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Schlauer als KI und Logik – unsere Ur-Intelligenz Was macht menschliche Genialität aus? Was hebt Persönlichkeiten wie Steve Jobs, Marie Curie oder Nikola Tesla von der Masse ab? Der Gehirnforscher Angus Fletcher zeigt, dass deren außergewöhnlichen Fähigkeiten nicht allein auf rationaler Logik beruhen, sondern auch auf einer unbewussten, ursprünglichen Kraft: der Ur-Intelligenz. Diese vereint Intuition, Vorstellungskraft, Emotionen und gesunden Menschenverstand – Fähigkeiten, die tief in uns verwurzelt sind und die wir einer künstlichen Intelligenz voraushaben. Anhand von Beispielen aus Kunst, Wissenschaft, Militär und Wirtschaft sowie mithilfe praktischer Übungen zeigt Fletcher, wie sich diese Potenziale gezielt fördern lassen, ob durch das bewusste Erkennen von Ausnahmen, kreative Perspektivwechsel oder gezieltes Training von Widerstandsfähigkeit. Und er macht deutlich: Es steckt mehr in uns, als wir ahnen!
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Seitenzahl: 394
Veröffentlichungsjahr: 2025
REDLINE VERLAG
ANGUS FLETCHER
DU BIST SCHLAUER, ALS DU DENKST
Wie du deine Ur-Intelligenz und deine verborgenen Stärken aktivierst – für Beruf und Alltag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
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1. Auflage 2025
© 2025 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Die englische Originalausgabe erschien 2025 bei Avery unter dem Titel Primal Intelligence.
Diese Ausgabe erscheint in Zusammenarbeit mit Avery, einem Imprint der Penguin Publishing Group, einer Abteilung von Penguin Random House LLC.
© 2025 by Angus Fletcher. All rights reserved.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Weise für das Training von Technologien oder Systemen der künstlichen Intelligenz verwendet oder vervielfältigt werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Übersetzung: Heike Maillard
Redaktion: Matthias Höhne
Umschlaggestaltung: Sonja Stiefel
Umschlagabbildung: Adobe Stock/artwiyanastudio
Satz: Daniel Förster
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-86881-786-7
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-656-8
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.redline-verlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de
Für meinen Vater,der mir Tiger, Tiger vorlas
Den Colonel auf dem Rasen des Campus bemerkte niemand. Es war ein geschäftiger Frühlingstag: Die Studierenden, die in ihre Vorlesungen eilten, waren in ihre Mobiltelefone vertieft. Und außerdem gehörte es zu seinem Job, nicht gesehen zu werden. Mit seinen nicht sonderlich breiten Schultern und unauffälligen Kleidern war er bereits an vielen Orten eingesetzt worden, auf Palmeninseln im Pazifik, bei Straßenschießereien und in persischen Betonpalästen. Überall löste er sich sofort in Luft auf.
Es war im März 2021. Der Colonel sollte in der Ohio State – einer weitläufigen staatlichen Universität mit Gebäuden aus viel Backstein und Glas – einem Gerücht nachgehen. Er war in seinen 20 Jahren bei der US Army schon vielen Gerüchten nachgegangen, von Spionen mit übernatürlichen Kräften über Aurakameras bis zu Maschinen, die mit Überlichtgeschwindigkeit flögen. Doch eine so unwahrscheinliche Geschichte wie diese war ihm schon lange nicht mehr untergekommen. Angeblich hatte ein Ohio-State-Thinktank einen unbekannten Teil des Gehirns entdeckt, dem Steve Jobs seine Genialität verdankte. Und Maya Angelou. Und Nikola Tesla. Und Vincent van Gogh.
Der Colonel stellte ein paar Nachforschungen an und fand zu seiner Überraschung heraus, dass der Thinktank tatsächlich existierte. Er war im obersten Stockwerk des ehemaligen Verwaltungstrakts der Universität untergebracht, einem vernachlässigten Gebäude mit einer kaputten Heizung, die im Sommer auf Hochtouren lief. Es gab keine verschließbare Tür, die den Thinktank vor Eindringlingen schützte, ja nicht einmal ein Eingangsschild. Es gab nur einen verwaisten Korridor mit unscheinbaren Büros. Doch trotz seiner anonymen Räumlichkeiten hatte der Thinktank einen Namen. Einen eher ausgefallenen, wie der Colonel fand: »Project Narrative«.
Project Narrative tauchte in keiner Datenbank der Army auf. Doch der Thinktank erfreute sich einer eigentümlichen Berühmtheit und war in akademischen Kreisen für seine bahnbrechende Arbeit mit Ärzten, Astronauten und Dichtern anerkannt. Und als der Colonel sich alles andere als zufällig mit einem der beteiligten Wissenschaftler, einem in Stanford promovierten 40-Jährigen mit schwarz umrandeter Brille, anfreundete, erfuhr er, dass die unglaublichen Gerüchte, die über die Aktivitäten des Thinktanks kursierten, wahr waren. Zumindest beteuerte das der Wissenschaftler.
Er hatte sich als Dr. Mike Benveniste vorgestellt, leitender Analyst im Labor von Prof. Angus Fletcher. Er sprach in vollständigen Absätzen mit hoher technischer Informationsdichte, als würde er aus dem Stegreif eine Enzyklopädie verfassen. Er behauptete, Fletchers Labor habe eine ursprüngliche kognitive Fähigkeit identifiziert, die für Intuition, Fantasie, gesunden Menschenverstand und emotionale Intelligenz zuständig sei. Diese Fähigkeit werde heute in der Schule vernachlässigt. Und sei der künstlichen Intelligenz nicht möglich. Und doch sei sie der Schlüssel zu den besonderen Begabungen von Jobs, Angelou, Tesla, van Gogh … außerdem Marie Curie, Abraham Lincoln, Wayne Gretzky und William Shakespeare … Die Liste wurde immer länger.
Der Colonel war skeptisch. Das gehörte zu seinem Job. Doch seine Skepsis war mehr als eine berufliche Formalität. Er wollte gern glauben, dass die heutigen Schulen etwas übersahen. Er wollte auch gern an eine Intuitionswissenschaft glauben. Doch eine kognitive Fähigkeit, die die künstliche Intelligenz übertraf? Dieser Gedanke schien ihm weit hergeholt … und gefährlich. Der Colonel war ein erfahrener Computerexperte, er kannte sich mit Multiprozessorsystemen aus, die Billiarden von Rechenoperationen in einer Sekunde ausführten. Und obwohl er wusste, dass die künstliche Intelligenz Grenzen hatte – Alan Turings Beweis des Halteproblems kam ihm in den Sinn –, hatte er auch gelernt, sie nie zu unterschätzen.
Höflich fragte er, um welche seit Urzeiten im menschlichen Gehirn angelegte Kraft es sich handele, die für die Computer des Weltraumzeitalters unzugänglich sein sollte. Der Wissenschaftler antwortete in neurowissenschaftlichen Begriffen: synaptische Übertragung … narratives Bewusstsein. Die er am Ende zusammenfasste: »Wir sprechen von Ur-Intelligenz.«
Es war nur eine Theorie, die außerhalb von Project Narrative nie getestet worden war. Sie war zu neu, zu ungewöhnlich. Doch nachdem er sich durch dicke Stapel von Labordokumenten gearbeitet hatte, musste der Colonel zugeben: Die Theorie war unerwartet überzeugend. Sie entsprach dem gesunden Menschenverstand. Und sie stimmte mit seiner eigenen Intuition überein. Natürlich bewies das überhaupt nichts. Doch seine Intuition hatte ihm erlaubt, Hunderte von Kriegsereignissen zu überleben, in denen die Geschehnisse mit hoher Geschwindigkeit aufeinanderfolgten und es kaum Deckung gab. Daher traf er nach reiflicher Überlegung eine Entscheidung.
