Du bist das Licht in meiner Welt - Emily Stopp - E-Book

Du bist das Licht in meiner Welt E-Book

Emily Stopp

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Beschreibung

Enna freut sich auf ihr neues Leben als Studentin und genießt es, durch die verwinkelten Gässchen in ihrer neuen Heimat, dem idyllischen Starfall, zu spazieren. Als ihr jedoch plötzlich Finn gegenübersteht, weiß Enna nicht, wie ihr geschieht: Enna und Finn waren in ihrer Schulzeit ein unzertrennliches Gespann. Er war der Junge, der immer für sie da war, und sie für ihn das Mädchen, das seine Welt zum Strahlen brachte. Doch nach einem tragischen Unfall, bei dem Enna ihre Mutter verlor, wurden die beiden auseinandergerissen. Nach fünf Jahren Funkstille treffen sie nun wieder aufeinander und sind überwältigt von den Gefühlen, die auf sie einströmen. Trotz der Freude über das Wiedersehen bleibt die Frage, wieso Finn damals, als sie ihn am meisten gebraucht hätte, aus ihrem Leben verschwunden ist. Gibt es etwas, was Enna nicht weiß?

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EMILY STOPP

DU BIST DASLichtIN MEINER WELT

EMILY STOPP

DU BIST DASLichtIN MEINER WELT

Starfallll Love 1

LAGO

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

1. Auflage 2022

© 2022 by LAGO Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Die gewählte männliche Form bezieht sich immer zugleich auf weibliche, männliche und diverse Personen. Auf konsequente Mehrfachbezeichnung wurde aufgrund besserer Lesbarkeit verzichtet

Redaktion: Christiane Geldmacher

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch

Umschlagabbildung: Shutterstock.com/lavendertime

Satz: Helmut Schaffer, Hofheim a. Ts.

Druck: CPI

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-95761-211-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-304-1

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-305-8

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

»We would be together and have our books and at night be warm in bed together with the windows open and the stars bright.«

Ernest Hemingway

Playlist

»When We Were Kids« – Walking on Cars

»Someone« – Kelly Clarkson

»Quite Miss Home« – James Arthur

»Right Her« – Ashes Remain

»You Belong With Me« – Taylor Swift

»Better Days« – Good Weather Forecast

»Stargazing« – Kygo, Justin Jesso

»Let Your Tears Fall« – Kelly Clarkson

»Life Without You« – Stanfour, Esmée Denters

»Paper Rings« – Taylor Swift

»Run To You« – Lea Michele

»Heartbeat« – Christopher

»Right Now« – Nick Jonas, Robin Schulz

»Castaway« – 5 Seconds of Summer

»Best of Me« – Blake Rose

»New Rules« – Dua Lipa

»Sick Boy« – The Chainsmokers

»No Turning Back« – For King & Country

»Push My Luck« – The Chainsmokers

»Wonderwall« – Oasis

»Real Life« – Christopher

»The Man« – Taylor Swift

»Only You« – Hurts

»Wings« – Birdy

Für meine beste Freundin, die Lorelai zu meiner Rory, für die beste Mama auf der Welt.

INHALT

Prolog

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

Danksagung

Starfall Pies

Prolog

Enna

Kleine Mädchen träumen.

Sie träumen von Königinnen und Zauberfeen, von Magie, großen Schlössern und Palästen. In ihrer Vorstellung rettet der Prinz seine Prinzessin vor den Monstern, die sie verfolgen, während sie ihn zugleich von seinen eigenen Dämonen befreit. Die Mädchen wünschen sich, dass all die Märchen wahr werden, die ihnen jeden Abend vorgelesen werden. Vielleicht träumen sie auch davon, auf einem riesigen Drachen zu reiten, mit Schwertern zu kämpfen und als starke Heldinnen aus diesen Kämpfen hervorzugehen.

Vor langer Zeit war auch ich eines dieser Mädchen, jedoch musste ich nicht nur von meinem Prinzen träumen — ich hatte ihn immer bei mir, wir gingen Hand in Hand durchs Leben.

Es mag sich kitschig anhören, aber: Mein bester Freund Finn war mein Retter, mein Beschützer. Ich war sein Anker, seine Vertraute. In unserer Welt bekämpfte er die Monster, die mich nachts verfolgten, und ich stand dabei an seiner Seite, was auch geschehen mochte. Er war es, der mir jeden Abend eine Geschichte vorlas. Die bösen Monster, die um uns herum ihr Unwesen trieben, konnten mir dann nichts mehr anhaben. Die Dunkelheit, die uns umgab und die mich in Angst und Schrecken versetzte, wurde verdrängt von seiner warmen und beruhigenden Stimme, durch die ich mich in eine andere Welt träumte. In eine Welt, in der die Angst keinen Platz fand.

Jeden Abend war es eine andere Geschichte, in die er mich entführte. Finn erzählte mir von Alice, die einem Kaninchen in seinen Bau folgte und gleich darauf in eine magische Welt fiel. An einem anderen Tag las er vom Wunderkind Matilda, das sich mit drei Jahren das Lesen selbst beibrachte, oder von der Holzpuppe Pinocchio, die sprechen konnte.

Meine liebste Erzählung war die eines Kindermädchens, das mit einem Schirm geflogen kam und die Kinder in magische Abenteuer begleitete. Diese Geschichte lasen wir am häufigsten und obwohl ich sie irgendwann auswendig konnte, zauberte sie mir immer wieder ein Lächeln ins Gesicht — das tut sie noch heute.

Während Finn mir vorlas, kuschelte ich mich eng an ihn. Manchmal schlief ich währenddessen ein, doch meistens waren die Geschichten so spannend, dass ich ihm stundenlang zuhörte.

Finn und ich waren unzertrennlich. Er wusste genau, wann ich seine Nähe brauchte, er war es, der mich jeden Tag zum Lachen brachte. Dieser kleine Junge war mein Fels, mein bester Freund, der große Bruder, den ich nie hatte und mir doch immer so sehr gewünscht habe, mein liebster Mensch auf Erden. Mit ihm war alles leichter, bei Finn konnte ich einfach ich selbst sein. Jeder Tag mit ihm war ein Geschenk. Er war mein Licht in der Dunkelheit. Ich war mir sicher, dass er für immer bei mir bleiben würde, um meine Welt zum Leuchten zu bringen.

Bis dieser eine Tag im November meine Welt in Stücke zerriss, indem er mir die Menschen nahm, die ich am meisten liebte. Die wenigen Sekunden, in denen sich alles drehte, fühlten sich für mich wie Stunden an. Was blieb, waren nur Bruchstücke meiner Erinnerungen: ein lauter Knall, das Geräusch von splitterndem Glas und ein Schrei, von dem ich nicht mehr weiß, ob es mein eigener war. Schließlich das Aufheulen von Sirenen und ein unendlicher Schmerz in meinem Körper und in meinem Herzen. In der Zeit danach hätte ich meinen besten Freund, den Jungen mit den vielen Locken, am meisten gebraucht.

Doch er war nicht mehr da.

Mit einem Schlag hatte ich zwei der Menschen verloren, die mir die Welt bedeuteten. Einer war für immer gegangen, der andere nur aus meinem Leben verschwunden, und dennoch schmerzten beide Verluste in gleichem Maße. Nach und nach rappelte ich mich auf und versuchte, wieder das Mädchen zu werden, das ich einmal gewesen war. Ein Mädchen, das Träume hat, sich sicher und geborgen fühlt.

In gewisser Weise gelang es mir, mich selbst nicht komplett zu verlieren, irgendwie weiterzumachen. Und doch setzte sich meine Welt im Inneren nicht wieder vollständig zusammen. Die Jahre zogen an mir vorbei wie die Seiten eines Buches, die vom Wind immer weitergeblättert werden, unaufhaltsam. Ich wurde vom Kind zur erwachsenen Frau und die Ängste, die mich schon als kleines Mädchen verfolgten, blieben in mir.

