Du entscheidest! - Christin Krischke - E-Book

Du entscheidest! E-Book

Christin Krischke

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Beschreibung

Kann eine Reitweise, die vor 250 Jahren populär war, in die heutige Zeit transportiert werden? Wie sähen die Großmeister historischer Reitkunst wie Antoine de Pluvinel oder Francois Robichon de la Guérinière das "Vorwärts-Abwärts"? Ist Reitsport überhaupt noch zeit- und tierschutzgemäß? Die Direktorin der Fürstlichen Hofreitschule in Bückeburg, Christin Krischke, beantwortet diese und viele andere interessante Fragen mit anekdotenreichem Fachwissen und räumt mit Vorurteilen und angestaubten Konventionen auf.

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(Foto: Niels Stappenbeck)

»Was man nicht versucht,das kann auch nicht gelingen.«Christin Krischke

(Foto: Niels Stappenbeck)

Die Autorin mit ihrem Lusitanohengst Ulysses 2012 beim Reenactment (Fußnote30) des 1750 von Friedrich II. in Berlin und Potsdam aufgeführten Carrousel de Sanssouci. (Foto: Niels Stappenbeck)

Autor und Verlag haben den Inhalt dieses Buches mit großer Sorgfalt und nach bestem Wissen und Gewissen zusammengestellt. Für eventuelle Schäden an Mensch und Tier, die als Folge von Handlungen und/oder gefassten Beschlüssen aufgrund der gegebenen Informationen entstehen, kann dennoch keine Haftung übernommen werden.

IMPRESSUM

Copyright © 2015 by Cadmos Verlag, Schwarzenbek

Gestaltung und Satz: www.ravenstein2.de

Coverfoto: Niels Stappenbeck

Fotos Rückseite/Klappen des Umschlages: Edition Boiselle

Fotos im Innenteil: Bildquelle beachten

Zeichnungen: Renate Blank, wenn nicht anders angegeben.

Lektorat der Originalausgabe: Claudia Weingand

Konvertierung: S4Carlisle Publishing Services

Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Abdruck oder Speicherung in elektronischen Medien nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung durch den Verlag.

eISBN: 978-3-8404-6368-6

Inhalt

Reenactment des Ritts einer Dame zur Falkenjagd um 1525. Lusitano Ulysses vollzieht in der Levade die Cession de machoire (siehe S. 150), Christin Krischke trägt im Gewand der englischen Königin Jane Seymour einen seltenen Merlinfalken auf der Faust. (Foto: Niels Stappenbeck)

Vorwort

Über dieses Buch

Ohnmacht und Eigenmacht

Wer heilt, hat recht

Du entscheidest, was Du weißt

Antike Schule

Mittelalterliche Schule

Italienische Schule

Iberische Schule

Österreichische Schule

Amerikanische Schule

Französische Schule

Deutsche Schule

Englische Schule

Militärschule

Klassische Schule

Du entscheidest, wer Dich schult

Reitlehrer heute

Lehrpferd oder Schulpferd?

Pferdekauf

Du entscheidest, ob Du wartest

Die historische Idee des Anreitens

Mit drei oder mit sechs?

Der lange kurze Weg

Am Ziel

Du entscheidest, ob Du zwingst

Fitness und Wellness

Lehren und Lernen

Du entscheidest, wie Du hilfst

Die historische Idee der Erziehung

Das innere Bild

Die Stimmhilfen

Gertenhilfen

Sitzhilfen

Schenkelhilfen

Zügelhilfen

Du entscheidest, ob Du ziehst

Eine Hand am Zügel

Ein Blick ins Maul

Der Zügelimpuls

Rollen und Ruinieren

Hässliche Mäuler, triefender Speichel

Nachgeben und abbiegen

Nasenriemen

Resümee zum Nasenriemen

Nasband und Caveçon

Du entscheidest, wie Du biegst

Auf Biegung verzichten

Die historische Idee des Biegens

Natürliche Biegung

Die schlechte Seite

Seitengänge

Spiegeln und Einswerden

Resümee zu den Seitengängen

Du entscheidest, ob Du eilst

Der Schwung

Die Funktion des Leichttrabens

Die historische Idee des Schwungs

Schwebephase und Untertreten

Resümee zum Schwung

Du entscheidest, ob Du dehnst

Die historische Idee des Dehnens

Dauer und Dosis

Vorwärts-Abwärts wird gesellschaftsfähig

Dehnen im Humansport

Dehnen und Wölben im Reitsport

Rücken fest und Rücken weg

Du entscheidest, ob Du versammelst

Die historische Idee der Versammlung

Fernziel Versammlung

Resümee zur Versammlung

Du entscheidest, ob Du mitmachst

Wohlstand und Werteverschiebung

Der Preis

Tierrechtlern begegnen

Plädoyer für den Genussreiter

Dank

Quellenregister

Reenactment des Carrousels Friedrichs des Großen von 1750: Original-Figurine des Prinzen der Römer (Nationalmuseum Stockholm) und Wolfgang Krischke auf Berberhengst Raisulih el Hadi in der musealen Aufbereitung für die Höfischen Festspiele Potsdam, 2012. Gezeigt wird die Courbette, ein schaukelpferdartiger, hochversammelter Galopp im Zweitakt. (Foto: Niels Stappenbeck)

Die Autorin mit dem Merlinfalken Pearl. (Foto: Edition Boiselle)

Vorwort

In meiner mittlerweile 25-jährigen Ausbildertätigkeit habe ich das, wie ich finde, große Glück gehabt, viele Male zum grundlegenden Überdenken meiner Überzeugungen gezwungen gewesen zu sein. Tatsächlich hat erst jede Verzweiflung ob der eigenen Fehlbarkeit, jedes Weinen angesichts des offenbaren Fehlers, mich zum Nach- und Umdenken bewegt.

Um es mit Peter Jacksons Gandalf zu sagen:

»Nicht alle Tränen sind von Übel.«

Oft mündet der Sinneswandel in das Verwerfen mühsam einstudierter Gepflogenheiten und in das zermürbende Gefühl, erneut von Null zu starten. Obendrein bitter, wenn man auf dem Weg viel Geld zum Fenster hinausgeworfen hat. Doch in der Summe hat jedes dieser Artensterben in meinem Kopf zu einem Erstarken und Konturieren der neuen, bereinigten Wissenspopulation geführt.

Und auch Dir, lieber Leser, werde ich wahrscheinlich irgendwo auf diesen Seiten wehtun. Vielleicht nimmst Du mir die kritischen Worte übel, die Dir vor Augen führen, welchen liebgewonnenen, aber schädlichen Konventionen Du die letzten Reiterjahre aufgesessen warst. Sich selbst Fehler einzugestehen, ist ein schmerzvoller Prozess. Ich möchte Dir Mut machen, denn Du wirst auf Deinem Weg keinesfalls die Selbstachtung verlieren, sondern Dich zunehmend souveräner und machtvoller fühlen! Jedem Reiter-Pferd-Paar kann geholfen werden, das Wohlbefinden, die Finesse und die Kommunikation zu verbessern.

Erproben der Reiterei zur Tudorzeit (1485–1603). (Foto: Edition Boiselle)

Über dieses Buch

Dieses Buch konnte nur durch das glückliche Zusammentreffen mehrerer außerordentlicher Kompetenzen entstehen, von denen ich die meines Mannes Wolfgang am bedeutsamsten einschätze. Sein unvergleichliches Reittalent nenne ich den goldenen Arsch und bitte zu berücksichtigen, dass das A-Wort in jener Zeit, auf die wir uns berufen1, kein Schimpfwort war!

Ich kenne niemanden, dem es wie ihm gelingt, buchstäblich jedes Pferd dort abzuholen, wo es in diesem Augenblick steht. Auf Anhieb findet er eine Einigung auf ein Stück gemeinsamen Lernweges, ohne das Pferd zu über- oder unterfordern. Wolfgang oblag es all die Jahre, die, bisweilen buchstabenweise ins Verständliche übersetzten, historischen Schriften reiterlich zu erschließen. Täglich stehen wir Hofbereiter ehrfurchtsvoll an der Bande, als wäre es der Rand einer archäologischen Ausgrabungsstätte. Nur kniet der Hofreitmeister nicht mit Spatel und Pinsel im Staub, um Artefakte auszuheben. Er sitzt im Sattel eines hochbegabten Pferdes und hebt aus der Versenkung, was jahrhundertelang als die Krone der Reitkultur galt.

Zum Vorschein kommt eine Reiterei, die von erfrischend unkompliziertem, partnerschaftlichem Miteinander von Mensch und Pferd getragen wird. Der Lohn für den reiterlichen Fleiß, alle Hilfen und Kommandos permanent zu minimieren, ist in der Mimik des Pferdes abzulesen: Konzentriert, einfallsreich und verantwortungsbewusst holt das Pferd das Bällchen. Das ist meine Umschreibung für die unbändige Freude unserer Pferde, wenn sie den Reiter und die Reiteinheit kommen sehen. Wie ein Hund, der sich überschlägt vor Glück, wenn sein Lieblingsmensch nach Hause zurückkehrt. Der sofort losrennt, um seinen Ball zu holen und fleht: »Spiel mit mir!« Auf der Basis des Bällchenholens verschmelzen Reiter und Pferd zu einem Zentauren, dem kein Handgriff oder Reitmanöver unmöglich ist.