Er würde die Ur-Intelligenz einem unabhängigen Test unterziehen und damit ein großes Risiko eingehen. Der Colonel hatte nicht die Absicht, an der Seite von Jim Channon in die Geschichte einzugehen, dem Beamten des Army War College, der 1982 das New-Age-Handbuch The First Earth Batallion geschrieben hatte, in dem US-Soldaten erfuhren, wie sie die Zeit durch ihre Träume verändern konnten. Um das Unglaubliche zu erforschen und zugleich eine Katastrophe auszuschließen, musste die Ur-Intelligenz von Individuen getestet werden, die zwar sehr viel Fantasie aufbrachten, für Unsinn aber keine Geduld hatten. Solche Personen waren selten, aber die Armee hatte Mittel und Wege, sie zu erschaffen. Bei dem Kommando für Sondereinsätze der US Army.
Der Colonel kannte diese Mittel und Wege gut. Sie hatten ihn selbst hervorgebracht. Und auch das tragbare GPS, gerinnungsfördernden Verbandsmull und Geräte der Zukunft, die vor der Öffentlichkeit geheim gehalten wurden. Diese Vorstöße waren nicht nur gelungen, weil die Sondereinsatzkommandos bereit gewesen waren, ein hohes Risiko einzugehen, sondern auch, weil durch schwierige Aufgaben an Orten mit noch schwierigeren Bedingungen ihre Toleranz für »magische Glückseligkeit« gegen null ging. Der Begriff bezeichnet schöne Ideen, die an der Wirklichkeit zerschellen. Drogenmystik und Collegephilosophie sind magische Glückseligkeit. Für die Nachhut ist sie ein Luxus, an der Front eine Katastrophe.
Würden die Sondereinsatzkommandos die Ur-Intelligenz als magische Glückseligkeit ablehnen? Der Colonel griff zum Telefon, um es herauszufinden. Kurze Zeit später hatte er eine Antwort: Sie würden der Ur-Intelligenz eine Chance geben. Wie der Ohio-State-Thinktank glaubten sie an Intuition und gesunden Menschenverstand. Und wenn die Ur-Intelligenz ihnen mehr davon liefern konnte? Nun, sie würden alles versuchen … ein einziges Mal.
An einem geheimen Ort aus bronzefarbenen Felsen und blaugrauen Metallträgern, der von Störsendern im All und radargesteuerten Vulcan-Maschinenkanonen geschützt wurde, eigneten sich die Sondereinsatzkommandos die in Fletchers Labor entwickelte Theorie an. Unter Anleitung des Colonels entwickelten sie ein praktisch nutzbares Trainingsprogramm, nach dem sie die besten Eliteeinheiten der US Army ausbildeten, deren Namen und Missionen geheim waren.
Das Programm funktionierte. Die Elitesoldaten konnten die Zukunft schneller voraussehen. Sie erholten sich zügiger von traumatischen Erlebnissen. In lebensbedrohlichen Situationen trafen sie bessere Entscheidungen. Im Jahr 2023 verlieh die Army Fletchers Labor eine Medaille für wegweisende Forschungsarbeit und erkannte damit die Existenz der Ur-Intelligenz offiziell an.
Dieses Buch erzählt die Geschichte des von Project Narrative und der US Army entwickelten Trainingsprogramms. Es ist einfach, aber nicht leicht. Es ist kein Optimierungshack und kein Cheat-Code. Es ist eine andere Art, sein Gehirn zu benutzen.
Es fördert Intuition, Fantasie, Emotionen und gesunden Menschenverstand und erweckt so die Kraft van Goghs, Teslas, Angelous, Jobs’ und all der anderen. Damit Sie Kenntnisse nutzen können, deren Existenz Sie vergessen hatten. Ihre verlorene Veranlagung. Ihre Ur-Intelligenz.
IHRE VERLORENE VERANLAGUNG
In den frühen 2000er-Jahren sahen die Spezialeinheiten der US Army Schwierigkeiten auf sich zukommen. Nicht von außen, sondern von innen: Die Leistungen der jungen Rekruten in den Bereichen Entscheidungsfindung, Strategie und Führung waren schwach. Sie hatten hohe bis sehr hohe Intelligenzquotienten. Ihre Fähigkeiten bei der Ideenbildung, der rationalen Analyse und der sonstigen hoch qualifizierten Verarbeitung von Daten gingen durch die Decke. Doch in einer dynamischen Umgebung fing ihre Intelligenz an zu bröckeln. Ein Beobachter drückte es so aus: »Sie können mathematische Probleme lösen. Aber keine praktischen Probleme.«
Das war nicht nur für die Army eine Herausforderung. Es war auch für die Rekruten ein Problem. Sie neigten zu Gewaltausbrüchen, kämpften mit Schwierigkeiten in der Partnerschaft und mit Tablettenabhängigkeit. Besonders besorgt war die Army angesichts der Tatsache, dass die Situation sich zusehends verschlechterte: Die Rekruten schnitten 2020 schlechter ab als 2010 und noch schlechter im Vergleich zu 2000. Irgendetwas beeinträchtigte die Gehirne der jungen Amerikaner. Die Army suchte nach Lösungen und kontaktierte mich im März 2021. Sie hatten von meinem alternativen Ansatz bei der Intelligenzförderung gehört. Und sie fragten mich mit Blick auf ihre Rekruten um Rat.
Die Frage überraschte mich. Ich hatte vorher nie mit der Army gesprochen. Und es interessierte mich nicht, bei der Ausbildung von Killern zu helfen. Ich wusste, dass Kämpfe so oder so schon genug Opfer forderten, denn ich hatte Überlebende getroffen: Kinder aus Libyen, die durch Luftangriffe zu Waisen geworden waren; Jugendliche aus Bagdad, denen in einem Rettungswagen am Straßenrand Arme und Beine amputiert werden mussten; afghanische Frauen, die den Gewürzmarkt wiederaufbauten, der von den gleichen Kanonen zerstört worden war, die auch ihre Söhne in Flammen hatten aufgehen lassen.
Doch sosehr mir der Krieg auch zuwider war, so sehr konnte ich die Sorgen der Army in Bezug auf die Gehirne der jungen Leute nachvollziehen. In meinen zwei Jahrzehnten als Professor hatte ich feststellen können, dass die Studierenden am College bei standardisierten Tests besser abschnitten als vorher, bei praktischen Aufgaben aber immer größere Probleme hatten. Sie waren ideologisch starrer eingestellt, vor Angst weniger produktiv, anfällig für magisches Denken und unterwarfen sich leichter einer Autorität. Nach dem Bachelor bemühten sich diejenigen von ihnen, denen das Glück hold war, um eine berufliche Karriere oder studierten gehorsam weiter. Die mit weniger Glück schrieben mir Briefe aus der Psychiatrie, bekannten, sie würden ihre Wasserflasche mit MDMA versetzen, um ihren Bürojob zu überleben, oder stürzten sich in den Tod während einer Anden-Wanderung, bei der sie eigentlich Frieden finden wollten.
Ich sah, dass die gleiche Falle auch bei jüngeren Lernenden zuschnappte. Mein Sohn und meine Tochter gingen auf eine öffentliche Grundschule im amerikanischen Mittleren Westen. Jeden Morgen, wenn ich ihnen auf dem Weg durch die hellblaue Schultür hinterherschaute, dachte ich an die Ergebnisse aus 30 Jahren Forschung: Ihre Unabhängigkeit, ihre Anpassungsfähigkeit und Resilienz würden mit jedem Tag in der Schule weniger werden.
Aber ich folgte der Anfrage der Army nicht nur, weil ich diesen Rückgang stoppen wollte. Ich hatte eine andere, weniger altruistische Motivation, die sich mir bei einer Trainingseinheit in den bewaldeten und von Schwarzbären besiedelten Sumpfgebieten des Dismal Swamp an der Küste North Carolinas offenbarte, zu der mich die Sondereinsatzkräfte eingeladen hatten.
