Du bist ok, so wie du bist - Katharina Saalfrank - E-Book
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Du bist ok, so wie du bist E-Book

Katharina Saalfrank

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Beschreibung

Kinder müssen nicht erzogen werden! Nur zwei Buchstaben scheinen es zu sein, um von der Er-ziehung zur Be-ziehung zu kommen. Tatsächlich aber müssen wir unsere Haltung und unsere Sicht auf Kinder ganz grundlegend verändern, wenn wir eine lebendige, aufrichtige und liebevolle Beziehung zu unseren Kindern gestalten wollen. Kinder stehen in unserer Gesellschaft so sehr im Fokus wie nie zuvor. Beständig neue Konzepte über Frühförderung, Betreuungsangebote und Bildungsreformen werden entworfen. Eltern fragen sich: Wie soll ich mein Kind richtig erziehen? Wie schaffe ich es, dass es optimal gefördert wird? Eingeschlichen hat sich in all diese Diskussionen jüngst ein befremdlicher Ton: Plötzlich ist da von kleinen Tyrannen die Rede, die uns Eltern auf der Nase rumtanzen. Ein Lob der Disziplin befeuert die Erziehungsdebatte, immer mehr Kinder werden mit Diagnosen wie ADHS zu Kinder- und Jugendpsychiatern geschickt. Katharina Saalfrank wendet sich ab von einem solchen problematisierenden Umgang mit Kindern hin zu einer wertschätzenden Beziehung innerhalb der Familie. Sie beschreibt die Notwendigkeit eines grundsätzlichen Paradigmenwechsels: Kinder brauchen keine herkömmliche Erziehung, ist ihre Überzeugung, die sie aus ihrer Arbeit mit Familien, aber auch aus Erkenntnissen der Hirnforschung und Entwicklungspsychologie gewinnt. Was Kinder stattdessen brauchen, um gesund aufwachsen zu können und gut zu lernen, ist eine wertschätzende Führung und eine stabile und konstruktive Beziehung. Wer das Buch von Katharina Saalfrank gehört hat, wird einen neuen Schlüssel für ein bereicherndes und lebendiges Familienleben finden, in dem sich die Potentiale von Kindern und Eltern frei entwickeln und alle aneinander wachsen können.

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Seitenzahl: 356

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Impressum

© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020

© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020

Alle Rechte vorbehalten. Weiterverbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film und Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags.

Projektleitung: Christof Klocker

Lektorat: Ulrike Auras

Bildredaktion: Nele Schneidewind

Covergestaltung: independent Medien-Design, Horst Moser, München

eBook-Herstellung: Christina Bodner

ISBN 978-3-8338-7457-4

1. Auflage 2020

Bildnachweis

Coverabbildung: Stocksy

Fotos: Getty Images; iStockphoto; Stocksy

Syndication: www.seasons.agency

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Wichtiger Hinweis

Die Gedanken, Methoden und Anregungen in diesem Buch stellen die Meinung bzw. Erfahrung der Verfasserin dar. Sie wurden von ihr nach bestem Wissen erstellt und mit größtmöglicher Sorgfalt geprüft. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für persönlichen kompetenten Rat. Jede Leserin, jeder Leser ist für das eigene Tun und Lassen auch weiterhin selbst verantwortlich. Weder Autorin noch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen praktischen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.

VORWORT

Ich freue mich sehr, dass das vorliegende Buch in seiner neuen Ausgabe bei Gräfe und Unzer erscheinen darf. Das hat auch und vor allem mit Ihnen als Leser meiner Bücher zu tun. Denn Sie waren es, die fast tagtäglich bei mir nach dem Buch »Du bist o. k., so wie du bist – das Ende der Erziehung« fragten, nachdem es vergriffen und nur noch gebraucht im Internethandel zu finden war. Danke schön also für Ihre Hartnäckigkeit, denn jetzt halten Sie die Zeilen nagelneu gedruckt und gebunden in Ihren Händen.

»Sind denn die Inhalte des Buches noch aktuell?«, wurde ich gefragt, als ich mit der Idee der Neuausgabe zum Verlag kam. Natürlich. Aktueller denn je. Denn Erziehung ist ein Thema, das jeden und jede zu jeder Zeit betrifft, nicht zuletzt deshalb, weil wir selbst mal Kind waren und von unserer eigenen Erziehung geprägt sind. Darin liegt auch der Grund, warum sich Merkmale herkömmlicher Erziehung hartnäckig halten – weil sie von Generation zu Generation weitergegeben werden. Dies zwar in modifizierten Formen, letztlich jedoch geht es bei Erziehung immer darum, dass Kinder sich an ein von Erwachsenen gewünschtes Verhalten anpassen. Tun sie das nicht oder lehnen sie sich dagegen auf, üben Erwachsene in Form von Sanktionierungs- und/oder Belohnungsmaßnahmen ihre Macht aus. Es geschieht jeden Tag: in Familien, in Kindertagesstätten und auch in Schulen. Und deshalb lohnt es sich auch heute noch, überlieferte Erziehungsmechanismen zu ergründen und – darauf kam und kommt es mir an – kritisch zu hinterfragen. Denn es besteht berechtigter Zweifel daran, dass herkömmliche Erziehung, die nach dem Prinzip von Macht und Gehorsam funktioniert, gut für unsere Kinder ist. Und damit komme ich zu einem weiteren Punkt, der für eine Neuausgabe des Buches von 2013 spricht.

Im Vorfeld der Erstveröffentlichung habe ich mich eingehend mit wissenschaftlichen Erkenntnissen – insbesondere aus Entwicklungspsychologie und Hirnforschung – beschäftigt. Und in diesem Zusammenhang auch damit, was unsere Kinder brauchen, um sich physisch und psychisch bestmöglich zu entwickeln. Dabei habe ich festgestellt, dass das Modell der herkömmlichen Erziehung destruktiv auf die Entwicklung von Kindern wirkt, ihnen sogar schadet. Und das hat mich zu der Frage geführt: Was wäre, wenn wir das Modell der herkömmlichen Erziehung zur Seite stellen und uns weniger auf das Kind an sich als auf eine konstruktive Beziehung zueinander fokussieren? Konstruktiv im Sinne wissenschaftlicher Erkenntnisse auf der Basis von Bindungstheorie und Neuropsychologie. Was wäre, wenn wir das in den Blick nehmen, was zwischen zwei Menschen geschieht, was die Verbindung zueinander ausmacht. Quasi, wie der Ton zwischen Groß und Klein klingt? Denn darauf kommt es an. Die Wissenschaft bestätigt den hohen Stellenwert, den die Qualität der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern hat, und dass ein Kind mit seinem Verhalten immer eine Antwort gibt auf die Tonalität, die es in der Beziehung zu seinen Eltern erfährt. Das Kind befindet sich im Wachstum und in der Entwicklung und kann deshalb aus sich selbst heraus den Ton nicht bestimmen oder verändern. Es ist nicht seine Aufgabe, Verantwortung dafür zu übernehmen, sondern die Aufgabe von uns Erwachsenen. Zu dieser Verantwortung gehört auch, anzuerkennen, dass Kinder eine liebevolle Begleitung, keine druckvolle Beschneidung benötigen.

