war. Sein Bruder gab dem Tier einen harten Klaps an den Kopf, aber die beiden hatten eineLängeverloren,undTemudschinjuchzte,alswolleerjetztvorbeiziehen. Es war jedoch noch nicht der richtige Augenblick. So gern er führte, gefiel es ihmdochebenso,Bekterzuhetzen,schonalleinweildasseinenBrudersehr verärgerte.

Bekter war bereits fast ein Mann, er hatte breite, muskulöse Schultern und einegroßeAusdauer.InseinemVerlobungsjahrbeimVolkderOlkhun’uthatte ervielWissenüberdieWeltgesammelt,underversäumtekeineGelegenheit, daraus auch Vorteil zu schlagen. Das ärgerte Temudschin wie ein Stachel unter der Haut, besonders wenn seine Brüder Bekter mit Fragen über den Stamm ihrer Mutter und dessen Gebräuche bestürmten. Temudschin wollte das zwar auch wissen, entschied sich jedoch verbittert, zu warten, bis er es selbst herausfinden konnte, nachdem Yesügai ihn dorthin gebracht hätte.

Sobald ein junger Krieger vom Stamm seiner Frau zurückkehrte, wurde er von den anderen als Mann betrachtet. Wenn die Verlobte ihr erstes Blut bekam, schickte man sie zu ihm, begleitet von einer Ehrenwache, die ihren Wert verdeutlichen sollte. Ein Ger wartete auf sie, und ihr junger Ehemann stand an der Tür, um sie hineinzuführen.

Bei den Wölfen war es zudem Tradition, dass ein junger Mann die Gefolgsleute seines Khans zum Kampf herausforderte, ehe er als Krieger vollständig anerkannt wurde. Bekter war ganz darauf erpicht, und Temudschin hatte voller Ehrfurcht beobachtet,wieBekterzumFeuerderGefolgsleuteinderNähevonYesügais Gerging.Bekterhatteihnenzugenickt,unddreiMännerwarenaufgestanden, um zu prüfen, ob ihn die Zeit bei den Olkhun’ut zu einem Schwächling gemacht hatte. Aus dem Schatten schauten Temudschin, Khasar und Katschiun still zu. Bekter war nacheinander gegen alle drei Gefolgsleute angetreten und entsetzlich verprügelt worden, ohne jedoch zu klagen. Eeluk war der letzte gewesen, ein Mann wie ein Pferd, eine Mauer aus flachen MuskelnunddickenArmen.ErhatteBektersohartaufdenBodengeworfen, dassihmdasBlutauseinemOhrgelaufenwar,aberanschließendhatteEeluk zuTemudschinsÜberraschungseinemBruderaufgeholfenundeinenBecher mit heißem schwarzen Airag gereicht. Bekter hätte sich an dem bitteren Getränk, dassich mit seinemeigenenBlut vermischte, fast verschluckt, doch die Krieger schienen das nicht zu bemerken.

Temudschin hatte es gefallen, wie sein älterer Bruder fast bewusstlos geschlagenwordenwar.Docherbemerkteauch,dassihndieMännerabends am Feuer nicht mehr verspotteten. Bekter hatte sich mit seinem Mut etwas schwer Greifbares und doch Wichtiges erkämpft. Und damit war er zu einem Stein in Temudschins Weg geworden.

Während die Brüder nun unter der Frühlingssonne über die Ebene preschten, gab es – anders als bei der großen Versammlung der Stämme – keine Ziellinie. Und selbst wenn, so wäre es noch zu früh nach dem Winter gewesen, um das Letzte aus den Pferden herauszuholen. Natürlich, und das wussten sie alle, durfte man den Tieren nicht alles abverlangen, ehe sie sich denBauchmitgutemgrünenGrasgefülltundeinwenigSommerfettangesetzt hatten. In diesem Rennen liefen sie einfach vor ihren Aufgaben und Pflichten davon, und am Ende würden sie lediglich darüber streiten, wer gemogelt hatte und wer hätte gewinnen sollen.

Bekter ritt fast aufrecht und wirkte eigenartig reglos, während das Pferd unter ihm dahingaloppierte. Das war nur eine Illusion, wie Temudschin wusste. Bekter lenkte das Tier sanft mit den Zügeln. Seine graue Stute war ausgeruht und kräftig. Es wäre nicht einfach, ihn zu besiegen. Temudschin ritt wie Khasar tief im Sattel, er lag praktisch flach auf dem Hals des Pferdes. Der Wind schien so ein wenig stärker zu beißen, und beide Jungen bevorzugten diese Haltung. Temudschin spürte, wie Khasar rechts neben ihm aufschloss. Also trieb er Weißfuß an, bis das kleine Steppenpferd kaum mehr Atem bekam und vor Wut schnaubte. Temudschin sah Khasars Pferd aus den Augenwinkeln und überlegte, ein wenig nach rechts zu schwenken – wie zufällig. Khasar, dem diese Absicht offensichtlich nicht entging, verlor eine Länge, als er auswich, und Temudschin grinste. Eigentlich kannten sie sich gegenseitig zu genau, um Rennen gegeneinander auszutragen, dachte er manchmal. Bekter sah sich kurz um, und für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke. Temudschin runzelte die Stirn und zeigte die Zähne.

