Du gehörst uns! - Christian Montag - E-Book

Du gehörst uns! E-Book

Christian Montag

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Beschreibung

Die großen Internetunternehmen tun alles, damit wir als Nutzende im Netz versinken. Wir unterschätzen regelmäßig unsere Verweildauer auf den Online-Plattformen und hinterlassen eine Unzahl digitaler Fußabdrücke, die die Tech-Firmen reich machen.

Online-Plattformen wie auch Computerspiele haben jedes natürliche Ende abgeschafft, umgekehrt wird unser Lebensalltag durch die digitalen Dauerunterbrechungen zunehmend fragmentiert.

Als Psychologe erörtert Christian Montag die Frage, welche Persönlichkeitseigenschaften mit problematischem oder suchtähnlichem Nutzungsverhalten einhergehen. Aus wissenschaftlicher Perspektive diskutiert er neueste Entwicklungen wie "Internet der Dinge" oder den Einsatz von Apps, von digitalen Plattformen und KI in der Psychologie und Medizin. Detailliert geht er aber auch auf aktuell besonders dringliche Themen wie Filterblasen und Fake News ein, die eng mit dem Daten-Geschäftsmodell der Tech-Unternehmen verknüpft sind. Seine Vorschläge, wie wir digital unsere Selbstständigkeit wahren können, sind ebenso neu wie praktikabel.

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DASBUCH

Die großen Internetunternehmen tun alles, damit wir als Nutzende im Netz versinken. Wir unterschätzen regelmäßig unsere Verweildauer auf den Online-Plattformen und hinterlassen eine Unzahl digitaler Fußabdrücke, die die Tech-Firmen reich machen.

Online-Plattformen wie auch Computerspiele haben jedes natürliche Ende abgeschafft, umgekehrt wird unser Lebensalltag durch die digitalen Dauerunterbrechungen zunehmend fragmentiert.

Als Psychologe erörtert Christian Montag die Frage, welche Persönlichkeitseigenschaften mit problematischem oder suchtähnlichem Nutzungsverhalten einhergehen. Aus wissenschaftlicher Perspektive diskutiert er neueste Entwicklungen wie »Internet der Dinge« oder den Einsatz von digitalen Plattformen und Künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen.

Detailliert geht er aber auch auf aktuell besonders dringliche Themen wie Filterblasen und Fake News ein, die eng mit dem Daten-Geschäftsmodell der Tech-Unternehmen verknüpft sind. Seine Vorschläge, wie wir digital unsere Selbstständigkeit wahren können, sind ebenso neu wie praktikabel.

DERAUTOR

Prof. Dr. Christian Montag ist Professor für Molekulare Psychologie an der Universität Ulm sowie Visiting-Professor an der University of Electronic Science and Technology of China (UESTC) in Chengdu, China. Er hat in Gießen Psychologie studiert und an der Universität Bonn promoviert und habilitiert. Seine Forschungsschwerpunkte sind die biologischen Grundlagen der Persönlichkeit sowie das Feld der Psychoinformatik. Als Experte ist Montag, der 2018 das Buch »Homo Digitalis« veröffentlichte, in Medien wie ARD, ZDF und RTL, SPIEGEL, Der Standard und The New York Times gefragt.

CHRISTIAN MONTAG

DU

GEHÖRST

UNS!

Die psychologischen Strategien

von Facebook, TikTok, Snapchat & Co – 

und wie wir uns vor der großen

Manipulation schützen

Blessing Verlag

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Christian Montag

und Karl Blessing Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Satz: Leingärtner, Nabburg

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Grafikdesign Berlin

ISBN 978-3-641-27581-5V002

www.blessing-verlag.de

Für meine Eltern Ingrid und Udo, die sich mit den

Tech-Konzernen nicht mehr auseinandersetzen müssen

Für meine Frau Susanne und meinen Bruder Thomas,

die sich den Tech-Konzernen nur schwer entziehen können

Für meine Tochter Hannah, die noch eine Zukunft

mit Privatsphäre haben soll

You can check-out any time you like,

but you can never leave.

The Eagles, Hotel California

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Das Geschäftsmodell der Tech-Konzerne

Kapitel 2

Spiel, Spaß und Spannung? Über unsere Motivation, neue Technologie zu nutzen

Kapitel 3

Wie Menschenmassen mit Hilfe von Psychotricks auf den Apps und Webseiten der Tech-Unternehmen gehalten werden

Kapitel 4

Zeig mir deinen digitalen Fußabdruck, und ich weiß, wer du bist

Kapitel 5

Der*die gläserne Patient*in? Digital Phenotyping, elektronische Patientenakte, Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz

Kapitel 6

Werden wir durch die Vorselektion von Informationen durch die Tech-Konzerne manipuliert?

Kapitel 7

Internetnutzungsstörungen oder suchtähnliches Verhalten

Kapitel 8

Strategien gegen die Fragmentierung des Alltags und Einblicke in das Quantified-Self-Movement

Kapitel 9

Der Hotel-California-Effekt des Internets und was wir dagegen tun können

Nachwort

Danksagung

Literatur und Anmerkungen

Vorwort

Es gibt ein geflügeltes Wort in der Wissenschaft, das teilweise im Scherz und teilweise im Ernst verwendet wird, um zu beantworten, warum Wissenschaftler*innen sich ihrem jeweiligen Forschungsthema verschrieben haben: Research is Me-Search. Frei übersetzt lautet das Sprichwort, dass bei vielen Forschenden ihr gewähltes Thema immer auch eine Suche nach dem eigenen Ich einschließt. Keine Frage – ich gehöre mit Sicherheit auch zu der Gruppe derer, die sich ein Thema ausgesucht hat, das eng mit dem eigenen Leben verknüpft ist. Dies spiegelt sich in meinem Werdegang wider.

Schon Mitte der 1990er setzte ich mich intensiv mit dem World Wide Web (WWW) auseinander. Ich brachte mir damals selber bei, Webseiten zu programmieren. Nachdem ich die grundlegenden Kenntnisse erworben hatte, verfolgte ich schnell das Ziel, durch eine Webseite meine damalige Rockband zu promoten. Dies gelang erstaunlich gut, und der eigens erstellte Webauftritt gewann sogar im Jahr 2000 den MTV & Yahoo Online Music Award (für die beste Webseite einer Band ohne Plattenvertrag)1, der meiner Band von Smudo von den Fantastischen Vier überreicht wurde. Aus meiner Fähigkeit, Webseiten zu erstellen, wurde ein paar Jahre lang eine berufliche Tätigkeit, der ich als Selbstständiger und beim Kölner TV-Sender RTL nachging, bevor ich mit vierundzwanzig Jahren ein Studium der Psychologie aufnahm, um mich eine Zeit lang von dem Thema »Online« zu verabschieden.

Während meines Psychologiestudiums war ich natürlich nie komplett offline, dennoch war es ein völlig anderes Online-Zeitalter als heute – ohne »Insta«, ohne WhatsApp, allerdings dafür mit dem ersten Echtzeit-Messenger ICQ, der mich mit seinem »OhOh-Ton« bei jeder eingehenden Nachricht genervt hat. Wie es mit so vielen Dingen im Leben ist: Meine anfängliche Begeisterung für das WWW nutzte sich Mitte der 2000er-Jahre ein wenig ab, und ich musste feststellen, dass sich mit dem Aufkommen des Web 2.0 einige Dinge änderten.

Im Nachhinein kann ich die Veränderungen auch an der Geschwindigkeit festmachen, mit der ich persönlich auf E-Mails reagieren musste. Während in den 1990er Jahren die Antwort auf eine E-Mail ein paar Tage warten konnte, begann ich irgendwann auf jede Botschaft sofort zu reagieren. Verantwortlich für diese Tempoerhöhung der Online-Kommunikation, die auch den Stresslevel enorm erhöht, sind sicherlich auch die Social-Media-Konzerne und Entwickler der vielen bunten Apps auf dem Smartphone. Sie haben uns mit Hilfe des Systemdesigns auf ihren Plattformen dazu genötigt, jederzeit und an jedem Ort auf alles umgehend zu reagieren. Irgendwann fing ich an, das ungesunde WhatsApp-Prinzip auch auf E-Mails und andere Bereiche meines Lebens zu übertragen … wenn ich auf meine WhatsApp-Nachricht sofort eine Antwort erhalte, möchte ich natürlich auf eine E-Mail-Antwort nicht länger warten! Logisch.