Die wichtigsten Erkenntnisse in diesem Zusammenhang und meine Gedanken dazu finden sich in diesem Buch. Sie sind nach wie vor noch nicht genügend in der pädagogischen Praxis und im Alltag von Familien präsent, können aber einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Kinder besser zu verstehen. Auch unter diesem Aspekt ist also eine Neuausgabe wünschenswert.

Doch auch wenn Erziehung (noch) nicht überwunden ist – ich bin voller Freude und Hoffnung. Denn es tut sich was, und das ist wundervoll: Es kommt Bewegung in alles und verkrustete Erziehungsmuster brechen gerade sichtbar auf. Unzählige Eltern suchen mich in meiner Praxis auf und lassen sich in ihrer Familiensituation begleiten und beraten, nehmen offen und interessiert an meinen Kursen teil, lassen sich zum Beispiel von mir in den Kursen »Kinder besser verstehen« in bindungs- und beziehungsorientierter Pädagogik schulen, sind bei der »Familienwerkstatt Kinder besser Verstehen« – einer von mir gegründeten weltweiten Online-Community für Familien – mit dabei und lassen sich langfristig den Rücken stärken in einer Gesellschaft, die wenig auf Beziehung, sondern vielmehr auf Erziehung setzt. Viele tausende Menschen lesen meine Bücher, hören meinen Familienrat-Podcast und besuchen mich auf meiner Lesereise, die von einer der größten Krankenkassen Deutschlands, der DAK-Gesundheit, im Bereich Prävention organisiert wird und sich unter dem Motto »Kindheit ohne Strafen« und »Was unsere Kinder brauchen« damit beschäftigt, was unsere Kinder zum gesunden Aufwachsen brauchen.

So bin ich fest davon überzeugt, dass sich gerade ein gesellschaftlicher Wandel vollzieht. Von der Erziehung hin zur Beziehung. Aus meiner eigenen Erfahrung heraus kann ich sagen, dass immer mehr Eltern, Pädagogen und Pädagoginnen es ganz bewusst anders machen wollen. Viele Erwachsene sind auf neuen Wegen, wollen ohne Sanktionen handeln und überlegen, was Kinder wirklich brauchen, was sie stark macht, und setzen auf eine konstruktive Beziehung zu Kindern.

Das heißt, die Entscheidung, es anders machen zu wollen, ist von vielen Eltern längst getroffen. Die einzig offene Frage ist häufig: Wie gelingt das denn? Wie kann ich es denn anders machen? Wenn ich nicht mehr sanktionieren, strafen oder mit Konsequenzen drohen, nicht mehr meckern und schimpfen möchte, was kann ich stattdessen machen und woran kann ich mich orientieren? Und in der Tat, hier gehen die Meinungen weit auseinander.

Eltern haben es nicht so leicht, sich zwischen den vielen Konzepten und verschiedenen Richtungen zu entscheiden, die für sich den Anspruch erheben, herkömmliche Erziehungsmechanismen nicht zu praktizieren und stattdessen den Schwerpunkt auf die Bindungstheorie und auf Beziehung zu legen. Das Bedürfnis des Kindes soll im Mittelpunkt stehen – und genau hier scheiden sich dann die Geister, es wird kompliziert. Denn oft sind Handlungsempfehlungen für Eltern nicht gut umsetzbar, und nicht alles, was bindungsorientiert scheint, ist auch beziehungsorientiert. So kann oder will nicht jede Mutter nach Bedarf das Baby tragen und/oder stillen, und nicht jede Familie kann oder will das Familienbett (Kinder und Eltern schlafen in einem Bett) praktizieren. Und es ist erst mal kein Zeichen für eine konstruktive Beziehung, wenn Eltern in Bezug auf Süßigkeiten- oder Fernsehkonsum auf die Selbstregulation des Kindes hoffen. In letzterem Fall werden oft vordergründige Wünsche mit wichtigen emotionalen Basis-Grundbedürfnissen verwechselt. Die ersten beiden Beispiele stellen Möglichkeiten dar, auf das Grundbedürfnis nach Nähe, Sicherheit und Geborgenheit einzugehen, sie sind aber nicht als Direktive zu sehen. Ein bindungs- und beziehungsorientiertes Familienleben muss nicht bestimmte Aspekte dogmatisch erfüllen. Im Gegenteil: Die Entscheidung einer Familie etwa für das Familienbett ist für sich genommen nicht das Kennzeichen eines neuen Umgangs, sondern eine höchst individuelle Entscheidung der Eltern, in dieser Form auf das Nähebedürfnis ihrer Kinder einzugehen. Es gibt aber viele verschiedene andere Möglichkeiten, das Bedürfnis nach Bindung zu beantworten – es darf für alle Beteiligten passen, also konstruktiv für die Beziehungen sein, und nicht unter Druck von einer Methode abgeleitet.

Dogmatische Einstellungen, denen ich oft begegnet bin, fördern Ratlosigkeit und Verunsicherung bei Eltern, vertiefen Gräben, und es entstehen Missverständnisse, was die Führung von Kindern, was Grenzen und die eigene Positionierung betrifft. Dies sogar innerhalb der Familie. Meine Erfahrung ist, dass Elternpaare, die es eigentlich gemeinsam anders machen wollen, durch diese Unklarheiten in Konflikt miteinander geraten. Den Vätern scheinen die Konzepte oft zu wenig praktisch umsetzbar, sodass sie schnell in eher autoritäre Handlungsmuster zurückfallen, und die Mütter haben große Sorge, dass sie die Grenzen ihres Kinder übertreten, Bedürfnisse missachten und nicht nach den bindungsorientierten Maximen handeln.

Auch für mich als Pädagogin war und ist oft zu wenig klar, worum es wirklich geht, wenn es heißt, dass die Bindung und Beziehung zu unseren Kindern doch das Wichtigste ist. Was hat daraus für den Umgang mit unseren Kindern konkret zu folgen? Deshalb habe ich mich in einem weiteren Teil des vorliegenden Buches damit beschäftigt, was die Grundlagen für eine bindungs- und beziehungsorientierte Haltung sein können, und im letzten Jahrzehnt eine ganz eigene Pädagogik und ein methodisches Vorgehen entwickelt – gerade auch in Abgrenzung zu den vielen anderen Richtungen, die sich mit der Bindungstheorie auseinandersetzen. Vielleicht kennt der eine oder die andere meine pädagogische Arbeit unter dem Titel: »Bindungs- und Beziehungsorientierte Pädagogik nach Katia Saalfrank« (kurz: buboks). Diese Pädagogik hat sich in den letzten Jahren als eigenständiger Begriff etabliert. Eltern profitieren hiervon insofern, als sie selbst befähigt werden, ihr Kind in seinen Verhaltensweisen ganz neu zu lesen und es dadurch erst mal einfach besser zu verstehen. Das nimmt Hilflosigkeit und versetzt Erwachsene in die Lage, wieder neu zu handeln. Die erste Frage lautet also nicht: »Was kann ich tun?«, sondern: »Was ist mit dem Kind los, welche Botschaft sendet das Kind mit seinem Verhalten?«

Dazu ein kleines Beispiel aus meiner Beratungspraxis: Ein dreijähriges Kind wird von seiner Mutter zum Essen gerufen und verweigert dies. Auf Nachfrage erklärt es, dass es lieber spielen als essen wolle. Die Mutter mutmaßt, dass das Kind hier sein emotionales Bedürfnis formuliert. Das ist aber nicht der Fall: Spielen ist lediglich das Anliegen. Das Kind bringt allerdings über sein Anliegen ein wichtiges Grundbedürfnis zum Ausdruck, nämlich das nach Autonomie und Selbstwirksamkeit. Es will selbst (mit)entscheiden.