Ohnmacht und Eigenmacht

Den Mut, unsere Erfahrungen und Überzeugungen so unverblümt niederzuschreiben, verdanke ich einer weitreichenden Unabhängigkeit. In unserem Pferdemuseum Hofreitschule müssen wir keiner Lobby zum Munde reden. In völliger, auch finanzieller Unabhängigkeit vom Reitsport konnten wir 44 Jahre Pferdeerfahrung mit experimenteller Archäologie und zehn Jahre Seminarpraxis erlangen. Mit den Jahren entwickelten wir einen regelrechten Spürsinn für Dinge, die wir Reiter nur tun, weil man sie so macht.

Die tief greifende Verunsicherung der Reiterwelt beweist, dass die Zeit reif ist für schonungslose Aufdeckungen. Und dafür bedarf es mutiger Nonkonformisten. Wer blind und still in vorsätzlicher Unwissenheit (jener mutwillig getroffenen Entscheidung, unwissend zu bleiben, um keine unbequemen Entscheidungen treffen zu müssen) verharrt, hat seine Eigenmacht abgegeben. Ich möchte Dich aus der Ohnmächtigkeit befreien, lieber Leser, Dich befähigen, eigenmächtig entscheiden und verantworten zu können, was Du mit Deinen Pferden tust. Eigenmächtig zu sein, heißt ebenso, dass Du Dich entscheiden darfst, weiterhin in der Sportreitermühle mitzuwirken, in Kauf nehmend, welchen Preis Du und Dein Pferd dafür zu zahlen haben werden. Lass uns gemeinsam die Säue der konventionellen Reiterei durchs Dorf treiben und unsere Entscheidungen nicht länger anderen überlassen.

Wer heilt, hat Recht

Ich habe sehr viel recherchiert, um das, was wir Hofbereiter fühlen, historisch oder funktionell zu begründen. Gerade in punkto Biomechanik sind mir Studien und Bücher begegnet, welche die Zusammenhänge anders beschreiben, mir sogar widersprechen. Ich argumentiere deshalb aus der Position wer heilt, hat Recht, ähnlich wie die Meister der frühen Reitkunstschulen. Man musste nicht die genauen naturwissenschaftlichen Hintergründe kennen, um richtig zu handeln. Allen, die dieses Buch als Referenz verwenden wollen, muss ich dennoch sagen, dass nicht alles, was hier zu lesen ist, der Weisheit letzter Schluss sein kann. Viel zu verwandt ist die Reiterei den Wissenschaften, in deren Entwicklung eine These so lange als gültig besteht, bis sie widerlegt wird. Als Wissenschaftler sollte man sich ebenfalls nicht mit einer Lehrmeinung verheiraten, sonst gilt man schnell als ewig Gestriger. Paradoxerweise sind es Anregungen von übervorgestern, die das junge Gedankenkonstrukt der Skala der Ausbildung laut Heeresdienstvorschrift sowie die heute gängige Reitpraxis in den Grundfesten erschüttern. Blick mit mir zurück durch die Jahrtausende der Beziehung zwischen Mensch und Pferd und entscheide selbst, was es braucht, um ein Genussreiter im 21. Jahrhundert zu sein.

(Foto: Niels Stappenbeck)

Hofreitmeister Wolfgang Krischke im Studierzimmer. (Foto: Niels Stappenbeck)

1 Als Beispiel lasse ich den Wolfenbüttler Reitmeister Georg Engelbrecht von Löhneysen (1552–1622) die Vorhandpirouette beschreiben: »Wie ein Pferdt abzurichten / das es sich mit den hundern füssen wende / und fornen still stehe. Nimb in jede Handt eine Ruten / das die Spitz hinden bey des Pferdes Arsch hienauß gehe / weñ Du wilt das es den Arsch auff die lincke seyten herumb wende so triff ihn mit der rechten Handt / und zu gleich auch mit den einen Sporn derselben seyten / die Handt aber mit dem Zaum / soltu ein wenig auff die seyten wenden / auff welcher du ihm den sporen gibst / auff das es die Haxen und den Arsch geschwindt herumb werffe.«

Duentscheidest, was Du weißt

Um auf dem großen Parkett der Reitverbesserer mitsprechen zu können, bedarf es heute keiner großartigen Kompetenzen mehr. Im anonymen Internet steht es jedem frei, sich bis auf die Knochen zu blamieren. Man kann seinem Gegenüber ungestraft mit an Wortwahl und Feindseligkeit rekordverdächtigen Beiträgen das Gesicht nehmen und seine Meinung zu allem und jedem in die Waagschale werfen. Völlig unnötig ist Rücksicht darauf, wie gebildet, erfahren oder respektabel der erklärte Feind ist. Kein Wunder, dass sich kaum einer der Profis (Geldverdiener mit dem Pferd) noch auf Onlineduelle einlässt. Darum versiegt der Wissenstransfer und die Konventionen verklumpen zu einem zähen Bodensatz, weil sie tagein, tagaus von Schlaumeiern wiedergekäut werden. Um wahrhaftig Wissen zu erlangen, muss man auch heute zu Praktikern reisen oder Literatur wälzen.

Ich finde es für einen heutigen Reiter unerlässlich, dass er in gröbsten Zügen weiß, wie unsere Reitergeschichte ablief und es zu den dramatischen Umwälzungen kam, die schließlich in den modernen Reitsport mündeten. Die meisten heute zitierten historischen Reitvorschriften sind, bei Licht betrachtet, Hörensagen–Überlieferungen ungenauer Übersetzungen. Sie überdauern die Jahrhunderte im Stille-Post-Verfahren.2

Entscheide Du, ob Du Dich von mir auf einen Spaziergang durch die Reitgeschichte führen lässt.

Antike Schule

Verschiedene Techniken traditioneller Bewegungseinschränkung in Algerien, 2014. (Fotos: Christin Krischke)

Wildpferde und Hauspferde

Der Antike voraus ging ein mehrere Jahrtausende andauernder Prozess, den man Neolithische Revolution (Neolithikum, übersetzt Jungsteinzeit, von altgriechisch νέος, neos für neu, jung und λίθος, lithos für Stein) nennt. Sie begann am Ende der letzten Kaltzeit um 11000 v. Chr. an mehreren Orten der Welt (Fruchtbarer Halbmond, Nordafrika, China, Südamerika). Der Fruchtbare Halbmond wird auch die Wiege der Zivilisation genannt. Er bezeichnet ein ausgedehntes, klimatisch begünstigtes Gebiet nördlich der Arabischen Halbinsel vom Niltal in Ägypten über die Ostküste des Mittelmeers bis zum Persischen Golf.

Zuvor wildbeuterisch lebende Nomaden wurden sesshaft, entwickelten geplante Vorratshaltung, Werkzeugbau, Keramikherstellung und erbauten große religiöse Kultstätten. Die Erfindung von Ackerbau und Viehzucht brachte eine Bevölkerungsexplosion auf das Vierzigfache in Gang. Mit anderen Worten: Die Menschen begannen, Besitz anzuhäufen, und das löste Habgier und Gewalt aus.

Mitteleuropa erreichte dieser Trend um 5500 v. Chr., als die Menschen begannen, weite Waldflächen für den Ackerbau und die Viehzucht nutzbar zu machen. Letztere war zu Beginn nur durch Lebendfang wilder Tiere möglich. Den Anfang machten Schafe und Ziegen, und um diese zu fangen, konnte sich der Mensch vielleicht auch den (spätestens um 14300 v. Chr. in China) domestizierten Hund zunutze machen. Ansonsten gelang es den Menschen sicherlich öfter, ein Muttertier zu töten, um sich das Neugeborene anzueignen. Bei Ziegen oder Schafen war es einfach genug, das Lamm oder Zicklein mit bloßen Händen zu fangen. Auf Muttermilch angewiesen, wurden Tiere dieser Größe vermutlich von menschlichen Ammen aufgezogen und konnten derart vertraut werden, wie wir es heute in Zoos mit Wildtieren erleben können, die mit der Flasche aufgezogen werden.

Hierin besteht der grundsätzliche Unterschied zur Zähmung großer Tiere wie Kühe, Pferde und Kamele. Den Durst eines Fohlens von Pferd oder Kamel oder eines Kalbs kann eine menschliche Amme nicht stillen. Ich halte es deshalb für unwahrscheinlich, dass die großen Pflanzenfresser durch Prägung im Säuglingsalter domestiziert wurden. Eine neue Methode der Zähmung musste entwickelt werden. Zuerst waren es Kühe, später Kamele, und noch später Pferde, die man als Fresser (Jungtier, das bereits vollständig von Pflanzennahrung leben konnte) gefangen und gezähmt haben muss. Ich stelle mir das als enormen kulturellen Fortschritt3 und als echtes Wagnis4 vor, das heutzutage unterschätzt wird.

Man hätte ein Pferd von der Herde trennen und in eine enge Schlucht oder in tiefen Morast treiben müssen. Oder ein völlig entkräftetes, vielleicht krankes Wildpferd zum Aufpäppeln einfangen können. Bestimmt wird man die Finger von den wehrhafteren Hengsten gelassen haben und sich eine Stute für den Zähmungsversuch ausgesucht haben. Dann könnte man ihm die Augen verbunden und es, wie heute noch in der Mongolei üblich, mit einem Halsriemen an einen Baum oder eine hochgespannte Schnur gebunden haben. Nach einigen Tagen wird es aufgehört haben, sich zu wehren. Hunger und Durst zermürbten das wilde Tier und brachen seinen Willen, bis es sich am Strick führen oder in Fußfesseln legen ließ.