Ich kam mit Fußballschuhen und einer Stoppuhr in den Sumpf, wie ein Highschool-Sportlehrer, der alles protokollieren will, was er sieht. Nachdem man mich in der Morgendämmerung mit einem gepanzerten Pick-up über eine nicht gekennzeichnete, von Scharfschützen bewachte Piste gefahren hatte, wurde ich von einem Ausbildungsstab der Sondereinsatzkommandos begrüßt, der nach Algenjauche und Pfefferminzkaugummi stank. Man führte mich zu Fuß über einen aufgeweichten Pfad und durch ein sonnenbeschienenes Dorf aus rostigen Frachtcontainern … als eine Artilleriegranate mit überraschender Brutalität explodierte.
Ich rannte sofort auf den Ort der Explosion zu. Besorgt spurtete einer der Ausbilder hinter mir her. Als er mich erreichte, fasste er mich am Arm und schrie über das Getöse der Explosionen und den bebenden Boden hinweg: »Runter! Stecken Sie den Kopf in den Dreck und halten Sie sich die Ohren zu.«
Als Krach und Lärm schließlich nachließen, musterte mich der Ausbilder mit düsterer Faszination. »Die meisten Leute werden von den Explosionen umgehauen. Sie zucken zusammen, erstarren oder weichen zurück. Sie haben das Gegenteil getan. Als die Granate hochging, sind Sie sofort dorthin gelaufen. Wumm! Einfach so, ohne zu zögern, haben Sie sich ins Gefecht gestürzt. Wo haben Sie das gelernt?«
Ich hatte es nicht gelernt. Es war eine instinktive Reaktion. Der Ausbilder wollte unbedingt eine Erklärung, und so erzählte ich ihm von Plinius dem Älteren. Der wurde zwei Jahrzehnte nach Christus geboren, als das Römische Reich in den Wahnsinn kippte, und er wollte unbedingt alles wissen, wirklich alles: woher die Sonnen kamen, warum die Wurzeln der wilden Rose eine heilende Wirkung hatten und wie die Muskeln eines Leopardenherzens das Blut durch den Körper des Tieres pumpten. Sein Leben lang hatte er das gesamte Weltwissen gesammelt und in einer umfangreichen Serie von 37 Büchern zusammengefasst, die als Naturalis historia bekannt ist. Er unterbrach diese Arbeit nur, weil an einem angenehmen Herbstnachmittag des Jahres 79 der Vesuv ausbrach und den Himmel im Südwesten Italiens mit Getöse und Flammen erfüllte. Plinius zuckte nicht zusammen, erstarrte nicht und wich nicht zurück, sondern blieb auf der gemütlichen Terrasse seines Strandhauses in Neapel stehen und beobachtete den atmosphärischen Mahlstrom. Angetrieben von seiner enthusiastischen Neugier – er hatte noch nie einen Vulkanausbruch gesehen –, sprang er in ein Boot und ruderte der Lava entgegen. Was erkannte er im Licht des Infernos? Welche Geheimnisse des Feuers deckte er auf? Wir werden es nie erfahren. Der Qualm aus den Tiefen der Erde überkam ihn, er starb und wurde von der herabrieselnden Asche begraben.
»Er war echt ’ne Marke«, sagte der Ausbilder grinsend, »für ihn hatte es oberste Priorität, seine Neugier zu befriedigen.«
Ja. Und mir geht es genauso. Deshalb war ich im Sumpf von Dismal auf die Explosion zugelaufen. Und deshalb wollte ich auch sofort mit den Spezialeinheiten zusammenarbeiten. Wie jeder Wissenschaftler, der eine unorthodoxe Theorie aufstellt, war ich in meiner Karriere die meiste Zeit allein und unterbezahlt gewesen. Und jetzt bot mir das amerikanische Militär an, was es auch Grace Hopper angeboten hatte, der Professorin am Vassar College, die in den 1940er-Jahren eine Vorreiterin der Nutzung der natürlichen Sprache beim Programmieren von Computern gewesen war: Die US Navy stellte ihr eine fünf Tonnen schwere elektromechanische Rechenmaschine zur Verfügung – die Harvard Mark I –, mit der sie ihre eigenwilligen Ideen verwirklichen konnte. Seit Jahren hatte ich mir gewünscht, meine eigenen unorthodoxen Erkenntnisse auszuprobieren. Ich hatte viele schlaflose Nächte lang über eine Frage gegrübelt: Könnte ich vielleicht recht haben? Also würde ich kaum einen willigen Forschungspartner abblitzen lassen, nur weil diese Leute anders dachten als ich. Tatsächlich wurden sie durch ihre besondere Denkweise für mich noch interessanter.
Zusammen mit einem gelassenen, zupackenden Lieutenant Colonel namens Tom Gaines kombinierte ich meine akademische Forschung mit der jahrzehntelangen Erfahrung der Sondereinsatzkommandos beim Aufbau spezieller Schulen. Wir entwickelten eine neue Trainingsmethode für intelligentes Handeln in Situationen, die die Army VUCA nannte: volatility, uncertainty, complexity, ambiguity – Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit. Und wir übergaben sie einer geheimen Spezialeinheit, in einem geheimen Schulgebäude, das auf keiner Karte zu finden ist.
Das Experiment führte zu wesentlichen Verbesserungen: kreativere Planung und mehr strategische Initiative unter Zeitdruck. Oder mit den Worten der Army: Die Soldaten gingen bei VUCA klüger vor, handelten im Chaos schneller.
Nach diesem anfänglichen Erfolg erlaubte mir die Army, ihre Soldaten bei der Vorbereitung auf ihre Einsätze direkt zu beobachten. Nach einem Jahr gemeinsamer Forschung wurde unsere Trainingsmethode bei den Green Berets angewandt, der Spezialeinheit für unkonventionelle Kriegsführung. Deren oberster Ausbildungsstab bewertete sie sehr positiv, also führten wir sie im Command and General Staff College ein, der höheren Bildungseinrichtung für die militärische Führungsspitze in Fort Leavenworth, Kansas, um dort einen unabhängigen wissenschaftlichen Versuch mit mehr als 150 höheren Offizieren vorzunehmen. Nach den Maßstäben der US Army verbesserte das Training die Leistungen bei der Problemlösung um fast eine vollständige Standardabweichung. Sie wurden von normal auf hoch heraufgestuft, von hoch auf überragend und von überragend auf genial.
Daraufhin überarbeiteten wir die Methode für die zivile Welt. Wir boten sie Chirurgen, Piloten, Führungskräften in der Wirtschaft, Astronauten, Unternehmern, Investoren, Vertrieblern, Sozialarbeitern, Ärzten, Pflegekräften, Lehrern, Trainern, Profisportlern und Eltern an. Das Training führte zu besserer Entscheidungsfindung, Kommunikation, Führung und mehr Innovation.
Dann führten wir es in Universtäten ein. Wir begannen mit dem Ausbildungsprogramm zur Rekrutierung und Ausbildung der Army, bevor wir die Trainingsmethode auf Bachelorstudierende, Talentklassen und berufsqualifizierende Studiengänge ausweiteten: auf MBA-Programme, höhere Abschlüsse an Kunsthochschulen, das Medizinstudium, die Lehrerausbildung und auf promovierende Ingenieure. Die Fähigkeit der Studierenden, mit realen Herausforderungen umzugehen, verbesserte sich wesentlich. Sie konnten sich leichter auf Veränderungen und Unsicherheiten einstellen. Sie waren weniger gestresst und ängstlich. Zudem zogen sie mögliche neue Entwicklungen in Erwägung und halfen auch anderen.
Schließlich verwirklichten wir mithilfe von Lehrkräften aus dem primären und sekundären Bildungsbereich, wovon ich von Anfang an geträumt hatte: Wir trainierten Schüler in öffentlichen Grundschulen und erzielten beachtliche Fortschritte bei Kindern von nur acht Jahren.
Wie sah dieses Trainingsprogramm aus? Warum war meine Theorie so anders … und doch erfolgreich?
Meine Theorie beruht auf der Annahme, dass die Welt von heute Intelligenz falsch definiert hat.