Das Licht war verschwunden. Die Dunkelheit aber war geblieben. Auch wenn sie nicht immer mein Lachen überschattete, spürte ich sie doch stets in meinem Inneren. Wie eine dunkle Wolke, die die Sonne verdeckt, sie aber doch nie ganz verschwinden lässt.

Ich versuchte, mich daran festzuhalten, dass all die Geschichten, die Finn mir früher vorgelesen hatte, immer ein gutes Ende genommen hatten, und hoffte, dass auch meine eigene Geschichte glücklich enden würde.

Und das Hoffen lohnte sich, es wird sich immer lohnen.

Denn eines Tages fand ich mein Licht wieder.

KAPITEL 1

Willkommen zu Hause

Enna

Mit letzter Kraft hebe ich den letzten Umzugskarton aus Dads Transporter und stelle ihn auf dem Bürgersteig neben mir ab. Bereits seit einer halben Ewigkeit sind wir damit beschäftigt, all meine Bücher, Kleidung und Dekoration, die ich zu Hause liebevoll in Kisten gepackt habe, aus dem Auto in meine Wohnung zu transportieren. Meine liebsten Romane, Kleider und Pullover, die wenigen Grünpflanzen, die ich mein Eigen nenne, meine Kerzen und Bilderrahmen.

All diese Dinge bringen wir heute in meine Wohnung.

Meine Wohnung. Wie seltsam sich das anhört.

Die kleineren Kartons hat Dad bereits nach oben getragen, nun stapeln sich nur noch vier Kisten vor mir. Noch immer kann ich es kaum fassen, dass ich in wenigen Tagen Studentin der Starfall University sein werde. Endlich erfülle ich mir meinen Traum, Literatur zu studieren, und das in einer der für mich schönsten Städte — in Starfall. Bald kann ich mich in Büchern vergraben und dafür auch noch mit Punkten belohnt werden. Was kann es Schöneres geben?

Ich drücke die Klappe des Kofferraums nach unten und sie schließt sich mit einem lauten Knall. Erleichtert atme ich aus und drehe mich wieder in Richtung meiner Kartons. Ich puste mir eine meiner verschwitzten braunen Haarsträhnen aus dem Gesicht, um die schwarze Schrift auf den Deckeln der Kisten lesen zu können. Neben drei Bücherkartons steht noch einer vor mir, den ich dick und schwarz mit Kissen beschriftet habe. Gerade als ich ihn hochheben will, höre ich die Stimme meines Dads über mir gespielt entrüstet rufen: »Enna, du sollst die Kisten doch nicht heben! Die sind viel zu schwer für so kleine Mädchen wie dich!«

Ich werfe einen Blick nach oben zum offenen Fenster, in dem er lehnt, und kann deutlich sehen, wie sich ein freches Grinsen auf seinem Gesicht abzeichnet.

Ich tue ebenfalls so, als wäre ich entrüstet, stelle den Karton wieder vor mir ab und stemme die Hände in meine Hüften. »Hast du mich etwa gerade klein genannt?«, frage ich ihn entsetzt, meine linke Augenbraue nach oben gezogen.

Als er zu lachen beginnt, stelle ich mich auf meine Zehenspitzen, in der Hoffnung, einige Zentimeter an Körpergröße zu gewinnen. Mit meinen ein Meter sechzig bin ich wirklich nicht gerade ein Riese, doch als klein lasse ich mich deshalb noch lange nicht bezeichnen.

Mein verzweifelter Versuch, zumindest etwas größer auszusehen, scheint ihn noch mehr zu amüsieren. Sein Lachen wird lauter, woraufhin ich nicht mehr ernst bleiben kann und mit einstimme.

Mit Dad zu lachen, gehört für mich zu den schönsten Dingen auf dieser Welt.

»Du weißt doch, wie sportlich ich bin«, bringe ich schließlich eine Lüge über meine Lippen, die uns beiden bewusst ist. Ich war schon immer diejenige, die sich im Schulsport verzweifelt an die Kletterstange klammerte. Während alle anderen an der Stange nach oben kletterten, als wäre es das Leichteste der Welt, hatte ich schon damit zu kämpfen, mich wenige Sekunden lang nur daran festzuhalten. Von meiner kläglichen Anzahl an Klimmzügen und meinen ewigen Versuchen, zumindest einen Liegestütz hinzubekommen, möchte ich gar nicht erst anfangen. Ich mag meine schlanke Figur, doch zu mehr Kraft oder Sportlichkeit hat sie mir leider nie verholfen — sehr zum Leidwesen aller meiner bisherigen Sportlehrer. Doch irgendwann habe ich gelernt, zu akzeptieren, dass meine Talente einfach woanders liegen und dass das absolut in Ordnung ist.

Noch immer sieht Dad grinsend zu mir herunter. Gerade als ich wieder etwas entgegnen will, verschwindet sein Kopf aus dem Fenster. Wenige Sekunden vergehen, dann taucht er unten an der Eingangstür des Hauses auf und kommt zu mir herübergeschlendert. Er betrachtet den Karton, der noch immer direkt vor meinen Füßen auf dem Boden steht.

»Kissen«, liest er vor. »Den darfst du tragen, der dürfte leicht genug sein.«

Ich rolle mit den Augen und schlage ihm spielerisch auf den Arm. Ich hebe den großen Karton hoch und laufe zum Haus, wobei ich ihn auf meinen Unterarmen balanciere und hoffe, dass wir heil in meiner Wohnung ankommen — der Karton und ich.

Obwohl Dad und ich vor einigen Wochen für die Wohnungsbesichtigung schon einmal hier waren, bleibe ich noch einmal kurz stehen und betrachte mein neues Zuhause, als würde ich es zum ersten Mal sehen. Es befindet sich in einer kleinen Seitenstraße am Rand von Starfall, ist umzäunt von einem weißen Gartenzaun und umgeben von großen Bäumen, deren Blätter in den schönsten Herbstfarben leuchten. Das Haus selbst ist wahnsinnig schön. Die Wände sind in einem warmen Cremeton gestrichen, dunkelbraune Holzrahmen umranden die Fenster. Schon vor einer langen Zeit habe ich mein Herz an Altbauten verloren. In dieses Haus habe ich mich sofort verliebt. Bereits im ersten Moment wusste ich, dass ich hier leben möchte. Weil ich nicht der Typ für eine WG bin, war für mich von Beginn an klar, dass ich mir eine eigene Bleibe suchen möchte. Dank zahlreicher Ferienjobs konnte ich mir schon einige Mieten ansparen, zudem habe ich das große Glück, dass meine Eltern bereits nach meiner Geburt ein Sparbuch für mich eingerichtet haben. Dank der Unterstützung der beiden kann ich mir diese kleine Einzimmerwohnung leisten, die perfekt für mich zu sein scheint. Ein Wohnhaus, in der Nähe des Campus und sehr zentral — ideal für mich, die gern ihre Ruhe hat und dennoch lange Wege meidet und alle Geschäfte schnell zu Fuß erreichen können möchte. Ich werde mich bald nach einem Nebenjob umsehen, doch erst einmal möchte ich in Ruhe ankommen.

Neben der Haustür steht in großen schwarzen Ziffern die Hausnummer 2 — meine Glückszahl, seit ich denken kann, und ein weiterer Grund, weshalb ich mich für diese Wohnung entschieden habe.

Trotz meines Wunsches, eine eigene Wohnung zu beziehen, bin ich seit Tagen wahnsinnig aufgeregt und auch ängstlich, wenn ich daran denke, dass ich ab heute allein leben werde. Kurz schließe ich meine Augen, atme einmal tief durch und erinnere mich daran, dass ich mir vorgenommen habe, mutiger zu sein. Ich möchte mich freuen und mich nicht schon wieder meinen Ängsten hingeben. Ich habe mich schließlich ganz bewusst für Starfall entschieden, um mein eigenes Leben zu beginnen. Die Stadt der Sterne scheint mir der perfekte Ort dafür zu sein, die Dunkelheit, die mir solche Angst macht, endlich näher an mich heranzulassen und mich ihr Stück für Stück zu nähern. Vielleicht kann Starfall mir dabei helfen, auch das Schöne an ihr zu erkennen und das Licht wiederzufinden, das mir einst verloren ging.