Es geht also darum, das kindliche Verhalten als ein wertvolles Signal auf innerseelische Prozesse und emotionale Grundbedürfnisse zu verstehen. In diesem Sinn können ganz neue Antworten von Erwachsenen auf der emotionalen Ebene folgen. Das kostet nicht mehr Zeit! Der Kontakt zum Kind findet lediglich auf einer anderen Ebene statt.

Die Ausführungen in diesem Buch über emotionale Grundbedürfnisse – insbesondere über Verbundenheits- und Autonomiestreben – sind auch heute noch aktuell und nach wie vor dazu geeignet, ein solches Verständnis und darauf aufbauend neue Reaktions- und Handlungsweisen zu entwickeln. Darin liegt ein dritter und ganz entscheidender Grund, weswegen ich Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, dieses Buch weiter zur Verfügung stellen möchte. Dabei denke ich nicht nur an Eltern, sondern auch an Erzieher und Lehrerinnen, denn in Kita und Schule wird, besonders in Konfliktsituationen, nach wie vor bevormundet und sanktioniert. Da wird ein Kind schnell von der Gruppe ausgeschlossen und muss sich auf ein »Strafbänkchen« setzen, und »blaue Briefe« an die Eltern sind oft die Ultima Ratio von Lehrern und Lehrerinnen. Die hinter einem Konflikt oder hinter (oft nur vermeintlich) auffälligem Verhalten liegenden (Grund-)Bedürfnisse werden nicht in den Blick genommen. Dabei wäre ein Wandel von der Erziehung zur Beziehung auch in den staatlichen Institutionen konstruktiv und zielführend und für alle Beteiligten entlastend.

Ein wesentliches Anliegen von mir war und ist, dass wir Kindern eine kindgerechte Entwicklung zugestehen, dabei Rücksicht auf ihre Bedürfnisse, Gefühle und ihre Würde nehmen und sie auf diesem Wege wertschätzend begleiten. Dass wir sie nicht nach unseren Vorstellungen formen (also erziehen), sondern ihnen eine tragfähige Beziehung und eine sichere Bindung bieten und dabei ihre Individualität, ihren Entwicklungsstand und den jeweiligen Kontext einbeziehen. Das ist es, was Kinder brauchen. Auf diese Weise stärkrn wir sie und vermitteln ihnen das Gefühl, angenommen und geliebt zu sein, und sagen ihnen: »Du bist o. k., so wie du bist!«

In diesem Sinne lade ich Sie auch 2020 nochmals und erneut dazu ein, die Idee des klassischen Erziehens hinter sich zu lassen und im Umgang mit Ihren Kindern vor allem auf die Qualität des Miteinanders zu schauen. So können Sie neue Wege für sich und Ihre Familie gehen.

Viel Freude dabei!

Ihre und eure

Katia Saalfrank

0.LASSEN WIR ERZIEHUNG HINTER UNS

»Man kann in Kinder nichts hineinprügeln, aber vieles herausstreicheln.«

ASTRID LINDGREN

ERZIEHUNG DIENT NUR DEN ERWACHSENEN

Erziehung! Ein Thema, das jeden betrifft. Und ein Wort, das stets ein Adjektiv mit sich führt: gute Erziehung, schlechte Erziehung, autoritäre, moderne, demokratische Erziehung. Die Debatte ist von großer Leidenschaft und Schärfe geprägt. Hier prallen Menschen- und Gesellschaftsbilder in oft unversöhnlicher Härte aufeinander. Und nun komme ich – aufgrund meiner öffentlichen Rolle von vielen immer wieder gern in erprobte Erziehungsschubladen gesteckt – und sage: Vergesst Erziehung! Denn jede Art von Erziehung dient nur als Schutzschild der Erwachsenen, um sich vor der Beziehung zu Kindern zu schützen. Kinder hingegen brauchen keine Erziehung, Kinder brauchen vor allem Beziehung!

Sich öffentlich über Erziehung zu äußern, noch dazu mit unkonventionellen Positionen, ist heikel. Das habe ich immer wieder erlebt. Denn es bringt fest gefügte Vorstellungen von Eltern, aber auch von Fachkräften, durcheinander und stellt ihr Weltbild infrage. Erziehung ist ein hochemotionales Thema, das zeigen die oft hitzigen Diskussionen über das »Richtig« oder »Falsch« im Umgang mit Kindern. Schnell wird gewertet. Schnell fühlt man sich bewertet oder gar abgewertet. Das mag damit zusammenhängen, dass wir uns alle betroffen (und deshalb mitunter auch angegriffen) fühlen. Denn:

Wir alle waren mal Kind,

jeder und jede hat Eltern und eine Geschichte mit ihnen und

wir alle sind einmal erzogen worden.

Das immerhin verbindet uns.

Wir alle haben eine Meinung zu diesem Thema, weil wir alle unsere eigenen Erfahrungen in diesem sehr persönlichen Kontext gemacht haben. Und in diesen ordnen wir nun Aspekte ein, die uns zum Thema Erziehung begegnen. Das macht oft ratlos. Darin besteht jedoch eine Chance, neue Wege im Umgang mit unseren Kindern zu gehen.

Wie es immer noch oft ist

Erziehung betrifft nicht nur uns persönlich und unsere Familie, sondern steht auch im Zusammenhang mit unserem grundsätzlichen Verständnis davon, was Kinder sind und wie wir Kinder sehen, und unserer Vorstellung davon, wie wir mit ihnen umzugehen haben. Das sind Fragen, die unmittelbare Auswirkungen auf gesellschafts- und familienpolitische Konzepte und Maßnahmen haben.

Erwachsene haben von jeher gedacht, ein Kind sei noch kein »richtiger« Mensch. Die Überzeugung ist, ein Kind komme defizitär und halbfertig auf die Welt und müsse erst durch »Behandlung«, den Einfluss und die Einwirkung von Erwachsenen, zum Menschen gemacht werden. Die Menschwerdung geschieht nach dieser Vorstellung zum einen, indem das Kind ein bestimmtes Alter erreicht, zum anderen, indem der Erwachsene rigoros auf das Kind einwirkt, es beeinflusst und durch Manipulation dazu bringt, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten. So haben Erwachsene durch alle Zeiten hindurch versucht, Methoden zu finden, um Kindern beizubringen, wie man sich »richtig« benimmt und ein »ordentliches« Gesellschaftsmitglied wird. In diesem Sinne ist Erziehung die – durch bestimmte Normen geleitete – Einübung von gesellschaftlich erwünschten Verhaltensweisen und Vermittlung entsprechender Kompetenzen.