»Ich komme«, rief er ihm zu. »Versuch doch, mich aufzuhalten.«

Bekter wandte ihm vor Abneigung steif den Rücken zu. Er ritt nur selten mit ihnen, aber bei diesen Gelegenheiten wollte er den Kindern natürlich zeigen, wie ein Krieger sein Pferd beherrscht. Eine Niederlage würde ihn hart treffen, und deshalb setzte Temudschin alles daran, ihn zu schlagen.

Khasar hatte inzwischen wieder aufgeholt, und ehe ihm Temudschin den Weg versperren konnte, war er fast gleichgezogen. Die beiden Jungen lächelten sich an, denn beide teilten ihre Freude über den schönen Tag und die Geschwindigkeit. Der lange, dunkle Winter lag hinter ihnen, und obwohl er viel zu bald wieder einkehren würde, wollten sie diese Zeit noch ausgiebig genießen. Schöner konnte das Leben nicht sein. Sie würden fette Hammel essen, und in den Herden würden kleine Schafe und Ziegengeborenwerden,diefürausreichendVorräteundWarenzumHandeln sorgten. An den Abenden würden sie Pfeile befiedern oder Pferdehaare zu Schnürenflechten;siewürdensingenoderdenGeschichtenüberdieStämme lauschen. Yesügai würde gegen alle jungen Tataren reiten, die es wagten, ihreHerdenzuüberfallen,undderStammwürdevonFlusszuFlussdurchdie Steppeziehen.NatürlichgabesvielArbeit,dochimSommerwarendieTage solang,dassvieleStundenfürdasVergnügenblieben,einLuxus,aufdensie in kalten Monaten verzichten mussten. Welchen Wert hatte es schon, umherzuziehen und auf Kundschaft zu gehen, wenn ein wilder Hund dich finden und des Nachts beißen konnte? Das war Temudschin schon passiert, und damals war er nur wenig älter als Katschiun gewesen. Seitdem war die Angst sein steter Begleiter geblieben.

Es war Khasar, der bemerkte, dass Temuge gestürzt war, als er sich umschaute und feststellen wollte, ob Katschiun vielleicht einen späten Versuch unternehmen wollte, die Graskrone zu gewinnen. Khasar behauptete, die schärfsten Augen im Stamm zu haben. Der reglose große Haufen am Boden fiel ihm auf, und sofort traf er eine Entscheidung. Er stieß einenhohenundeinentiefenPfiffausundließsiewissen,dasserdasRennen beendete. Bekter und Temudschin sahen zurück und entdeckten Temuge ebenfalls.EinenAugenblicklangwarensieunentschieden,keinerderbeiden wollte dem anderen den Sieg überlassen. Schließlich zuckte Bekter die Achseln, als sei es nicht wichtig, zügelte seine Stute und wendete in weitem Bogen. Temudschin folgte ihm, und jetzt galoppierten sie hinterdenanderenher. Die AnführerwarenzudenGeführtengeworden.Nun bildete Katschiun die Spitze, obwohl Temudschin bezweifelte, dass sein BruderauchnureinenGedankendaranverschwendete.MitseinenachtJahrenstand er Temuge dem Alter nach am nächsten und hatte viele lange Abende damit verbracht, ihn die Namen von Dingen zu lehren, wobei er eine ungewohnte Geduld und Fürsorglichkeit entwickelt hatte. Vielleicht konnte Temuge deshalb besser sprechen als viele Jungen seines Alters, obwohl er den komplizierten Knoten, die ihm Katschiun mit flinken Fingern zeigte, hilflos gegenüberstand.DerjüngsteSohnYesügaiswarungeschickt,undwennman jemanden hätte raten lassen, wer vom Pferd gefallen sei, so hätte derjenige, ohne zu zögern, auf Temuge getippt.

TemudschinsprangausdemSattel,alserdieanderenerreichte.Katschiun hockte mit Khasar am Boden und richtete Temuge zum Sitzen auf.

DasGesichtdesKleinenwarsehrblassundverkratzt.Katschiuntätschelte seine Wangen und erschrak, als Temuges Kopf zur Seite fiel.

»Wachauf, kleiner Mann«, sagteKatschiunzu seinemBruder, dochdieser antwortete nicht. Temudschins Schatten fiel auf sie, und Katschiun wandte sich sofort an ihn.

»Ich habe den Sturz nicht gesehen«, berichtete er, als würde es einen Unterschied machen.

Temudschin nickte und tastete Temuge geschickt nach Knochenbrüchen oder Verletzungen ab. Unter dem schwarzen Haar verborgen fand sich eine Beule seitlich am Kopf. Temudschin drückte darauf.

»Eristohnmächtig,abereinenBruchkannichnichtentdecken.Gebtmirein wenig Wasser für ihn.«

Er streckte die Hand aus, und Khasar nahm eine Lederflasche aus der SatteltascheundzogdenVerschlussmitdemMundheraus.Temudschinließ die warme Flüssigkeit in Temuges offenen Mund tröpfeln.

»Erstick ihn nicht«, warnte Bekter, der noch immer auf seinem Pferd thronte, so als würde er die anderen beaufsichtigen.