Ehrlicherweise habe ich lange Zeit gedacht, dass irgendetwas an mir selber dafür verantwortlich ist, dass meine Online-Zeiten zu lang bemessen sind. In Höchstzeiten war ich pro Tag allein auf meinem Smartphone über drei Stunden unterwegs, letzte Woche hat mir die Bildschirmzeit-Funktion von Apple pro Tag glücklicherweise »nur« 1,17 Stunden rückgemeldet. Als Persönlichkeitspsychologe weiß ich, dass es tatsächlich Eigenschaften von Personen gibt, die mit längeren Online-Verweilzeiten und anderen Phänomenen wie Unbekümmertheit im Umgang mit den eigenen Daten zu tun haben. Beispielsweise habe ich durch meine Forschung nachweisen können, dass weniger gewissenhafte oder mehr neurotische Personen eher dazu neigen, eine exzessive Internetnutzung an den Tag zu legen. Neurotische Personen neigen unter anderem zu mehr Ängstlichkeit. Ist Neurotizismus aber nun eine Folge von einem Zuviel an Digital, oder neigen neurotische Personen grundsätzlich eher dazu, viel Zeit im World Wide Web (WWW) zu verbringen? Solche Zusammenhänge werde ich in diesem Buch ausführlich untersuchen.

Jenseits des Blicks eines Persönlichkeitspsychologen, bin ich aufgrund meiner wissenschaftlichen Erkenntnisse davon überzeugt, dass individuelle psychische Eigenschaften alleine nicht ausreichend erklären, warum 30 Jahre nach Gründung des WWWs im Jahr 1991 aktuell ca. 66 % der Menschheit online sind2 und davon mehr als drei Milliarden einen Service des Facebook-Konzerns nutzen.3 Mein Austausch mit unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen wie Informatik, Ökonomie oder auch Medizin forderte mich als Psychologe und Hirnforscher immer wieder heraus, eine neue Perspektive auf mein Forschungsthema einzunehmen. Dabei musste ich feststellen, dass es zu wenig ist, lediglich zu verstehen, wer aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur online zu welchen Verhaltensweisen neigt. Genauso bedeutsam ist es, die psychologischen Mechanismen aufzuzeigen, die darauf abzielen, Menschen unabhängig von ihrer eigentlichen Persönlichkeitsstruktur möglichst lange auf einem Online-Angebot zu halten: Und dies vonseiten der Tech-Konzerne immer mit dem Ziel, die anfallenden digitalen Fußabdrücke der einzelnen Nutzer*innen auswerten zu können, um jede*n ihrer Kund*innen besser Produkte verkaufen zu können.

In diesem Buch finden also beide Perspektiven ihren Platz: Auf der einen Seite untersuche ich aus psychologischer Perspektive verschiedene App-Elemente wie den Newsfeed bei Facebook, die Lesebestätigung (»Doppelhaken«) bei WhatsApp, die Story auf Instagram oder die Macht der Kurzvideos auf TikTok, um darzustellen, wie Online-Plattformen es schaffen, uns immer wieder auf ihre Angebote zurückkehren zu lassen. Auf der anderen Seite wage ich einen differentiell-psychologischen Blick auf verschiedene menschliche Eigenschaften, um zu verstehen, warum bestimmte Personengruppen besonders stark auf bestimmte App-Elemente reagieren. Welche Menschen sind zum Beispiel aufgrund ihrer Persönlichkeit anfällig dafür, über News-Apps und Social-Media-Kanäle in einer sogenannten Filterblase zu landen?

Ich werde darlegen, warum ich der Überzeugung bin, dass Tech-Konzerne eine gehörige Verantwortung dafür tragen, dass viele von uns durch die Nutzung der Online-Plattformen nicht nur abhängig4, sondern auch gläsern und intolerant werden. Zwar mag dies in unterschiedlichem Ausmaß geschehen, trotzdem sind Millionen von Menschen rund um den Globus betroffen. Mit dieser Einsicht veränderte sich übrigens auch mein Blick auf meine Aufgabe als Psychologe und Hirnforscher: Während in einem anderen Bereich meiner Forschung im Vordergrund steht, beispielsweise mit meinen Kolleg*innen an vorderer Front die biologischen Grundlagen der Persönlichkeit zu entschlüsseln5, geht es mir mit dem vorliegenden Buch vor allem darum aufzuzeigen, wie Tech-Konzerne uns dazu drängen, immer wieder auf ihre Plattformen zurückzukehren, damit wir dort unsere Online-Spuren hinterlassen. Damit geht es in diesem Bereich meiner Forschung darum, Wissen für die Allgemeinheit zu schaffen, welches den Tech-Konzernen schon lange bekannt ist, aber dort hinter hohen Mauern verbleibt. Ich versuche aus psychologischer Sicht zu erklären, wieso wir das Gefühl für Zeit und Raum verlieren, wenn wir durch diverse Newsfeeds scrollen, warum wir eine so enge Bindung zu unserer virtuellen Farm entwickeln, dass wir sogar bereit sind, Geld dafür auszugeben, und wie App-Entwickler*innen mit unserer Angst spielen, etwas zu verpassen.

Das lateinische Wort »manipulare« bedeutet »etwas in der Hand haben«. Tatsächlich haben die Tech-Konzerne uns mittlerweile in ihrer Hand, auch weil es kaum Alternativen zu ihren Plattformen gibt. Der Buchtitel spielt auch darauf an: Du gehörst uns! Das ist bedenklich: Denn nichts anderes als unsere psychische Gesundheit, unsere Privatheit und sogar unsere Demokratie stehen auf dem Spiel. Deswegen bin ich auch davon überzeugt, dass das in diesem Buch behandelte Themenspektrum alle angeht.

Ich möchte auch Antworten auf die Frage geben, wo gesunder digitaler Konsum aufhört und die Abhängigkeit beginnt und wie wir unsere Online-Zeiten besser managen können. Und ich gebe Tipps und Hacks, wie wir unseren digitalen Fußabdruck möglichst klein halten können. Denn so viel ist jetzt schon klar: Wir werden nicht verhindern können, bei der Nutzung von Social Media und Internet digitale Spuren zu hinterlassen. Wir haben es aber (noch) in der Hand zu beeinflussen, was mit diesen Daten geschieht. Und eventuell können wir sogar Geschäftsmodelle etablieren, die dem Raubbau an unseren Daten Einhalt gebieten. Einen Beitrag zur sinnvollen Debatte über unsere digitale Zukunft liefert vor allem das Kapitel 9.

Mein Buch richtet sich keinesfalls nur an Personen, die gerade einen Facebook-Service oder Ähnliches nutzen, sondern an alle, die heute in Deutschland in irgendeiner Form online sind (ca. 96 %)6 oder ein Smartphone haben (ca. 61 Millionen).7 Ich habe dieses Buch für alle Menschen geschrieben, die googeln oder eine Reise online buchen. Ich habe dieses Buch für alle geschrieben, die sich im Zeitalter des Überwachungskapitalismus8 durch den öffentlichen Raum bewegen. Und für die kommenden Generationen, damit sie noch eine Privatsphäre haben.

Kapitel 1

Das Geschäftsmodell der Tech-Konzerne

Mittlerweile vergeht kaum ein Tag, an dem Konzerne wie Facebook, Twitter oder Google (genauer Alphabet Inc. mit dem Tochterunternehmen Google) nicht weltweit Schlagzeilen machen. Eine Auswahl von nationalen und internationalen Meldungen aus den Jahren 2020 und 2021 unterstreicht diese Tatsache.

Zu Beginn des Jahres 2020 sagte Google mal wieder »Sorry« für ein Daten-Leck, bei dem privat gespeicherte Videos an fremde Personen weitergeleitet worden waren.9

Auf dem Portal Fitbook wurde darüber diskutiert, ob Plattformen wie Instagram Essstörungen befeuern.10

In der Mitte des Jahres 2020 waren Hass und Hetze auf Facebook so groß, dass immer mehr Unternehmen keine Werbung mehr auf dieser Plattform platzieren wollten, wie das Handelsblatt berichtete.11

Passend dazu, zeigte Facebook im US-Wahljahr 2020, wie wenig der Konzern auf die internationale Kritik gibt, dass das Schalten von personalisierter Online-Werbung (via Microtargeting) bei Wahlkämpfen möglicherweise schädliche Effekte für die Demokratie nach sich zieht. In diesem Zusammenhang titelte die renommierte englische Tageszeitung Guardian Anfang Januar 2020: »Facebook weigert sich, unwahre politische Werbung und Microtargeting einzuschränken.«12

Wie sich in zahlreichen internationalen Meldungen aus dem Jahr 2020 herauskristallisierte, verfolgten die großen Plattformen Twitter, Facebook und Google im Kontext der US-Wahl im November 2020 und dem damit einhergehenden lukrativen Wahlwerbegeschäft interessanterweise ganz unterschiedliche Strategien: Während Facebook es den Betreiber*innen der Kampagnen lediglich in der Woche unmittelbar vor der Präsidentschaftswahl nicht ermöglichte, neue Wahlwerbung zu schalten13, verzichtete Twitter komplett darauf, den Politprofis eine solche Art der Werbung zu ermöglichen.