Die Sterne haben schon seit einer langen Zeit eine besondere Bedeutung für mich — sie bringen Licht in die Dunkelheit und beruhigen mich. Ich wünsche mir von diesem Ort, dass er mir die Kraft gibt, mutiger zu sein.

Mit meinem Knie drücke ich den Karton ein wenig nach oben, sodass er einen besseren Halt in meinen Händen findet, und betrete den Hausflur. Meine Wohnung befindet sich im Dachgeschoss, weshalb ich ganze drei Stockwerke hinaufsteigen muss. Die Treppenstufen knarren bei jedem Schritt unter mir.

Vor meiner Wohnungstür stelle ich die Kiste auf meiner Fußmatte ab. Ich will gerade den Schlüssel umdrehen, den Dad im Schloss hat stecken lassen, als mein Blick auf mein Klingelschild fällt. Enna Wilson steht in meiner Handschrift darauf — mein Name, auf meinem Klingelschild, an meiner ersten eigenen Wohnung. Ein verrücktes Gefühl.

Lächelnd sperre ich die Tür auf, trage den Karton in mein Zimmer und stelle ihn dort vor meinem Kleiderschrank ab. In den letzten Wochen ist Dad mehrmals für mich hergefahren, um mir so viele Autofahrten wie möglich zu ersparen, weil er weiß, wie schwer es mir fällt, entspannt in ein Auto zu steigen. Zu tief sitzen die Geschehnisse der Vergangenheit in meinem Inneren. Auch die heutige Fahrt verlief alles andere als entspannt. Mehrmals mussten wir anhalten, weil ich eine Pause brauchte. Ich bin dennoch stolz, es bis hierher geschafft zu haben.

Nach und nach hat Dad in den vergangenen Wochen meine Möbel aufgebaut, sodass ich mich nun dank seiner Hilfe ganz dem Einräumen und Dekorieren widmen kann — zwei Leidenschaften von mir. Als ich noch ein kleines Mädchen war, habe ich mindestens einmal in der Woche die Möbel meines Kinderzimmers umgestellt. Im Leben bin ich zwar kein Fan von Veränderungen, doch neu dekoriert und umgeräumt habe ich schon immer gern.

Ich laufe zum Fenster und schiebe den weißen Vorhang zur Seite, um dem Licht der Sonne Eintritt in mein neues Zuhause zu gewähren. Meine Hände auf das Fensterbrett gestützt, schaue ich nach draußen und genieße den atemberaubenden Ausblick auf das große Feld und die dahinterliegenden Wälder. Die Natur hatte schon immer eine beruhigende Wirkung auf mich. Die Septemberluft kühlt angenehm meine Wangen, die durch die Anstrengung des Treppensteigens ganz heiß geworden sind. Es ist angenehm, nicht mehr so heiß wie im Sommer, aber auch noch nicht zu kalt, um nicht lüften zu können. Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen und spüre, wie mein Herzschlag sich verlangsamt, während ich tief ein- und ausatme.

»Hallo, Starfall«, murmle ich und erwische mich selbst dabei, wie sich ein zuversichtliches Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitet.

Eine Viertelstunde später haben Dad und ich auch die letzten Kartons in die Wohnung getragen. Während er in der Küche mit der Bedienungsanleitung meiner neuen Kaffeemaschine kämpft, sitze ich im Schlafzimmer auf dem Boden, vor mir meine Kommode und rings um mich herum die Umzugskisten. Meinen Kleiderschrank habe ich bereits eingeräumt. Das ging schnell, da ich nicht so viele Kleidungsstücke besitze und alles so ordentlich verpackt habe, dass ich die gestapelten Haufen nur aus den Kisten nehmen und in den Schrank legen musste.

Ich liebe meine eigenen Systeme, die mein Leben ordnen. Schon immer war ich eine Perfektionistin, was mich häufig selbst an mir stört, doch in diesem Fall hat mir meine kleine Macke, wie ich sie immer liebevoll bezeichne, einiges erleichtert. Ich bin gut darin, Pläne zu erstellen und Dinge zu ordnen, egal, ob sie sich in meinem Kopf oder außerhalb davon befinden.

Gerade widme ich mich der Kiste, die ich mit Nachttisch/Kommode beschriftet habe. Während aus der Küche immer wieder verzweifelte Laute zu mir dringen, mache ich mich daran, auch diesen Karton auszupacken. Dad kann ich ohnehin nicht helfen, denn von Technik habe ich genauso viel Ahnung wie er von Büchern — nämlich gar keine.

Bei der Erinnerung daran, wie er mich angesehen hat, als ich ihm versicherte, dass unbedingt alle meiner über vierhundert Bücher mit nach Starfall reisen müssten, muss ich schmunzeln. Sein Gesichtsausdruck war in etwa vergleichbar mit dem, den er früher immer dann aufgesetzt hat, wenn ich ihm nach weniger als vierundzwanzig Stunden eröffnete, dass ich schon wieder ein neues Buch beendet habe, und ihn darum bat, mit mir zur Buchhandlung zu laufen, um ein neues zu kaufen — pures Entsetzen, gefolgt von einem Lachen darüber, was für ein buchverrücktes Kind er doch hat.

Aus dem Karton vor mir fische ich mein Tagebuch und lege es auf meinen Nachttisch. Daneben stelle ich meine Leselampe, die ich mir vor einigen Jahren in einem hübschen Secondhandshop an der Küste gekauft habe. Als ich nach dem nächsten Gegenstand greife, schließt sich meine Hand um einen Bilderrahmen. Vorsichtig ziehe ich ihn aus dem Karton, umfasse ihn mit beiden Händen und lege ihn behutsam in meinen Schoß. Ich betrachte das Foto, und sofort füllen sich meine Augen mit Tränen.

Das Bild zeigt meine Mum und mich auf der Wiese im Garten unseres Hauses. Ich war neun Jahre alt, als es entstand. Uns umgeben eine Menge Gänseblümchen, ich sitze auf Mums Schoß, sie hat ihre Arme um mich geschlungen und wir lachen beide in die Kamera. Wahrscheinlich hat Dad kurz davor wieder einen Witz gemacht, um uns zum Lachen zu bringen.

Liebevoll streiche ich über das Glas. Die Erinnerung an meine Mum schmerzt so sehr in meinem Herzen, als wäre sie erst gestern von uns gegangen. Man sagt, die Zeit heile alle Wunden, und das mag in gewisser Weise stimmen, doch der Schmerz wird wohl nie ganz vergehen. Er wird immer ein Teil meines Lebens sein, ein Begleiter neben all den schönen Erinnerungen an die Frau, die mir das Leben und so viel Liebe geschenkt hat.

Kurz drücke ich den Bilderrahmen an meine Brust, dann stelle ich ihn vorsichtig auf meinen Nachttisch und suche in meiner Hosentasche nach einem Taschentuch, um mir die Tränen abzuwischen.

»Enna?«, vernehme ich plötzlich die Stimme meines Dads hinter mir. Ich drehe mich zu ihm. An den Türrahmen des Zimmers gelehnt steht er da und betrachtet mich besorgt. »Ist alles okay?«

»Ich denke schon«, antworte ich und blicke wieder auf das Foto auf meinem Nachttisch. Langsam kommt Dad zu mir, kniet sich hinter mich und umschlingt mich mit seinen starken Armen.

»Du weißt, dass deine Mutter immer bei dir ist. Sie mag vielleicht nicht direkt neben uns stehen, doch ich bin mir sicher, dass sie uns vom Himmel aus beobachtet.« Er streicht dabei sachte mit seinen Fingern über meine Unterarme.

»Meinst du?« Fragend drehe ich meinen Kopf und sehe ihn aus noch immer feuchten Augen an.

In seinem Blick liegt eine unglaubliche Sicherheit. »Das weiß ich ganz sicher«, antwortet er und lächelt. »Wahrscheinlich hat sie mich gerade ausgelacht. Das würde mich nicht wundern. «

Fragend sehe ich ihn an. »Wieso?«

»Sie hätte jeden Grund dazu. Immerhin habe ich gerade zehn Minuten lang versucht, deine Kaffeemaschine in Gang zu setzen, nur um dann festzustellen, dass ich den Stecker auch in die Steckdose stecken muss, um sie anschalten zu können.« Er zuckt mit den Schultern.