Und dennoch werden nicht alle Wildpferde gleich gut die Umprägung auf einen Zweibeiner als Lebensgefährten erduldet haben. Beim Zähmungsversuch verunfallte Pferde wird man einfach aufgegessen haben. Gezähmte Wildpferdestuten wurden mit Sicherheit von Wildpferdehengsten aufgesucht und gedeckt, was dem Menschen eine Vermehrung seines Bestandes bereits innerhalb der ersten Generation beschert haben wird. Die Fohlen konnten früher, und unter geringerem Zwang, auf den Menschen geprägt werden, und so entstanden Herden relativ zahmer Pferde, die um die Hütten der Sesshaften lebten oder die Nomaden auf ihren Wanderschaften begleiteten.

Domestikationszentren

Es kursieren in Pferdekreisen sehr unterschiedliche Ansichten von der Entstehung der Pferderassen. Von dem Wunsch beseelt, der eigenen Lieblingsrasse einen besonderen Stellenwert als Urahn aller anderen Pferde, zu verschaffen, konstruieren manche Autoren mitunter abenteuerliche Theorien. Und wenn sich wieder andere Autoren darauf beziehen, kann daraus schnell eine Lehrmeinung in aller Munde werden.

Heute sind sich die Wissenschaftler einig, dass es mehrere oder sogar zahlreiche Orte gab, an denen es Menschen gelang, Wildpferde zu zähmen. Die Zähmung des indischen Wildpferdes (equus sivalensis) kann man indirekt bis auf 10000 v. Chr. zurückverfolgen.5 Als direkteste Nachkommen des Siwalikpferdes gelten heute das Marwaripferd und seine Verwandten, die Kathiawari-, Manipuri-, Spiti- und Bhutiapferde.

Von Indien aus gelangte dieses erste zahme Pferd mit Nomaden westwärts bis an die Ostküste des Mittelmeers und ostwärts zum Beispiel auch nach China. An anderen Orten begannen die Zähmungsversuche an Wildpferden ebenfalls, Erfolg in größerem Umfang zu verzeichnen. Die Völker Nordafrikas zähmten ab 8000 v. Chr. das algerische Wildpferd (equus algericus), dessen Nachfahr, das Berberpferd, noch heute existiert.6

2012 wurde von Wissenschaftlern bestätigt: In der Mongolei wurden keine Wildpferde gezähmt. Erst ab etwa 50 n. Chr. sind in der Mongolei domestizierte Pferde nachgewiesen. Diese sind keine Przewalskiverwandten, also offensichtlich zugewandert.7

Das Reiten im Fruchtbaren Halbmond

Gehen wir noch einmal zurück ins dritte Jahrtausend vor Christus. Im Fruchtbaren Halbmond wurden erstmals Pferde vor Streitwagen8 gespannt, um damit fremde Besitztümer und Territorien zu erbeuten.

Kartografische Zeichnung: Fruchtbarer Halbmond. (Bild: Christin Krischke)

Die älteste überlieferte Schrift zur Pferdeausbildung stammt aus dem Hethiter-Reich (heute Libanon) der Zeit um 1300 v. Chr. Die vier Tontafeln enthalten die Anweisungen eines Herren Kikkuli aus dem Lande der Mitanni (Mitanni-Reich, heute Syrien) für das Training von Pferden für Wagenrennen. Der Hethiterkönig hatte sich offenbar einen mitannischen Pferdespezialisten kommen lassen, um eine geordnete Streitwagen-Pferdezucht, unabhängig von Importen, aufzubauen. Die Streitwagenpferde zu Kikkulis Zeiten bezeichnete man mit etwa 1,25 m Stockmaß als groß. Die geringe Größe der Pferde dieser Zeit erklärt, warum sie effektiver zu zweit einen Streitwagen ziehen als allein einen Reiter tragen konnten. Doch die Streitwagen hatten den erheblichen Nachteil, dass sie nicht in bergigem Gelände einzusetzen waren, weshalb sich das Reiten im Lauf der Geschichte durchsetzte.

Das Reiten der Kelten

Die Kriegsreiterei der Kelten und Germanen in Nordeuropa (Süddeutschland, Österreich, Tschechien und der Schweiz) soll um 800 v. Chr. recht kunstlos gewesen sein, schenken wir den Kriegsgegnern Glauben. Es sind keine Zeugnisse aus keltisch-germanischer Hand erhalten, die die eigene Reitkultur beleuchten. Weil Geschichte von Siegern geschrieben wird, müssen sich die keltischen Pferde von dem römischen Historiker Publius Cornelius Tacitus (58–219 n. Chr.) als weder schön noch schnell und die Reiterei als trivial bezeichnen lassen: »Die [Kriegsreit-]Pferde zeichnen sich nicht durch schöne Gestalt, nicht durch Geschwindigkeit aus; aber sie werden auch nicht nach unserer Sitte zu allen möglichen Wendungen abgerichtet: gerade aus oder mit einer einzigen Schwenkung nach rechts treiben sie sie in so geschlossenem Bogen, dass keiner hinter den anderen ist. Auf das Ganze gesehen ist ihr Fußvolk der stärkere Teil.«

Königs- und Götterpferde: Schimmel

Die Kelten und Germanen verehrten Pferde als heilig. Tacitus (58– 120 n. Chr.) zufolge waren ihre Pferde Orakeltiere:

»[…] hingegen ist es eine germanische Besonderheit, auch auf Vorzeichen und Hinweise von Pferden zu achten. Auf Kosten der Allgemeinheit hält man [auf] den Lichtungen Schimmel, die durch keinerlei Dienst für Sterbliche entweiht sind. Man spannt sie vor den heiligen Wagen; der Priester und der König oder das Oberhaupt des Stammes gehen neben ihnen und beobachten ihr Wiehern und Schnauben. Und keinem Zeichen schenkt man mehr Glauben, nicht etwa nur beim Volke: auch bei den Vornehmen, bei den Priestern; sich selbst halten sie nämlich nur für Diener der Götter, die Pferde hingegen für deren Vertraute.«

2012 hat Prof. Leif Andersson von der Universität in Uppsala (Schweden) nachgewiesen, dass alle Schimmel der Welt auf einen gemeinsamen Ahn zurückgehen, der vor etwa 2500 Jahren in Asien gelebt hat und durch eine spontane Mutation das Gen STX17 verdoppelt trug, was zu vorzeitigem Vergreisen der Farbzellen in Haar und Haut führt. Andersson geht davon aus, dass der erste Schimmel seinem Menschen sehr gut gefallen hat und viel zur Zucht eingesetzt wurde, wodurch sich das Schimmelgen nach und nach verbreitete. Es ist also unwahrscheinlich, dass vor 2800 Jahren bereits Schimmel die heiligen Lichtungen der Germanen bewohnten.

Rechts ist ein Schimmel, der Genette Bonmot du Roi, abgebildet. Seine Haut ist schwarz und er war als Fohlen ein Brauner. Thunderbird of Mountain (links) ist ein Weißgeborener (LP-LP) mit rosafarbener Haut. (Fotos Niels Stappenbeck)

Die weißen Pferde müssen eine andere Genetik getragen haben, und Hinweise darauf finden sich in Höhlenmalereien von vor mehr als 30000 Jahren in Frankreich. Ich spreche von gepunkteten Pferden. Alle heutigen Tigerschecken tragen eine Genkombination, die die Wissenschaftler mit LP (von Leopard) abkürzen. Genanalysen an 31 Proben 35000 Jahre alter französischer Pferdeknochen brachten sechs LP-Genträger zutage. Die getupften Pferde sind jedoch nur ein Erscheinungsbild dieser Genetik, denn vererben beide Elternteile ihr LP-Gen (und ein weiteres, das PATN1-Gen) an den Nachwuchs, kommt dieser schneeweiß zur Welt. Die germanischen Schimmel dürften also in Wirklichkeit weiß geborene Leoparden gewesen sein.

Man vermutet, dass ein nordeuropäischer Wildpferdestamm in der letzten Eiszeit diese Mutation als Anpassung an die gletschernahe Schneedecke ausgebildet hat. Zunächst überlebte er im Eis nur reinerbig (LP-LP), bis er sich in der nächsten wärmeren Phase mit anderen (vollfarbigen) Wildpferdepopulationen mischte und Einzelgenträger (LP-lp) hervorbrachte, die dann dunkel auf weiß gepunktet waren.