Google und auch die hauseigene Video-Plattform YouTube nahmen eine Position zwischen Facebook und Twitter ein. Sie erlaubten zwar das Schalten politischer Werbung, allerdings konnten sich die Kampagnenbetreiber*innen beim Schalten ihrer Werbebotschaften »nur« an groben Kategorien wie Alter, Geschlecht oder die Postleitzahl der Online-Nutzenden orientieren. Auf noch genauere Informationen, wie die politische Orientierung der Online-Nutzer*innen, konnten die Kampagnen bei Google nicht zurückgreifen. Dies ermöglichte aber Facebook.14

Ein Artikel auf cbsnews.com schätzte, dass das digitale Werbevolumen für den US-Wahlkampf 2019/2020 deutlich über einer Milliarde Dollar liege.15 Diese ungeheure Summe erklärt dann auch schnell, warum nicht jedes der Tech-Unternehmen auf die sehr lukrativen Einnahmen verzichten wollte.

Während des US-Wahlkampfs wurde auch deutlich, dass die Tech-Konzerne sehr unterschiedlich mit den offenkundigen Lügen des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump umgegangen sind. Während auf Twitter einige der Trump'schen Twittertiraden relativ früh im Jahr 2020 mit Warnhinweisen auf den fehlenden Wahrheitsgehalt versehen wurden16, sollte Facebook weitere Monate darauf verzichten, die Posts von Politikern auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Ende Mai formulierte Mark Zuckerberg, dass Facebook seiner Ansicht kein »Schiedsrichter der Wahrheit« sein sollte.17 Im Januar 2021 sollte sich vor der Bestätigung des neuen US-Präsidenten Joe Biden durch den US-Kongress herausstellen, wie fatal der Umgang der Social-Media-Konzerne mit den Lügen des US-Präsidenten war. Der Kongress wurde von einem wütenden Mob gestürmt, nachdem Donald Trump seine Anhängerschaft via Twitter aufgehetzt hatte. Erst nach diesem in der ganzen Welt Entsetzen hervorrufenden Angriff, reagierten die Tech-Konzerne mit einer Sperrung von Trumps Social-Media-Konten auf Twitter und Facebook.18 Die Sperrung des Facebook-Konto von Donald Trump durch Facebook ist kürzlich von einem extern arbeitenden Oversight-Board als zulässig eingeschätzt worden, allerdings war es »ein unangemessener Schritt seitens Facebook, die unbestimmte und nicht auf Standards und Richtlinien basierende Strafe einer unbefristeten Sperrung zu verhängen.«19 Nun muss Facebook nacharbeiten.

Insgesamt haben die Tech-Konzerne Trump viel zu lange schalten und walten lassen, wobei sich grundsätzlich die Frage stellt, ob ein privates Unternehmen über die Redefreiheit entscheiden sollte oder ob das nicht eigentlich eine hoheitliche Aufgabe des Staates ist. In Deutschland gilt seit 2017 das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG)20, welches vorschreibt, dass Social-Media-Konzerne wie Facebook innerhalb von 24 Stunden offenkundig rechtswidrige Inhalte löschen müssen. So sinnvoll dieses Gesetz zunächst einmal wirkt, so umstritten ist es doch auch.21 Christian Mihr von den Reportern ohne Grenzen beispielsweise formuliert, das NetzDG »ist gut gemeint, aber schlecht gemacht«.22 Befürchtet wird vor allen Dingen, dass die Meinungsfreiheit durch das NetzDG eingeschränkt und vieles übervorsichtig gelöscht wird, was nicht gelöscht hätte werden sollen (Overblocking).23

Ermöglicht wurde die laxe Haltung mancher Tech-Unternehmen im Umgang mit sensiblen Themen wie Fake News durch die Section 230 des sogenannten Communications Decency Actaus dem Jahr 1996, der die Plattformbetreiber*innen aus der Haftung für die geposteten Inhalte ihrer Nutzer*innen nimmt.24 Inzwischen wird in den USA kontrovers diskutiert, ob diese Section 230 nicht dringend überarbeitet werden muss.25 Der Autor Jeff Kosseff bezeichnete die Section 230 in seinem Buchtitel als die 26 Worte (in deutscher Übersetzung 23 Worte), die das Internet geschaffen haben26: »Kein*e Anbieter*in oder Nutzer*in eines interaktiven Computer-Service soll als Herausgeber*in oder Sprecher*in für jegliche Informationen gelten, die von einer anderen Quelle stammen.«27 Damit ist klar, dass der oder die Einzelne in den USA prinzipiell für die eigenen Aussagen belangt werden kann, nicht aber die Betreiber*innen von großen Plattformen, die »lediglich« Inhalte anderer bereitstellen. Dies hat mit Sicherheit auch dazu beigetragen, dass sich Social-Media-Konzerne bis vor Kurzem als reine technologische Infrastrukturen und nicht als Medienunternehmen betrachteten, welche redaktionell Inhalte erstellen oder dafür verantwortlich sind. Dies gilt jedenfalls für ihre Außendarstellung, wobei wir in Wirklichkeit bei den Social-Media-Konzernen zumindest von einem Hybrid aus Plattform-Infrastruktur und Medienunternehmen ausgehen können. Die Clinton-Administration wollte übrigens mit der Section 230 die Ausweitung des noch jungen WWW fördern. Es gilt zu bedenken, dass es Facebook zur Zeit der Verabschiedung der Section 230 noch nicht gab und Google gerade mal in den Startlöchern stand. Damals waren viele Entscheidungsträger*innen noch deutlich optimistischer als heute, was die Entwicklungen des WWW betrifft, und hofften auf eine Demokratisierung der Welt durch das Internet.

Wie zögerlich einige soziale Netzwerke bereits auf dramatische Ereignisse vor der Stürmung des US-Kongresses im Januar 2021 reagierten, spiegelt sich auch in deren (Unterlassen von) Aktivitäten als Reaktion auf die massiven Protestbewegungen gegen Polizeigewalt rund um den dramatischen Fall des George Floyd wider. Um das mit einem Beispiel zu illustrieren: Tatsächlich konnte sich eine zynische »Challenge« im Netz verbreiten, bei der Nutzer*innen dazu aufgefordert wurden, das Handeln des Polizisten gegenüber Floyd mit derselben Pose nachzustellen.28 Warum gelang es überhaupt, eine solch unerträgliche und sozial explosive Aufforderung online zu verbreiten, die zweifelsohne auf die Spaltung der Gesellschaft und das Erzeugen von Unruhen abzielt? Trotz der juristischen Voraussetzungen rund um die Section 230 ist es mir unbegreiflich, warum hier nicht schneller vonseiten der Tech-Konzerne auf Basis ihrer eigenen »Hausordnung« reagiert wurde. Die aktuelle Zerrissenheit der Vereinigten Staaten von Amerika zeigt sich auch auf Social Media, gerade wenn man auf der einen Seite eine geschmacklose und gefährliche »Challenge«, wie die oben genannte um George Floyd sieht, und auf der anderen Seite die starke Bewegung #BlackLivesMatter, in der es um die Durchsetzung der Rechte der schwarzen Bevölkerung geht.

Trotz Zuckerbergs Aussage, dass Facebook sich nicht zum Schiedsrichter der Wahrheit aufschwingen wolle, gibt es auf Facebook natürlich komplexe Verhaltensregeln, und der Konzern formulierte, dass die genannte Challenge gegen die Community-Regeln von Facebook verstoße und daher gelöscht werden solle. Im Juni/Juli 2020 begann Facebook generell, Nachrichten auf der Plattform zu kennzeichnen und zu löschen, wenn diese auf Gewalt abzielten oder Online-Nutzende davon abhalten wollten, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Neu war zu diesem Zeitpunkt auch, dass Facebook dieses Regelwerk auf die Nachrichten von Politiker*innen anwandte.29 Politiker*innen hatten bis dahin einen gewissen Sonderstatus inne. Tom Reynolds, Sprecher von Facebook, gab gegenüber der Zeitung Washington Post aber dann für mich wenig nachvollziehbar an, dass der berüchtigte Tweet von Donald Trump als Reaktion auf die Demonstrationen gegen Polizeibrutalität in Minnesota, »… wenn das Plündern startet, beginnt das Schießen«, nicht in die angedachte Gewaltkategorie gehört30, sondern stattdessen unter die Richtlinien zur Ausübung von Staatsgewalt von Facebook fallen würde. Meines Erachtens zu Recht wies die Journalistin Julia Carrie Wong in einem Artikel für den Guardian darauf hin, dass die Richtlinien von Facebook in puncto Faktenchecks insgesamt inkonsistent und verwirrend ausfielen.31

Nach den Ereignissen um die Stürmung des US-Kongresses im Januar 2021 formulierte der US-Investor Chris Sacca (bekannt aus der amerikanischen TV-Show Shark Tank, hierzulande Die Höhle der Löwen) in einem drastischen Tweet an Mark Zuckerberg und Jack Dorsey32: »Ihr habt Blut an den Händen, @jack und Zuck. Vier Jahre lang habt Ihr diesen Terror unterstützt. Es ist keine Übung in freier Rede, wenn jemand zu gewaltsamen Verrat aufruft. Wenn Du in einem der Social-Media-Konzerne arbeitest, bist Du mitschuldig. Macht Social Media dicht.« Die Analyse der Situation um die dramatischen Ereignisse im US-Kongress wurden von Farhad Manjoo, einem Kolumnisten der New York Times, eleganter zusammengefasst: »Da braucht es Medien, die sich nach den Ansichten des Präsidenten richten, eine Internetwerbeindustrie, welche abseitige Ideen finanziell belohnt, die die Aufmerksamkeit der Menschen in den Bann zieht und unsere menschliche Natur, die uns zu Extremen drängt. All das rechnet sich auf.«33

Wie sich an der kleinen Auswahl an Meldungen rund um Social Media und Big Tech zeigt: Die großen digitalen Konzerne sind stark mit zentralen gesellschaftlichen Geschehnissen rund um den Globus verwoben, obwohl sicherlich in diesem Zusammenhang die US-Wahl eines der dominierenden Themen im Jahr 2020 war. Aber natürlich auch COVID-19. Und dazu gleich mehr.