Kinder sind heute zum Spielball geworden in einer Debatte, die häufig von Schuldzuweisungen geprägt ist. Von Eltern wird gefordert, mehr und besser zu »erziehen«, während gleichzeitig anderswo die Forderung laut wird, die Institutionen, zum Beispiel die Schule, sollten mehr Erziehungsaufgaben übernehmen. Dadurch ist der Druck auf allen Seiten enorm gestiegen, die Verunsicherung groß.

Umdenken ist nötig

Als Mutter habe ich mir – wie viele andere Eltern auch – vorgenommen, es ganz anders zu machen, als ich es selbst erlebt habe. Also habe ich eigene Erfahrungen gesammelt, Fachbücher gelesen, studiert, im Alltag Neues ausprobiert und immer wieder mit anderen diskutiert. Was ist im Umgang mit Kindern richtig, was falsch? Wie verhält man sich in der Rolle als Mutter oder Vater richtig?

Wichtige Erkenntnisse

Die Entwicklungspsychologie hat längst widerlegt, dass Kinder als unfertige Wesen auf die Welt kommen, die erst nach und nach zu ›richtigen‹ Menschen werden. Es liegen genügend wissenschaftliche Erkenntnisse über die Entwicklung von Kindern vor und darüber, was sie brauchen, um gut aufwachsen zu können. Diese Erkenntnisse haben jedoch eklatant geringen Einfluss auf die pädagogische Praxis. Die Forschung betont einhellig, wie wichtig die Qualität der Bindung und Beziehung zu unseren Kindern ist. Zwischen der »Geisteswissenschaft« Pädagogik und den naturwissenschaftlich geprägten Forschungsrichtungen scheint eine unüberwindbare Mauer zu stehen, die uns in der erzieherischen Praxis daran hindert, die Bedeutung der Forschungsergebnisse zu erkennen, sie einzuordnen, zu verknüpfen und Konsequenzen im Sinne der Kinder daraus abzuleiten. Wir sind deshalb noch weit von einer Umsetzung und Integration des neuen Wissens in den Umgang und Alltag mit Kindern entfernt.

Als Pädagogin und Therapeutin habe ich eine Zeit lang gedacht, Erziehung solle vor allem von demokratischen Regeln, Verständnis und Wertschätzung den Kindern gegenüber geprägt sein. Ich verstand das als Weiterentwicklung moderner Erziehungskonzepte, als eine Abkehr von der autoritären Erziehung, die moralisiert und straft. Ich dachte lange, wir seien im modernen Zeitalter der Erziehung angekommen. Heute denke ich anders. Heute halte ich Erziehung im herkömmlichen Sinne generell für UNNÖTIG und ÜBERFLÜSSIG! Die vielen Menschen, die mir bei meiner Arbeit begegnen, haben zu dieser Überzeugung beigetragen, und nicht zuletzt auch meine Erfahrung als Mutter.

Befreiung der Kinder aus starren Konventionen

Wir können uns von der Vorstellung lösen, dass Kinder aktiv erzogen werden müssen. Erziehung bringt dem Kind nichts, ist nicht im Sinne des Kindes und hilft nur den Erwachsenen. Erziehend schneiden wir Kinder passfähig für die Welt der Erwachsenen, wir berauben sie vieler ihrer Potenziale und Möglichkeiten – bestenfalls, um ihnen vermeintlich gute Chancen in der Erwachsenenwelt zu eröffnen, schlimmstenfalls, um unserer Überforderung angesichts von Schwierigkeiten im Erziehungsalltag Herr zu werden.

Ich sehe deshalb die Notwendigkeit einer generellen Wende im Umgang mit unseren Kindern. Hin zu etwas ganz Neuem, jenseits von Erziehung. Ich bin der Überzeugung, dass nach der emanzipatorischen Gleichberechtigung der Frau auch Kinder aus erstarrten gesellschaftlichen Herrschaftskonventionen »befreit« werden können.

Es geht nicht um ein neues Erziehungsmodell

Wenn ich hier das Traditionelle infrage stelle und mit neuen Gedanken vergleiche, dann nicht, um herkömmliche Konzepte abzuwerten, sondern um die Unterschiede zu meinem Ansatz deutlich zu machen. Ich denke, dass sich unsere heutigen Erziehungsstile von früheren im Kern kaum unterscheiden und dass wir nach wie vor – besonders bei Konflikten – unsere eigenen Interessen vorwiegend machtvoll gegenüber denen des Kindes durchsetzen. Damit verstecken wir uns letztendlich hinter Erziehung, anstatt als Mensch in einer authentischen Beziehung den Kindern gegenüber sichtbar zu werden. Wir meinen, uns von der autoritären Erziehung abgewandt und zu einem neuen, modernen Erziehungsstil gefunden zu haben. Die Praxis – ob in Schule, Kita oder der eigenen Familie – sieht anders aus. Nach wie vor wollen wir Kinder zu einem bestimmten Verhalten bringen und anderes Verhalten mit Macht (manchmal auch Gewalt) unterbinden.

Ich erlebe in der Elternberatung und im Kontakt mit Lehrerinnen und Erziehern immer wieder, dass nicht nur Unsicherheit, sondern auch eine große OFFENHEIT FÜR NEUES vorhanden ist. Mit diesem Buch möchte ich nicht nur einladen, sich auf etwas ganz Neues einzulassen, und ermutigen, einen ganz anderen Blickwinkel einzunehmen. Ich möchte auch begründen, warum ich das gesamte Modell der Erziehung für hinfällig halte. Dass es gute Gründe gibt, nicht etwa ein Erziehungsmodell gegen ein anderes auszutauschen, sondern die Idee des Erziehens insgesamt hinter sich zu lassen und sich etwas Neuartigem zuzuwenden: der Beziehung zu Kindern!

BEZIEHUNG DIENT DEN KINDERN – UND UNS

Von der ERziehung zur BEziehung scheint es nur ein kleiner Schritt zu sein, nur zwei Buchstaben gilt es auszutauschen. Zu verstehen jedoch, was Beziehung heißt, sich darauf einzulassen und sie in der Praxis, im Umgang mit Kindern, zu leben, ist natürlich schwieriger, zumal es wenig Erprobtes gibt, auf das wir zurückgreifen können.

Es fällt uns schwer, uns aus alten Mustern zu befreien, denn Beziehungsprozesse laufen häufig unbewusst ab. So ist zuallererst und immer wieder ein Blick auf uns selbst ganz wesentlich. Es geht eben nicht (mehr) darum, den Fokus ausschließlich auf das Kind zu richten, es zu manipulieren und auf es einzuwirken, um ein bestimmtes Ziel im Sinne eines erwünschten Verhaltens zu erreichen. Während Erziehung klar definierbare, zielgerichtete, lösungsorientierte Handlungen der Erwachsenen beinhaltet, setzt Beziehung eine offene Haltung dem Kind und seinem Wesen gegenüber voraus, die von Vertrauen und gegenseitiger Wertschätzung geprägt ist.