Das Reiten der Skythen

Um 800 v. Chr. gelang es, die Pferde etwas größer zu züchten, und in den nördlichen Randgebirgen des Fruchtbaren Halbmondes begannen wehrhafte, reitende Hirtenvölker9 neue Kampftechniken zu erproben. Die Urartäer (Türkei, Armenien, Iran) und die Assyrer (Irak) waren dafür bekannt, die mit bis zu 1,45 m Stockmaß größten Pferde zu züchten. Sie kämpften als Reiter ähnlich dem Streitwagen, indem sie zwei Pferde nebeneinander rennen ließen, jedes mit einem Reiter darauf: ein Lenker, der beide Pferde am Zügel führte, und ein Bogenschütze beziehungsweise Speerwerfer, der das Gespann zur Waffe machte. Ausgefeilter war die Kampftechnik der Skythen (Ukraine, 800 v. Chr.). Der Grieche Herodot (490–424 v. Chr.) schreibt in seinem ethnografischen Exkurs über die Skythen:

»Muss nicht ein Volk unüberwindlich und unnahbar sein, das weder Städte noch Burgen baut, seine Häuser mit sich führt, Pfeile vom Pferd herab schießt, nicht vom Ackerbau, sondern von der Viehzucht lebt und auf Wagen wohnt?«

Der Perserkönig Dareios erlebte 513 v. Chr. bei der Eroberung Thrakiens (heute Griechenland) eine sehr zermürbende Kampfstrategie seiner skythischen Gegner (Herodot):

»Er verfolgte deren Reiterheer, bekam seinen Feind jedoch nie zu Gesicht, denn die Skythen ritten immer eine Tagesstrecke voraus ins Landesinnere und lockten Dareios’ Heer in für ihn ungünstiges Gelände, bis sich dieser zermürbt mit der Inbesitznahme des überwundenen Terrains zufriedengab und ohne Entscheidungsschlacht abzog.«

Bei anderen Auseinandersetzungen hatte sich der strategische Rückzug als Erfolgsrezept der Skythen bewährt. Sie studierten die gegnerische Taktik, schnitten ihm sämtliche Rückzugswege ab und konnten den Feind dann vollständig vernichten. Die Skythen beherrschten das nach den Parthern (Persern) benannte Parthische Manöver, bei dem ein reitender Bogenschütze den Pfeil in vollem Galopp nach hinten abschoss. Eine akrobatische Technik, die erhebliche Körperbeherrschung und Reitvermögen erforderte.

Parthisches Manöver, von einer skythischen Reiterkriegerin ausgeführt. Die Legende der Amazonen wurzelt in skythischer Kultur. (Aus: The Encyclopedia of ANCIENT CIVILATIONS von Arthus Cotterell, Mayflower Books, 1. Edition 1980)

Das Reiten der Griechen – Die Lehren des Xenophon

Die persischen Eroberungskriege Griechenlands setzten sich viele Jahrzehnte fort und 40000 berittene Perser zerrieben die griechische, fast ausschließlich zu Fuß kämpfende Armee. Fortan rüstete auch Griechenland eine Berufskavallerie auf. Die Pferde zu Zeiten des Militärobersts Xenophon (430–354 v. Chr.) waren durch gezielte Zuchtauswahl größer geworden und mit bis zu 1,4 m Stockmaß als Reitpferde geeignet. Xenophon hat 350 v. Chr. mit Über die Reitkunst ein bedeutendes Zeugnis dafür hinterlassen, wie pferdeverständig die antike Kavallerie war. Man nutzte die Instinkte und das Sozialverhalten des Pferdes und erzog das Pferd mit viel Gnade und wenig Gewalt zu einem zuverlässigen Kampfgefährten.

Da die Griechen weder Sattel noch Steigbügel kannten, mussten die Reiter auf ihre Pferde aufspringen, bei dem geringen Stockmaß allerdings keine allzu große Herausforderung. Xenophon verlangte, dass von beiden Seiten und ohne am Zügel zu ziehen aufgesprungen werden müsse. Er legte großen Wert auf das Abwarten vor dem ersten Losreiten. Dann erst dürfe der Reiter das Pferd mit so sanften Hilfen wie möglich in den Schritt versetzen. Ein Festbeißen auf dem Gebiss empfahl er, dem Pferd mit einem stacheligen Mundstück abzugewöhnen. Er legte großen Wert auf eine stolze Halshaltung und ein Anmuten, als wolle das Pferd einem Artgenossen imponieren. Eine zu tiefe Kopfposition sowie Kopfschlagen waren in seinen Augen gröbste Ausbildungsfehler.

Xenophon. (Zeichnung: Renate Blank)

Das Reiten in Nordafrika

Ein weiteres Reitervolk, das sich in der Antike einen Namen machte, waren die Numidier. Numidien war das gesamte Küstengebiet Nordafrikas, von Libyen über Tunesien, Algerien bis nach Marokko. Im algerischen Atlasgebirge haben sich in Felsritzungen und -malereien bedeutende Zeugnisse dieser sehr alten Reiterkultur erhalten: Die ältesten Fundstücke sind auf 2200 v. Chr. datiert worden und illustrieren Jagdszenen zu Pferd. Die nordafrikanischen Nomaden hatten sich zu einem jagenden Hirtenvolk entwickelt und auf dem Rücken von Berberpferden ausgefeilte Reittechniken entwickelt. Einer dieser Stämme waren die Xenetes.

»Segelmesse, eine Provinz in Africa, in der Barbarey […]. Sie grenzt […] an Zaara [die Wüste Sahara] gen Süden, und an das Gebürge des Großen Atlantis [das Atlasgebirge] gegen Norden. Sie hat ihren Nahmen von ihrer Haupt-Stadt, und wird vom Flusse Zis gewässert. Die Länge dieses Landes ist über 40 Meilen. Die, so es bewohnen, sind Bereberes, welche man Xenetes […] nennt. […] Es war eine sehr volkreiche Stadt, wo viele Kaufleute aus der Barbarey und aus dem Lande der Negern anlandeten.«10

Etymologisch stammt von diesem Volk das spanische Wort für Reiter, jinete11.

Erstmals um 264 v. Chr. warb die Großmacht Karthago (heute Tunesien) im Krieg gegen das Römische Reich eine numidische Söldnerkavallerie an. 12000 numidische Reiter folgten dem jungen karthagischen Feldherren Hannibal (247–183 v. Chr.) ab 221 v. Chr. über die Alpen.12 Hannibal hielt 16 Jahre lang mit großem strategischem und diplomatischem Geschick Spanien, Frankreich und Teile Italiens gegen Rom.

Kartografische Zeichnung des Hochplateaus des Atlasgebirges. (Bild: Christin Krischke)

Der römische Eposdichter Silius Italicus (25–100 n. Chr.) beschrieb die außergewöhnlich hohe Reitkunst der Nordafrikaner:

Höhlenmalerei im Atlasgebirge bei Laghouat von 2200 v. Chr. (Aus: Le grand livre du cheval en Algérie)

»Es lenkt der Numidier sein Pferd ohne den Einsatz eines Gebisses. Er spielt mit einer leichten Gerte zwischen den Ohren und der Renner gehorcht genauso fromm wie mit einer gallischen Trense.« Und auch sein Landsmann, der Chronist Titus Livius (59 v. Chr.– 17 n. Chr.) beschreibt die numidische Kavallerie voller Ehrfurcht:

»Sie ritten ausschließlich zaum-, zügel- und sattellos, und lenkten ihre Pferde nur durch leichtes Antippen der Schultern mit dem Wurfspeerende. Dennoch verstanden sie, ihre Tiere mitten im Angriff aus rasendem Lauf sehr plötzlich anzuhalten.«

Livius schildert, dass die numidische Kavallerie in einer lang auseinandergezogenen Reiterkette den Gegner in voller Karriere13 angriff. Knapp außer Reichweite der gegnerischen Wurfspieße brachten sie ihre Pferde abrupt zum Stehen. Den Schwung ihrer selbst und der Pferde im Stopp nutzten sie, um die Spieße weit in die feindlichen Reihen zu katapultieren. Auch sollen sie häufig mit zwei Pferden pro Reiter gekämpft haben. Das zweite hielt durch Ausschlagen und Beißen die ungeschützte linke Seite frei und diente zur Flucht oder zum Weiterkämpfen, wenn das erste Reitpferd verwundet oder erschöpft war.

Das Reiten der Hunnen

Fortan gab es kaum noch eine kriegerische Auseinandersetzung ohne Beteiligung von Reiterei. Auf der einen Seite standen die Besitz anhäufenden Städte, Königreiche und Imperien mit ihren stehenden Berufsarmeen, auf der anderen die räuberischen, nicht sesshaften Reitervölker, die immer aggressivere Übergriffe wagten. Die ausgehende Antike ist von dramatischen Kriegen und Machtumwälzungen, wie der Völkerwanderung, bestimmt. Im Jahr 375 n. Chr. kam es zu den ersten großen Feldzügen der Hunnen, die von Zentralasien aus mit bis dato unbekannten Reiterkampftechniken über die Flüsse Don und Wolga weit in den Westen vorstießen. Bis zum Tod des Hunnenfürsten Attila im Jahr 453 hielten sie Europa in Atem. Vor den Hunnen flohen ganze Völkergruppen14 und verdrängten die Bevölkerung anderer Landstriche: Die heute sogenannte Völkerwanderung begann.

Die Hunnen hatten als berittene Hirten der zentralasiatischen Steppe generationenlang das Reiten und den Umgang mit dem Pferd zu einer effizienten Kriegsreiterei ausgefeilt. Außerdem waren sie hervorragende Bogenschützen, die ihren Rang in dieser Disziplin mit bunten Bändern in ihren langen Zöpfen zur Schau stellten. In unzähligen Auseinandersetzungen unterlag die vergleichsweise träge Kampfaufstellung der germanischen Stämme in Keilformation. Von den Parthern (Persern, heute Iran) hatten die Hunnen den Sattel und die Technik des Parthischen Manövers übernommen.