Mittlerweile haben wir also das Frühjahr 2021, und ich überarbeite das vorliegende Buch ein letztes Mal vor der anstehenden Erstveröffentlichung im Herbst. Die US-Wahlen sind endlich vorbei, und Joe Biden ist nach dem Tiefpunkt um die Stürmung des US-Kongresses der neu gewählte US-Präsident. Eine Konstante aber bleibt: Die großen Tech-Konzerne bleiben täglich in den Nachrichten, und das obwohl oder auch vielleicht weil COVID-19 immer noch unseren Alltag dominiert. Aus dem Lockdown im Frühjahr/Sommer 2020 und Winter 2020/2021 heraus, habe ich das vorliegende Buch geschrieben und musste immer wieder feststellen, wie gefährlich Fake News über COVID-19 sind, die bereits Ende März 2020 in Windeseile unter den Nutzer*innen auch über Messenger-Apps wie WhatsApp oder Telegram geteilt und verbreitet wurden.34 Um Beispiele für COVID-19 bezogene Fake-News zu nennen: Die Falschmeldung, dass die Supermärkte ihre Öffnungszeiten während der Corona-Krise stark einschränken35, konnte doch nur darauf abzielen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu destabilisieren. Außerdem wird es gefährlich, wenn Informationen in den Umlauf gebracht werden, in denen behauptet wird, dass Ibuprofen zu schweren COVID-19-Verläufen führt.36 Schlimmer noch war, dass der ehemalige US-Präsident Trump tatsächlich vor laufender Kamera empfahl, sich als eine mögliche Form der COVID-19-Therapie Desinfektionsmittel zu spritzen (später sprach er hier von Sarkasmus37).

Obwohl mittlerweile mehr als ein Jahr nach dem ersten Lockdown in Deutschland vergangen ist, hat sich das Bild an der Social-Media-Front kaum geändert: Twitter, Facebook & Co. kämpfen immer noch gegen die Missinformationskampagnen im Netz. Diesmal stehen allerdings die Impfmythen im Vordergrund.38 Da stellt sich doch die Frage: Soll das immer so weitergehen? Warum bekommen die großen Tech-Unternehmen die vielen Probleme rund um Social Media nicht in den Griff? Ohne Zweifel ist es eine große Herausforderung, die vielen Fake News rechtzeitig zu sichten und zu entfernen. Aber sind Fake News und andere gesellschaftliche Probleme der Tech-Welt nicht auch ein Stück weit hausgemacht, tragen also die Tech-Konzerne nicht eine (große) Mitschuld an den vielen Schattenseiten, die in diesem Buch im Detail beleuchtet werden?

Eines zumindest wird 2020/2021 deutlich: Der politische Druck auf die Tech-Giganten wird größer und kommt nun im Gewand von Verstößen gegen das Kartellrecht daher. Die Ereignisse um die Stürmung des US-Kongresses sind nur Wasser auf die Mühlen aller Kritiker*innen. Nun wird beispielsweise ernsthaft in den USA darüber diskutiert, ob Facebook zerschlagen werden soll. Zu groß ist aus Sicht vieler US-Politiker*innen sowohl aus dem Links- als auch aus dem Rechtsspektrum das Unternehmen geworden und damit auch die Gefahren, die von diesem Giganten ausgehen.39 Bis es möglicherweise zu einer Zerschlagung von Facebook & Co. kommt, wird aber noch viel Wasser den Colorado River und den Rhein hinunterfließen. Und was würde eigentlich passieren, wenn eine Social-Media-Plattform zerschlagen wird? Wem gehören die Daten auf der Plattform, wie wird der Daten-Nachlass verwaltet? Solche Szenarien durchzuspielen erscheint mir nicht unwichtig zu sein, und die beiden Wissenschaftler Carl Öhman und Nikita Aggarwal haben sich kürzlich mit den damit einhergehenden rechtlichen und ethischen Fragen beschäftigt.40

Egal wie die Zukunft von großen Tech-Konzernen aussieht, in einem Punkt bin ich mir sicher: Der Negativ-Nachrichtenstrom rund um Big-Tech wird so schnell nicht abreißen. Sind wir darüber überrascht? Wohl eher nicht. Ich glaube sogar, dass wir diese Nachrichten lediglich noch als Hintergrundsummen wahrnehmen. Zu sehr haben wir uns bereits daran gewöhnt, dass es irgendwo immer an der Digitalfront brennt, und wir wissen nur zu gut, dass das alles nicht gut ist. Trotzdem verändern die meisten von uns nicht ihr Digitalverhalten, wir surfen und »liken« einfach weiter. Als ob nichts geschehen wäre.

Ich werde in diesem Buch zeigen, dass es höchste Zeit ist, sich erneut mit geschärften Sinnen der Tech-Welt gegenüberzustellen. Und ich denke auch, dass es allerhöchste Zeit ist, die Tech-Riesen politisch und wirtschaftlich zu regulieren. Dafür müssen wir aber auch verstehen, auf welcher Basis es überhaupt zu der Dominanz der Tech-Konzerne und der damit einhergehenden Manipulation der Nutzer*innen gekommen ist. Dafür wollen wir uns kurz zu den Anfängen der heutigen digitalen Plattformen begeben. Vor allem gilt es dann auch zu verstehen, was das vorherrschende Daten-Geschäftsmodell der Tech-Konzerne mit unserer Aufmerksamkeit zu tun hat. Beginnen wir also das Buch zunächst mit einer Reise ins Silicon Valley. Dorthin, wo alles begann.

Wie ich eines Morgens das Herz des Silicon Valleys fand

Ich bin ziemlich müde, als wir in San Francisco landen. Flüge in die westliche Richtung des Globus vertrage ich eigentlich besser, zumindest ist das meine Erfahrung von den vielen Reisen nach China, die ich in den letzten Jahren machen durfte. Nach der Rückreise von Asien aus in Richtung Deutschland fühle ich mich immer frischer als nach Flügen in die andere Richtung. Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich dort passend zum Tag-Nacht-Zyklus im Flugzeug einigermaßen die Augen schließen kann.

Nun bin ich also in San Francisco gelandet und habe das Ziel Silicon Valley vor Augen. In meiner Kindheit hatte ich das Privileg, mit meinen Eltern öfters durch die USA reisen zu dürfen. Deswegen warte ich nicht voller Spannung auf Cable Cars und die Golden Gate Bridge, sondern eher auf das, was mich diesmal im Süden von San Francisco, im »Valley«, erwartet.

Nach dem Einchecken in einem Hotel in Palo Alto beantworte ich ein paar E-Mails und gehe nach einem kurzen Abendessen in einem amerikanischen Diner mit schwarz-weiß gekachelten Fliesen früh ins Bett. Schließlich habe ich am Tag darauf berufliche Treffen, für die ich fit sein will. Am nächsten Morgen wache ich sehr früh auf und jogge in der Morgendämmerung durch die noch leeren Straßen in Palo Alto. Der Laufsport hilft mir nicht nur, die Müdigkeit aus meinen Knochen zu schütteln und Stress abzubauen. Er bietet mir auch die Möglichkeit, nebenbei neue Gegenden zu erkunden.

Ich laufe zunächst an der Town Hall von Palo Alto vorbei und biege ein wenig später in die Hauptgeschäftsstraße ab. Danach passiere ich das alte prachtvolle Stanford Theater an der University Avenue, welches durch Leuchtreklamen im typischen 50er-Jahre-Stil auf sich aufmerksam macht. Dieses Kino wurde bereits 1925 eröffnet. Man bleibt sich dort treu und zeigt in dieser Woche einen alten Hollywoodfilm mit Bette Davis. Nach wenigen Minuten Laufzeit finde ich mich in dem Wohngebiet einer typisch amerikanischen Kleinstadt wieder: Klassische Holzhäuser wechseln sich mit größeren Steinhäusern ab, die teilweise das Ausmaß von enormen Villen besitzen. Alles ist sehr gepflegt. Ein Großteil der Häuser sieht trotzdem relativ unscheinbar aus und täuscht somit über ihren eigentlichen Wert hinweg. Palo Alto ist aufgrund der Tech-Konzerne, die sich hier angesiedelt haben, und der Nähe zur Spitzen-Universität Stanford teuer geworden. Die Wohnkosten für eine 75-qm-Wohnung belaufen sich im Monat auf umgerechnet knapp 3 000 Euro.41 Dieses Preissegment können sich nur Topverdienende der Tech-Konzerne und Professor*innen von der Universität Stanford leisten. Das Reinigungspersonal von Facebook & Co. muss mittlerweile pendeln und lange Anfahrtswege in das Valley in Kauf nehmen.