Ich beginne aus vollem Herzen zu lachen. Als er mit einstimmt, kann ich gar nicht mehr aufhören. Wir verlieren uns in einem Strudel aus Tränen der Trauer darüber, dass Mum diesen Moment nicht mit uns erleben kann, und Tränen der Freude, weil wir uns haben und aneinander festhalten können, ganz egal, was auch geschehen mag.

Irgendwann stehen wir auf und Dad zieht mich in eine seiner festen väterlichen Umarmungen. Nur hier bei ihm fühle ich mich geborgen und sicher.

»Ich bin sehr stolz auf dich, mein Schatz«, flüstert er in mein Haar und gibt mir einen Kuss auf meinen Scheitel.

»Danke, Dad.« Ich drücke mein Gesicht an seine Brust und atme den typischen herben Geruch ein, der ihn stets umgibt. Sanft löse ich mich von ihm und sehe, wie sich etwas in seinem Blick verändert. Ich meine, leichte Panik darin zu sehen, und will ihn schon fragen, was denn los ist, als er seine Hände auf meine Schultern legt.

»Ich muss noch mal schnell los, Enna. Eine Sache habe ich ganz vergessen.« Dad dreht sich hektisch um, läuft in den Flur und ich ihm direkt hinterher.

»Was denn?«, frage ich, doch er schnappt sich nur seinen Autoschlüssel von der Kommode im Flur und läuft zur Wohnungstür. Er bleibt kurz stehen und dreht sich noch einmal um. »Ich bin in etwa einer halben Stunde wieder da. Nicht wegrennen!« Mit diesen Worten wendet er sich von mir ab und verlässt die Wohnung.

»Wohin sollte ich denn bitte rennen?«, rufe ich ihm noch lachend hinterher, doch da schließt sich auch schon die Haustür hinter ihm.

Die Zeit allein nutze ich, um meine Kartons weiter auszupacken. Dabei fällt mir eine kleine Kiste in die Hände, in der ich meine Fotosammlung transportiert habe. Ich liebe es, Momente festzuhalten. Schöne Zeiten können viel zu schnell vorbei sein, doch später möchte ich mich noch genau an sie erinnern können. Meine Fotos helfen mir dabei, möglichst viele Details einzufangen und Erinnerungen nie mehr gehen zu lassen.

Ich öffne den Deckel der Kiste und breite all die Bilder vor mir auf dem Teppich aus. Anschließend kippe ich die vielen kleinen Klammern neben mich, die ich unter den Fotos in der Kiste verstaut habe, und schnappe mir die ersten Polaroids. An der großen Lichterkette, die Dad bereits vor einigen Tagen an der Wand hinter meinem Bett befestigt hat, beginne ich, einige Fotos festzuklammern.

Immer mehr Bilder schmücken nun meine Wand, darunter welche von Dad und mir, einige mit Grandma und Grandpa und dazwischen Aufnahmen meiner Bücher- und Naturfotos, die ich so gern schieße. Mittlerweile ist kaum noch Platz für weitere Bilder, dennoch nehme ich die letzten drei aus der Kiste. Ich betrachte das erste Foto mit einem warmen Gefühl im Bauch, denn es zeigt meine Mum und meinen Dad an ihrem Hochzeitstag. Mum trägt ein rosafarbenes Kleid und strahlt in die Kamera, Dad hat seine Arme um sie gelegt und sieht einfach nur stolz und verliebt aus.

Die beiden haben mir früher erzählt, dass Mum sich weigerte, mit dem Strom zu schwimmen und ein weißes Brautkleid zu tragen. Nach ewigen Diskussionen mit Dads Eltern besuchten alle gemeinsam ein Geschäft für Festmode. Als sie Mum dann in diesem hübschen rosa Kleid sahen, waren alle einverstanden mit ihrem Wunsch, kein Weiß zu tragen. Es sah so hübsch aus! Sie hat schon immer ihren eigenen Kopf durchgesetzt und manchmal wünschte ich, sie hätte ein wenig mehr ihrer Entschlossenheit an mich weitergegeben.

Auf dem zweiten Foto steht Mum in der Küche und knetet einen Pizzateig, während mein siebenjähriges Ich neben ihr auf der Arbeitsfläche sitzt und ein Stück Paprika verdrückt. Das Naschen von den Zutaten für die Gerichte, die sie so gern kochte, gehörte bei uns immer mit dazu. Häufig blieben kaum noch Würstchen für die Nudelsoße übrig, weil ich sie schon verputzt hatte, bevor sie ihren Weg in die Pfanne finden konnten.

Ich vermisse meine Mum so sehr.

Als ich das dritte Foto über die anderen zwei lege, um es mir genauer anzuschauen, bekomme ich augenblicklich eine Gänsehaut. Der Mensch, der mich darauf im Arm hält, ist schon lange kein Teil meines Lebens mehr. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Immer noch. Nach all der Zeit reicht es aus, ein Foto von ihm zu betrachten, um meine Welt ins Wanken zu bringen.

Das Foto entstand an einem fünften April, meinem vierzehnten Geburtstag. Im Hintergrund ist ein Schokokuchen zu sehen, auf dem diese Zahl in Form von hübschen Kerzen steht. Eine Krone auf dem Kopf und meine damals noch langen braunen Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die sanft auf meine Schultern fallen, lache ich in die Kamera. Und der Grund für dieses Lachen ist Finn — mein bester Freund, der mich mit einem Arm umschlungen hält, mit der anderen Hand goldenen Glitzer auf mich niederrieseln lässt und mich dabei verschmitzt angrinst. Auf seinem Kopf trägt er ebenfalls eine Krone, denn wir teilen uns denselben Geburtstag. Obwohl wir schon Teenager sind, albern wir immer noch herum wie Kinder. An diesem letzten Geburtstag, den wir gemeinsam verbrachten, wurde Finn sechzehn Jahre alt und hat mir genauso viel Freude geschenkt wie in all den Jahren davor, obwohl er schon zwei Jahre älter war als ich. Weil ich es mir gewünscht habe, hat er sich auch an diesem Tag eine Krone aufgesetzt und sich eine Kuchenschlacht mit mir geliefert.

Der Verlust meines besten Freundes schmerzt mich beinahe genauso sehr wie der Schmerz, den ich empfinde, wenn ich an meine Mum denke. Finn war mein Anker, wie mein großer Bruder, bis er genau in der Zeit nicht an meiner Seite war, in der ich ihn mehr denn je gebraucht hätte. Und noch immer versteht das kleine Mädchen in mir nicht, weshalb er gegangen ist. Und wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, muss ich erkennen, dass das große Mädchen es genauso wenig versteht.

Und dennoch gehört Finn ebenso zu meiner Geschichte, denn er nimmt noch immer einen großen Platz in meinem Herzen ein. Auch wenn ich nie ganz verstanden habe, weshalb er nach seinem Umzug damals nie wieder Kontakt zu mir aufgenommen hat, erinnere ich mich lieber an die schönen Zeiten, die wir miteinander geteilt haben. Vielleicht hat mich der Tod meiner Mum genau das gelehrt: Die schönen Erinnerungen zu behalten und den Schmerz dadurch loszulassen. Also gehe ich zur Lichterkette und befestige das Polaroid mit den anderen beiden ebenfalls daran. Anschließend trete ich einige Schritte zurück und betrachte zufrieden mein Werk.

Mein Leben spiegelt sich an der Wand wider. Nicht perfekt und deshalb genau das: perfekt.

Eine Weile später habe ich alle Kartons ausgepackt, abgesehen von den Unmengen an Bücherkisten, die sich noch immer an meiner Wand stapeln. Gerade will ich mir die erste vornehmen, als ich höre, wie sich der Schlüssel in der Haustür dreht.