Fast überall – auch im US-amerikanischen Bildungsministerium, bei Microsoft und Google, dem Nobelkomitee für Wirtschaftswissenschaften, der chinesischen Regierung und im IQ-Test – wird Intelligenz als logisches Denkvermögen definiert. In informellen Gesprächen wird der Begriff »Logik« für jede Art des Denkens verwendet, die einer vernunftbegabten Person sinnvoll erscheint, doch kein Computer könnte sie anwenden, wenn sie nicht eine präzise formulierte Ansammlung mechanischer Arbeitsschritte beinhalten würde. Diese Arbeitsschritte wurden vor mehr als 2000 Jahren von dem griechischen Universalgelehrten Aristoteles identifiziert. Auf ihnen beruht nicht nur die künstliche Intelligenz, sondern auch die Arithmetik, die Statistik, die Planung und Datenanalyse, die Induktion und die Deduktion, die Interpretation und das kritische Denken, die Bayes’sche Inferenz, die Optimierung und die Ideation, die Verhaltensökonomik, die Organisationspsychologie, das System 2, die Mustererkennung und fast alles, was in den Klassenzimmern des 21. Jahrhunderts unterrichtet und abgeprüft wird.
Die Logik durchdringt diese Klassenräume nicht nur, weil sie als Inbegriff der Intelligenz gilt, sondern auch, weil Menschen jahrelang lernen müssen, um sie sich anzueignen. Das wirft eine Frage auf: Wie würden unsere Gehirne ohne dieses Lernen denken? Wie denken wir von Natur aus?
Die Logik beantwortet diese Frage, indem sie auf die beiden in der menschlichen Natur angelegten unlogischen Verhaltensgrundlagen hinweist: Willkür und Irrtum. Die Willkür unterliegt keiner Logik. Der Irrtum ist das Gegenteil von Logik. Die Willkür wird von vielen Logikern als Quelle der Kreativität angesehen und erhält deshalb einen gewissen Wert. Der Irrtum hingegen sollte ihrer Meinung nach ausgemerzt werden, indem man seine Wurzeln bekämpft: Emotionen und kognitive Verzerrungen.
Diese logische Sichtweise auf das Gehirn ist absurd. Sie vernachlässigt grundlegende biologische Tatsachen. Vernünftig scheint sie nur, weil sie pausenlos wiederholt wird, sobald wir einen Fuß in die Schule setzen. Wir werden einer Gehirnwäsche unterzogen, damit wir daran glauben, zu unseren Ungunsten.
Wir können unsere Vernunft wiedererlangen, wenn wir uns zunächst eingestehen, dass Intelligenz mehr ist als logisches Denkvermögen, das gelegentlich durch willkürliche Ausbrüche angereichert wird. Die Willkür ist kapriziös und verschwenderisch, die Intelligenz zielgerichtet und vorsichtig. Deshalb funktioniert das menschliche Gehirn nicht nach dem Zufallsprinzip, was wir beweisen können. Versuchen Sie, eine Liste zufälliger Zahlen aufzustellen. Sie werden dabei sehr langsam sein und Ihre Zahlen werden Gruppen bilden, die nicht zufällig entstehen. Das bedeutet allerdings nicht, dass unsere Neuronen Logik betreiben. Für logisches Denken brauchen wir Informationen, und im wahren Leben sind Informationen meist knapp. Um sich in der instabilen Dunkelheit unserer irdischen Existenz zu orientieren, musste unser Gehirn Mechanismen für kluges Handeln mit wenig oder sogar keinerlei Informationen entwickeln. Sonst wäre unsere Intelligenz so nützlich wie eine leere Tabelle.
Was ich damit sagen will: Das Gehirn funktioniert mit einer nicht logischen Intelligenz, die nicht willkürlich ist. Diese Intelligenz hat sich Millionen Jahre vor den datenabhängigen KI-Kreisläufen entwickelt und unsere Urahnen mit der Fähigkeit ausgestattet, dem Unbekannten erfolgreich zu begegnen. Zuerst wurde diese Fähigkeit einfach nur als Lebensweise akzeptiert. Doch als unsere Vorfahren begannen, über sich selbst nachzudenken und ihre Intelligenz dafür zu nutzen, sich selbst zu studieren, teilten sie sie in vier grundlegende Fähigkeiten ein: Intuition, Fantasie, Emotionen und gesunder Menschenverstand.
•Die Intuition erfasst die versteckten Gesetze der Welt.
•Die Fantasie erschafft die Zukunft.
•Die Emotionen kennen den Weg für die persönliche Entwicklung.
•Der gesunde Menschenverstand trifft bei Unsicherheit die richtigen Entscheidungen.
Diese vier grundlegenden Fähigkeiten sind der Grund dafür, dass wir Menschen mit wenig Informationen klug handeln können. Und die Tatsache, dass wir klug handeln können, ist der Grund dafür, dass wir in Situationen erfolgreich sein können, in denen die KI scheitert. Diese ist zu logischen Folgerungen fähig und sortiert zufällige Ideen aus. Doch sie ist praktisch nicht fähig, gesunden Menschenverstand oder Fantasie anzuwenden, daher wird sie dem menschlichen Gehirn in Situationen, in denen wenige oder unsichere Informationen vorliegen, immer unterlegen sein. Und daher scheitert digitales Denken meist, wenn es um Innovation, Führung und Alltagsleben geht.
Diese Grenze der Logik in der realen Welt zeigt sich an den Misserfolgen unseres aktuellen Bildungssystems. Indem Studierende darauf gedrillt werden, wie Computer zu denken, trainieren sie Fähigkeiten, die ihre Laptops besser können, anstatt bei der Entwicklung ihrer natürlichen Klugheit unterstützt zu werden, die die KI nicht imitieren kann. So werden die zukünftigen Generationen zu zweitrangigen Algorithmen reduziert, die über weniger praktische Fertigkeiten verfügen als Urzeitmenschen.
Um diese Situation zu beheben, brauchen wir die Schulen nicht schließen, denn eine planende Denkweise und Statistiken können nützliche Werkzeuge sein. Aber wir müssen den Unterricht mit Methoden bereichern, die die Quelle der Ur-Intelligenz stärken. Sie hat nichts Magisches an sich. Es handelt sich dabei nicht um unser Bewusstsein oder irgendeine unbeschreibliche Macht. In den mechanischen Anteilen der tierischen Neuronen laufen physikalische Vorgänge ab, die in den Logikgattern der Computer nicht existieren und die elektronische Transistoren nie werden ausführen können.
Was ist die nicht magische Quelle weltlichen Erfindungsgeistes? Welche uralte Intelligenz ermöglicht uns, auf eine Art und Weise klug zu handeln, zu der die KI nie fähig sein wird? An diesem Punkt wird meine Theorie so ungewöhnlich, dass sie überall auf Ablehnung stieß, außer bei den Sondereinsatzkommandos der US Army. Meine Theorie besteht darin, dass die Intuition, der gesunde Menschenverstand und der Rest der Ur-Intelligenz von narrativer Kognition angetrieben werden. Oder um es weniger wissenschaftlich auszudrücken: Das menschliche Gehirn verfügt im realen Leben über Klugheit, weil es in Geschichten denkt.
Wenn Sie nicht über eine so unkonventionelle Denkweise verfügen wie ein Soldat in einem Sondereinsatzkommando, bezweifeln Sie vermutlich, dass Geschichten das Geheimnis natürlichen Genies sind. Und warum sollten Sie auch einer Intelligenztheorie trauen, die von einem Kerl aufgestellt wurde, der auf eine Explosion zuläuft? Sollten Ihre Zweifel Sie dazu verleiten, meine Theorie analysieren zu wollen – einschließlich der besonderen Art und Weise, wie die narrative Kognition im Gehirn wirkt und warum sie der KI nie möglich sein wird –, können Sie sich in Teil III durch die wissenschaftlichen Grundlagen arbeiten. Doch in den nächsten zehn Kapiteln werden wir uns unmittelbar mit dem Aspekt beschäftigen, der andere Zweifler überzeugt hat: effizientes Training.