Palo Alto wurde 1894 gegründet. Der Name bedeutet »hoher Pfahl«, und in dem Wappen der Stadt sieht man tatsächlich jene schlanke hohe Baumart, der die Stadt ihren Namen verdankt. Für viele Menschen gilt Palo Alto als das Herz des Silicon Valleys. Dies hat mehrere Gründe. Tatsächlich liegt die amerikanische Kleinstadt mit seinen ca. 63 500 Einwohnern im Herzen des Silicon Valleys. Mehr als 2 300 der etwa 32 000 Tech-Startups der gesamten Bay-Area sind in der Kleinstadt Palo Alto zu finden.42 Im nördlich angrenzenden Ort Menlo Park residiert Facebook, und im südöstlich gelegenen Mountain View ist der riesige Google-Komplex zu Hause. Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zum UFO-artigen Headquarter von Apple in Cupertino, welches nur von der Plattform des vor dem UFO befindlichen Apple Stores zu sehen ist. Der luftige Apple Store aus viel Holz und noch mehr Glas wurde vom Stararchitekten Norman Foster entworfen.

Alles liegt im Valley so nah beieinander, dass ich die Strecke von Palo Alto zu Google in Mountain View ohne Probleme mit dem Fahrrad bewältigen kann (siehe Abbildung 1.1.). Das gehört sicherlich zu den Erfolgsformeln des Silicon Valleys: Expert*innen aus unterschiedlichsten Bereichen können hier auf engem Raum schnell zueinander finden und sich austauschen. Magie passiert da, wo unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen aufeinandertreffen und miteinander kooperieren. Hinzu kommt, dass die US-Amerikaner*innen eine ganz andere Failure-Kultur als wir Deutschen pflegen. Ein gescheiterter Unternehmer oder eine gescheiterte Unternehmerin steht in Deutschland nicht so schnell wieder auf. Er oder sie ist stigmatisiert als eine Person, die es nicht kann. In den USA putzt man sich dagegen kurz den Mund ab, schüttelt sich einmal und versucht es aufs Neue. Ganz im Geist des berühmten Graffiti-Künstlers Banksy: Winners are not those who never fail, but those who never quit.43 Wie treffend. Mehr davon bitte. Gepaart mit einer entsprechenden Investment-Kultur im Silicon Valley, entsteht so ein mächtiger Ort, um die verrücktesten Ideen fliegen zu lassen. Eine dieser Ideen steht im Zentrum dieses Buchs – das Daten-Geschäftsmodell.

Abbildung 1.1.: Erfolgsgeheimnis Silicon Valley – die geringen Entfernungen zwischen den verschiedenen Tech-Unternehmen. Das Headquarter von Twitter ist auch nicht weit – in San Francisco. Die Entfernungen sind geschätzt.

Als ich gemächlich durch die Wohnsiedlungen von Palo Alto laufe, gelange ich auf der Hälfte meiner Laufrunde an die Ecke Bryant Street/Addison Avenue. Ich biege in die Addison Avenue. ein, und dort gerät ein unscheinbares Haus in meinen Blickwinkel. Davor findet sich eine Gedenktafel. Neugierig studiere ich sie. Die Überschrift lautet: »Birthplace of Silicon Valley«. In der Garage hinter dem einfach anmutenden Haus haben William R. Hewlett und David Packard, die später vor allen Dingen für ihre Drucker bekannt geworden sind, einen Audio-Oszillator entwickelt (siehe Abbildung 1.2.). Dieses Gerät zur Testung von Sound-Anlagen wurde damals vom Disney-Konzern in Kinos eingesetzt. Was hat das aber alles mit dem Thema dieses Buches zu tun? Ein Audio-Oszillator, wie der von Hewlett-Packard, ist zumindest gefühlt weit von heutigen Digitalprodukten entfernt. Dies gilt aber nicht für den damals aufkeimenden Entwicklergeist, der noch heute durch das Valley weht.

Abbildung 1.2.: Die Geburtsstätte des Silicon Valleys (Fotos von Christian Montag).

Wenn wir in die Neuzeit schauen, bin ich davon überzeugt, dass ein paar wenige Meilensteine eindrucksvoll illustrieren, wie schnell momentan 66 % der Menschheit in einem digitalen Zeitalter angekommen sind. Vor knapp 50 Jahren wurde das Internet begründet, als die erste elektronische Nachricht am 29. Oktober 1969 über ein Netzwerk von einem Rechner der University of California in Los Angeles an einen Rechner des Stanford Research Institute in der Nähe von San Francisco verschickt wurde.44 Die erste Nachricht bestand nur aus den zwei Buchstaben LO. Eigentlich hätte das Wort LOGIN als Nachricht versendet werden sollen, aber es gab einen Crash.45 Der zurückgelegte Weg der ersten elektronischen Nachricht lag damit in etwa bei der Entfernung zwischen München und Köln. Nach dieser ersten Nachricht ging es relativ schnell weiter. 1975 wurde Microsoft von Bill Gates und Paul Allen gegründet. Im April 1976 veröffentlichte Apple seinen ersten Personal Computer. Zwischen den Jahren 1989–1991 entwickelte Tim Berners-Lee die HTML-Webseite. Besucht man die erste Webseite der Welt in einem Unterverzeichnis des Onlineauftritts des Schweizer Kernforschungszentrums CERN, wird man schnell daran erinnert, wie einfach das World Wide Web begonnen hat. Dort findet sich eine schlichte Webseite mit weißem Hintergrund und ein paar in blauer Schrift gehaltenen Überschriften, die als Link auf andere Webseiten verweisen.46 Bilder oder interaktive Inhalte sucht man vergeblich. Ansonsten ist nichts als schwarze Textwüste zu sehen.

Die weitere Geschichte, ausgehend von der ersten Webseite der Welt, ist relativ schnell erzählt: Nach der Entwicklung des HTML-Codes durch Tim Berners-Lee überboten sich schnell Netscape und Microsoft in einem Rennen um den besten Internetbrowser, um den Normalverbraucher*innen des World Wide Webs die HTML-Seiten anwendungsfreundlich und ohne Programmierkenntnisse zugänglich zu machen. 1994 wurde Amazon und 1998 Google gegründet. 2004 machte sich Facebook daran die Welt zu ändern, während das mobile Internet durch den Launch des iPhones im Jahr 2007 revolutioniert wurde. Gerade einmal 14 Jahre ist es her, dass das erste iPhone – vielleicht der Prototyp des Smartphones – das Licht der Welt erblickt hat. Wenn wir uns die Zahl von aktuell über 5 Milliarden Smartphone-Nutzer*innen vergegenwärtigen47, handelt es sich bei dem Smartphone wohl um eine Technologie, die sich so schnell wie kein anderes Produkt flächendeckend in der Menschheitsgeschichte verbreiten konnte. Zudem scheint mir keine der früheren Erfindungen wie Radio oder Fernsehen im Vergleich zu den digitalen Plattformen auf den Smartphones so immersiv gewesen zu sein. Der Begriff Immersion (bzw. das etwas immersiv ist) beschreibt die soghafte Wirkung der Technologien, die die Nutzer*innen in ihren Bann ziehen und alles um sich herum vergessen lassen – und zugleich um so viel Aufmerksamkeit werben. Deswegen wollen wir uns nun zunächst wissenschaftlich mit dem Begriff Aufmerksamkeit beschäftigen.

Wie blind uns gelenkte Aufmerksamkeit für unsere Umwelt machen kann

Es ist Rush Hour in Tokio. Meine Armbanduhr zeigt 18.30 Uhr an. Feierabendverkehr. Ich stehe an einer Haltestelle der Hibiya Line, um nach Akihabara zu fahren. Akihabara bedeutet in deutscher Sprache so viel wie Herbstlaubfeld. Dieser romantisch klingende Name für das hiesige Stadtviertel in Tokio könnte nicht unpassender gewählt worden sein. Denn Akihabara ist das Elektronikviertel von der Hauptstadt und steht vielleicht synonym für die techartige Wirkung, die Tokio in vielen der Stadtbezirke ausstrahlt. Grell blinken überall die Neonlichter. Zwischen Manga und schrägen Themen-Cafés wird an jeder Ecke der neueste Technik-Krempel angeboten.