Dad habe ich in den letzten Minuten voller Fotos und Erinnerungen ganz vergessen. Noch immer frage ich mich mit einem Blick auf die Uhr, was er denn so Wichtiges zu erledigen hatte, und vor allem, weshalb er nicht nur eine halbe, sondern mittlerweile fast eine ganze Stunde lang weg war. Sein Kopf erscheint im Türrahmen. Er hat ein dickes Grinsen im Gesicht.

»Dad! Da bist du ja wieder. Wo warst du denn?«

»Augen zu!« Er stellt sich hinter mich und bedeckt meine Augen mit seinen Händen.

Was hat er sich nun schon wieder einfallen lassen?

Ich schließe sie und nicke.

Dad entfernt sich, ich halte die Augen weiter geschlossen, obwohl es mich immer nervös macht, wenn ich nichts sehen kann und sich diese schwarze Wand vor meine Augen schiebt. Doch ich vertraue Dad und lasse mich auf seine Überraschung ein.

Ein lautes Niesen ertönt.

»Gesundheit!«, rufe ich und lächle in mich hinein. Wenn Dad niest, ist das gefühlt mindestens genauso laut wie der Ausbruch eines Vulkans.

Er kommt zurück, mit leisen Schritten auf dem Parkett. Er muss sich die Schuhe ausgezogen haben, denn er bewegt sich beinahe lautlos.

»Setz dich langsam auf den Boden, Enna.«

Ich komme seiner Aufforderung nach und setze mich vorsichtig im Schneidersitz hin. Dad scheint es mir gleichzutun. Wieder muss er niesen, diesmal klingt das Geräusch allerdings gedämpft.

»Okay, mein Schatz. Jetzt darfst du.«

Langsam öffne ich zunächst mein rechtes Auge. Dad sitzt tatsächlich vor mir auf dem Boden, scheint aber nichts in seinen Händen zu halten. Ich öffne auch mein zweites Auge, kann aber noch immer keine Überraschung erkennen.

Gerade als ich ihn danach fragen will, vernehme ich ein leises Geräusch hinter ihm, das aus dem Flur zu kommen scheint. Wüsste ich es nicht besser, hätte ich behauptet, dass das eben ein Miauen war. Dad gibt keinen Mucks von sich. Er schaut mich nur an, immer noch ein Grinsen auf dem Gesicht.

»Dad, was tun wir hier?«, frage ich ihn schließlich.

»Wir warten«, antwortet er ruhig.

Plötzlich schiebt sich ein kleiner pelziger Kopf hinter dem Türrahmen hervor. Gleich darauf folgt ein weiteres Geräusch, von dem ich nun mit Sicherheit sagen kann, dass es sich definitiv um ein Miauen handelt.

Dem kleinen grauen Kopf folgen ein grauer Körper und ein grauer Schwanz. Ich kann es kaum glauben — mein Dad hat mir eine Katze geschenkt. Oh mein Gott!

Ich muss all meine Beherrschung zusammennehmen, um kein Quieken von mir zu geben. Sprachlos schaue ich dem kleinen pelzigen Tierchen dabei zu, wie es langsam und vorsichtig hereintappt. Ich traue mich kaum zu atmen aus Angst, die Katze zu verschrecken. Mit ihrem Näschen schnüffelt sie in der Luft herum, ganz behutsam setzt sie ein Bein vor das andere, bis ihr Blick schließlich auf uns fällt. Ihr Schwanz gleicht dabei einer Klobürste und innerlich lache ich über diesen Vergleich. Ganz langsam strecke ich eine Hand in ihre Richtung. Kurz scheint sie zu überlegen, doch dann kommt sie auf mich zu und streicht ihr Köpfchen an meinem Handrücken entlang. Ganz behutsam und vorsichtig.

Nun breitet sich auch auf meinem Gesicht ein Grinsen aus, das mindestens genauso breit ist wie das von Dad.

»Du bist verrückt!« Ich blicke zu ihm auf, den Tränen nahe, schon zum zweiten Mal innerhalb so kurzer Zeit.

»Nein, Enna. Du bist verrückt. Verrückt nach Katzen, und das schon immer.«

Wir müssen beide lachen. Ich wollte tatsächlich schon immer eine eigene Katze haben. Unser Nachbarskater Sammy kam im Sommer immer durch den Gartenzaun zu uns gekrochen. Als ich klein war, habe ich oft mit ihm gespielt und später dann geschmust, wenn ich an sonnigen Tagen auf unserer Hollywoodschaukel saß und er zu mir kam. Leider konnten wir nie eine eigene Katze haben, denn Dad hat eine starke Tierhaarallergie. Jetzt macht sein mehrmaliges Niesen auch Sinn.

»Wie heißt sie denn? Oder ist es ein Er?«, frage ich Dad. Der Kopf des kleinen Tieres schmiegt sich noch immer an meine Hand.

»Es ist eine Sie. Vor einigen Monaten wurde sie vor dem Tierheim hier im Ort ausgesetzt. Die Mitarbeiter schätzen ihr Alter auf etwa zwei Jahre. Am besten überlegst du dir selbst einen Namen für sie. Die Pfleger im Tierheim haben sie Gloria genannt, aber diesen Namen empfinde ich als sehr ...«

»... unpassend«, vollende ich seinen Gedanken, und wir müssen beide lachen.

Mittlerweile ist die Katze zu Dad gelaufen und schmiegt sich nun auf seinen Schoß. Sie scheint ihn bereits sehr lieb gewonnen zu haben, denn ihr leises Schnurren ist zu hören. Zumindest so lange, bis Dad erneut heftig niesen muss. Erschrocken schaut sie durch den Raum und macht sich ganz klein, rappelt sich dann aber wieder auf und tapst in den Flur hinaus. Vielleicht hat sie Hunger? Apropos ...

»Dad, ich habe doch gar kein Futter hier! Und auch kein Katzenklo. Nicht einmal Spielzeug! Spielen Katzen in dem Alter denn überhaupt noch? Was, wenn ...«

»Enna, beruhige dich«, unterbricht er mich schmunzelnd. »Ich habe mich selbstverständlich um alles gekümmert. Das Tierheim war so freundlich, mir die ersten Vorräte und die Grundausstattung gleich mitzugeben. Die ersten Tage kommt ihr zwei also über die Runden.« Liebevoll sieht er mich an.

Ich bin so gerührt und glücklich, dass ich all meine Liebe für diesen großartigen Menschen in eine feste Umarmung lege. Natürlich hat er an alles gedacht und sich um das Wichtigste gekümmert. Ich drücke meinen Dad an mich und murmle ein leises »Danke« an seine Schulter.

»Gern, mein Schatz.« Er erwidert meine Umarmung und streicht mir mit einer Hand zärtlich über den Kopf. »Jetzt ist es wohl langsam an der Zeit, dass ich dich allein lasse.«

Langsam löst er sich von mir. Wir erheben uns und Dad legt seine Hände auf meine Schultern, sieht mir fest in die Augen.

»Ich wünsche dir alles Glück der Welt, Enna. Du wirst dein neues Leben hier meistern. Wenn du noch etwas brauchst oder dich einsam fühlst, du weißt, dass ich nur einen Anruf entfernt bin, ja?« Fragend sieht er mich an. Auch wenn er es nicht direkt angesprochen hat, weiß ich, dass er sich meiner Ängste sehr wohl bewusst ist. Dass er dennoch an mich glaubt und mir zutraut, dass ich das hier schaffen kann, macht mir unendlich viel Mut.

Ich bemerke, wie sich Tränen in meinen Augen sammeln. Weil ich nicht schon wieder weinen möchte, schiebe ich Dad sachte in Richtung Flur. »Du musst jetzt gehen, sonst muss ich wieder heulen.«

Dad lacht, dreht sich dann um und gemeinsam gehen wir in den Flur. Meine Katze hat sich dort neben der Kommode auf dem Boden zusammengerollt und schläft.

Meine Katze — wie schön das klingt. Ein weiteres Mein in so kurzer Zeit. An nur einem Tag so unglaublich viele Veränderungen, die zugleich beängstigend und wunderschön sind. Meine erste eigene Wohnung, eine neue Umgebung, neue Routinen, ein eigenes Haustier ... Ich nehme mir fest vor, all diesen Dingen mit offenen Armen zu begegnen.