TemudschinwürdigteihnkeinerAntwort.VollerSchreckendachteerdaran, was ihre Mutter Hoelun sagen würde, wenn Temuge starb. Eine solche Nachrichtdurftensieihrnichtbringen,währendsieeinweiteresKindimBauch trug.SiewarschongeschwächtvonderÜbelkeit,undTemudschinfürchtete, Schock und Gram könnten sie töten. Und doch, wie sollten sie den Unfall vor ihrverbergen?SieliebteTemugeabgöttisch,undderJungewarauchdeshalb so pummelig, weil sie ihn unablässig mit süßem Joghurt fütterte.

Ohne Vorwarnung hustete Temuge plötzlich und spuckte Wasser. Bekter schnalztegereiztmitderZunge,erhattedieseKinderspielesatt.Dieanderen strahlten sich an.

»IchhabevondemAdlergeträumt«,sagteTemuge.

Temudschin nickte ihm zu. »Das ist ein guter Traum«, sagte er, »aber du musst reiten lernen, kleiner Mann. Unser Vater müsste sich vor seinen Gefolgsleuten schämen, wenn er von deinem Sturz hörte.« Dann schoss ihm einandererGedankedurchdenKopf,underlegtedieStirninFalten.»Wenn er davon hört, verbietet er uns vielleicht, am Rennen während der Versammlung teilzunehmen.«

BeidiesenWortenvergingselbstKhasardasLächeln,undKatschiunspitzte in stiller Sorge die Lippen. Temuge schmatzte, er wollte mehr Wasser, und Temudschin reichte ihm die Flasche.

»Wenn dich irgendwer wegen der Beule fragt, sagst du, wir hätten gespielt undduhättestdirdenKopfgestoßen–verstanden,Temuge?Dasbleibtunser Geheimnis. Die Söhne von Yesügai fallen nicht vom Pferd.«

Temuge bemerkte, dass alle auf seine Antwort warteten, sogar Bekter, der ihmAngsteinjagte.Alsonickteereifrigundzuckteheftig,weilseinKopfdabei schmerzte.

»IchhabemirdenKopfgestoßen«,sagteerbenommen.»Undichhabeden Adler vom roten Berg gesehen.«

»Auf dem roten Berg gibt es keine Adler«, entgegnete Khasar. »Ich habe dort vor zehn Tagen Murmeltiere gejagt. Dabei wären sie mir aufgefallen.«

Temuge zuckte mit den Schultern, was an sich schon ungewöhnlich war. Der kleineJungewareinschrecklicherLügnerundschriesofort,wennmanan ihm zweifelte, als würde man ihm eher glauben, wenn er laut wurde. Bekter wollte sein Pferd schon wenden, blickte den kleinen Jungen dann jedoch nachdenklich an.

»WannhastdudenAdlergesehen?«,fragte er.

Temuge zuckte erneut mit den Schultern. »Gestern, da hat er seine Kreise über dem roten Berg gezogen. In meinem Traum war er größer als ein gewöhnlicher Adler. Er hatte Krallen so groß wie ...«

»Du hast einen richtigen Adler gesehen?«, unterbrach ihn Temudschin. Er packte seinen Bruder am Arm. »Einen richtigen, so früh im Jahr? Du hast einengesehen?« Erwolltesichergehen,dassTemugenichtwiedereineseiner dummen Geschichten erzählte. Alle erinnerten sich noch daran, wie er eines Abends insGer gekommen war und tatsächlich behauptet hatte, er sei von Murmeltieren gejagt worden, die auf den Hinterbeinen liefen und mit ihm sprachen.

Seiner Miene zufolge erinnerte sich Bekter ebenfalls daran. »Er ist von dem Sturz noch ganz durcheinander.«

Bekter hatte, wie Temudschin nicht entging, die Zügel fester gepackt. So langsam, als würde er sich an einen Hirsch anschleichen, erhob sich Temudschin und riskierte einen Blick zu seinem Pferd, das eifrig Gras fraß. Der Falke ihres Vaters war gestorben, und noch immer betrauerte Yesügai den Verlust des edlen Vogels. Natürlich träumte ihr Vater davon, mit einem Adler zu jagen, doch die wurden selten gesichtet. Ihre Horste bauten sie an steilen Felswänden, hoch genug, um selbst den entschlossensten Kletterer vertreiben zu können. Temudschin sah, dass Katschiun sein Pferd erreicht hatte und zum Aufbruch bereit war. In einem Horst konnte ein Adlerküken warten–fürihrenVater.VielleichtwollteBektereinenfürsichselbst,aberdie anderen wussten, Yesügai würde dem Jungen, der ihm den Khan der Vögel brachte, gar nicht genug danken können. Der Adler herrschte in den Lüften wie die Stämme auf dem Land, und die Vögel lebten fast so lange wie ein Mensch. Nach einem solchen Geschenk dürften sie in diesem Jahr bestimmt an dem Rennen teilnehmen.

Temuge war aufgestanden, tastete seinen Kopf ab und erschrak, als er einen Blutfleck an den Fingern sah. Er wirkte benommen, und dennoch glaubten sie ihm, was er erzählt hatte. War das Rennen zuvor unbeschwert gewesen, ging es nun beim nächsten um etwas Ernstes.

Temudschin bewegte sich als Erster, so schnell wie ein Hund, der zuschnappt. Er sprang auf den Rücken von Weißfuß, rief »Tschuh!«, als er landete, und brachte das übellaunige Tier zum Laufen. Katschiun warf sich auf sein Pferd mit jener Geschicklichkeit und Ruhe, die all seine Bewegungen kennzeichneten. Khasar war nur ein wenig langsamer und er lachte laut vor Aufregung.