Selbst die disziplinierte und gut gelenkte römische Armee war nur auf den Frontalangriff vorbereitet und stand den sehr schnell vollführten Attacken, Rückzügen und Umzingelungen der Hunnen zunächst machtlos gegenüber.

Spätestens mit der arabischen Expansion (ab 633 n. Chr.) zerfiel das weströmische Imperium, und die römischen Provinzen Ägypten, Libyen und Afrika fielen an die Araber, Südspanien an die Westgoten und Italien an die Langobarden. Das Jahr 640 gilt als Beginn des Mittelalters und Ende der (römischen) Antike, obwohl das Oströmische Reich, später Byzanz genannt, bis 1453 fortbestand.

Resümee zur Antiken Schule

Die Antike Schule brachte verschieden hohe Reitkünste hervor, deren Ausbildungsweg uns nur stichprobenartig überliefert ist. Durch die Schilderung der Chronisten wissen wir jedoch, dass man sich des Pferdes auf unterschiedliche Weise zur Jagd und zum Krieg bediente. Alle Reitervölker verehrten ihre Pferde mehr oder weniger als heilig, einige betrieben sogar Bestattungskulte. Am weitesten fortgeschritten dürfte die Reitkunst der Numidier gewesen sein, die allem Anschein nach gebiss- und sattellos schwierigste Reitmanöver zu vollführen wussten.

Die Skythen gelten als strategisch sehr fortgeschritten und auch den Persern wird eine sehr wendige Manövrierkunst zugeschrieben. Und dank Xenophon wären wir heute sogar in der Lage, ein Kriegspferd nach altgriechischer Methode auszubilden. Alles in allem handelt es sich bei der Antiken Schule um eine Nahkampfreiterei, bei der derjenige siegte, der die überraschendsten Attacken vollführen konnte. Manchmal gewannen aber einfach auch die, welche die besten Körperpanzer für Ross und Reiter besaßen.

Mittelalterliche Schule

Eine Einheit von Reiterkriegern mit Körperpanzern15 wird Schwere Reiterei genannt. Ihre bevorzugten Waffen waren Speer und Spieß, später die Lanze. Das im Fruchtbaren Halbmond ansässige Reitervolk der Sarmaten konstruierte um 300 v. Chr. erstmals solide Sattelbäume, womit der Sitz eines Reiters deutlich stabilisiert werden konnte. Ihnen werden auch die ersten schweren Reiterpanzer zugeschrieben. Die Perser behielten diese Bewaffnung lange bei. Sättel und Panzer verbreiteten sich zu den Karthagern (um 250 v. Chr.), den Römern (nach 50 n. Chr.) und den Byzantinern (um 400 n. Chr.). Um etwa 750 n. Chr. waren sie in ganz Eurasien bekannt.

Die Steigbügel hingegen entwickelten sich deutlich später. Schon die Skythen sollen Leder- und Hanfschlingen als Aufstiegshilfe benutzt haben. Auch Alte oder Verletzte werden mit den Füßen in Schlingen reitend abgebildet, was Prof. Junkelmann dazu veranlasst zu vermuten, man habe die Bequemlichkeit der Fußstütze auf Reisen durchaus zu schätzen gewusst. Erste echte hölzerne Steigbügel wurden erst um 350 n. Chr. in China und Korea gebräuchlich.

Im frühen Mittelalter (von 600 bis 800 n. Chr.) standen sich drei große Machtbereiche gegenüber: die Byzantiner (im gesamten östlichen Mittelmeerraum), die Awaren (aus der Pannonischen Tiefebene, Ungarn bis zu den Karpaten) und die Franken (heute Deutschland, Benelux und Frankreich). Sie alle hatten Pferde für ihr Militär, einerseits für die Reise an den Ort der Auseinandersetzung, andererseits für die unterschiedlichen Reitmanöver im Angriffskrieg. Alle dargestellten Pferde sind für unsere modernen Begriffe klein. Die Füße der Reiter hängen bis zu den Vorderfußwurzelgelenken hinab, die Pferde waren noch immer nicht größer als 1,4 m Stockmaß.

Im Jahr 732 trafen in der Schlacht bei Tours und Poitiers (westliches Zentralfrankreich) Franken auf die zahlenmäßig überlegenen Mauren unter Ab dar-Rahman, der bei dieser Schlacht ums Leben kam. Lange haben Historiker sich ausgemalt, wie die beiden so gegensätzlichen Kavallerien aufeinandergeprallt sein müssen: Die Franken ritten schwer gepanzert auf klobigen Geradeausrennern, fest mit durchgedrückten Knien in ihre Sättel verkeilt. Im gegnerischen Lager wähnte man die leicht gerüsteten Nachfahren der Numidier. Sie seien, im leichten Sitz mit kurz geschnallten Steigbügeln in virtuosen Manövern um die Lanzen der Franken herumgeritten.

Hier irrte die Wissenschaft. Dank der zeitgenössischen Mozarabischen Chronik wissen wir heute, dass sowohl Franken wie Mauren zu dieser Zeit von ihren Pferden abstiegen und als Infanterie kämpften.

Im Übrigen geht man heute davon aus, dass sich der Steigbügel bei den Franken noch nicht durchgesetzt hatte, ein Festkeilen im Sattel also unmöglich gewesen sein muss.

Nach dieser Schlacht führte der siegreiche Karl Martell (688–741) eine bedeutungsvolle Heeresreform durch: Er ließ eine schwere gepanzerte Berufskavallerie aufstellen. Insbesondere in Verbindung mit hohen Sattelzwieseln ermöglichte er es dem fränkischen Panzerreiter, im vollen Galopp einen Lanzenstoß auszuführen, ohne selbst vom Pferd gerissen zu werden. Außerdem erschwerten es Steigbügel und Sattel dem Fußvolk, einen Reiter vom Pferd zu zerren. Martell stattete seine Ritter mit Lehen aus Kirchenbesitz aus. Damit legte er den Grundstein der mittelalterlichen Feudalgesellschaft und die Verpflichtung des Ritterstands16, der Krone und der Kirche militärisch zu dienen.

Das Rittertum ist eine der bekanntesten Reiterepochen. Durch Kreuzzüge und Eroberungen sollte die gesamte bekannte Welt dem christlichen Glauben unterworfen werden, und es waren gepanzerte-Ritter, die ihn mit Schwert und Feuer verbreiteten.

Ritter mit Falke nach dem Beispiel der Manessischen Liederhandschrift, entstanden um 1310. (Zeichnung: Renate Blank)

Darstellung eines Buhurt im Turnierbuch des René von Anjou, 1280. Links in den Schranken (auf der Kampfbahn) sieht man die Mitglieder des Turnieradels mit Buhurthelmen und Helmzier. Alle anderen Ritter sind Knappen oder Ringrichter. (Abbildung: Archiv Krischke)

Die Lehren des Ruffo

Der kalabrische (Kalabrien ist die Stiefelspitze Italiens) Marschall Giordano Ruffo (1165 bis nach 1250) war oberster Stallmeister am Hofe des Staufenkaisers Friedrichs II. (1194–1250) in Sizilien. Der Kaiser war für seine hohe Bildung und den Wissensaustausch mit den Arabern, insbesondere mit dem ägyptischen Sultan al-Khamil, berühmt.17 Des deutsch-römischen Kaisers Faszination für die Bibliotheken des Morgenlandes habe ihn mehrere Bücher über die Kunst, mit Tieren umzugehen in Auftrag geben lassen. Neben de arte venandi cum avibus (Über die Kunst, mit Vögel zu jagen, ein bis heute angesehenes Traktat über die Beizjagd), beauftragte er Giordano Ruffo mit dem Verfassen des Mariscalcia equorum (lateinisch für Pferdestall) einer Abhandlung über die Pferdehaltung in sechs Bänden.18 Sie erschien erst nach des Kaisers Tod im Jahr 1250 in vier italienischen, zwei französischen und je einer spanischen, deutschen und hebräischen Übersetzung. Das zeigt den Wert und den Verbreitungsgrad dieser Schrift.

Die Reitkunst des Rittertums

Die Ständegesellschaft Europas im Hoch- und Spätmittelalter (1050– 1500) brachte eine interessante Neuerung in der Kriegsführung: Die ritualisierte Schlacht als Kampfübung, das Turnier (französisch tourner für drehen, wenden, in unserem Sprachgebrauch als Turnen für gymnastische Übungen erhalten). Turniere waren Militärmanöver, die mit einer formellen Herausforderung begannen und auf einem eingegrenzten Platz unter Aufsicht von Schiedsrichtern19 abgehalten wurden. Zunächst gestalteten sich Turniere als Massenkämpfe zweier Parteien zu Pferd, die man nur mit außerordentlichen Reitkünsten bewältigen konnte. Die Pirouetten, schnellen Kehrtwendungen und Links-rechts-Finten brachten dem Turnier seinen Namen ein. Zugleich war ein Turnier auch das bedeutendste gesellschaftliche Event der Oberschicht dieser Tage, jedoch war die Teilnahme nicht freiwillig: Man musste fürchten, vom Turnieradel ausgeschlossen20 zu werden, wenn man zu einem Turnier nicht erschien.