»Beziehung stellt den gleichwertigen und persönlichen Dialog in den Mittelpunkt und lebt davon, dass beide Partner vom jeweils anderen profitieren wollen.«

Es geht also nicht darum, Kindern lediglich ein demokratisches »Mitspracherecht« einzuräumen, sondern vielmehr darum zu verstehen, dass wir Erwachsene von dem profitieren, was Kinder in eine Beziehung zu uns miteinbringen, was sie denken, fühlen und sagen. Es ist für uns Erwachsene ein großer Gewinn, wenn wir Kinder ernst nehmen und ihnen in einem persönlichen Dialog begegnen können! Wenn wir Erwachsenen uns trauen, uns auf eine echte Beziehung einzulassen, dann wird es uns möglich, von Kindern zu lernen und bestimmte Kompetenzen, wie zum Beispiel Offenheit, Unvoreingenommenheit, Sensibilität – also das, was uns aberzogen und mit Erziehung abtrainiert wurde –, wiederzuerlangen.

Dies bedeutet aber gleichzeitig, dass sich gelebte Familienstrukturen hinterfragen lassen müssen, etwa wie folgt:

Warum folgen wir noch oft einer alten Machtstruktur und behandeln Kinder wie »Untertanen«, die uns ausgeliefert sind?

Welche Rolle wollen wir als Eltern unseren Kindern gegenüber einnehmen?

Sollten wir überhaupt eine Rolle einnehmen, oder können wir uns als Mensch authentisch zeigen? AUTHENTISCH in dem Sinne, dass wir uns den Kindern mit unseren Gefühlen – und nicht nur mit unseren vermeintlichen Stärken, sondern auch mit unseren Schwächen – offen zeigen.

Nach meiner Erfahrung ist es gut, sich solche Fragen zu stellen, und dazu sind heute auch immer mehr Eltern bereit.

Was ist eine gute Beziehung?

Eine gute Beziehung ist geprägt von Dialog, Offenheit und Toleranz: Der andere wird "mit seinen Bedürfnissen respektiert und auch in seiner Andersartigkeit und Vielfalt akzeptiert. Heute sind wir – wie zu keiner anderen Zeit zuvor – in der Lage, gleichwertige Beziehungen einzugehen, auch wenn es uns schwerfällt und dem eingeübten Hierarchiedenken widerspricht. An fest gefügten Machtstrukturen festzuhalten hilft natürlich, den Alltag zu meistern. Reich über arm, Bildungsbürger besser als »Ungebildete«, Erwachsene den Kindern überlegen – sichtbare oder nur gefühlte Machtstrukturen stehen einer immer neuen Offenheit in einer Beziehung auf Augenhöhe im Weg. Wir stehen uns selbst im Weg.

Die Gründe dafür sind durchaus nachvollziehbar, denn es birgt ein gewisses Risiko, sich auf eine echte Beziehung einzulassen und sich als Mensch zu zeigen. Wir müssen dann nämlich auch zu unseren Schwächen stehen und uns in unserer Rolle als Eltern hinterfragen lassen. Wir müssen Verantwortung übernehmen für das Gelingen eines Dialogs – und der Beziehung zu den Kindern überhaupt. Das haben wir nicht gelernt. Sobald wir dann unsicher werden, greifen wir reflexartig auf etwas Gelerntes, Bekanntes zurück. Diese Prozesse gilt es sichtbar und transparent – und sich so bewusst zu machen.

Es geht mir nicht darum, neue Erziehungsstile oder -modelle zu finden und so die Erziehung zu verändern – da hat sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder etwas getan. Es geht mir vielmehr darum, Erziehung und ihre Folgen beziehungsweise ihre Wirkung auf uns alle zu entlarven und letztlich zu zeigen, dass wir sie im Umgang mit unseren Kindern nicht brauchen. Ich gehe noch weiter und sage, dass Erziehung oft sogar negative Folgen hat.

»Erziehung ist nicht nur überflüssig, sie richtet häufig auch Schaden an.«

Die Veränderung im Verhältnis zwischen Männern und Frauen hat gezeigt, dass es möglich ist, Grundsätzliches zu überdenken und einen Großteil unserer bisherigen Auffassungen und Vorstellungen infrage zu stellen. Folglich sollten wir auch keine Scheu haben, das Verhältnis zu unseren Kindern zu hinterfragen. Anders als die Frauen, die selbst für ihre Rechte eintreten können, sind Kinder nicht in der Lage, Veränderungen aus sich selbst heraus zu bewirken. Wir brauchen deshalb ein gesellschaftliches Umdenken.

Was das Buch Ihnen bietet

Verschiedene gesellschaftliche Faktoren wie hohe Scheidungsraten, Rückgang der Kinderzahl, nicht eheliche Lebens- und Wohngemeinschaften mit und ohne Kinder und die häufigere Berufstätigkeit der Frau haben zu einer größeren Vielfalt und so gleichzeitig auch zu einem radikalen Wandel der Familienformen geführt. Werte, Normen und Vorstellungen wandeln sich dadurch ebenfalls. Das verunsichert einerseits, bietet andererseits aber auch Chancen und macht Vielfältigkeit und INDIVIDUELLE LEBENSKONZEPTE möglich. So können Eltern heute für ihre Familie nach eigenen individuellen Werten suchen und diese für sich ausprobieren. Auch hierzu soll das vorliegende Buch anregen – neben der schon erwähnten ERMUTIGUNG, das Konzept »Erziehung« ganz hinter sich zu lassen.

Darüber hinaus habe ich Informationen über die Entwicklungsstufen von Kindern zusammengetragen und BINDUNGSTHEORETISCHE UND ENTWICKLUNGSPSYCHOLOGISCHE ERKENNTNISSE in alltagspraktische Beispiele einfließen lassen. Kinder verbringen immer mehr Zeit in Bildungseinrichtungen. Hat sich hier ein Wandel vollzogen? Haben die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse Einfluss auf unser Bildungssystem? Auch solche Fragen werden im Folgenden diskutiert.

Die Gedanken und HANDLUNGSALTERNATIVEN in diesem Buch sollen zum Experimentieren anregen. Sie sind nicht einfach nur zu befolgen und auch nicht als Erziehungshilfen oder im Sinne eines Ratgebers gedacht. Vielmehr sollen sie neue Grundsätze anbieten, die sich aus meiner Erfahrung bewährt haben und als Navigationshilfe im Alltag mit Kindern dienen können, um neue Betrachtungsweisen zu finden und individuelle Wege für sich und die eigene Familie zu gehen.

Eine gesellschaftliche Aufgabe

Eventuell wird mancher Leser an der einen oder anderen Stelle den Eindruck haben, dass einseitig Partei für das Kind genommen wird. Die Haltung zum Kind gesellschaftlich aufzubrechen stellt jedoch keine Parteinahme für das Kind dar und soll auch nicht als Akt der Gerechtigkeit verstanden werden. Wenn sich im Wandel der Zeit die wissenschaftlichen Erkenntnisse über ein gesundes Aufwachsen von Kindern verändern, ist es schlichtweg notwendig, diese Veränderung nach unserem kulturellen Selbstverständnis als gesellschaftliche Aufgabe zu begreifen.