Während ich die zwei großen Tüten betrachte, die Dad neben der Haustür abgestellt hat, zieht er sich Schuhe und Jacke an. Ich linse in eine der beiden Tüten hinein und entdecke Spielzeug und einige kleine Dosen Katzenfutter. Grinsend wende ich mich Dad zu, als er seinen Autoschlüssel in die Hand nimmt und unsicher vor der Wohnungstür stehen bleibt. Er zieht sein Handy aus der Hosentasche und beginnt, darauf herumzutippen. Ein leises Fluchen entfährt ihm.

»Was machst du denn da?«, frage ich ihn erstaunt.

Verzweifelt sieht er mich an. »Ich versuche, mein Handy auf laut zu stellen, aber ständig öffnet sich dieses blöde Fenster.«

»Gib mal her.« Ich nehme ihm das Smartphone aus der Hand, stelle es auf laut und gebe es ihm lachend wieder zurück. Erleichtert atmet er aus.

»Ruf mich an, wenn etwas ist, Enna. Ich bin jederzeit erreichbar und nur eine Dreiviertelstunde Autofahrt entfernt. Denk daran, immer alle Kerzen auszumachen, wenn du dich schlafen legst oder das Haus verlässt. Wenn du abends Angst bekommen solltest, dann kannst du deine Lichterkette anschalten. Ach, und die Kaffeemaschine ...«

»Halt, Stopp!«, unterbreche ich ihn lachend. »Es wird mir gut gehen, Dad. Ich bin jetzt erwachsen und außerdem nicht allein.«

Mit einem leisen Miauen unterstützt mich meine Katze und sofort wird mir warm ums Herz. Sie braucht dringend einen Namen. Kurz hebt sie ihren Kopf, steht auf und streckt sich, nur um sich gleich darauf wieder zusammenzurollen und weiterzuschlafen.

»Siehst du?« Ermutigend sehe ich Dad an.

Er kommt zu mir, gibt mir einen letzten Kuss auf die Stirn, dreht sich dann um und öffnet die Wohnungstür. »Mach’s gut, mein Schatz.« Er tritt in den Hausflur, und ich lehne mich in den Türrahmen.

»Bis bald, Daddy«, verabschiede ich ihn und sehe ihm zu, wie er die Treppen nach unten steigt.

Ich schließe die Wohnungstür, laufe in meine Küche und beobachte meinen Vater durch das Fenster, wie er zu seinem Wagen läuft. Als würde er spüren, dass ich ihm nachschaue, dreht er sich ein letztes Mal zu mir um und winkt mir zum Abschied zu. Ich winke zurück, dann steigt er in seinen Wagen und fährt die Straße entlang, bis er im Wald verschwindet und ich ihn nicht mehr sehen kann.

Im Flur setze ich mich neben das Tier, das ab heute meine neue kleine Freundin sein wird, und lehne mich an die geschlossene Küchentür. Ich streichle meiner Katze behutsam durch das wuschelige graue Fell und höre ein leises Schnurren. »Willkommen zu Hause«, flüstere ich ihr leise zu.

Und während ich sie weiterkraule, erinnere ich mich an den Tag, an dem ich diese Worte zum letzten Mal ausgesprochen habe — zu einem kleinen Jungen mit einer Menge Locken auf dem Kopf.

KAPITEL 2

Etwas Magisches

Finn

Dreizehn Jahre zuvor — 2007, Juni

Ich sitze auf der Veranda unseres neuen Zuhauses, während meine Eltern unsere großen Kisten ins Haus tragen. Es ist superwarm heute und die lange Autofahrt hat mich richtig zum Schwitzen gebracht. Meine Locken fallen nass in mein Gesicht und es nervt mich, dass ich sie immer wieder zur Seite schieben muss. Generell bin ich schon seit heute Morgen genervt und habe schlechte Laune.

Während Mum und Dad sich seit langer Zeit schon auf den heutigen Tag freuen, bin ich einfach nur traurig darüber, dass wir umziehen. Alle meine Freunde musste ich zurücklassen. Hier muss ich nun nach dem Sommer auf die neue Schule gehen. »Das wird toll«, hat Mum immer wieder versprochen, während ich mich gefragt habe, ob ich je wieder so gute Freunde finden werde.

Dad trägt jetzt die letzte Kiste ins Haus und ruft Mum zu, dass er sich erst mal um die Garage kümmert, damit er später das Auto reinfahren kann. Mum antwortet ihm, dann tritt sie aus dem Haus auf die Veranda und lässt sich neben mich auf die Holzdielen fallen. Ihre Hand legt sie auf mein Knie und beginnt, mich zu streicheln. Das macht sie sehr oft und meistens beruhige ich mich dadurch tatsächlich ein bisschen.

»Na, mein Kleiner? Wie gefällt dir unser neues Haus?« Sie legt einen Arm um mich und sieht mich fragend an.

Ich zucke nur mit den Schultern. Bisher habe ich mir noch nicht einmal mein neues Zimmer angeschaut. Darauf habe ich keine Lust. Vor wenigen Wochen noch habe ich meinen achten Geburtstag mit meinen Freunden gefeiert, in meinem Zuhause. Dass ich von nun an in diesem Haus hier leben werde, in einer völlig anderen Stadt, in der ich niemanden kenne, kann ich mir einfach nicht vorstellen.

Mum muss mir ansehen, dass ich traurig bin, denn gleich darauf versucht sie, mich aufzumuntern. »Dein Zimmer hier ist viel größer als das in der alten Wohnung. Wir haben einen riesigen Garten, in den du deine Freunde nach der Schule zum Spielen einladen kannst. Ist das nicht toll?« Sie stupst mich mit der Schulter an.

»Welche Freunde denn?« Den Blick auf meine Füße gerichtet, reibe ich meine Schuhe aneinander. Ich kenne doch hier niemanden.

»Ach, Finn. Mit der Zeit wirst du auch hier neue Freunde finden, glaub mir!«, antwortet Mum.

Ich hoffe sehr, dass sie damit recht hat.

»Wollen wir ein bisschen Fußball spielen, bis dein Dad mit der Garage fertig ist?«

»Okay«, antworte ich wenig euphorisch, aber wenn Mum mir schon einmal anbietet, mit mir Fußball zu spielen, muss ich die Gelegenheit nutzen. Sonst nerve ich sie immer, bis sie entweder irgendwann nachgibt oder Dad schickt, um mit mir zu spielen.

Sie verschwindet im Haus und kommt kurz darauf mit meinem Fußball unter ihrem Arm wieder raus. Gemeinsam laufen wir in den Garten hinter dem Haus. Einige Zeit kicken wir den Ball abwechselnd hin und her. Als ich ein Tor erziele, bekomme ich tatsächlich etwas bessere Laune.

Irgendwann ertönt ein lautes Rufen aus unserem Vorgarten. Wir unterbrechen das Spiel, um nachzusehen, von wem es kommt. Mum läuft über den Rasen nach vorn, ich trotte hinter ihr her. Als wir um die Hausecke gehen, entdecke ich eine Frau, die etwa im Alter meiner Mutter ist, und ein Mädchen, das sich an ihrer Hand festhält. Beide haben braune Haare, nur mit dem Unterschied, dass die der Frau viel kürzer sind als die des Mädchens.

»Oh, hallo. Bitte entschuldigen Sie das laute Rufen, aber scheinbar funktioniert Ihre Klingel noch nicht.« Die Frau kommt auf uns zu. Mit der einen Hand hält sie noch immer das Mädchen fest, auf der anderen balanciert sie etwas, das aussieht wie ein Kuchen. Freundlich lächelt sie uns an. »Wir sind nebenan eingezogen und wollten uns gern vorstellen. Ich bin Olivia und das hier ist meine Tochter Enna«, sagt sie und deutet mit dem Kopf in Richtung des Mädchens.

Unsere Mütter begrüßen sich, dann bückt Mum sich zu dem Mädchen hinunter.