Das Training wird Ihr Innovationsvermögen, Ihre Resilienz, Ihre Kommunikation, Ihre Führungskompetenz und in Teil II auch andere im Leben wichtige Kompetenzen verbessern. Und in Teil I werden wir damit beginnen, die vier Kernfähigkeiten der Ur-Intelligenz zu stärken: Fantasie, Emotionen, gesunden Menschenverstand und vor allem Intuition.
Wacht auf! … wie in alten Zeiten.
William Blake
DIE UR-INTELLIGENZ AKTIVIEREN
INTUITION
Sie verkauften Autos, Hautcremes, Kühlschränke, Versicherungen oder neue medizinische Erkenntnisse. Sie machten ihren Job seit Jahren oder sogar Jahrzehnten. Und doch scheiterten sie. Ihre Leistungen wurden von Kollegen als »nicht einmal suboptimal«, »auf tragische Weise hoffnungslos«, »wie ein Esel beim Treppensteigen« beschrieben. Einer von ihnen war so weit abgesunken, dass er selbst nach einer Verdreifachung seiner Abschlüsse immer noch den letzten Platz in seinem Vertriebsteam belegen würde.
Man hatte sie zu mir geschickt, weil ihre Arbeitgeber meinten, sie hätten ihre besten Jahre schon lange hinter sich. Und sie hatten wohl tatsächlich ihre Entwicklungsmöglichkeiten bereits ausgeschöpft. Sie schlurften durch den Kursraum, ließen sich auf einen Stuhl fallen und starrten ausdruckslos auf die weiße Projektionsleinwand. Als ich begann, mich mit ihnen zu unterhalten, tauten sie oberflächlich auf, nahmen aber schnell eine defensive Haltung ein. Sie wollten nicht nach ihrer Arbeit – oder nach sonst irgendetwas – gefragt werden. Sie erzählten mir lieber: »Verkauf ist Beziehungssache.« Dieses Mantra wiederholten sie immer wieder, es schien sie zu beruhigen. Als ich fragte, wie sie es anstellten, Beziehungen aufzubauen, antworteten sie: »Zeit. Es braucht Zeit, um eine Beziehung aufzubauen. Das geht nicht über Nacht.«
Ich ließ die Leinwand leer und bat die Vertriebler aufzustehen. Wir verließen den Unterrichtsraum und gingen in ein Kunstmuseum. Dort gab es viele merkwürdige, kreativ gezeichnete Gemälde in leuchtenden Farben. Ich forderte die Kursteilnehmer auf, ein Gemälde auszuwählen, das sie überraschte, und es ein paar Minuten lang genau zu betrachten. Ich bat sie, sich vorzustellen, was passieren würde, wenn die dargestellte Szene eine Filmszene wäre … und was passieren würde, wenn man schnell vorspulte. Danach brachte ich sie zurück in den Kursraum, wo sie zehn Minuten lang eine Übung machten. Dann schickte ich sie zurück an ihren Arbeitsplatz.
Zwei Monate später überprüfte ich, wie es ihnen ging. Ungefähr 40 Prozent von ihnen erbrachten immer noch mangelhafte Leistung oder waren entlassen worden. Die anderen 60 Prozent hatten sich verbessert – und zwar erheblich. Insgesamt gesehen waren sie nach den Bewertungsstandards ihrer Unternehmen von »schwach« zu »durchschnittlich« aufgestiegen, und einige von ihnen hatten sich noch weiter verbessert. Einer war in seinem Vertriebsteam ganz an die Spitze aufgestiegen, von »weit abgeschlagen« zu »weit voraus«. »Die einzige Erklärung, die ich gefunden habe«, sagte mir sein Vorgesetzter, »ist, dass Sie ihm den Schädel geöffnet und sein Gehirn ausgetauscht haben.«
Angesichts solcher Wandlungen wollten die Unternehmen wissen, welche Übung ich mit den Kursteilnehmern durchgeführt hatte. Welches zehnminütige Training hatte zu einer so dramatischen Leistungssteigerung geführt? Doch das war nicht die richtige Frage. Die lautete nämlich: Welchen Unterschied gab es zwischen den 60 Prozent, die sich verbessert hatten, und den 40 Prozent, denen das nicht gelungen war?
Die Antwort erhielt ich, als ich die Vertriebler bat, das Gemälde zu zeichnen, das sie im Kunstmuseum ausgewählt hatten. Diejenigen, die zu den 40 Prozent gehörten, die sich nicht verbessert hatten, erinnerten sich nur vage oder überhaupt nicht an Einzelheiten. Diejenigen, die zu den 60 Prozent mit merklichen Verbesserungen gehörten, erinnerten sich an ein einziges Detail, und zwar sehr genau. Sie konnten sich dieses Detail sehr anschaulich vor Augen führen. Und selbst zu diesem Zeitpunkt, einige Monate nach dem Museumsbesuch, konnten sie sich immer noch ins Gedächtnis rufen, wie merkwürdig ihnen dieses Detail vorgekommen war, und dabei mussten sie oft lächeln oder erzitterten vor Erstaunen.
Diese Nachbereitung machte klar: Die Kursteilnehmer hatten eine jugendliche Kraft ihres Gehirns wiederentdeckt. Die Kraft der Intuition.
Intuition bedeutet, etwas zu wissen, ohne bewusst nachzudenken. Die Intuition kennt eine verborgene Gesetzmäßigkeit des Lebens. Sie versetzt uns in die Lage, in einer noch nie da gewesenen Art und Weise zu handeln. Wir können neue Lösungen für alte Probleme finden. Wir können uns auf originellen Leitern in die Höhe begeben. Wir können uns selbst und unsere Welt neu erfinden, eine Entwicklung fördern … und sogar Revolutionen auslösen.
Intuition ist eine aufblitzende Einsicht. Tatsächlich blitzt sie so schnell auf, dass man sie für übernatürlich halten kann. Mittelalterliche Theologen sahen in ihr eine heilige Offenbarung. Die Transzendentalisten des 19. Jahrhunderts betrachteten sie als ein Traumbild der Seele. Moderne Jungianer (und Anhänger der Myers-Briggs-Typenindikatoren) sehen in ihr eine mystische Wahrnehmung. Doch durch meine Beobachtungen von Sondereinsatzkräften der US Army fand ich heraus, dass die Intuition in unserer Natur liegt.
Bei Angehörigen der Sondereinsatzkommandos ist die Intuition erheblich stärker ausgeprägt als bei den durchschnittlichen Rekruten der US Army und kann sich im Verlauf ihrer Karriere noch weiter ausbilden. Diese Soldaten haben gelernt, ihre Intuition zu aktivieren, oft mit bemerkenswerten Ergebnissen. Sie können Minuten, Stunden, Tage vorhersehen und Möglichkeiten antizipieren, die niemand anders bemerkt.
Während meiner Forschungstätigkeiten bei der Army protokollierte ich Hunderte solcher intuitiven Handlungen. Die meisten betreffen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit und dürfen daher nicht öffentlich dargestellt werden. Lesen Sie im Folgenden jedoch ein typisches Beispiel aus dem Jahr 2003.
Im März jenes Jahres marschierten eine halbe Million US-Soldaten im Irak ein. Die Invasion verlief ganz nach Plan. Sie verlief tatsächlich so sehr nach Plan, dass die USA nach nur 42 Tagen, am 1. Mai, den Sieg über den abgesetzten irakischen Anführer Saddam Hussein ausriefen. Drei Wochen zuvor war jedoch eine Sondereinsatzkraft der US Army im ruhigen Bagdad zwischen holzvergitterten Häusern und freundlichen Palmen herumspaziert, als …
Auf einer Brücke sah ich einen Iraker. Und er sprach besser Englisch als ich. Besser amerikanisches Englisch als ich.
Da er von dieser Besonderheit überrascht war, begann der Soldat ein Gespräch.