Die ersten Turniere fanden im 11. Jahrhundert in Frankreich statt. Immer wieder kam es zu tödlichen Unfällen, weil zunächst mit scharfen Kriegswaffen gekämpft wurde. 1130 verbot Papst Innozenz II. vergeblich diese

»[…] verabscheuungswürdigen Belustigungen und Festlichkeiten, in der Sprache des Volkes Turniere genannt, an denen Ritter sich zu versammeln pflegen, um ihre Stärke und ihre tollkühne Dreistigkeit zur Schau zu stellen.«21

Selbst die Androhung, jedem beim Turnier getöteten Ritter das christliche Begräbnis zu verweigern, verhallte nahezu ungehört. Die Wettkampflust der Fürsten und Ritter, ihre Freude an festlichem Gepränge und der Ehrgeiz, sich im Kampfspiel hervorzutun, waren stärker als alle Verbote.

Im 13. Jahrhundert wandelte sich das Turniergeschehen. Mit weniger gefährlichen Waffen und besser schützenden Rüstungen bildeten sich zahlreiche Unterdisziplinen der Wettkämpfe. Die Massenschlachten wurden durch präzise Regelwerke geordnet und Buhurt22 genannt. Hinzu kamen Tjosts (lateinisch iuxta für unmittelbar nebeneinander): Duelle, bei denen zwei Reiter einander frontal mit Lanzen anritten. Die Tjosts wurden von den Rittern nicht selten missbraucht, um alte Zwistigkeiten auszutragen, und uferten zu echten Duellen23 aus.

Aus Wolfram von Eschenbachs »Parzival«

Originaltext

Herkömmliche, nicht-hippologische Übersetzung

Übersetzung von Arne Koets und der Autorin

fünf stiche mac turnieren hân:

fünf Stiche zählt man zum Turnier:

im Lanzenkampf gibt es fünf Attacken:

die sint mit mîner hant getân

wie oft gelangen alle mir

die ich alle schon geritten habe

einer ist zem puneiz

der erste beim Entgegenreiten

die erste beim Frontalangriff den Gegner zur Linken

ze triviers ich den andern weiz

a Travers nennt man den zweiten

die zweite ebenso, aber das Pferd ins Kruppeherein stellen

der dritte ist zentmuoten

der dritte soll den Guten

die dritte beginnt mit der Lançade*

ze rehter tjost den guoten

iIn rechter Tjost entmuten

viertens den Gegner rechts zu stechen

hurteclîch ich hân geriten

oft hab ich hurtiglich geritten

dafür muss man schnell sein

und den zer volge ouch niht vermiten

und auch zur Folge wohl gestritten

und fünftens nicht das schnelle Wenden scheuen, wenn dich einer verfolgt

* Die Lançade ist ein besonders hohes Anspringen in den schnellen Galopp (Karriere). Sie ähnelt dem Hankensprung, aber nach dem kraftvollen Abdrücken der Hinterhufe landet das Pferd in der Lançade auf den Vorderbeinen und galoppiert weiter. Im Hankensprung landet es hingegen auf den Hinterbeinen.

In diese Zeit fallen zahlreiche höfische Heldendichtungen und die Minnelyrik, die uns zwischendurch kleine Einblicke in die Reitkunst der Ritter erlauben. In Wolfram von Eschenbachs um 1210 entstandener Versdichtung Parzival gibt es zum Beispiel eine Passage in mittelhochdeutscher Sprache, die von den Historikern nicht hippologisch übersetzt wurde.

Nur wenn man die Materie ausprobiert, kann man verstehen, was Eschenbach meinte. Hier kommen Originaltext, die herkömmliche Übersetzung und die Übersetzung, bei der mir der Historiker Arne Koets (selbst Tjost- und Buhurtreiter) geholfen hat (siehe Tabelle).

Der Adel, der nur zu den Tjosts zugelassen war, schmückte sein Wappen mit dem entsprechenden Helm (links das Wappen mit dem Hahn). Doch an Einfluss und Edelblütigkeit war der Turnieradel nicht zu übertreffen, der sein Wappen mit dem Buhurthelm schmücken durfte (rechts das Wappen des Lorenz Staiber). (Abbildungen: Kupferstiche von Albrecht Dürer, Archiv Krischke)

Die Kampfteilnehmer der Tjosts waren meist waghalsige junge Ritter, die sich und der Damenwelt etwas beweisen wollten und es reiterlich noch nicht mit den erfahrenen, älteren Recken aufnehmen konnten, die sich im Buhurt maßen. Trotz solch kniffliger Manöver war jedermann (und -frau) wohl bekannt, dass für das Tjost kein allzu großes reiterliches Geschick vonnöten war. Ganz im Gegensatz zum Turnier, das ja, wie der Name sagt, fast nur aus Drehungen und Wendungen bestand. Jetzt wird deutlich, warum es ein Privileg des Turnieradels war, sein Wappenschild mit einem Kolbenturnierhelm aus dem Buhurt schmücken zu dürfen. Ritter und Adelige, die nicht dem Turnieradel angehörten, oder nur an Tjosts, nicht am Buhurt teilnahmen, trugen in ihrem Wappen den Stechhelm (Froschhelm).

Die Lehren des Dom Duarte

Um 1430 schrieb der portugiesische König Edward I.24 (1391–1448) sein Livro da Ensinança de Bem Cavalgar Toda Sela (portugiesisch für Das Buch über das Reiten in jedem Sattel). In seinen Kampf- und Reittechniken schult er die Willenskraft und Selbstbeherrschung seiner Reiter und beschäftigt sich mit der Überwindung jener Urängste, die ein Pferd bei Menschen hervorruft:

»Im Reiten, wie in allen Dingen, die wir tun, macht uns Furcht unfähig, es gut zu tun. Darum sollten wir erst lernen, wie man es gut macht, und diese Überzeugung wird die meisten Ängste verschwinden lassen.«

Er ist seiner Zeit weit voraus mit seiner Überzeugung, Menschen könnten ihren Charakter durch Bildung und ihren Leib durch Ertüchtigung verbessern.

»Ein Mann, der keine Furcht vor dem Reiten hat, ist fähig stets sicher im Sattel zu bleiben und einen Sitz beizubehalten, der seine große Willensstärke reflektiert und demonstriert, wie sicher er sich fühlt.«

Neben den philosophischen Ansätzen erfreut er seine Leser auch mit sehr reellen Eingebungen:

»[…] wir loben diese [Reit-]Kunst sehr, weil ein gesunder Mann, mit starkem Willen, wenn er nicht fett wird, in der Lage ist, seine Fähigkeiten bis in hohes Alter beizubehalten, was in anderen Künsten nicht gelingt.«

Die Pferde der Ritter

Betrachten wir die Mittelalterliche Schule in ihren verstreuten Überlieferungen, so wird deutlich, wie sehr das Pferd den Alltag der Adelsschicht bestimmte. Jeder Edelmann und jede Edelfrau (sowie der Klerus, Handelsreisende und die meisten Handwerker und Bauern ebenfalls) konnten mehr oder minder gut reiten, und die Pferdezucht entwickelte sich in wohlhabenderen Regionen zu großer Blüte. Im Spätmittelalter entstanden für die verschiedenen Anwendungsgebiete erstmals getrennte Zuchtziele, zum Beispiel entstanden für das Tjost in vielen Regionen Europas hoch spezialisierte Destrier.

Der Name Destrier kommt vom lateinischen dexter, für Rechtsseitiger, weil die schwereren Tjostpferde nicht auf den Reisen zum Turnierort geritten, sondern an der rechten Seite des Reisepferdes geführt wurden. Üblicherweise hielt ein Reiter die Zügel in der linken Hand, weshalb die rechte Hand zum Führen einer Waffe oder eben auch zum Führen des Destriers frei blieb.

Destrier waren bis 1,55 m (selten bis 1,6 m) große, kurzrückige, schwerere Geradeausrenner (zum Beispiel Friesen, Dänen oder Neapolitaner), aber keine Ackerpferde, denen die Spurtstärke fehlte. Mit ihrer Masse potenzierten sie die Aufprallenergie der Lanze und ließen sich von Treffern auf den eigenen Reiter nicht aus der Ruhe bringen. Dies ist die erste Erwähnung wirklich großer Pferde in der Geschichte. Destrier waren dafür bekannt, weder ausdauernd noch wendig zu sein.

Ein Ritter um 1500 könnte also mindestens einen Destrier besessen haben. Ferner (wenigstens) eines jener besonders rittigen, wendigen Pferde, die er für den Buhurt und für den Einsatz im Krieg brauchte. Diese Pferde entstammten den Zuchten verschiedener Fürstenhäuser in Spanien, Portugal und Italien, und besonders begehrt und selten waren Importe aus den Kalifaten Nordafrikas.

Meist hießen sie nach ihrem Heimatort zum Beispiel Castillaner, Cordobaner, Paduaner oder einfach hispanische oder italienische Genetten (Reitpferde vom spanischen jinete für Reiter) oder eben Berber, Barber oder Afrikaner. Die edlen Tiere wurden an den Reitschulen der Höfe und den Reitakademien zu außerordentlicher Reitkunst geschult.