Enna. Was für ein besonderer Name. Er klingt sehr schön.

»Ich bin Vera, und das ist mein Sohn Finn«, stellt Mum uns schließlich vor, woraufhin die Frau ihre Tochter loslässt und mir die Hand reicht.

»Hallo, Finn.« Sie schaut zwischen Mum und mir hin und her. »Wie schön, dass wir uns kennenlernen.«

Olivia überreicht Mum den Kuchen, den ich interessiert anschaue. Schokolade. Ich liebe Schokolade.

Mum bedankt sich bei Olivia, die sich schließlich neben Enna kniet. »Magst du Finn Hallo sagen, mein Schatz?«

Schüchtern nickt das Mädchen, dreht sich zu mir und streckt mir ihre Hand entgegen. »Ich bin Enna«, stellt sie sich vor.

Ich ergreife ihre Hand. »Hey, Enna. Ich bin Finn.« Wir schütteln uns kurz die Hände, dann ziehen wir sie beide beschämt wieder zurück. Wie peinlich.

»Dürfen wir Sie zum Kaffeetrinken einladen? Mein Mann ist gerade noch in der Garage beschäftigt, aber er ist sicherlich gleich fertig. So hätten wir auch gleich eine Gelegenheit, Ihren Kuchen zu verputzen«, bietet Mum Olivia lächelnd an.

»Wenn es Ihnen keine Umstände macht, sehr gern.« Ennas Mum strahlt. Die beiden scheinen sich super zu verstehen.

Gemeinsam laufen unsere Mütter zur Terrassentür und verschwinden im Haus. Unsicher bleiben Enna und ich nebeneinander stehen.

»Wir sind jetzt also Nachbarn, ja?«, frage ich sie, damit irgendjemand von uns beiden etwas sagt. Gleich darauf merke ich, wie sinnlos meine Frage war, doch Enna nickt nur und lächelt mich schüchtern an.

»Wie alt bist du?«, frage ich sie schließlich.

»Ich bin sechs, und du?«

»Ich bin acht, aber erst seit ein paar Wochen«, antworte ich.

»Ich hatte auch erst vor Kurzem Geburtstag.« Enna lächelt mich an. Sie ist wirklich hübsch mit ihren langen braunen Haaren.

»Echt? Wann hast du denn Geburtstag?«, frage ich sie.

»Am fünften April«, antwortet sie strahlend. Ich strahle zurück. Wie cool ist das denn?

»Ich auch! Das ist ja mega!«

Wir müssen beide lachen, und auf einmal finde ich unseren Umzug gar nicht mehr so schlimm. »Ich würde dir gern mein neues Zimmer zeigen, Enna. Hast du Lust, es dir anzuschauen?« Kurz habe ich Angst, dass sie gar nicht mit mir kommen möchte, doch dann grinst sie mich an und nickt. Obwohl ich mich bisher nicht dafür interessiert habe, habe ich plötzlich doch Lust, mir mein neues Zimmer anzuschauen. Ich merke, wie sich meine Laune bessert, einfach, weil ich so glücklich darüber bin, Enna kennenzulernen.

Gemeinsam rennen wir über die Wiese um das Haus herum bis zum Hintereingang. Wir ziehen unsere Schuhe aus und lassen sie auf der Terrasse liegen, dann hüpfen wir über die Schwelle in die Küche.

»Mama, Finn und ich haben am gleichen Tag Geburtstag! Ist das nicht cool?«, ruft Enna ihrer Mutter zu. Weg ist das schüchterne Mädchen von eben. Auf einmal ist Enna laut und lächelt, und irgendwie gefällt mir das. Ihre gute Laune steckt mich direkt an und ich fühle mich direkt etwas weniger einsam.

In diesem Moment weiß ich, dass ich eine neue Freundin gefunden habe — ein ganz besonderes Mädchen mit den längsten braunen Haaren, die ich je gesehen habe.

Enna

Am nächsten Morgen stehe ich schon früh auf. Meinen Wecker habe ich auf sieben Uhr gestellt, damit ich genügend Zeit habe, um meine restlichen Kartons auszupacken. Am Nachmittag möchte ich endlich Starfall erkunden.

Die erste Nacht allein in meiner Wohnung war weniger schlimm für mich als erwartet. Meine Lichterkette vertrieb die Dunkelheit und außerdem war ich so müde, dass ich direkt in den Schlaf fand. Keine Albträume, keine Panik. Das ist ein Fortschritt.

Meine Angst vor der Dunkelheit und die Erinnerungen an den Unfall suchen mich meistens abends heim. Nur selten begleiten sie mich auch durch dunkle und triste Tage. Ich weiß, dass es Nächte gibt, in denen ich ohne Probleme schlafen gehen kann, und andere, die für mich zum blanken Horror werden, weil ich kein Auge zubekomme und in Panik verfalle. Dass ich diese Nacht in einer fremden Wohnung ohne Angst überstanden habe, macht mich unglaublich stolz.

Meine Katze hat die ganze Nacht auf dem Teppich direkt neben meinem Bett geschlafen. Ihre Anwesenheit hat mir eine unglaubliche Ruhe gegeben, das Gefühl, nicht allein zu sein und eine kleine Beschützerin an meiner Seite zu haben. Jetzt stehe ich in der Küche und bereite mir einen Kaffee zu, wie ich es auch zu Hause jeden Tag getan habe. Ohne mein morgendliches Koffein geht bei mir nichts. Kaffee ist meine Energie, die ich brauche, um gut in den Tag zu starten. Es geht mir wie Lorelai Gilmore, die mit ihrer Mütze auf dem Kopf in Luke’s Diner steht und ihn um einen Kaffee anbettelt. Ungefähr so fühle ich mich jeden Morgen.

Während ich darauf warte, dass sich die Maschine meldet und ich mir meine Tasse schnappen kann, beobachte ich meine Katze, die in aller Seelenruhe ihr erstes Nassfutter verdrückt. Sie scheint ein gemütliches Tier zu sein und damit perfekt zu mir zu passen. Ob Dad das geahnt hat, als er sie aussuchte?

»Wir beide werden uns gut verstehen«, sage ich zu ihr. »Wahrscheinlich noch besser, wenn wir endlich einen Namen für dich gefunden haben.«

Die Maschine piept, ich schnappe mir meine Tasse und gehe damit nach nebenan, wo ich mich auf mein bereits gemachtes Bett setze. Ich trinke einen großen Schluck Kaffee und atme den herben Geruch tief ein. Herrlich.

Mein Blick fällt auf mein Handy, dessen Blinken mir gleich zwei neue Nachrichten anzeigt. Ich lese zunächst den Text, den Dad mir vor einigen Minuten geschickt hat, und tippe zurück, dass es mir gut geht und die Katze gerade ihre erste Mahlzeit in ihrem neuen Zuhause einnimmt. Kurzerhand schicke ich ihm noch ein Foto meiner Kaffeetasse hinterher. Gleich darauf antwortet er mit einem Katzen-Emoji und einem roten Herz, auf den Kaffee reagiert er mit einem sich übergebenden Emoji — er konnte meine Sucht noch nie nachvollziehen, weshalb seine Reaktion der von Luke Danes gleicht, wenn Lorelai die dritte Tasse Kaffee in Folge bei ihm bestellt. Dieser Vergleich erinnert mich daran, dass ich bald mal wieder eine Episode Gilmore Girls schauen sollte.

Die zweite Nachricht ist von Hanna. Sie fragt, ob ich mich schon gut eingelebt habe, und berichtet, dass sie gestern Abend direkt von ihrem neuen Nachbarn zu einer kleinen Wohnungsparty eingeladen wurde. Wir sind einige Jahre auf der Highschool in die gleiche Klasse gegangen und haben zusammen unseren Abschluss gemacht. Nun beginnt auch sie ihr Studium, allerdings in einer anderen Stadt. Ich freue mich über ihre Nachricht und tippe eine kurze Antwort. Hanna war mir in den letzten Jahren immer eine gute Freundin, aber wir sind sehr unterschiedlich. Manchmal fühle ich mich einsam in Gesprächen mit ihr, weil ich immer das Gefühl habe, dass sie ungern über ernstere Themen spricht. Hanna ist ein lebenslustiger Mensch, ich bin ebenso fröhlich, aber auch wahnsinnig schüchtern und eher zurückhaltend. Seit dem Sommer haben wir nicht mehr viel Kontakt, aber das ist in Ordnung. Ich freue mich dennoch, dass sie sich nach mir erkundigt hat und wünsche ihr einen spannenden Uni-Start.