Bekter preschte bereits los, trat seiner Stute so in die Flanken, dass die MuskelndesTiereshervortraten.NachwenigenHerzschlägenstandTemuge allein auf der Ebene und starrte verwirrt der Staubwolke hinterher. Er schüttelte den Kopf, um ihn klar zu bekommen, und nahm sich einen AugenblickZeit,umseinFrühstückinsGraszuspeien.Danachfühlteersich erleichtert, stieg in den Sattel und zog den Kopf seines Pferdes vom Fressen hoch. Mit einem letzten Maul voller Gras schnaubte das Tier, und dann folgte Temuge mit großen Sätzen seinen Brüdern.

Kapitel 2

Die Sonne stand hoch am Himmel, als die Jungen den roten Berg erreichten. Waren sie zunächst in wildem Galopp geritten, so fielen sie schließlich in einen meilenfressenden Trab, den die Tiere stundenlang durchhalten konnten. Bekter und Temudschin bildeten für einen Moment einträchtig die Spitze, ihnen folgten Khasar und Katschiun. Alle waren müde, als sie den großen Felsen sichteten, einen riesigen Gesteinsbrocken, der Hunderte von Fuß in die Höhe ragte. Umgeben war er von einem Dutzend kleinerer Brocken, wie eine Wölfin mit ihren Welpen. Die Jungen hatten hier im vergangenen Sommer viel Zeit mit Klettern verbracht, und in der Umgebung kannten sie sich gut aus.

Bekter und Temudschin suchten unablässig den Horizont ab und hielten nach Reitern Ausschau. Die Wölfe beanspruchten so weit entfernt von ihren Gers keine Jagdrechte. Wie das meiste in der Steppe, so gehörte auch das WasserindenBächen,dieMilch,dieFelleunddasFleischsowieallesandere demjenigen,derdieStärkebesaß,essichzunehmen,odereigentlich,esfür sich zu behalten. Für Khasar und Katschiun ging es bei dem Ritt nur um die Aufregung,einAdlerkükenzujagen,dochdiebeidenälterenBrüderwarenim Fall der Fälle bereit, sich zu verteidigen oder die Flucht zu ergreifen. Beide trugenMesser,undBekterhattedazueinenkleinenBogenundeinenKöcher mit Pfeilen um die Schulter geschlungen. Gegen Jungen eines anderen Stammes konnten sie sich gut behaupten, dachte Temudschin. Gegen erwachsene Krieger würden sie aber in ernsthafte Gefahr geraten, und dann half ihnen auch der Name ihres Vaters nichts.

Abermals war Temuge weit hinter den vieren zurückgeblieben, wo er beharrlich vor sich hin ritt, trotz Schweiß und summender Fliegen, die ihn ausgesprochen köstlich zu finden schienen. In seinen kläglichen Augen wirktendieBrüder,dieordentlichePaaregebildethatten,wieeineandereArt, wie ein Falke im Vergleich zu einer Lerche, wie Wölfe gegenüber Hunden. Gernwäreergewesenwiesie,dochsiewarensogroßundgeschickt.Inihrer Gegenwart benahm er sich noch unbeholfener als sonst schon, und nie brachte er heraus, was er gern wollte, nur manchmal, wenn er an stillen Abenden mit Katschiun allein war.

Temuge trat seinem Pferd heftig in die Flanken, doch das Tier bemerkte wohl seine mangelnde Reitkunst und dachte gar nicht daran zu galoppieren. Es trabte nur weiter. Katschiun hatte gesagt, er sei zu weichherzig, doch Temuge hatte versucht, sein Pferd gnadenlos zu schlagen, wenn er außer Sicht der Brüder war. Das faule Tier reagierte aber gar nicht darauf.

Glücklicherweise kannte er das Ziel der anderen, sonst hätte er sich schon indererstenStundehoffnungslosverirrt.IhreMutterhatteihnenaufgetragen, ihn nie aus den Augen zu lassen. Trotzdem war er jetzt allein, und wenn er sich darüber beschwerte, würde er nur Ohrfeigen ernten. Als der rote Berg in Sichtkam,tatsichTemugeungeheuerleid.SelbstausderFernehörteer,wie Bekter und Temudschin stritten. Er suchte seine Taschen nach süßem getrocknetem Quark ab und fand ein altes Stück, ehe die anderen es sehen konnten. Er stopftesichdiekleineweißeStangeindenMundundverbargden Genuss vor ihren Augen.

Die vier Brüder standen bei ihren Pferden und starrten Temuge, der herantrottete, entgegen.

»Ichkönnteihnschnellertragen«,sagteTemudschin.