Für längere Ritte gab man töltenden und Pass gehenden Pferden bis Mitte des 18. Jahrhunderts den Vorzug. Zwei Reiter auf der Falkenjagd reiten einen grauen Passgänger. (Die Très Riches Heures des Jean Duc de Berry im Museum Condé Chantilly, Prestel Verlag, München 1989)

Im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung konnte der Ritter sein Streitross je nach Aufgebot des Kriegsgegners auswählen. Würde es nach dem Angriff in geschlossener Front schnell zu einem Nahkampf kommen, sah man ihn wahrscheinlich seinen Berber oder Hispanier besteigen. War der Gegner jedoch voraussichtlich in einer Lanzenträgerkette niederzureiten, durfte dies der Destrier vollziehen. Die Methoden der Kriegsführung erinnern diesbezüglich an die heutige: War der Destrier der Panzer, kam der Berber einem Kampfhubschrauber gleich.

Damit war die züchterische Finesse des Mittelalters jedoch noch nicht erschöpft. Wie schon beim Destrier erwähnt, dienten weder diese noch die Buhurtpferde als Reisepferde. Dafür gab es abermals spezielle Zuchtrichtungen, unter anderem sehr edle Maultiere.25

Reisepferde wurden in großer Anzahl benötigt, reiste so ein Ritter doch in Begleitung eines standesgemäßen Hofstaates von Knappen, Pferdeknechten, Köchen, Damen, Zofen, einem Herold, einem Geistlichen und etlichen Wachleuten. Am begehrtesten waren Zelter (mittelhochdeutsch zelt für Passgang, Tölt). Tölt (eine Art gerannter Schritt) und Pass (eine schaukelnde Fortbewegung, bei der die gleichseitigen Beine zugleich aufsetzen) sind beinahe erschütterungsfreie Gangarten. Vor allem von den Damen, die damals in einem Quersattel ritten, wurden schöne Zelter sehr geschätzt und teuer bezahlt.26

Genetiker können die Gene moderner Pferde in aufwendigen Verfahren auslesen. Die Cluster genannten Genkombinationen sind bestimmten Ursprungstypen zuzuordnen und lassen gewisse Rückschlüsse auf Verwandtschaftsverhältnisse zu. Cluster D1 wird zum Beispiel dem Berberpferd, dem Andalusier und dem Lusitano zugeschrieben, die sich genetisch nur sehr gering unterscheiden. 31 Prozent der amerikanischen Mustangs zeigen ebenfalls D1, was nachvollziehbar ist, denn sie stammen von den Pferden der ersten spanischen Besiedler27 ab. Jedoch nur 5 Prozent der Vollblutaraber verfügen über D1, womit die Verwandtschaft von Berber und Araber als minimal bezeichnet werden darf.

Prof. Leif Andersson von der Universität in Uppsala untersuchte die genetischen Zusammenhänge der eben erwähnten besonderen Gangarten.28 Die Veranlagung dazu liegt auf einer reinerbigen Mutation eines Gens mit Namen DMRT3. Die Mutation soll auf ein einziges Pferd zurückgehen, das vor mehr als 1000 Jahren, vermutlich in Nordafrika gelebt hat. An diesem genetischen Fingerabdruck kann man erkennen, wie weit die Berberpferde in der frühen Antike über Europa verbreitet wurden. Die berühmteste töltende Pferderasse ist wahrscheinlich das seit 1000 Jahren isoliert auf einer Insel gezüchtete Islandpferd.

Untersuchungen an Überresten von Pferden der Wikinger weisen dieselbe Genetik auf wie Islandpferde. So ist sicher, dass diese sich bereits vor der Wikingerzeit, also vor 500 n. Chr., entwickelt haben.

Reenactment und experimentelle Archäologie

Nichts von den üblen Nachreden, die Ritter seien grob oder ungeschickt geritten, hält einer Überprüfung in experimenteller Archäologie stand, wie wir sie seit 25 Jahren betreiben. Die Stadt Sankt Wendel im Saarland hat 2012 erstmals ein in weiten Teilen authentisches Ritterturnier zu Ehren des 500-jährigen Besuches der Stadt durch Kaiser Maximilian (1459–1519) veranstaltet.

Und anlässlich der Ausstellung Ritterturnier – die Geschichte einer Festkultur rief das Schaffhausener Museum zu Allerheiligen 2014 ein zehntägiges Turnier – Reenactment30 – ins Leben, das Fachleute aus der ganzen Welt in die Schweiz lockte und viele wertvolle neue Erkenntnisse zutage förderte. Beide Veranstaltungen begleiteten wir als hippologische Berater.

Jeder der neun berittenen Akteure hatte sich im Vorfeld Rekonstruktionen mehrerer musealer Originalrüstungen aus der Zeit um 1475 auf Maß aus Federstahl anfertigen lassen. Solch eine Rüstung kostet zwischen 20000 und 50000 Euro. Auf größtenteils in der Hofreitschule vorbereiteten Pferden der überlieferten Rassen wurden die typischen Turnierdisziplinen in der korrekten Reihenfolge abgehalten. Jeder unserer Ritter stieg selbstverständlich eigenmächtig von einem Schemel aus auf sein Pferd.31

Der Buhurt war schon im Reenactment derart anstrengend, dass sich Mann und Pferd bei ihren Auftritten abwechseln mussten. Plötzlich sieht man historische Schilderungen, nach denen eine Kolbenschlacht zwischen 200 Rittern, auf einem Feld von der Größe eines halben Fußballfeldes, von Mittag bis zum Abend dauerte, mit sehr viel mehr Respekt.

Im Tjost ist es das Ziel, die Lanze an Schild oder Rüstung des Gegners zu brechen. Arne Koets in Sankt Wendel 2012. (Foto: Dr. Peter Jetzler)

Die Turnierdisziplinen sind nur mit sehr weit geschulten, kleineren Pferden originalgetreu zu bewältigen. Je feiner und reitkunstgemäßer die genossene Ausbildung, desto überlegener konnte der Ritter im Buhurt punkten. Hier siegten stets die Andalusier, Lusitanos, Knabstrupper (Nachfahren der dänischen Frederiksborger), Berber und ein sehr gut gerittener Murgese (Nachfahr des süditalienischen Neapolitaners) gegen den Friesen. Im Tjost dominierte der entschlossene, nicht von seinem Kurs abzubringende Friese gegenüber den leichteren Pferden, obwohl der Murgese auch hier sehr überlegen Spur hielt.

Resümee zur Mittelalterlichen Schule

Die Mittelalterliche Schule darf man mit Fug und Recht als eine Hochkultur der Reiterei ansehen. Gezielt schulte man Travers, enge Kehrtwendungen, Pirouetten und Schulsprünge, die sich nicht anders als aus dem hochversammelten Galopp entwickeln lassen. Dass ihre Darstellung auf Gemälden, Wandteppichen und in Buchmalereien so flach und unraffiniert erscheint, hängt mit den vornehmlich kirchlichen Auftraggebern dieser Werke zusammen. Der Klerus hatte kein Interesse an allgemein verständlichem Wissen. Seiner Bilderwelt lag eine für uns heute kaum noch nachvollziehbare Mystik und Symbolik zugrunde. Der Körperbau der Reittiere hatte in der Bildersprache weniger Aussagekraft als zum Beispiel die Menge an Stoff, in die sie gehüllt waren, oder die Zahl der goldenen Schnallen am Ledergeschirr. Insbesondere die Kugelgestalt der Pferdekörper (zum Beispiel in der Manessischen Liederhandschrift) lässt den Einsatz geometrischer Formen als Sinnbild der göttlichen Ordnung vermuten. Die Farbe des Pferdes sagte ebenfalls viel über den Wohlstand des Reiters aus. So galten Schimmel mit Äpfelung und üppiger Mähne als absolutes Statussymbol. Und weitere geheime Botschaften vermittelten die Mimik, Gestik und Haltung der Dargestellten.

Der Untergang des Ritterturms

Die meisten Schlachten mit Beteiligung von Rittern handelte man im Vorfeld regelrecht aus. Es galt als ritterlich, im Ernstfall Mann gegen Mann und dem Adelsstand entsprechend zu kämpfen. Der Gegner hielt sich an dieselben Gepflogenheiten, so war die Abmachung, um die Opfer unter den Adligen so gering wie möglich zu halten. Hatte der Gegner indes keine Ritter, sondern trat mit Infanterie gegen die schwere Reiterei an, so kam es oft zu empfindlichen Verlusten unter den Rittern.

In der Schlacht der goldenen Sporen 1302 unterlagen die französischen Ritter einer gut geschulten flämischen (heute Belgien) Infanterie auf einem für Pferde ungeeigneten Kampfterrain.

Einen ähnlich spektakulären Sieg errang das ausschließlich zu Fuß kämpfende, nur leicht gerüstete Heer der Schweizer Eidgenossen 1386 bei Luzern. Sie vernichteten das habsburgische (österreichische) Ritterheer, das aufgrund der landschaftlichen Gegebenheiten abgesessen war und eine Phalanx (eine geschlossene, pfeilspitzenförmige Kampfaufstellung) gebildet hatte. Als der Wall aus Spießen und Pieken einmal unter großen Opfern genommen war, hatten die beweglichen Schweizer leichtes Spiel, die gepanzerten Habsburger in der Enge der Schlachtaufstellung niederzumachen.