Ich trinke meinen Kaffee aus und gehe anschließend ins Bad, wo ich mir mein Gesicht wasche und meine Zähne putze. Schließlich schnappe ich mir meine Haarbürste vom Badewannenrand und kämme meine noch von der Nacht verstrubbelten Haare. Zufrieden betrachte ich meine Frisur im Spiegel. Als kleines Mädchen habe ich meine langen braunen Haare geliebt, doch jetzt liebe ich es noch mehr, wie sie mir in leichten Wellen nur noch bis auf die Schultern fallen.

Wieder zurück in meinem Zimmer tausche ich meinen kuscheligen, dunkelblauen Pyjama gegen eine gemütliche schwarze Jogginghose und ein Unterhemd. Auf dem Haufen mit meinen T-Shirts krame ich nach einem meiner liebsten Stücke — mein schwarzes Taylor-Swift-Fan-Shirt, auf dem in großen weißen Buchstaben Shake it off geschrieben steht. Ich habe ihre Musik schon immer geliebt, besonders als ich noch jünger war. Und noch immer ist diese Frau eine absolute Inspiration für mich — als Musikerin und als Mensch.

Wenige Minuten später sitze ich auf meinem flauschigen, weißen Teppich neben dem Bett. Um mich herum stehen die restlichen Kartons, in denen sich all meine Bücher befinden, und vor mir reihen sich meine weißen Bücherregale aneinander. Hier werden meine über vierhundert Schätze gleich ihr neues Zuhause finden.

In der nächsten Stunde befreie ich jedes meiner Bücher aus den Kartons, die ich gleich darauf zusammenfalte und auf meinen Kleiderschrank schiebe. Anschließend beginne ich damit, die Bücher ins Regal zu stellen. Dabei sortiere ich nach Genre und Autoren, denn Ordnung muss sein, besonders in meinem Bücherregal! Von Fantasy über Liebesromane bis hin zu Kinderbüchern ist alles dabei.

Als ich meine Ausgabe von Mary Poppins aus dem Karton ziehe, halte ich kurz inne. Behutsam streiche ich über das Cover des Buches, aus dem Finn mir so oft vorgelesen hat. Ich habe diese Geschichte geliebt und tue es noch immer. Ich stelle das Buch mit dem Cover nach vorn neben meine aneinandergereihten Kinderbücher.

Es macht mir wahnsinnig viel Spaß, meine Bücher einzuräumen. Auf meinem Handy habe ich zwischendurch meine Taylor-Swift-Playlist gestartet, passend zum Shirt. Gerade läuft einer meiner Lieblingssongs: Everything has changed. Er bedeutet mir unglaublich viel. Wie ironisch, dass er auch noch so gut zu Finn und mir passt. Unsere erste Begegnung in seinem Garten vor vielen Jahren, als wir beide noch Kinder waren, werde ich nie vergessen. Sofort habe ich mich in der Nähe dieses kleinen Jungen wohlgefühlt und meine Schüchternheit neben ihm direkt abgelegt ...

Ich schüttle die Erinnerung von mir ab und widme mich der letzten Kiste, in der sich meine Klassiker befinden. Vorsichtig stelle ich all die Geschichten in mein Regal, die mich am meisten bewegen. Schließlich fällt mir meine Schmuckausgabe von Stolz und Vorurteil von Jane Austen in die Hände. Elizabeths und Mister Darcys tragische Liebesgeschichte berührt mich immer wieder aufs Neue. Meine Katze kommt ins Zimmer geschlichen. Sie miaut einmal laut, gesellt sich zu mir auf den Teppich und kuschelt sich an mein Bein.

Mein Blick wandert zwischen dem Buch in meinen Händen und dem süßen grauen Tierchen neben mir hin und her. Und auf einmal weiß ich es einfach.

»Hey, Süße?«, wende ich mich fragend der Katze zu und beginne, sie sanft zu kraulen. »Was hältst du davon, wenn ich dich Beth nenne?«

Ihr Schnurren deute ich als ein klares »Ja«.

Einige Stunden später stehe ich bewaffnet mit dem Stadtplan von Starfall vor meinem Wohnhaus. Nachdem ich mein Bücherregal fertig eingeräumt und noch ein wenig mit Beth gekuschelt hatte, beschloss ich, mir nun endlich die Stadt genauer anzuschauen. Ich war zwar schon einmal mit Dad hier gewesen, um meine Wohnung zu besichtigen, doch vom Zentrum von Starfall habe ich bisher nur Fotos aus dem Internet gesehen. Bevor in zwei Tagen mein Studium beginnt, möchte ich nun den Ort kennenlernen, in dem ich die nächsten Jahre leben werde. Also habe ich mir den Stadtplan von der Website der Uni heruntergeladen, um mich zurechtzufinden.

Mein neues Zuhause liegt nur wenige Gehminuten von Starfalls Zentrum entfernt. Auf der Website der Universität wird damit geworben, dass hier alle wichtigen Orte nah beieinanderliegen und zu Fuß gut zu erreichen sind — der Vorteil einer Kleinstadt eben.

Konzentriert betrachte ich den Stadtplan. Die wichtigsten Orte sind liebevoll eingezeichnet und durch kleine Wege miteinander verbunden. Links unten entdecke ich sogar das Starfall-Schild, an dem Dad und ich gestern am Ortseingang vorbeigefahren sind und das Besucher in der Stadt begrüßt.

Ich beschließe, mir zu Beginn den Campus anzuschauen, damit ich auch gleich den Weg zur Universität kenne, und anschließend nach einem Café zu suchen, um dort eine Kleinigkeit zu essen und meinen zweiten Kaffee des Tages zu mir zu nehmen. Mein knurrender Magen erinnert mich daran, dass ich gestern Mittag zum letzten Mal etwas Richtiges gegessen habe, abgesehen von einem kleinen Snack am Abend. Mit meinem kleinen Rucksack auf dem Rücken, in den ich eine Trinkflasche, mein aktuelles Buch und mein Portemonnaie gestopft habe, mache ich mich auf den Weg.

Die Straße, in der ich wohne, ist wirklich hübsch. Bunte Häuser reihen sich aneinander, viele Wohnungen, aber auch eine Menge kleiner Geschäfte. Ich laufe an einer Bäckerei, einem kleinen Klamottenladen und einem Uhrmacher vorbei und freue mich darüber, dass ich all diese Geschäfte in nur wenigen Schritten erreichen kann. Um mich herum schmücken bunte Blumen die Straße. Schon jetzt verliebe ich mich in die Atmosphäre dieser Stadt mitten in der Natur. Die vielen Altbauten, schwarzen Laternen und kleinen Läden machen Starfall zu einem gemütlichen Städtchen. Immer wieder tauchen die Sterne, die dieser Stadt und ihren Bewohnern so viel bedeuten, in Form von Dekorationen auf. Im Schaufenster einiger Läden hängen Lichterketten, an denen Sterne baumeln, und die Kreidetafel vor der Bäckerei wirbt mit dem berühmten Stern-Gebäck mit Zimt, über das ich schon so viel gelesen habe und in dessen Genuss ich hoffentlich bald kommen werde. Das schöne Gefühl, das diese Stadt in mir auslöst, breitet sich angenehm in meinem gesamten Körper aus.

Heute scheint die warme Septembersonne, weshalb ich in Jeans, Langarmshirt und nur mit einer dünnen Jacke bekleidet die Wohnung verlassen habe. Ein leichter, angenehmer Wind weht und ich bin froh darüber, meine Haare doch noch zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden zu haben, um sie nicht ständig aus meinem Gesicht wischen zu müssen.