1.WO WIR HEUTE STEHEN

»Zu einem Ende kommen heißt, einen Anfang machen.«

T. S. ELIOT

JEDE MENGE MISSVERSTÄNDNISSE

Die Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden für die Bildung sind in den vergangenen Jahren enorm gestiegen. Im Jahr 2010 waren es 174,8 Milliarden, 2015 194,9 und 2016 waren es bereits 201,6 Milliarden Euro. Ein weiterer Anstieg wird erwartet, nämlich 206,8 Milliarden Euro für 2017 (Bundesfinanzbericht 2019). Auch Familien werden hoch subventioniert. Neben dem Kindergeld können junge Familien seit 2007 auch das Elterngeld in Anspruch nehmen. Die Förderung der Familie vermittels vielfältiger Transferleistungen ist politischer Konsens in Deutschland. Und nicht nur die Familie, sondern auch das Kind selbst soll gefördert werden. Zum BETREUUNGSAUFTRAG ist der BILDUNGSAUFTRAG hinzugekommen. Infolgedessen sind zahlreiche Bildungsinstitutionen mit ebenso zahlreichen pädagogischen Konzepten wie Pilze aus dem Boden geschossen.

»Kinder werden immer früher mit staatlich organisierter Bildung, mit immer noch mehr Wissen und dessen gezielter Vermittlung konfrontiert.«

Besonders die frühkindliche Förderung wurde im Lauf der Jahre optimiert. Gute Bildung soll schon in frühen Jahren möglich sein. Unsere Kinder sollen alle Chancen haben, sich gut, nein: optimal zu entwickeln. Kinderkrippen, Kindertagesstätten und Ganztagsbetreuung für Kinder werden ausgebaut, gefördert – ein attraktives Angebot, das Familien kaum ausschlagen können. Oder nur auf eigene Verantwortung. Die KINDER ALS RESSOURCE DES WOHLSTANDS von morgen sind fest im Blick, ihr Wert allerdings wird ausschließlich in ihrer Fähigkeit beurteilt, Deutschland im internationalen Wettbewerb zu stärken. Was auf den ersten Blick nach einer begrüßenswerten Entwicklung aussehen mag, hat jedoch auch Schattenseiten. Denn die Ansprüche, die durch die umfassenden Förder- und Betreuungsangebote an die Familien herangetragen werden oder die sie an sich selbst stellen, sind enorm gestiegen und werfen viele Fragen auf. Wie kann ich meinem Erziehungsauftrag gerecht werden? Wie finde ich die richtige Betreuung? Welche Bildung soll mein Kind wann und in welcher »Dosierung« erhalten? Sind wir gute Eltern? Was wird aus meinem Kind, wenn es versagt, wenn ich versage als Mutter oder Vater? Kurz gesagt: Wie erziehe ich mein Kind richtig?

Verunsicherung durch Angst

Eltern wollen alles gut, alles richtig machen. Die Anforderungen, allem gerecht zu werden, steigen, und durch äußere oder auch eigene Ansprüche geraten Eltern schnell unter Druck, was zu Verunsicherung führt. Und Eltern sind leicht zu verunsichern. Das wird immer wieder in Familienberatungen deutlich. Eltern sind angreifbar und verletzlich in ihrer emotionalen Rolle als Mutter oder Vater, und sie fühlen sich sofort schuldig, wenn etwas (vermeintlich) nicht gelingt. Eltern erleben den Widerspruch zwischen dem Wunsch, das Beste für ihre Kinder zu ermöglichen und so deren gesellschaftliche Chancen zu steigern, und dem Bedürfnis nach familiärer Geborgenheit. Deshalb stellt sich ihnen die Frage, wie sie ihr Kind besser verstehen und gut mit ihm umgehen können, heute dringlicher denn je.

Das Märchen von »Monstern« und »Tyrannen«

Wir sind auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, miteinander zu leben. Wir sind in einer Phase der Ungewissheit und des Umbruchs. Dieser Zustand erklärt, warum so viele Debatten geführt werden über die angebliche »Disziplinlosigkeit« der Kinder und Jugendlichen von heute. Auch ist es in solch einer gesellschaftlichen Stimmung nur nachvollziehbar, dass Bücher, die aus medizinisch-psychiatrischer Sicht einen angeblichen »Erziehungsnotstand« ausrufen und Kindern neben der inflationären Diagnose ADHS zugleich noch eine psychische Reifeverzögerung attestieren, auf breites Interesse stoßen. Und nachvollziehbar ist ebenfalls, dass die autoritären Traktate, in denen von »kleinen Monstern« die Rede ist, die uns den »letzten Nerv rauben«, die uns »auf der Nase herumtanzen«, die »irrsinnig anstrengend« sind, offene Ohren finden. Diese Diskussionen über Kinder, die nicht »erzogen« sind, und über Eltern, deren Erziehung »aus dem Ruder gelaufen« ist und die sich »kleine Tyrannen herangezüchtet« haben, tragen ihren Teil dazu bei, dass bei vielen Eltern die Unsicherheit verstärkt wird. Zusätzlich angeheizt wird die Stimmung durch Schriften, die ein Loblied auf die »Disziplin« singen und in denen gefordert wird, dass Eltern mehr »durchgreifen« sollten. Wie viel zusätzliche Verantwortung lastet da auf den Schultern der Eltern!

Auffällig – und ALARMIEREND – ist, dass gerade in derartigen Büchern kindliches Verhalten als »normal« oder »anormal« eingeordnet und gewertet wird, ohne dass die Verfasser sich mit der jeweiligen Situation, in der ein Kind agiert, oder mit den Gründen für ein bestimmtes Verhalten auseinandersetzen. Heute scheinen Kinder sofort mit Diagnosen belegt und bei jeder kleinsten Abweichung als »verhaltensauffällig« eingestuft zu werden. Ganz so, als ob keinerlei Zweifel daran bestünden, was als »normal«, »nicht normal«, als abweichendes Verhalten oder gar als krankhaft zu gelten habe. PAUSCHALIERUNGEN und VEREINFACHUNGEN von komplexen Fragen sind jedoch weder für Kinder noch für Eltern hilfreich und werden der diffizilen Materie nicht gerecht. Sie tragen vielmehr zur Unsicherheit von Eltern bei und lösen Angst und Sorge auf ihrer Seite aus.

Vieles ist normal!

»Normales«, also typisches Verhalten von Kindern ist erst mal ein rein statistischer Wert, und es bedarf einer differenzierten, umfassenden Beobachtung des Kindes unter Einbeziehung seiner Lebensumwelt, um fachlich einordnen zu können, ob es sich im konkreten Fall um ein Normverhalten handelt oder ob eine Abweichung vorliegt. Denn die Vielfalt dessen, was innerhalb einer gesunden kindgerechten Entwicklung geschehen kann, ist ungemein groß – und lässt viel Platz für Interpretation.