Die Pendler*innen stehen geduldig in den blau und grün markierten Wartebereichen, bis ihr Zug endlich einfährt. Die farbigen Wartebereiche sind auf dem Boden eingezeichnet, und um mich herum stehen Japaner*innen alle in Reihe und Glied innerhalb dieser Boden-Markierungen. Die meisten Männer sind Anzugträger mit weißen Hemden. Der Anblick entspricht dem Klischee der arbeitsamen Japaner*innen, die wie Rädchen im Uhrwerk der japanischen Gesellschaft perfekt zu funktionieren haben. Haruki Murakami beschreibt in seinem Roman Mr. Aufziehvogel, dass seine Landsleute wie gut geölte Rädchen in der großen Job-Maschine immer und überall im Funktionier-Modus unterwegs sind. Am Beispiel des 30-jährigen Toru Okada, der seinen Hilfsjob in der Anwaltskanzlei aufgibt und verzweifelt seinen Kater in der Hauptstadt sucht, wodurch er in eine Spirale aus Abenteuern und erotischen Versuchungen gerät, erzählt er anschaulich, was die Globalisierung mit uns Menschen angestellt hat.48 Neben der Uniformität in Kleidung und dem sehr höflichen Auftreten zeigen die Berufspendler*innen allesamt die gleiche Körperhaltung. Den Kopf nach unten gebeugt, starren sie auf die kleinen Bildschirme ihrer Smartphones, die ihre Gesichter in fahlem Glanz erstrahlen lassen. Gänzlich absorbiert von ihren Geräten, bekommt keine*r von ihnen mit, was gerade um sie herum vorgeht. Lediglich unterbewusst regt sich kurz etwas, wenn der nächste Zug einfährt und jede*r wieder einen Schritt weiter aufrutschen kann. Schließlich steigen die Pendler*innen in ihren Zug ein und treten den Heimweg an.

Das komplette Eintauchen in eine Tätigkeit, hier das Konsumieren eines Inhalts auf dem Smartphone an der Zughaltestelle in Tokio, wurde bereits von dem ungarischen Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi als Flow-Zustand beschrieben.49 Ein Zustand der Raum- und Zeitlosigkeit, in dem uns eine Tätigkeit leicht von der Hand geht und wir beispielsweise am Arbeitsplatz besonders viel geschafft bekommen. Um Flow zu erfahren, gibt es zahlreiche Voraussetzungen. Unter anderem müssen die eigenen Fähigkeiten dem Schwierigkeitsgrad einer Aufgabe entsprechen, ansonsten droht bei Überforderung Angst und bei Unterforderung Langeweile. Im Flow-Zustand kann sich unsere Produktivität erhöhen und zugleich ein Wohlgefühl geschaffen werden. Ich selber erlebe dieses leichte Im-Fluss-Sein oft beim Schreiben, etwa beim Verfassen dieser Zeilen.

Leider erleben wir Flow nicht nur beim Nachgehen sinnvoller Tätigkeiten, wie bei einer bedeutsamen Unterhaltung mit einer Person, bei einer sportlichen Betätigung oder dem Schreiben eines Artikels. Im Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie wird der immersive Flow-Zustand von Tech-Unternehmen missbraucht, um Millionen von Online-Nutzenden jeden Tag aufs Neue möglichst viel Zeit »aus den Rippen zu leiern«. Ich möchte das mit Zahlen untermauern. In einer eigenen Studie mit mehr als 2 400 Teilnehmer*innen konnten wir zeigen, dass die »Generation Smartphone« (bei uns vor allem die ca. 15–35-Jährigen) pro Tag durchschnittlich in etwa 2,5 Stunden auf dem Smartphone verbringt.50 Den Tech-Unternehmen werden also umgerechnet pro Woche von den durchschnittlichen Nutzer*innen etwa zwei Arbeitstage an Aufmerksamkeit geschenkt! Der Kampf um unsere Aufmerksamkeit wird unerbittlich geführt. Und dies geschieht immer mit einem klaren Ziel: die Nutzenden nach Möglichkeit so in einem Online-Kanal zu absorbieren, dass sie dabei die Außenwelt komplett ausblenden. Als Konsequenz fließen die Daten in Strömen.

Aber was ist Aufmerksamkeit überhaupt, und wann macht sie uns tatsächlich blind für unsere Umgebung? Hier kann uns eine Analogie helfen, die in manchem Lehrbuch für Kognitive Psychologie zu finden ist.51 In dieser Teildisziplin der akademischen Psychologie wird unsere Aufmerksamkeit vereinfacht gern mit einem Scheinwerfer bei einer Theateraufführung verglichen. In einem Theater soll in der Regel auf der Bühne die Illusion einer echten Handlung entstehen und für den Zeitraum der Aufführung aufrechterhalten werden. Der deutsche Dramatiker Bertolt Brecht wollte mit seinem epischen Theater diese Illusion zerstören, sodass beispielsweise die Umbauarbeiten für die nächste Szene bei voller Beleuchtung während der Theateraufführung stattfanden. Beim Illusionstheater wird dem Zuschauer dagegen vorenthalten, wie während des Theaterspiels auf Teilen der Bühne die Requisite umgebaut wird oder Schauspieler*innen sich in Wartestellung bringen, um gleich in die Handlung des Stücks eingreifen zu können.52 In der Regel finden dann die Umbauarbeiten in den wenig ausgeleuchteten Teilen der Bühne statt. Damit die Illusion aufrechterhalten werden kann, ist es für die Regisseur*innen wichtig, unsere Aufmerksamkeit nur auf zuvor festgelegte Stellen der Bühne zu lenken. Dies wird üblicherweise durch die Beleuchtung gesteuert, durch einen Lichtkegel, der beispielsweise auf der Hauptfigur des Schauspielstücks ruht und mit ihr über die Bühne wandert. Wenn wir uns auf das Theaterstück einlassen, wandert unsere Aufmerksamkeit mit dem Lichtkegel über die Bühne, ohne dass wir wahrnehmen würden, was im Dunkeln außerhalb des Lichtkegels passiert. Gewissermaßen sind wir dann blind für die restlichen Aktivitäten auf der Bühne. Dieses »Blindsein« durch die Fokussierung auf einen bestimmten Inhalt ist mit zahlreichen klassischen Experimenten aus der Psychologie nachgewiesen worden. Eines der berühmtesten Experimente lief wie folgt ab: Als Teilnehmer*in des Experiments wurden Sie darum gebeten, ein Video anzuschauen, in dem zwei Mannschaften mit weißen und schwarzen T-Shirts jeweils einen Ball hin- und herwerfen. Da beide Mannschaften jeweils einen eigenen Ball untereinander teilen, entsteht ein ziemliches Gewusel beim Betrachten des Videos. Die Aufmerksamkeitsaufgabe sieht nun vor, dass Sie zählen sollen, wie oft die Spieler*innen mit den weißen T-Shirts sich den Ball untereinander zupassen. Falls Sie das Experiment nicht kennen, lesen Sie erst weiter, nachdem Sie mitgemacht haben. Das Video findet sich unter anderem auf YouTube.53

Wahrscheinlich haben Sie nun kurz die Webseite besucht und sich das Video angeschaut. Die richtige Antwort wäre »15 Pässe« gewesen. Das war in dem Gewusel gar nicht mal so einfach zu beobachten, richtig? Die tatsächliche Überraschung ist für viele Teilnehmende des Experiments aber die Nachfrage seitens des Experimentalleiters, ob man einen schwarzen Gorilla gesehen hat. In der Originalarbeit von Daniel Simons und Christopher Chabris54 haben sagenhafte 44 % der Teilnehmer*innen nicht bemerkt, dass eine als Gorilla verkleidete Person gemütlich zwischen den Basketballspieler*innen durch das Bild läuft, sich auf die Brust klopft, um dann wieder aus dem Bild heraus zu spazieren. Wenn Sie den Gorilla nicht gesehen haben, schauen Sie sich erneut das Video an – er ist tatsächlich da. Und grämen Sie sich bitte nicht, wenn Sie ihn nicht direkt gesehen haben. Sie sind in guter Gesellschaft.

Das Ergebnis dieser mittlerweile klassischen Studie ist interessanterweise auch abhängig von einigen Variablen. Auffälligerweise entdecken mehr Personen den Gorilla, wenn man die Ballwürfe für das schwarze Team im Vergleich zu dem weißen Team zählt. Auch wurde eine Frau, die mit Regenschirm durch die spielenden Personen geht, besser entdeckt als der durch das Bild spazierende Gorilla. Möglicherweise hat das mit der Farbgebung und Form der Person zu tun, die durch die Menge der Basketballspieler*innen hindurch spaziert. Unabhängig davon aber illustriert das Experiment das Phänomen der inattentional blindness, kurzum unsere Blindheit für alles, was außerhalb des Lichtkegels unserer Aufmerksamkeit passiert. Wenn es den Tech-Unternehmen also gelingt, unsere Aufmerksamkeit so auf ihre Angebote zu lenken und zu fesseln wie es in dem Experiment von Daniel Simons und Christopher Chabris illustriert wurde, werden wir blind für große Teile um uns herum in der Welt. Unsere Gedanken drehen sich als Folge nur noch um das, was auf den Tech-Plattformen stattfindet. Damit ist unsere Gedankenwelt in Gefangenschaft und unfrei. Vielleicht brauchen wir wieder etwas von dem kritischen Geist des Brecht’schen epischen Theaters auf unseren Smartphones! Mit welchen psychologischen Tricks gearbeitet wird, um uns in den Bann der Plattformen zu ziehen, werde ich in Kapitel 3 ausführlich berichten.