Auf der letzten Meile zum roten Berg hatten sie wieder ein Wettrennen veranstaltet und waren im vollen Galopp angekommen, von den Pferden gesprungen und in den Staub gestolpert. Erst da war ihnen eingefallen, dass doch jemand bei den Pferden bleiben musste. Zwar konnte man sie festmachen, indem man ihnen die Zügel um die Beine band, doch in solcher Entfernung vom Stamm konnte man nie wissen, ob Diebe vorbeikamen und die Tiere stahlen. Bekter hatte Katschiun gesagt, er solle unten bleiben, aber der Junge war der beste Kletterer von ihnen allen und er weigerte sich. Nach einigen Minuten Streit hatten sie sich gegenseitig als Wache vorgeschlagen, und Khasar und Katschiun fingen an, sich zu prügeln. Khasar setzte sich seinem kleinen Bruder auf den Kopf, während dieser sich in stummer Wut heftig wehrte. Bekter hatte sie mit einem Fluch auseinandergetrieben, als Katschiun im Gesicht dunkel anzulaufen begann. Zunächst einmal mussten sie auf Temuge warten, und nachdem sie alle die steile Wand des roten Berges einmal angesehen hatten, ließen sie sich ihr Vorhaben erneut durch den Kopf gehen. Vielleicht erregte die Tatsache, dass sie keine Spuren von einemAdlerentdeckthatten,sogarnochmehrBesorgnisalsderschroffeFels. ManhättedochVogelkoterwartendürfenodereinenVogel,derumdasNest kreiste und jagte. Da jeglicher Beweis fehlte, fragten sie sich abermals, ob Temuge gelogen oder sich eine wilde Geschichte ausgedacht hatte.

Temudschinbekam Bauchschmerzen.DasFrühstückhatteerausgelassen, undangesichtsdesschwierigenAufstiegswollteerkeineSchwächeriskieren. Die anderen schauten noch Temuge entgegen, während er eine Handvoll rotenStaubaufhobundmiteinpaarTropfenWasserausderSattelflaschezu einer Paste mischte. Weißfuß bleckte die Zähne und wieherte, leistete aber keinen Widerstand, als ihn Temudschin an einen trockenen Busch band und sein Messer zog.

Einen Moment später war es bereits geschehen; Temudschin hatte eine Ader an der Schulter des Tieres aufgeschnitten und die Lippen über die Wunde gelegt. Heiß und dünn rann ihm das Blut in den Mund, und sofort spürte er Kraft und Wärme in seinen leeren Bauch fließen – wie der beste schwarze Airag. Er füllte sich sechsmal den Mund, ehe er einen blutigen Finger auf die Wunde drückte. Die Paste aus Staub und Wasser half beim Gerinnen, und er wusste, bei seiner Rückkehr würde nur noch ein wenig Schorf zu sehen sein. Er grinste, zeigte seinen Brüdern die roten Zähne und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Jetzt, da sein Bauch voll war, fühlte er sich gestärkt. Er prüfte, ob das Blut tatsächlich gerann, und beobachtete ein kleines Rinnsal, das am Bein entlangfloss. Das Pferd schien nichts zu spüren, sondern fraß weiter frisches Frühlingsgras. Temudschin vertrieb eine Fliege von der Blutspur und klopfte Weißfuß auf den Hals.

Bekter war ebenfalls abgestiegen. Nachdem Temudschin seinen Hunger gestillt hatte, kniete sich der ältere Bruder unter das Pferd und molk sich warme Milch als dünnen Strahl in den Mund, wobei er vor Genuss laut schmatzte. Temudschin beachtete ihn nicht weiter, Khasar und Katschiun schauten jedoch voller Hoffnung zu. Aus Erfahrung wussten sie, dass Bekter ihre Bitte ablehnen würde; nur wenn sie ihren Durst zunächst beherrschten, würde ihr Bruder ihnen vielleicht einen Mund voll warmer Milch zugestehen.

»Möchtestdutrinken,Khasar?«,fragteBekterundhobdabeiganzplötzlich den Kopf.

Das ließ sich Khasar nicht zweimal sagen und er bückte sich wie ein Fohlen, während Bekter die dunkle Zitze hielt, an der die Milch glänzte. Khasar schnappte gierig nach dem Strahl, ein wenig floss über Gesicht und Hände. Er prustete und hustete, und sogar Bekter musste lächeln, ehe er Katschiun heranwinkte.

Dieser blickte Temudschin an und sah, wie starr sein Bruder dastand. Der kleinere Junge kniff die Augen zusammen und schüttelte dann den Kopf. BekterzucktemitdenSchultern,ließdieZitzelos,wobeierTemudschinkurz ansah, ehe er sich aufrichtete und zuschaute, wie der Jüngste von seinem Pferd kletterte.

Temuge stieg mit gewohnter Vorsicht ab. Für einen Jungen in seinem sechsten Sommer war es weit bis zum Boden, obwohl andere Kinder im Stamm bereits furchtlos wie die Älteren aus dem Sattel springen konnten. Temuge brachte das jedoch nicht zustande, und seine Brüder zuckten zusammen,alserbeiderLandungstolperte.BekterschnalztemitderZunge, und Temuge wurde rot.

»Isteshier?«,fragteTemudschin.

Temuge nickte. »Hier habe ich einen Adler kreisen sehen. Der Horst muss irgendwo dort oben sein«, sagte er und blinzelte in die Höhe.

Bekter verzog das Gesicht. »Bestimmt war es ein Falke«, murmelte er und folgte Temuges Blick.

Temugeerrötetenochmehr.»EswareinAdler!Dunkelbraunundgrößerals jeder Falke, der je gelebt hat.«

BekternahmdenAusbruchmiteinemSchulterzuckenzurKenntnisundspie milchigen Speichel aus.