Stigmatisierung der Kinder, Schuldgefühle der Eltern

Eltern werden heute beständig mit Untergangsszenarien konfrontiert, die durch vermeintlich logische, tatsächlich aber haarsträubende Kausalketten hergeleitet werden. Von einem Kind, das sich protestierend auf den Boden wirft, weil es nicht einsehen will, dass seine Mutter ihm den Mund abwischt, ist es – glaubt man diesen Experten – nicht weit bis zu einem jugendlichen Arbeitslosen, der nicht fähig ist, eine Ausbildung anzufangen und zu beenden.

Nicht selten landen dann verunsicherte Eltern bei Kinderärzten, Psychiatern und Psychologen; die Kinder müssen sich Tests unterziehen, man stellt ihnen Diagnosen, sie werden therapiert und häufig medikamentiert. Ihre »Symptome« werden behandelt. Sie werden als auffällige, schwierige Kinder eingeordnet, ausschließlich mit ihren DEFIZITEN gesehen, aber nicht mit ihren Nöten verstanden.

»Glaubt man den Experten, so scheint eine ganze Generation unaufhaltsam auf die große Katastrophe zuzusteuern und eine gute Entwicklung von Kindern kaum noch möglich zu sein.«

So werden sie von einer Institution zur anderen herumgeschoben, ihr Gefühl, dass sie »anders« und »nicht richtig« sind, verstärkt sich, während ihre Eltern neue, klinische Vokabeln lernen wie »Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom«, kurz ADHS. Besorgte, entmutigte oder panische Eltern hocken zuhauf mit ihrem Nachwuchs, der von der Umwelt als »Problemkinder« eingestuft und damit stigmatisiert wird, in den Wartezimmern, lösen Rezepte für Ritalin ein und fühlen sich belastet und schuldig.

Die Legende von Walfischen und Heuschrecken

Eltern erzählen Freunden, Verwandten und Kollegen unsicher von ihrem »schwierigen« Kind. Auch in den Schulen sind »diese Kinder« ein Thema. Sie stören den Ablauf, oh je! Dieses »schwierige« Kind ist ein »Riesenproblem«. Hört man Lehrer oder auch die Eltern der Kinder – durch die Diagnosen der Ärzte verunsichert – reden, könnte man meinen, ein Walfisch habe sich in den Goldfischteich verirrt. Es klingt, als wäre etwas überaus Unnatürliches und Schlimmes passiert, das Kind steht mit seinen vermeintlichen Defiziten plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Es passt nicht in unser Bild, es ist im Weg, es »funktioniert« nicht in unserem System.

Sieht man die steigenden Zahlen von verhaltensauffälligen Kindern, könnte man den Experten fast selbst Glauben schenken – und damit leider auch der Botschaft zwischen den Zeilen: Die Kinder wachsen uns über den Kopf, sie werden immer schwieriger, wir stehen machtlos daneben. Das Kind wird zunehmend eher als BEDROHUNG und als BELASTUNG denn als BEREICHERUNG und GLÜCK empfunden. Bei solchen Aussichten ist es kaum verwunderlich, dass Eltern massiv verunsichert sind, eine grundsätzliche Entscheidung, Kinder zu bekommen, noch schwieriger wird, als sie ohnehin schon ist, und dass Kinder zunehmend argwöhnisch beobachtet werden: wie eine Heuschreckenplage, die wir zwar selbst in die Welt gesetzt, über die wir aber längst die Kontrolle verloren haben.

Das eigene Denken und Handeln hinterfragen

Wenn ständig behauptet wird, dass Kinder, die sich nicht so verhalten, wie ihre Eltern oder die Umwelt es erwarten, schnell zu einer Bedrohung der gesamten Gesellschaft werden, dass Unsicherheiten von Eltern und kleine »Fehler« in der Erziehung unserer Kinder folgenschwere Konsequenzen haben können – dann ist es kein Wunder, dass sich Eltern bei der ersten Abweichung von dem von ihren Kindern erwarteten Verhalten irritiert an den nächsten Arzt wenden oder sich mit einer Wand aus Ratgebern umstellen und die darin vorgeschlagenen Maßnahmen und Regeln Schritt für Schritt wie bei einem Backrezept befolgen. Wenn man sich nur an alle Zutaten und Arbeitsschritte hält, dann kommt doch am Ende hoffentlich ein »anständiges« und »normales« – ein für unsere Welt kompatibles – Kind dabei heraus. Was auch immer das ist. Durch zunehmende Normierungstendenzen in allen Bereichen wird unser Blickfeld auf Kinder immer enger. Statt Persönlichkeiten wollen wir das optimierte Musterkind.

Und so werden Eltern verunsichert und fragen sich: Ist mein Kind in Ordnung? Zeigt es »normales« Verhalten? Ein wenig so, als sei eine Krankheit im Umlauf, die unsere Kinder mehr oder weniger zufällig befallen könnte. Als habe niemand und nichts Einfluss auf diese Entwicklung unserer Kinder und als stünde das Verhalten von Kindern in keinem familiären oder gesellschaftlichen Zusammenhang.

»Dass Entwicklung vielfältig und individuell und trotzdem noch natürlich sein kann, findet in den Rastern und Tabellen kaum Platz.«

Natürlich ist es einfacher und mit weniger Aufwand verbunden, mit dem Finger auf den anderen zu zeigen und zu sagen: Du, Kind, bist nicht in Ordnung, mit dir stimmt etwas nicht! Es ist auch deshalb bequem, weil die Erwachsenen dann Verantwortung abgeben können und nicht auf sich selbst schauen müssen und fragen: Welchen Anteil tragen wir selbst vielleicht daran, dass ein Kind sich so oder so verhält? Stattdessen wird das Verhalten der Kinder problematisiert und pathologisiert. Es ist bequem und entlastend für uns, zu sagen: Das ist nicht normal! Was wir damit eigentlich meinen: Das Kind ist nicht normal – es verhält sich nicht normgerecht! Es fällt auf und raus aus unserem Raster für das, was wir als »normal« empfinden.

Entwicklungsgerechtes Verhalten falsch interpretiert

Es geht hier nicht darum, den Spieß umzudrehen und Eltern und Erziehenden »Schuld« zuzuschieben. Es geht um VERANTWORTUNG. Und darum, zunächst unsere eigenen Denk- und Verhaltensmuster aufzudecken und zu verstehen, welche Wirkung sie auf uns und unsere Kinder haben.

Es entsteht ein Zerrbild, und es ist ein Missverständnis, wenn wir denken, dass wir keine Verantwortung tragen! Denn unser UMGANG mit einem Kind und auch die von uns bereitgestellte UMWELT haben großen Einfluss auf das Kind und seine Entwicklung. Es verhält sich immer der Umwelt entsprechend, deshalb können wir Kinder und ihr Verhalten nicht ohne den GESAMTZUSAMMENHANG betrachten.