In Crécy (Frankreich) machte die doppelt überlegene französische Ritterschaft zum Auftakt des Hundertjährigen Kriegs 1346 erste Bekanntschaft mit den englischen Langbogenschützen, die ihr eine dramatische Niederlage bescherten. Auch 1356 in Poitiers und 1415 in Azincourt triumphierten die Engländer, weil ihre schweren, langen Langbogenpfeile aus großer Höhe mit so enormer Durchschlagskraft herabsausten, dass keine noch so solide Rüstung ihnen standhalten konnte.

Ein weiteres grausames Beispiel findet sich in Norddeutschland: In der Schlacht bei Hemmingstedt im Jahr 1500 kam über ein Drittel des dänischen Hochadels ums Leben. Ihre Bezwinger, die Bauern der kleinen (damals noch dänischen) Deichgemeinde Dithmarschen, wollten den Wucherzins nicht entrichten. Als zur Abschreckung eine völlig überproportionierte Strafabordnung anrückte, lockten die Bauern sie in einen Hinterhalt. Die schwer gepanzerten Ritter zogen in das Marschgelände ein und ahnten nicht, dass die Bauern soeben die Deiche durchstochen hatten und das Kampfgelände fluteten. Mit Dreschflegeln und Sensen rückten sie der manövrierunfähigen Kavallerie zu Leibe, und jeder Ritter, der vom Ross fiel, ertrank in seiner Rüstung oder wurde erschlagen.

Was aber letztendlich die Panzerreiter absetzte, waren keine Bogenschützen und keine mit Hellebarden32 bewehrte Infanterie: Es war eine Veränderung des menschlichen Denkens. Um den Wandel, der den Ausgang des Mittelalters und den Beginn der Renaissance ausmacht, verstehen zu können, muss man ein wenig den Blick schweifen lassen.

Italienische Schule

Die Welt im Wandel – Renaissance

1453 fiel das Byzantinische Reich an die belagernden, achtfach überlegenen Osmanen (heute würden wir Türken sagen). Die osmanische Kavallerie war bei diesem denkwürdigen Ereignis, das man heute als den Beginn der Renaissance ansieht, so gut wie unbeteiligt. Schon in den Jahren vor der Belagerung waren die meisten Gelehrten aus der Bildungshauptstadt des Abendlandes geflohen und hatten größtenteils in Italien Zuflucht gesucht. Sie brachten Abertausende Bücher von unschätzbarem Wert mit, die in den Bibliotheken des Byzantinischen Reichs nahezu 1000 Jahre lang konserviert worden waren.

Nach der rund 700-jährigen maurischen Herrschaft fiel den christlichen Rückeroberern auf der Iberischen Halbinsel eine Vielzahl antiker Literatur aus maurischem Besitz in die Hände. Allein die Bibliothek von Cordoba (1236 eingenommen) soll 400000 Bücher umfasst haben. Mit der Kapitulation des Emirs der letzten maurischen Stadt Granada, Boabdil (1459–1536), gelangten 1492 große Teile des maurischen Kulturschatzes in spanische Hand. Die spanische Krone hing seinerzeit noch in ihrer sehr strengen Auslegung des christlichen Glaubens fest und der verträgt sich bekanntlich nicht mit den Naturwissenschaften. So kam Italien die alleinige Rolle des Weltenerneuerers zu. Bald genossen die Künste33 und Wissenschaften in den italienischen Stadtstaaten wieder ein ähnlich hohes Ansehen wie im antiken Griechenland. Aus dem wiedergeborenen (französisch renaissance für Wiedergeburt), antiken Wissen entsprang ein rascher Emanzipationsprozess der Wissenschaften und Künste vom starren Gedankengerüst der katholischen Kirche.34

Dass dem menschlichen Forschungsgeist und Verstand keine Grenzen gesetzt zu sein schienen, bewiesen Christoph Columbus (1451–1506) mit seiner Entdeckung des Kontinents Amerika 1492 und Vasco da Gama (1469–1524), als er der portugiesischen Krone 1499 die Meldung der erfolgreichen Südafrikapassage nach Indien überbrachte. Ihre Entdeckungen setzten eine Entwicklung in Gang, die in den folgenden 300 Jahren unglaublichen Reichtum durch Ausbeutung der Kolonien und Sklavenhandel und -arbeit nach Europa schwemmte. Der für derart menschenverachtenden Moralverfall notwendige Nährboden bildete sich teils mit, teils ohne Duldung der Kirche und zählt zu den düstersten Kapiteln europäischer Machtpolitik.

Federico Grisone. (Zeichnung: Renate Blank)

Mit dem Buchdruck kam Mitte des 16. Jahrhunderts die Möglichkeit der Vervielfältigung von Wissen in greifbare Nähe. Trotzdem fortan viel geschrieben wurde, vermag heutzutage niemand in allen Facetten nachzuvollziehen, wie es im 16. und 17. Jahrhundert wirklich zuging. Viele Dinge, die selbstverständlich waren, wurden von den Schriftstellern nicht aufgeschrieben. Das ist noch heute so: Wenn ein Sachbuchautor eine Bildungsreise beschreibt, wird er für eine Serpentinenfahrt nicht jeden Gebrauch von Handbremse, Kupplung und Gaspedal aufzählen. Oder explizit erwähnen, dass er zum Bezahlen an der Tankstelle durch die vordere Eingangstür schritt.

Selbst das Körperverständnis der Menschen änderte sich in der Renaissance und wendete Erkenntnisse der Naturwissenschaften auf Leibesübungen an. Zum Zweck der Gesundheit, des Kriegshandwerks, der Selbstverteidigung oder einfach als Wettkampfsport, im Tanz, der Fechtkunst und der Reiterei wurden, wie in der Antike, ausformulierte Übungen praktiziert und erkundet. Dies kann als Geburtsstunde der Lektionen-Reitkunst betrachtet werden, wie sie uns die Italienische Schule lehrt.

Unter dem Begriff Tummeln wurden alle hochversammelten Galoppvarianten zusammengefasst. Lusitanohengst Odeceixe in Courbetten (Foto: Edition Boiselle)

Die Lehren des Grisone

1532 eröffnete Federico Grisone (1507–1570) in Neapel die erste Ritterakademie35, die sich schnell zur Wiege aller reiterlichen Neuerungen Europas entwickelte und ihre Lehren verbreitete. In diesen Bildungsanstalten lernten die Söhne des europäischen Adels die zur Ausübung des Kriegshandwerks notwendigen Tugenden und wurden zu stilsicheren Kavalieren36 erzogen. Die Nachfrage an Studienplätzen war enorm. So gründete Grisones Schüler Cesare Fiaschi (1523– 1558)37 in Ferrara, im mittleren Norden Italiens 1534 eine zweite, ebenso angesehene Reitakademie. Hier verbrachten zum Beispiel die späteren (französischen) Reitmeister La Broue und Pluvinel ihre Jugendjahre.

Es unterstreicht das neue Selbstverständnis der Reitmeister als Wissenschaftler und Künstler, dass Grisone in einer der ersten italienischen Buchdruckereien in Padua (Nordostitalien) 1550 sein Gli ordini di Cavalcare (Reitanweisungen) herausgeben ließ. Mehrfach bezieht er sich darin auf das Werk des antiken griechischen Militärobersts Xenophon.

Er beschreibt die höchst aufwendige Schulung des Reitkunstpferdes in den Marställen38 der Herzöge von Mantua und an seiner eigenen Reitakademie in Neapel. Grisones Werk erschien zwischen 1550 und 1623 in 21 italienischen, 15 französischen, sieben deutschen, sechs englischen und einer spanischen Auflage. Dass sein Buch in Hunderten Exemplaren gedruckt und schnell in andere Sprachen übersetzt wurde, zeigt, dass in ganz Europa ein entsprechender Markt vorhanden war.

Grisones Buch ist keine Reitlehre im heutigen Sinne, sondern vielmehr eine detaillierte Beschreibung des gesamten Wissens über Pferde, Reitkunst, Zäumungen, Hufbeschlag, Pferdemedizin und die Kampftechniken der Ritter zu Pferd mit Lanze, Spieß, Schwert und bloßen Händen. Und Grisone ist nicht, wie oft behauptet, der Vater der Reitkunst, sondern ein Kind derselben. Italiens Reitkunst befindet sich im 16. Jahrhundert auf einem hohen Stand und Grisone ist einer der Reitmeister, die ihr Wissen darum schriftlich festgehalten haben.

Grisone und Gewalt

Wer Grisone heutzutage Gewaltschule unterstellt, wird seinem Schaffen nicht gerecht. Das liegt zum einen daran, dass seinem ursprünglichen Werk von 1550, in der deutschen Übersetzung von Johann Fayser39 1570 vieles hinzugefügt wurde. Die Reihenfolge wurde völlig verändert und die Illustration durch neue deutsche Kupferstiche40 ersetzt. Wer Grisone beurteilen möchte, darf die Kupferstiche (die vielen zum Schlag erhobenen Gerten und Peitschen) nicht berücksichtigen.

Die schwierige Lesbarkeit verursacht, dass die meisten Kritiker es dabei belassen, von anderen abzuschreiben, und sich nicht die Mühe machen, den Originaltext von Grisone zu lesen.