»Vielleicht.Ichwerdeesjasehen,wennichdenHorstfinde.«

Temudschinhättevielleichtetwasdarauferwidert,dochKatschiunhattenun genugvonihremStreit,ginganihnenvorbeiundzogdieSchärpeauf,diesein gefüttertes Deel zusammenhielt. Er ließ das lange Gewand zu Boden rutschen,undnurmitkurzärmeligemHemdundLeinenhosebekleidetsuchte erHaltimFels.DasweicheLederderStiefelfassteaufdemSteinfastsogut wie nackte Füße. Die anderen entledigten sich ebenfalls der Deels, da es ihnen vernünftig erschien, das schwerste Kleidungsstück zurückzulassen.

TemudschinmachtezwanzigSchritteanderFelswandentlang,eheereine weitereStellefand,woerdenAufstiegbeginnenkonnte.Erspuckteindie HändeundsuchteHalt.KhasargrinstevorAufregung,warfTemugeeinen ZügelzuunderschrecktesodenKleinen.AuchBektersuchtesicheineStelle, setzteHändeundFüßeinkleineSpaltenundschobsieleisemurrendhoch. NachwenigenAugenblickenwar Temugewieder allein. Zuerst fühlteer sich elendig, und sein Hals verkrampfte sich schmerzhaft, weil er den kletternden Brüdern in die Höhe hinterherblickte. Als sie nicht größer als Spinnen waren, machtesichseinBauchbemerkbar.MiteinemletztenBlickaufdieBrüderging erzuBektersStuteundstahlsicheinenBauchvollMilch.Eshattedochseine

Vorteile,wennmanimmerderLetztewar,hatteerendlichentdeckt.

NachhundertFußwussteTemudschin,dassihneinSturzausdieserHöhe töten würde. Er lauschte auf das Schnaufen seiner Brüder, doch er hörte und sahnichts.AnFingernundStiefelnhängendlehnteersichmöglichstnach außen und suchte einen Weg nach oben. Die Luft wirkte kälter, der Himmel überihmwarschmerzhaftklar,keineWolkestörtedieIllusion,dasserineine blaue Schüssel kletterte. Kleine Eidechsen huschten vor seinen tastenden Fingern davon, und beinahe hätte er den Halt verloren, als er versehentlich eine mit der Hand fing und sie sich heftig wehrte. Schließlich beruhigte sich sein Herz aber wieder; Temudschin wischte den zerquetschtenKörpervomFelsen,aufdemdasTierchengeradenochdie Sonne genossen hatte, und schaute ihm nach, wie es fiel und sich dabei im Wind drehte.

Tief unten sah er Temuge, der sich an den Zitzen von Bekters Stute bediente, und er hoffte, der Kleine habe genug Verstand, um noch etwas Milch übrig zu lassen. Bekter würde ihn verprügeln, wenn er das Fehlen der Milch bemerkte, und der kleine Gierschlund hätte es vermutlich auch verdient. Die Sonne brannte ihm in den Nacken, Schweiß rann ihm in die Augen, und Temudschin musste blinzeln. Er schüttelte den Kopf und hing nur an den Händen, während seine Füße den nächsten Ruheplatz suchten. Temuge konnte durch seine Geschichte leicht den Tod eines der Brüder verursachen, allerdings war es jetzt zu spät für Zweifel. Temudschin war sich nicht einmal sicher, ob er an dieser steilen Wand wieder hinunterklettern könnte. In einer solchen Höhe musste er sich zunächst eine Stelle suchen, an der er ausruhen konnte, sonst würde er mit Sicherheit abstürzen.

DasBlutin seinemBauchgluckerte,wennersichbewegte,underinnerteihnan dieKraft,dieesbesaß.ErstießaufundbekameinenbitterenGeschmackim Mund. Temudschin bleckte die Zähne und zog sich höher. Die Angst kroch ihm wie ein Wurm in den Magen, und das ließ ihn wütend werden. Er würde sichnichtfürchten.ErwarderSohnvonYesügai,einWolf.EinesTageswürde erKhansein.Angstwürdeernichthaben,undabstürzenwürdeerauchnicht. DieseWortemurmelteervorsichhin,wiederundwieder,währenderkletterte, und er hielt sich dicht am Fels, als der Wind noch zunahm und an ihm zerrte. Nützlichwarzudem,sichauszumalen,wieverärgertBekterseinwürde,wenn Temudschin als Erster oben ankam.

BeimnächstenWindstoßsankihmdasHerzwiederindieHose,weilerdas Gefühl hatte, er würde von der Wand gerissen und nach unten geworfen. Seine Finger zitterten inzwischen, sie zeigten erste Anzeichen vonErschöpfung. Er zog aber Kraft aus seiner Wut und stieg weiter.

Es war schwierig einzuschätzen, wie weit er bereits gekommen war, doch TemugeunddiePferdewarenlängstzukleinenPunktengeworden,undseine ArmeundBeineschmerztenvorAnstrengung.ErerreichteeineKante,hinter dererSchutzvordemWindfandundsichausruhenkonnte.Zunächstsaher keine Möglichkeit, von hier aus weiterzuklettern, und er verrenkte sich den Hals, da er um den Felsvorsprung spähen wollte. Würde er hier festsitzen, währenddieandereneinenleichterenWegnachobenfanden?NurKatschiun konntebesserklettern,undTemudschinwusste,ersollteseinenbrennenden Muskeln eine kleine Pause gönnen. Er zog die warme Luft tief in die Lungen undgenossdenmeilenweitenAusblick. Es schienihm,alskönneerbiszuden Gers ihres Stammes sehen, und er fragte sich, ob Hoelun die Geburt bereits hinter sich hatte. Waren seit ihrer Ankunft am roten Berg nicht schon viele Stunden vergangen?