Hinzu kommt – wie schon erwähnt –, dass wesentliche Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie – über bestimmte Verhaltensweisen, die zu einer notwendigen und gesunden Gesamtentwicklung von Kindern gehören – bisher nicht in unserer Gesellschaft angekommen sind. Ein tiefes Tal der Zusammenhanglosigkeit liegt zwischen den Erkenntnissen von Erziehungswissenschaft, empirischer Säuglingsforschung, Entwicklungspsychologie und aktueller Hirnforschung einerseits und angewandter praktischer Pädagogik in Familien und staatlichen Institutionen andererseits. Diese Tatsache hat zu einem gewaltigen gesellschaftlichen Innovationsstau geführt. Jene Wissenschaften, die sich mit der Entwicklung und dem Wachstum des Menschen beschäftigen, scheinen jeweils ein Eigenleben zu führen, anstatt gemeinsam in eine Richtung zu wirken. Daher finden die Erkenntnisse der einzelnen Disziplinen kaum Wege in die praktische Anwendung. Kein Wunder also, dass entwicklungsgerechtes Verhalten von Kindern immer wieder falsch bewertet wird. Ein Beispiel aus meiner Beratungspraxis:

Wir haben ein Problem mit unserem vierjährigen Sohn Linus. Er besucht seit zwei Jahren die Kita in unserem Ort. Gestern hat mich die Erzieherin angesprochen und mir mitgeteilt, dass unser Sohn aus der Gruppe ausgeschlossen werden müsse. Der Grund dafür: Linus sei aggressiv und habe sich nicht unter Kontrolle. Er gehe auf andere Kinder los und störe so die Gruppe und den Ablauf bei gemeinsamen Aktivitäten.

Wir wissen, dass Linus sich manchmal ärgert. Vor ein paar Monaten kam es zum Streit mit seinem besten Freund. Dabei ist er gestürzt und hat sich selbst in der folgenden Rangelei die Nase aufgeschlagen, was ihn wohl sehr wütend gemacht hat. Denn dann gab es mit einem anderen Jungen Ärger, sie haben sich gestritten und am Boden gebalgt. Die Mütter dieser beiden Jungen finden das nicht toll, das ist klar. Würde ich auch nicht. Allerdings sind es andere Mütter aus der Gruppe, die jetzt für Aufruhr sorgen. Ich will unseren Sohn nicht in den Himmel loben, aber er ist ein herzensguter, lustiger kleiner Mensch. Das sagt selbst die Erzieherin. Es ist alles so widersprüchlich. Aber wie bekommt man das aus ihm raus? Die Erzieherin meinte, wir müssen die Aggression aus ihm rausbekommen, sonst habe er in der Schule später nur Probleme. Und die geht ja auch schon bald los. Haben Sie einen Tipp, was wir machen können? Ich bin so ratlos und mache mir große Sorgen. Das macht mich alles so fertig.

Linus’ Geschichte ist ein typisches Beispiel dafür, dass entwicklungsgerechtes Verhalten von Kindern etwa von Erziehern nicht erkannt wird und deshalb nicht konstruktiv darauf reagiert werden kann. Deutlich wird hier die Haltung der Erwachsenen: Diese Gefühle darf ein Kind nicht haben; und wenn doch, dann nicht hier! Sein Verhalten ist nicht erwünscht, und das Kind wird ausgegrenzt.

Allerdings: Durch sein Verhalten fällt Linus zwar in dieser Gruppe auf, es ist aber keineswegs unnormal! Im Gegenteil. Linus macht hier wichtige Erfahrungen mit starken Emotionen. Er streitet sich, wird wütend und zeigt seine Aggression.

In der Erziehung spielten noch vor zirka 70 Jahren Gefühle kaum eine Rolle. Sie wurden in der Regel unterdrückt. Heute wissen wir, dass Menschen hierdurch in ihrer emotionalen Entwicklung gehemmt werden und in der Folge Störungen entwickeln können.

Kindern ihre Gefühle lassen

Langjährige Entwicklungsforschung hat gezeigt und Praxiserfahrungen aus der Therapie haben ergeben, wie wesentlich es für uns Menschen ist, dass wir unsere Gefühle wahrnehmen und einen Zugang zu ihnen entwickeln können. Dabei geht es nicht nur um positive Gefühle wie Freude, Begeisterung und die Fähigkeit, Glück zu empfinden. Es geht darum, die gesamte Bandbreite und vielfältige Palette von Gefühlen kennenzulernen. Wir brauchen also auch Erfahrungen mit den sogenannten negativen Gefühlen: Trauer, Enttäuschung, Schmerz, Wut, Aggression. Es ist wichtig, dass wir sie erfahren, dass wir sie verbalisieren und sie ausdrücken können.

Vielfältige wissenschaftliche Studien belegen, dass das Verleugnen und Wegdrücken von Gefühlen den Menschen krank macht. Aber Menschen können Aggressionen doch nicht einfach ungefiltert ausagieren, wird der eine oder andere einwenden. Der Begriff »Aggression« ist von dem lateinischen Wort für »herangehen, angreifen« abgeleitet. Aggressionen an sich sind wichtig, sie bringen uns zu Hochleistungen, etwa im Sport. Wer beispielsweise bei den Olympischen Spielen die Sportler in Zeitlupenwiedergabe genau beobachtet, kann erkennen, wie sich Aggressivität in den Gesichtern spiegelt und in Energie verwandelt, die den Athleten nach vorn bringt. Dass aggressives Verhalten von Kindern häufig falsch interpretiert wird, liegt an folgenden Gedanken:

Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, Aggressivität führe unweigerlich zu Gewalt. Deshalb meint man, Kinder sollten schon frühzeitig lernen, Konflikte ausschließlich verbal zu klären. Dies bedeutet für sie jedoch häufig eine absolute Überforderung. Für eine solche Konfliktlösung müssten sie sehr früh schon eine intellektuelle Leistung erbringen, die oft auch uns Erwachsenen schwerfällt.

Wir denken und handeln so jedoch nur aus der absurden Befürchtung, dass aus einem aggressiven vierjährigen Jungen zwangsläufig ein gewalttätiger Jugendlicher wird. Die Kausalkette so zu knüpfen beruht auf einem Fehlschluss. Denn nicht aggressives Verhalten in der Kindheit ist ursächlich für spätere Gewalttätigkeit von Jugendlichen. Vielmehr, das zeigen zahlreiche Untersuchungen, haben gewalttätige Jugendliche fast ausnahmslos in ihren Familien psychische oder physische Gewalt erfahren und waren häufig selbst Opfer.

Emotionen in ihrer ganzen Bandbreite anerkennen

Es gibt nicht nur eine Angst oder die Aggression. Gefühle treten in vielen Abstufungen und Färbungen auf. Unsere Gefühlswelt ist komplex, und jedes Gefühl hat verschiedene Facetten. Es gilt, alle Emotionen im Laufe der Zeit kennenzulernen, Erfahrungen im Umgang mit ihnen zu sammeln und sie letztendlich sämtlich in uns zu integrieren. Dieser Prozess beansprucht rund sechzehn bis siebzehn Jahre – dauert also bis zur Pubertät – und gehört zur normalen seelisch-emotionalen Entwicklung von Kindern.

Linus macht also wesentliche Erfahrungen in seiner emotionalen Entwicklung. Doch anstatt ihn sich auch körperlich auseinandersetzen zu lassen, ihn kindgerecht beim Umgang mit Konflikten zu unterstützen und in seiner Entwicklung zu begleiten, wird das unerwünschte Verhalten weggedrückt, und das störende Kind soll die Gruppe verlassen.

Wir erkennen »Normalität« nicht!