Der Iraker sagte: »Hören Sie, wir sind überglücklich, dass Sie hier sind. Ich leite den Fachbereich Ingenieurswissenschaften der Mossul-Universität. Ich habe 20 Jahre lang in Boston gelebt und mein gesamtes Studium in Harvard absolviert. Wir sind sehr glücklich, dass Sie hier sind. Niemand, wirklich niemand mochte Saddam Hussein. Aber wenn Sie es nicht schaffen, schnell die Strom- und Wasserversorgung wiederherzustellen, die Krankenhäuser und Lebensmittelgeschäfte zu öffnen sowie den Handel wiederzubeleben, werden Sie die zukünftigen Ereignisse nie unter Kontrolle haben.«
Der Soldat gab diese Informationen an seine Vorgesetzten weiter und warnte: »Unser Plan ist gescheitert. Wir haben den Krieg verloren.« Kurze Zeit später verkündete der Präsident der Vereinigten Staaten auf einem Flugzeugträger das Gegenteil: »Mission abgeschlossen.« Der Soldat des Sondereinsatzkommandos hatte so weit in die Zukunft geblickt, dass seine Regierung noch jahrelang nicht hinterherkam.
Man könnte meinen, die intuitive Wahrnehmung eines Soldaten beruhe auf göttlicher Eingebung … oder auf außerordentlichem Glück. Doch sie beruht auf derselben realen Quelle wie jede andere intuitive Wahrnehmung, die ich protokollierte: auf einer außerordentlichen Information.
Sie wird von der US Army in dem Handbuch Mission Command definiert:
Es gibt Informationen, die von einem außergewöhnlichen Ereignis, einer bisher nicht gesehenen Möglichkeit oder einer neuen Bedrohung herrühren. Das sind außerordentliche Informationen, spezifische und augenblicklich lebenswichtige Informationen, die den Erfolg einer laufenden Operation unmittelbar beeinflussen … Außerordentliche Informationen zu identifizieren, setzt Initiative voraus.
Mit anderen Worten ist eine außerordentliche Information die Ausnahme von einer Regel. Wie ein warmblütiges Reptil oder ein nächtlicher Regenbogen verletzt sie die bekannten Gesetzmäßigkeiten ihrer Umgebung und zeigt somit, dass es Ereignisse gibt, die angesichts des Vorausgegangenen unwahrscheinlich sind.
Eine solche Perspektive, die über das Vorausgegangene hinausblickt, ist das Gegenteil der logischen Definition von Intuition, wie sie von Verhaltensökonomen wie Daniel Kahneman formuliert wird. Kahneman zitiert den Pionier der künstlichen Intelligenz Herbert Simon, wenn er in Schnelles Denken, langsames Denkenschreibt, Intuition sei »nicht mehr und nicht weniger als ein Wiedererkennen«. Wiedererkennen ist die Übereinstimmung mit einem Muster, die Wiederholung einer vorangegangenen Wahrnehmung in der Gegenwart. Die Logik interpretiert also Intuition als die Identifizierung einer Nicht-Ausnahme.
Die außerordentliche Information zeigt das Gegenteil: Die Intuition erkennt eine Abweichung in einer Standarderzählung, die zu einem Bruch mit der Vergangenheit führt. Um diesen Bruch zu vollziehen, brauchen wir, was in dem Army-Handbuch »Initiative« genannt wird, müssen also »den Daten vorausgehen«. Eine KI ist dazu nicht fähig – und obwohl unser Gehirn es kann, tut es das meistens nicht. Es wurde durch die Logik des heutigen Lebens dazu erzogen, lieber wie ein Algorithmus zu funktionieren, sich an Muster zu halten und Ausnahmen als Störung abzulehnen. Doch auf der Grundlage von Ausnahmen zu handeln, kann sich sehr lohnen. Außerordentliche Informationen weisen auf eine neue Gesetzmäßigkeit hin, die das Potenzial hat, die Weltgeschichte insgesamt zu verändern. Sie blitzt kurz auf … bis sie alles verändert.
Kehren wir zurück ins Bagdad des Jahres 2003: In diesem Fall stellte der Iraker auf der Brücke die außerordentliche Information dar. Vorher lautete die Gesetzmäßigkeit des US-Einmarsches: Wir bringen Amerika in den Irak. Doch auf der Brücke stand ein Iraker, der besser amerikanisches Englisch sprach als die Amerikaner. Ein Iraker, der seine US-amerikanische Ausbildung nutzte, um Krankenhäuser für die Krebsbehandlung auszustatten und Onlinebanking einzurichten. Ein Iraker, der ganz in Ruhe seine eigene amerikanische Invasion betrieben hatte, eine viel weiter vorausdenkende. Allein sein Beispiel, keine einzige weitere Tatsache, war dem Soldaten eine Warnung: In diesem Land gibt es noch andere mögliche Entwicklungen – positive und negative – als die Entwicklungen, die wir anhand unserer Gesetzmäßigkeiten vorhersehen können.
Im Krieg tauchen überall außerordentliche Informationen auf, denn der Kampf zerstört die existierenden Wirkungsgesetze. Und auch sonst gibt es überall außergewöhnliche Informationen. Keine menschliche Umgebung – das Geschäftsleben, die Kultur, die Politik – bleibt immer gleich. Je besser wir lernen, das Außerordentliche zu erkennen, desto eher kann unser Gehirn intuitiv neue Möglichkeiten in der Kunst, der Wissenschaft oder der Technologie erfassen, wie wir an den Beispielen von Vincent van Gogh, Marie Curie und dem Apple-Computer sehen können.
Van Gogh war ein visionärer Maler, der 1853 inmitten von Windmühlen und Erdbeerfeldern in den südlichen Niederlanden geboren wurde.
In den Jahrhunderten vor van Gogh hatten Maler entdeckt, dass sich einige Farben gegenseitig verstärkten. Wenn Rot neben Grün lag, wurde das Grün grüner und das Rot roter. In den 1820er-Jahren systematisierten französische Wissenschaftler diese Entdeckung unter Anwendung der Logik und ordneten die Farben im rot-gelb-blauen Farbkreis an. Dieses logische Muster legte nahe, dass zusätzlich zu Rot-Grün die kräftigsten Farbkombinationen Gelb-Violett und Blau-Orange waren.
Rot-Gelb-Blauer Farbkreis: Die alte Gesetzmäßigkeit der Farben
Mitte des 19. Jahrhunderts verwendete der Maler Eugène Delacroix in Paris diese Farbpaare höchst effektvoll, und in den 1880er-Jahren wurde van Gogh auf Delacroix’ Wandmalereien in der Chapelle des Saints-Anges aufmerksam. Er bewunderte sie. Allerdings bemerkte van Gogh in diesen Wandmalereien eine Ausnahme vom Rot-Gelb-Blau-Schema, nämlich das Farbpaar Grün-Violett. Dieser Kontrast verlieh dem Grün noch mehr Kraft als die Kombination mit Rot. Auch das Violett war kräftiger als in Kombination mit Gelb. Van Gogh sah eine Möglichkeit, die über die alten Gesetzmäßigkeiten der Kunst hinausging, nahm im Mai 1889 eine Bürste in die Hand und malte den Fliederbusch, der das Auge durch das intensive Aufeinandertreffen von grünen Blättern und violetten Blüten belebt.
Angesichts dieser Ausnahme dachte van Gogh darüber nach, ob er nicht noch weitere finden könnte. Und er fand sie. Gelb-Blau verstärkte Gelb mehr als Gelb-Violett und Blau mehr als Blau-Orange. Im Juni 1889 nutzte van Gogh diese neue Gesetzmäßigkeit, um Sternennacht zu malen, ein Gemälde, das heute als eines der wichtigsten Werke in der Geschichte der modernen Kunst angesehen wird.
Van Gogh hatte zu diesem Zeitpunkt verstärkende Kombinationen für alle Grundfarben der Malerei gefunden, nur für Rot nicht. Was also war das Gegenteil von Rot? Van Gogh entdeckte, dass es Aquamarinblau beziehungsweise Cyanblau, war. Und in seinem letzten, im September 1889 in der Psychiatrie von Saint-Rémy gemalten Selbstporträt färbte van Gogh den Bart rot und den Anzug blau. Er kreierte so das farbenintensivste Selbstporträt der Geschichte. Es hängt heute im Musée d’Orsay* in Paris.