»Sitztdufest?«,hörteervonoben.

Temudschin fluchte, als er Katschiuns Gesicht über dem Sims oben entdeckte. Der Junge sah ihn an, ein Lächeln warf Falten um die Augen. Temudschin schob sich an der Kante entlang, bis er sich richtig festhalten konnte. Er hoffte, auf diesem Weg zu einem weiteren Vorsprung zu gelangen. Da Katschiun zuschaute, beherrschte er seine Atmung und setzte daskalteGesichtdesKriegersauf.Ermusstespringen,umdennächstenHalt zu erreichen, und einen Augenblick lang lähmte ihn die Angst. Auf dem Boden wäre es ein winziger Sprung gewesen, aber auf dem Boden wäreerauchnichttiefgefallen.WährendderWindjedochumdieFelsenpfiff, wagte Temudschin nicht, an die Leere hinter sich zu denken.

MitbloßerKraftschobersichweiternachoben.Regloszuverharrenwürde am Ende unweigerlich zum Absturz führen, und Temudschin stieß einen Schrei aus, als er es bis dorthin schaffte, wo Katschiun kniete und ihn beobachtete.

»Ha! Ein Khan der Berge sitzt niemals fest«, triumphierte er. Sein Bruder nahm es schweigend zur Kenntnis.

»Gleich über uns teilt sich der Fels«, erklärte Katschiun. »Bekter hat einen Weg über den südlichen Sattel zum Gipfel gewählt.« Temudschin beeindruckte die Ruhe seines Bruders. Er schaute zu, wie Katschiun zum RanddesrotenFelsensging,andemervollerSchreckenhinaufgeklettertwar, und sich so nah an den Abgrund wagte, dass der Wind an seinem geflochtenen Haar zerrte.

»Bekter weiß nicht, wo die Adler sind, wenn es sie denn überhaupt gibt«, erklärte ihm Temudschin.

Katschiun zuckte abermals mit den Schultern. »Er hat sich den leichteren Wegausgesucht.Ichglaube,einAdlerwirdseinenHorstnichtdortbauen,wo man ihn leicht erreichen kann.«

»AlsogibteseinenzweitenWeg?«,fragteTemudschin.Währendersprach, stieg er einen kurzen Hang hinauf, von dem er einen besseren Blick auf die Gipfel des roten Berges hatte. Es gab zwei, wie Katschiun gesagt hatte, und TemudschinentdeckteBekterundKhasaraufdemsüdlichen.Selbstüberdie Entfernung hinweg konnte er die kräftige Gestalt des ältesten Bruders erkennen, der sich langsam, aber zielstrebig voranbewegte. Der nördliche Gipfel dagegen, der über Temudschin und Katschiun aufragte, war eineFelsspitze, dienochschwieriger zubesteigenaussahalsdieWand, an der sie gerade hochgeklettert waren.

Temudschin ballte die Hände zu Fäusten. Seine Arme und Beine fühlten sich schwer an.

»Bist du soweit?«, fragte ihn Katschiun und deutete zur Nordwand. Temudschin streckte die Hand aus und packte seinen ernsten kleinen Bruder im Nacken. Er bemerkte, dass Katschiun an der rechten Hand einen Fingernagel verloren hatte. Verkrustetes Blut zog sich über den Unterarm bis zu den sehnigen Oberarmmuskeln, doch der Junge ließ sich den Schmerz nicht anmerken.

»Ich bin es«, meinte Temudschin. »Warum hast du auf mich gewartet?« Katschiun schnaubte leise und suchte Halt am Fels.

»Wenn du abstürzt, wird Bekter der nächste Khan.«

»Vielleicht ein guter«, erwiderte Temudschin knurrend. Das glaubte er zwar nicht, allerdings hatte er auch nicht vergessen, wie Bekter mit den Gefolgsleuten seines Vaters gerungen hatte. In der Welt der Erwachsenen gab es Dinge, die er bislang nicht verstanden hatte, und Bekter benahm sich zumindest wie ein Krieger.

Katschiun prustete. »Er reitet wie ein Stein, Temudschin. Wer soll einem Mann folgen, der so schlecht im Sattel sitzt?«

Temudschinlächelte,währendermitKatschiundenAufstiegbegann.

Zu zweit war es ein wenig leichter. Mehr als einmal musste Temudschin seineganzeKrafteinsetzen,umKatschiunsFußzuhalten,obwohlderJunge wie eine Spinne über den Fels huschte. Er kletterte ebenso gut, wie er ritt, aber er zeigte doch erste Anzeichen von Erschöpfung, und nach den ersten hundert Fuß fiel Temudschin auf, dass er blass geworden war. Beide Jungen schnauften, ihre Arme und Beine waren schwer geworden.

Die Sonne hatte den höchsten Punkt am Himmel durchschritten und setzte ihrenWegnachWestenfort.TemudschinbeobachteteihreBewegung,wann immerersicheinenAugenblickausruhenkonnte.AnderFelswanddurftensie sich nicht von der Dunkelheit überraschen lassen, dann würden beide abstürzen.GrößereSorgebereiteteihmjedochdieriesigeWolkenbankinder Ferne. Ein Frühlingssturm würde sie alle vom roten Berg fegen, und er hatte Angst um seine Brüder. Dann rutschte Katschiun aus und hätte sie beinahe beide in den Tod gerissen.