Bevor wir uns damit näher aus Sicht der Psychologie beschäftigen, möchte ich kurz erläutern, warum es Tech-Konzernen so wichtig ist, uns an ihre schönen bunten Apps zu fesseln, und eine Übersicht darüber geben, welche Probleme das mit sich bringt. Dies geschieht an dieser Stelle zunächst oberflächlich, da eine tiefere Beschäftigung mit den unterschiedlichen Folgen jeweils in einzelnen Kapiteln stattfindet. Die folgende Übersicht spannt einen Rahmen, in dem die unterschiedlichen Inhalte des Buches besser verstanden und verarbeitet werden können.

Die Gedanken waren frei

Ich war wohl so zwischen fünf und sechs Jahre alt, als mir meine Eltern häufig das Lied Die Gedanken sind frei vorgesungen haben. Schon komisch, dass beim Schreiben des vorliegenden Buches diese Kindheitserinnerung hochkommt.

Der Text des Liedes wurde laut eines Wikipedia-Artikels zum ersten Mal um das Jahr 1780 in Flugblättern in Deutschland veröffentlicht. Damals hatte der Text politische Brisanz. Das Volk begehrte gegen seine Herrscher innerhalb des Deutschen Bundes auf. Die heute bekannte Melodie zu dem Text entstand erst Jahrzehnte später, zwischen den Jahren 1810 und 1820. Das Motiv des uns heute geläufigen Textes geht bis auf den mittelalterlichen Dichter Walther von der Vogelweide zurück55 und wurde über die Hunderte von Jahren immer wieder Modifikationen unterworfen.

Meine Eltern sangen mir folgende Variante vor:

Die Gedanken sind frei,

wer kann sie erraten,

sie fliegen vorbei

wie nächtliche Schatten.

Kein Mensch kann sie wissen,

kein Jäger erschießen,

es bleibet dabei:

die Gedanken sind frei.

Ich erinnere mich noch, dass das Hören des Liedtextes mir als Kind eine gewisse innere Ruhe verschaffte. Ich weiß nicht, wie gut ich damals den Text verstehen konnte. Vielleicht ging die beruhigende Wirkung des Volkliedes auch einfach nur auf die eingängige Melodie zurück. Nichtsdestotrotz finde ich heute den Gedanken sehr tröstlich, denken zu können, was ich möchte. Und zwar ohne dass es andere Personen jemals mitbekommen oder daraus Konsequenzen resultieren würden. Als Psychologe bin ich davon überzeugt, dass diese Gedankenspiele einen kathartischen Effekt haben können. Und wer kann schon so, wie er will, im Leben? Die Gedanken aber kann niemand erraten, und kein Jäger erschießen. Aber ist das wirklich noch so?

Obwohl mich das Lied Die Gedanken sind frei lange in der Kindheit begleitet hat, vergaß ich es später für viele Jahre. Und ich weiß tatsächlich nicht, warum mir das Lied seit einiger Zeit wieder im Kopf herumschwirrt. Das Unterbewusstsein ist ein komisches Wesen.56 Wie dem auch sei – ich bin davon überzeugt, dass dieses einfache Volkslied eine tröstliche Wahrheit in sich trägt. Wie schön es doch ist, privat sein zu können. Wie schön es ist, dass Menschen nicht die Gedanken ihrer Mitmenschen lesen können. Wie schön es ist, dass wir in unserer Gedankenwelt Phantasieschlösser bauen können, die bei Einsturz keinen Schaden anrichten. Und wie schön es wäre, wenn diese einfache Wahrheit für immer gelten würde.

Ich bin aufgrund meiner wissenschaftlichen Tätigkeiten davon überzeugt, dass der Kerngedanke des Lieds – so schön er auch sein mag – nur noch bedingt Gültigkeit hat. Meine Arbeitshypothese für dieses Buch lautete sogar ursprünglich Die Gedanken waren frei. In den Kapiteln dieses Buches erläutere ich im Detail, wie ich zu dieser Auffassung gelange, vor allen Dingen und darüber hinaus, welche Auswirkungen aufgrund der groß angelegten Manipulation zu beobachten sind. Zur besseren Strukturierung lege ich meine Argumentationskette bereits an dieser frühen Stelle im Buch vor.

Dreh- und Angelpunkt meiner Argumentationskette ist das berüchtigte Daten-Geschäftsmodell des Silicon Valleys. Hier zahlt jede*r Online-Nutzer*in für die Nutzungserlaubnis einer App oder der dahinter liegenden Plattform mit seinen*ihren eigenen Daten (Ja, Du gehörst uns!). Da Tech-Unternehmen mit unseren Daten Geld verdienen, haben sie großes Interesse daran, digitale Plattformen zu erschaffen, die möglichst »süchtig« machend sind.57 Als Konsequenz verlängern sich die Online-Verweilzeiten der Nutzer*innen, und es entsteht ein Plus an digitalen Fußabdrücken, die in die Fänge der Tech-Unternehmen geraten. Das daraus resultierende Wissen über die Nutzer und Nutzerinnen ist extrem interessant für die Werbeindustrie, die ausgewählte Personengruppen gezielt auf den Social-Media-Plattformen mit Werbebotschaften ansprechen können. Dieses Werbemodell hat Social-Media-Konzerne reich gemacht. Sucht bedeutet im Kontext meiner Hypothese, dass die Gedanken des oder der Süchtigen im Wesentlichen um den Konsum einer Online-Plattform kreisen. Sucht bedeutet immer, dass Gedanken nicht mehr frei sind. Drogensüchtige denken ausschließlich an das Beschaffen und Konsumieren der Droge. In der schönen neuen Tech-Welt werden unsere Gedanken entsprechend durch Social Media & Co. gefangen genommen. Tatsächlich sprechen wir auch von Online-Nutzer*innen der Plattformen (Online-User). In der bekannten Netflix-Doku The Social Dilemma formulierte der ehemalige CEO John Matze von Parler58 deswegen passenderweise: »Die einzigen zwei Gruppierungen an Personen, die ihre Kunden »Nutzer« nennen, sind Drogendealer oder Social-Media-Konzerne.«

Eine zweite psychische Schattenseite des Daten-Geschäftsmodells besteht darin, dass uns nur solche Botschaften und Informationen auf Social Media und anderen Online-Plattformen wie Amazon präsentiert werden, die uns mit großer Wahrscheinlichkeit besonders interessieren. Informationen werden bewusst von Seiten der Tech-Unternehmen vorgefiltert, um potenzieller Langeweile auf den diversen Online-Plattformen entgegenzuwirken. Aus Sicht der Plattform-Betreiber*innen wäre nichts schlimmer, als Langeweile auf Social Media zu erzeugen, denn das würde die Online-Zeiten der Nutzenden reduzieren. Damit würden weniger Daten fließen. Die Bevormundung der Nutzer*innen durch die Vorfilterung von Informationen kann aber schlimme Konsequenzen für einige unter uns haben: Besonders die Menschen, die sich im Wesentlichen über das Tagesgeschehen auf Social-Media-Plattformen informieren, werden womöglich weniger mit konträren Standpunkten zu den eigenen Weltanschauungen konfrontiert. Letztlich würde dann das eigene Weltbild auf Social-Media-Plattformen immer und immer wieder bestätigt. Es wird kontrovers diskutiert, ob vorgefilterte Inhalte durch Social Media zu weniger Reflexion des eigenen Weltbilds und damit zu einer Einengung der eigenen Gedankenwelt führen. Da diese Prozesse zu einem großen Teil implizit, also nicht unbedingt bewusst ablaufen, ist es denkbar, dass die Gedankenfreiheit durch das Vorfiltern der Informationen eingeschränkt wird.

Die dritte negative Konsequenz des Daten-Geschäftsmodells ist offenkundig, wird aber von den meisten Menschen nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit bedacht. Überall hinterlassen wir in einer zunehmend vernetzten Gesellschaft digitale Fußabdrücke. Damit werden wir unserer Privatheit beraubt, da die massenhaft existierenden digitalen Fußabdrücke schon jetzt enorm viel über uns und unsere Gedankenwelt aussagen. Auch wenn den meisten von uns dieser Sachverhalt irgendwie bewusst ist, scheint diese Tatsache noch nicht so weit in unser Bewusstsein vorgedrungen zu sein, dass wir unser Verhalten entsprechend anpassen. Wie lange wird es noch dauern, bis wir uns als gläserne Menschen nicht mehr trauen, andersartige Standpunkte zu durchdenken, da unsere Gedanken in Form von digitalen Spuren überall zu erspähen sind? In einem solchen Szenario sind wir eventuell nur noch damit beschäftigt, in möglichst sozial erwünschter Art und Weise zu denken, um bei unseren Mitmenschen keinen Argwohn auszulösen. Die Aufgabe von Privatheit könnte zur Unfreiheit unserer Gedanken führen.