Van Goghs Zeitgenossen fanden seine Farbauswahl merkwürdig, besonders was das Cyanblau angeht. Es wurde normalerweise nicht als Primär- und noch nicht einmal als Sekundärfarbe angesehen. Doch hat die moderne Wissenschaft trotz der untergeordneten Rolle des Cyanblaus in der Geschichte der Kunst gezeigt, dass es im Auge den stärksten Farbkontrast hervorruft. Dabei löst nicht das Cyanblau selbst den Kontrast aus, sondern das Rot, dem es gegenübersteht. Die Rotrezeptoren stellen ungefähr zwei Drittel der Farbrezeptoren in unserem Auge dar, wodurch Rot biologisch doppelt so stark ist wie Gelb und Grün – und fast 30-mal so stark wie Violett und Blau. An dieser starken Wirkung liegt es auch, dass Rot so häufig auf Stoppschildern und Krankenwagen verwendet wird. Und die natürliche Vorliebe des Auges für Rot wird durch das Nebeneinander mit Cyanblau noch verstärkt. Daher ist die Farbkombination Cyanblau-Rot die lebendigste Farbkombination, die unser visueller Kortex verarbeiten kann.
RGB: Van Goghs außerordentliche Entdeckung
Van Gogh kam mit dieser Entdeckung der Wissenschaft zuvor – wie auch bei einer noch viel größeren: einem Farbkreis, in dem die Zutaten für Cyanblau, nämlich Grün und Blau, der Komplementärfarbe Rot gegenüberstehen. Es ist der Rot-Grün-Blau-Farbkreis, der auch als RGB-Farbraum bekannt ist. Er wird heute in jedem Videobildschirm der Welt angewandt. Doch bevor van Gogh ihn intuitiv wahrnahm, war er unbekannt.
Ein Jahrzehnt nach van Gogh nutzte Marie Curie die gleiche Kraft der Intuition. Sie gewann zwei Nobelpreise, doch bevor sie eine Legende der Wissenschaft wurde, galt sie unter den vorwiegend männlichen Wissenschaftlern in Paris als merkwürdig: eine Frau aus Polen, die in einem undichten Schuppen arbeitete und dabei in eisernen Kesseln rührte, die vor sich hin blubberten und ein seltsames Licht ausstrahlten.
Doch Marie Curie rührte in den Kesseln herum, weil sie für wichtig hielt, was andere Wissenschaftler als Kleinigkeit abtaten: das schwache Strahlen des Kaliumuranylsulfats, eines untergeordneten Uransalzes. Allgemein dachte man, dass die Strahlung durch eine gewöhnliche chemische Reaktion entstand, eine Veränderung der Molekülverbindungen. Egal, ob die Verbindungen zwischen Kalium-, Schwefel- oder Uraniumatomen bestanden, in jedem Fall wurde die Veränderung als wenig interessant angesehen. Sie bestätigte nur die vor langer Zeit aufgestellten physikalischen Gesetze, zum Beispiel was das Speichern von Energie angeht.
Doch dann bemerkte Marie Curie etwas, das sie »auffallend« und »überraschend« fand: Die Strahlung ging nicht von den Verbindungen zwischen den Atomen aus. Sie kam aus dem Inneren eines einzigen Atoms: des Uraniumatoms. Statt den üblichen Gesetzmäßigkeiten der Natur zu folgen, war diese Strahlung eine abweichende Kraft: die Radioaktivität. Am 21. Juli 1900 schrieb Marie Curie in der wissenschaftlichen Zeitschrift Revue scientifique: »Es handelt sich um ein höchst interessantes Phänomen, denn es scheint den grundlegenden Gesetzen der Wissenschaft zu widersprechen, Gesetzen, die bisher als allgemeingültig angesehen wurden.«
Kurz gesagt war Uranium eine Ausnahme von der Regel. Seine innere Energie ließ erahnen, dass das Atom Geheimnisse barg, mit deren Erforschung die Physiker gerade erst begonnen hatten. Und wenn ein mikroskopisch kleines Teilchen eine wissenschaftliche Revolution in sich bergen kann, welche radikalen Möglichkeiten warteten dann noch in der Weite des Universums?
Marie Curies physikalische Entdeckungen förderten die Innovationen des 20. Jahrhunderts in der Astronomie, der Landwirtschaft, der Medizin und der Archäologie. Und sie trugen auch zur Entstehung einer weltverändernden Technologie bei, die als Elektronik bekannt ist. Dieseselbst wurde durch Intuition verändert, als am 5. März 1975 ein Computeringenieur eine Garage im kalifornischen Menlo Park betrat.
Der Computeringenieur hieß Steve Wozniak, Freunden bekannt als Woz. In dieser Garage traf sich der Homebrew Computer Club zum ersten Mal. Während des Treffens erspähte Woz ein lustiges neues Spielzeug: den Heimcomputer Altair 8800. Andere Computeringenieure fanden den Altair zu klein und deshalb nicht nutzbar: Die in den 1960er-Jahren von Unternehmen wie IBM aufgestellte Regel der Computerwelt besagte, dass mehr Daten mehr Geld bedeuteten. Daher stellte der Homecomputer für die Rentabilität angeblich einen Rückschritt dar. Doch vor Woz’ Augen blitzte angesichts der außergewöhnlich kleinen Maße des Altairs eine neue Geschichte für die Zukunft auf: eine Welt, in der zu Hause an kompakten Computern gearbeitet und gespielt wird. Er flitzte zurück in sein eigenes Haus und entwickelte Apple I.
Apple I entfachte eine Revolution im Bereich der persönlichen Elektronik und führte zur Gründung von Apple Inc., dem ersten Unternehmen der Welt, das einen Umsatz von einer Billion Dollar erreichte. Aber Woz erfand Apple nicht allein. Er bekam Hilfe von seinem Mitgründer Steve Jobs. Dieser hatte ein Auge für eine andere Art von außerordentlicher Information. Während van Gogh, Marie Curie und Woz das Außerordentliche in der Kunst, der Natur oder der Technologie sahen, sah Jobs es in Menschen. Woz erinnerte sich: »Er las Bücher über die wenigen von uns, die wie Shakespeare oder Einstein die Welt voranbringen […]. Er wollte schon immer einer dieser besonderen Menschen sein.« Jobs verwirklichte seinen Traum, indem er eine Ausnahme von der Regel unter den Computeringenieuren entdeckte. Diese Ausnahme war Woz.
Unser Gehirn hat sich entwickelt, um wie Jobs, Woz, Marie Curie und van Gogh intuitiv zu denken. Auf diese Weise haben unsere Vorfahren in der Steinzeit die Zukunft erschaffen. Doch auch wenn es in unserer Natur liegt, Ausnahmen zu entdecken, tun wir es nicht automatisch. Je außerordentlicher die Ausnahme, desto schwieriger ist es für unser modernes Gehirn, sie zu erkennen. Van Gogh sah so weit in die Zukunft, dass die Bildungssysteme ihn heute immer noch nicht eingeholt haben. Als ich 2022 das Van-Gogh-Museum in Amsterdam besuchte, informierte mich ein Dozent, die stärksten Farbkontraste bestünden nach dem Rot-Gelb-Blau-System zwischen Blau und Orange sowie zwischen Gelb und Violett. Der Dozent versicherte mir voller Überzeugung, bei einer genaueren Betrachtung der Sternennacht würde ich sehen, dass die Sterne orange seien … nur nicht dort, wo der Himmel violett sei.