»Ichhabedich.SuchdirHalt«,grunzteTemudschin,dessenAtemjetztwie Feuerbrannte.Erkonntesichnichterinnern,jesoerschöpftgewesenzusein, undderGipfellagnochimmerinunendlicherFerne.Katschiungelanges,sein Gewicht von Temudschins Arm zu verlagern, und er schaute sich kurz die blutenden Kratzer an, die sein Stiefel auf Temudschins nacktem Arm hinterlassen hatte. Er folgte dem Blick seines Bruders hinaus auf die Steppe und erstarrte, als er die Wolken bemerkte. Der Wind, der in Böen um die Felsen wehte, war schwer einzuschätzen, doch beide Jungen hatten das Gefühl, er komme aus der Richtung der Wolken.

»Los, weiter. Wenn es zu regnen beginnt, ist es aus mit uns«, knurrte ihn Temudschin an und schob den Bruder nach oben. Katschiun nickte, schloss füreinenMomentdieAugenundwirktebenommen.Zuleichtvergaßman,wie jungerwar.TemudschinwarstolzaufdenKleinenund er schworsich,ihnnicht abstürzen zu lassen.

Der Südgipfel war zwar zu sehen, doch Bekter und Khasar waren außer Sicht. Temudschin fragte sich, ob sie wohl schon oben angekommen waren oder sogar bereits mit einem Adlerküken unter dem Hemd wieder abstiegen. Bekter würde gar nicht zu ertragen sein, wenn er einen dieser großen Vögel zu den Zelten seines Vaters brächte, und der Gedanke daran verlieh Temudschins müden Muskeln ein wenig zusätzliche Kraft.

Im ersten Augenblick wusste keiner der beiden Jungen, was die zwitscherndenLautezubedeutenhatten. DieSchreiejunger Adler hattensie nie zuvor gehört, und der unaufhörliche Wind verursachte auch ganz eigene Geräusche, wenn er über den Fels strich. Die Wolken bedeckten inzwischen einen großen Teil des Himmels, und Temudschin machte sich mehr Gedanken darüber, einen geschützten Platz zu finden. Die Aussicht, über regennassen Stein absteigen zu müssen, ließ seinen Mut sinken. Sogar Katschiun würde das nicht schaffen, da war er sich sicher. Wenigstens einer von ihnen würde dann abstürzen.

Die bedrohlichen dunklen Wolken rückten jedoch in den Hintergrund, als sich die beiden Jungen über eine Kante zogen und in einer Spalte landeten, die mit Zweigen und Federn gefüllt war. Temudschin stieg der Gestank von faulendem Fleisch in die Nase, ehe er die Augen auf die Höhe des Horstes gebracht hatte. Endlich begriff er, dass die pfeifenden Laute von einem Paar junger Adler stammten, die die beiden Kletterer voller Interesse beobachteten.

Die Elternvögel mussten sich früh im Jahr gepaart haben, denn die Küken waren weder winzig noch hilflos. Beide trugen flaumiges Gefieder, und darin zeigte sich schon das erste Goldbraun, mit dessen Hilfe sie einst über den Bergen schweben und nach Beute suchen würden. Die Stummelflügel waren hässlich, und trotzdem dachten die Jungen, sie hätten nie zuvor etwas so Schönes gesehen. Die Krallen erschienen für die jungen Vögel zu groß: lange gelbe Zehen, die in dunklen Spitzen endeten. Offensichtlich konnten die Küken bereits Fleisch zerreißen.

Katschiun hatte entzückt an der Kante innegehalten und hing nun an den Fingern. Einer der Vögel betrachtete sein Verharren als eine Art Herausforderung, er zischte ihn an und breitete die Flügel aus, um seinen Mut zu zeigen, woraufhin Katschiun vor Freude strahlte.

»Essind...kleineKhane«,sagteermitleuchtendenAugen.

Temudschin nickte nur, weil er kein Wort herausbrachte. Ihn beschäftigte die Frage, wie sie die beiden Vögel lebend nach unten bringen könnten, währendderSturmimAnzugwar.PlötzlichdachteervollerSorgedaran,dass dieAdlerelternwegenderbedrohlichenWolkenvielleichtnachHausekämen. In dieser gefährlichen Höhe würden zwei Jungen, die Küken nach unten tragen wollten, den Angriff eines Adlers wohl kaum überstehen.

Ersahzu,wiesichKatschiunhochzog,andenRanddesNesteshockteund sich des riskanten Standortes gar nicht bewusst zu sein schien. Sein Bruder streckte die Hand aus, aber Temudschin rief ihm eine Warnung zu. »Die Wolken sind zu nah, um jetzt wieder hinunterzuklettern«, sagte er. »Lass sie im Nest, und wir holen sie uns morgen früh.«

In diesem Augenblick grollte ein Donner über die Ebene heran, und die JungenblickteninRichtungseinerQuelle.ÜberihnenschiennochdieSonne, doch in der Ferne sahen sie Regen, der wie ein Vorhang niederging, und der SchattenderWolkenrasteaufdenrotenBergzu.IndieserHöhewardas