Das stimmt nicht. Sperren Sie die Augen auf, und Sie werden sehen: Die Sterne der Sternennacht sind gelb, und der Himmel ist blau. Van Goghs visionäres Gehirn hatte die Ausnahme von der alten logischen Gesetzmäßigkeit erkannt. Doch diese Geschichte beweist auch, wie schwer es ganz besonders in unserem digitalen Zeitalter ist, alte Regeln abzulegen. Denn Computer können außerordentliche Informationen nicht verarbeiten. Wenn sie auf eine Ausnahme stoßen, überspringen sie sie und greifen auf die vorprogrammierte Routine zurück. Für einen Computer bestätigt die Ausnahme die Regel. Für ihn handelt es sich um eine zufällige Abweichung, die auf den Durchschnittswert zurückgesetzt werden muss. Und je mehr Zeit wir mit den von Woz entwickelten Maschinen verbringen, desto mehr passt sich unser Denken an, und unsere Gehirne lehnen das Außerordentliche ab, anstatt ihm nachzuforschen.
Doch wir können unsere ursprüngliche Fähigkeit wiedergewinnen, das Besondere zu sehen, und tun, was van Gogh mit den Farben machte, Marie Curie mit der Physik, Woz mit der Technologie und Jobs mit Menschen. Um zu erfahren, wie wir das anstellen können, kehren wir wieder zu den US-Sondereinsatzkommandos zurück.
Die Spezialeinheiten der US Army verfügen über eine Methode, um die Intuition zu aktivieren. Einen ersten Eindruck davon bekam ich gleich nach meinem ersten Zusammentreffen mit ihnen. Um meine Vertrauenswürdigkeit zu überprüfen, wurde ich in eine Militäranlage gebracht, die sechs Stunden von meinem Labor in Ohio entfernt lag. Sie sah aus wie eine Mittelschule aus den 1950er-Jahren, die mitten in eine Hochsicherheits-Strafkolonie gesetzt worden war. Dort sagte man mir, ich müsse mich einem Lügendetektortest unterziehen.
Der Test begann, als ich in einen warmen, fensterlosen Raum gebracht wurde. Es gab dort keinen mechanischen Lügendetektor, sondern nur drei Spezialkräfte in Jeans und Stiefeln. Sie lehnten sich auf ihren Klappstühlen zurück und spulten ein paar langweilige Fragen zu meinem persönlichen Werdegang ab: »Wie heißen Ihre Eltern? Sind Sie verheiratet? Wo sind Sie zur Highschool gegangen?« Ihre Haltung war so lässig, dass ich mich entspannte. Ich hatte gedacht, es wäre eine große Sache. Aber das war es offensichtlich nicht.
Dann beugte sich einer der Soldaten nach vorn. »Ihr Akzent«, sagte er lächelnd, »ist nicht authentisch.«
Vor Überraschung stockte mir der Atem. Was er gerade gesagt hatte, stimmte. Ich sprach mit einem fingierten amerikanischen Akzent. Aber das hatte noch nie jemand bemerkt. Tausende, Zehntausende Amerikaner haben ihn als meine natürliche Sprechweise akzeptiert.
Ich erklärte hastig: »Ich bin in England geboren. Aber ich habe fast mein ganzes Leben in Amerika verbracht.«
Sie kauften es mir nicht ab. »Sie deuten an, Ihren Akzent langsam und auf natürliche Weise mit der Zeit verloren zu haben. Aber das stimmt nicht. Sie haben Ihren Akzent schnell abgelegt. Und mit Absicht. Sie haben sich bewusst dafür entschieden, Ihren alten Akzent zu beseitigen, um als Amerikaner durchzugehen.«
Ich wurde nervös. Wie konnten sie das wissen? Später sollte ich die Antwort erhalten: Diese Sondereinsatzkräfte waren Agenten, die normalerweise Spione enttarnen. Und sie haben erkannt, dass mein Akzent nicht im amerikanischen Kernland und auch in keiner anderen amerikanischen Region entstanden ist. Er ist eine Art Frankensteins Monster, das ich aus Fernsehsendungen und meiner eigenen Fantasie zusammengebastelt habe.
Ich versuchte, Farbe zu bekennen. »Als ich nach Amerika kam, wurde ich in der Schule wegen meines englischen Akzents gehänselt.«
»Wie wurden Sie gehänselt?«
In einem Flashback sah ich um mich herum Jungen in einem Kreis stehen. Sie verspotteten mich als »Volltrottel«, der den Unabhängigkeitskrieg gegen George Washington verloren habe. Es folgte die Erinnerung an einen Sechstklässler mit gegelten Haaren, der mich boxend in eine Ecke drängte und schrie: »Du dreckiger Engländer!« Diese Ereignisse hatten mich damals sehr aufgeregt, doch nun erschienen sie mir unwichtig und fast lächerlich. Ich schämte mich, vor anderen Erwachsenen zugeben zu müssen, wie bedrängt mein jüngeres Selbst sich damals fühlte. Daher sagte ich den Agenten: »Sie beschimpften mich. Solche Sachen.«
Sie beobachteten mich genau. »Und damals haben Sie Ihren Akzent abgelegt?«
Nein, dachte ich im Stillen. Nein, damals habe ich meinen Akzent nicht abgelegt. Tatsächlich hatte das Mobbing den gegenteiligen Effekt. Ich behielt meinen englischen Akzent bei, um zu zeigen, dass ich mich für meine Herkunft nicht schämte. Doch als ich ein Teenager wurde, fühlte er sich unnatürlich an. Ich lebte schon seit Jahren nicht mehr in England. Ich war mehr Amerikaner als Engländer. Ich hatte mit meinen englischen Cousins weniger gemeinsam als mit meinen amerikanischen Klassenkameraden. Und im Sommer nach der Highschool hatte ich beschlossen, meinen Akzent abzulegen und wie ein Amerikaner zu sprechen, damit ich als mein authentisches Selbst ins College gehen konnte.
Auf jeden Fall glaubte ich das zu jener Zeit. Doch als ich in diesem fensterlosen Raum darüber nachdachte, erschien es mir völlig unnatürlich. Ich hatte einen falschen Akzent angenommen, um mich selbst aufrichtiger darzustellen?
Die Spionageagenten sahen zu, wie mein Gehirn arbeitete. Und mir wurde klar: Das ist nicht gut. Ich hätte sofort antworten sollen. Was auch immer ich jetzt sage, sie werden mir nicht glauben. Sie werden glauben, dass ich irgendetwas verbergen möchte, wie mit meinem vorgetäuschten Akzent. Sie werden mich nie für vertrauenswürdig halten.
Schließlich brachte ich hervor, dass ich meinen Akzent verfälscht hatte, weil es sich authentischer anfühlte. Zu meiner Überraschung akzeptierten die Agenten diese Erklärung, auch wenn sie ausgefallen klang. Und in Wirklichkeit waren sie bereit, mir zu glauben, gerade weil meine Erklärung ausgefallen klang. Sie achteten auf die Momente, in denen ich Dinge zugab, die merkwürdiger waren als eine erfundene Geschichte. Diese Bekenntnisse waren Indikatoren für außerordentliche Informationen, und wenn die Ausnahmen ein kohärentes Ganzes bildeten, sagte ich wahrscheinlich die Wahrheit. Denn die Wahrheit ist immer unerwartet, aber in sich stimmig.
Das Gespräch ging weiter. Die Spionageagenten sondierten mich souverän und geschickt. Sie drangen in die vergessenen Winkel meines Gedächtnisses vor. Ich hörte mich selbst über Aspekte meiner Vergangenheit sprechen, die ich meinen Freunden, meinen Angehörigen und sogar mir selbst verheimlicht hatte, bis ich endlich die letzte Hürde überwand und das Urteil fiel: Ich war vertrauenswürdig genug, um die Gehirne von Sondereinsatzkräften in der US Army zu erforschen.
Grinsend sagten mir die Agenten, es sei nun an mir, sie zu befragen. Also fragte ich sie nach dem Geheimnis, das mich während des gesamten Gesprächs fasziniert hatte: »Wie haben Sie das gelernt? Wie kommt man an die außerordentlichen Informationen heran?«
Die Spionageagenten gaben mir den Rat: »Wenn Sie das Außerordentliche nicht erkennen können, sehen Sie alles als außerordentlich an.«
»Alles als außergewöhnlich ansehen?«, fragte ich nach.