Wie konnte es so weit kommen? Zur Beantwortung dieser Frage begannen wir unsere Reise im Silicon Valley. Am Ende des Buches werden wir fast einmal um die Welt von der Westküste der USA über viele Länder bis nach Tainan auf der Insel Taiwan gereist sein. Auf dieser Reise werden wir sehen, wie es zu der massiven Manipulation der Online-Nutzer*innen gekommen ist und wie tiefgreifend viele Nebenwirkungen der Digitalisierung ausfallen. Und immer wieder wird klar, dass der Ansporn der Tech-Unternehmen darin liegt, uns auszuleuchten. Bis wir ihnen ganz gehören.

Abbildung 1.3.: Das Daten-Geschäftsmodell ist dafür (mit-)verantwortlich, dass »Online-Sucht« befeuert wird und es zu einer Einengung der Gedankenwelt durch Filterblasen kommt. Zusätzlich werden die Nutzer*innen immer gläserner, und die Privatsphäre schwindet.59

Kapitel 2

Spiel, Spaß und Spannung? Über unsere Motivation, neue Technologie zu nutzen

Menschen haben sich schon immer für neue Technologien interessiert. Wir waren und sind fasziniert vom wissenschaftlichen Fortschritt, obwohl es in der Vergangenheit manchmal ein wenig dauerte, bis sich große Bevölkerungsschichten mit einer neuen Technologie anfreunden konnten. Als Mitte der 1930er-Jahre die ersten Fernsehstuben in Deutschland eingerichtet wurden, waren die Reaktionen zunächst verhalten. Wahrscheinlich hatte das auch damit zu tun, dass sich bis zu dreißig Personen um einen 18 x 22 cm großen Bildschirm drängeln mussten. Wahrlich kein so tolles Seherlebnis! Nicht zu vergessen, dass in den 1930er-Jahren zeitgleich das Kino ein ganz anderes Freizeitvergnügen ermöglichte.60

Trotzdem sollte sich das Fernsehen durchsetzen, sodass es heute eine Selbstverständlichkeit darstellt, in fast jedem deutschen Haushalt zumindest auf einen Fernseher zurückgreifen zu können. Für das Jahr 2020 wurde ermittelt, dass 34,65 Millionen Deutsche einen Fernseher in ihrem Haushalt hatten. 24,04 Millionen Deutsche sollen zwei Fernseher in ihrem Haushalt besessen haben, und 7,22 Millionen Bürger und Bürgerinnen sogar drei Fernseher.61 Auch wenn die Bedeutsamkeit des klassischen Fernsehens aufgrund der Online-Streaming-Dienste immer geringer wird, hat es insgesamt immer noch eine bedeutsame Rolle inne.

Warum aber setzen sich Technologien in einer Gesellschaft durch? Welche psychologischen Mechanismen spielen hier eine Rolle?

Um Social Media und das dahinter liegende Daten-Geschäftsmodell zu verstehen, wollen wir kurz darüber nachdenken, warum wir überhaupt neue Technologien ausprobieren. Wir wollen auch verstehen, warum Menschen nach einer ersten Phase des Ausprobierens an der Nutzung eines bestimmten Online-Angebotes festhalten.

Antworten auf diese Fragen finden sich unter anderem in der »Nutzen- und Belohnungstheorie«. In der englischsprachigen Literatur spricht man in diesem Zusammenhang von der Uses and Gratification Theory. Deswegen nutze ich in diesem Kapitel auch aus Einfachheitsgründen das Kürzel UGT.

Der etwas sperrige Name der Theorie weist auf einen relativ simplen Sachverhalt hin: Technologien werden besonders dann genutzt, wenn sie menschliche Grundbedürfnisse befriedigen. Beispiel: Ich habe ein starkes Bedürfnis, mich mit anderen Menschen auszutauschen. Nun stellen wir uns vor, dass ein Online-Dienst diesem Bedürfnis nicht gerecht werden würde. Als Konsequenz würde ich einen solchen Online-Dienst nicht nutzen. Tatsächlich schaffen es Social-Media-Plattformen aber sehr erfolgreich, einige Grundbedürfnisse anzusprechen. Dazu gleich mehr.

Weitere Einsichten in die Frage nach den psychologischen Hintergründen der Technologienutzung bringt die Persönlichkeitspsychologie. Es kann anhand von Temperament- und Charaktereigenschaften von Personen ein Stück weit vorhergesagt werden, in welcher Weise und wie oft diese eine Plattform wie Facebook nutzen werden. So sind extravertierte Menschen beispielsweise dafür bekannt, ein größeres Bedürfnis nach sozialer Aufmerksamkeit zu haben.62 Tatsächlich zeigt sich auch in einigen Studien, dass Nutzer*innen von Social-Media-Plattformen im Durchschnitt (etwas) extravertierter sind als solche, die diese Plattformen nicht nutzen.63 Extravertierte Personen gelten übrigens als durchsetzungsstark, lebendig und gesellig. Damit beantwortetet die Persönlichkeitspsychologie auch die »Wer-Frage« der Technologienutzung, also wer greift eher zu einer bestimmten Technologie? Anhand des Gesagten wird übrigens auch deutlich, dass die UGT und der Ansatz aus der Persönlichkeitspsychologie nicht ganz getrennt voneinander gesehen werden können, da unterschiedliche Persönlichkeiten auch unterschiedlich stark ausgeprägte Grundbedürfnisse besitzen.

Video killed the radio star

Wer kennt nicht den Song Video killed the radio star von der Band The Bugglers? Laut YouTube-Statistik verzeichnete der Song im Januar 2021 immerhin über 36 Millionen Views. Mit dem Musikvideo dieses Liedes begann passenderweise der Fernsehsender MTV am 1. August 1981 um 0.01 Uhr sein Programm.64Mir fiel der Song beim Schreiben dieses Kapitels wieder ein, weil er auf den Punkt bringt, dass technologische Neuerungen immer wieder zu einer Veränderung der Mediengewohnheiten führen: Der Liedtext beschreibt die Verlusterfahrung eines traditionellen Musikers und seines Fans, die miterleben, wie eine Ära endet und hilflos vor den technologischen Neuerungen stehen. Video killed the radio star hat im TikTok-Zeitalter gerade wieder eine ganze neue Hörerschaft bekommen, allerdings in einem ganz anderen Kontext. Auf TikTok verbreiteten sich zu Beginn des Jahres 2020 in Windeseile Kurzvideos in denen Verschwörungstheorien um die Todesursachen bekannter Persönlichkeiten wie Marilyn Monroe wieder aufgerollt werden, wobei Video killed the radio star den inhaltlichen Bezugspunkt lieferte.65 Der Song ist also wieder aktuell.

Tatsächlich ist es normal, dass sich Medienrezeptionsgewohnheiten über Generationen ändern. Manchmal werden alte Technologien aber auch zu schnell abgeschrieben. Im Jahr 2020 lag die tägliche Radiohördauer im Durchschnitt bei hundertundachtzig Minuten.66 Totgesagte leben eben länger. Klar ist aber auch, dass im 21. Jahrhundert Radiosendungen nicht nur über das klassische Radio konsumiert, sondern ebenfalls über andere Geräte empfangen werden. Wie viele tausende Podcasts gibt es heutzutage, die einen modernen Spin-Off der Radiosendung darstellen? Im Prinzip taugt heute jedes Smartphone als Radioempfangsstation.

Ich bin davon überzeugt, dass eine Beschäftigung mit der Frage, warum Menschen damit anfingen, in den 1920er-Jahren Radio zu hören67, auch ein wenig darüber Aufschluss geben kann, warum Menschen heute Social-Media-Plattformen über das Smartphone nutzen. Welche psychologischen Motive treiben Menschen dazu an, bei einer bestimmten Radiosendung immer wieder einzuschalten oder auf YouTube einem Influencer oder einer Influencerin zu folgen? Wagen wir doch eine kleine Zeitreise, um ein paar Parallelen aufzuzeigen. Bevor wir diese Zeitreise unternehmen, informieren wir uns aber kurz über die unglaublich hohen Nutzer*innen-Zahlen von Social-Media-Angeboten rund um den Globus.

Facebook? Die Zukunft von Social-Media-Apps entscheidet sich auch in Asien. Eine kleine Nachricht kommt aus Shenzhen

Weltweit zählen wir momentan etwa 3,8 Milliarden Social-Media-Nutzer*innen.68 Davon sind über 3 Milliarden Menschen auf einer der Plattformen unterwegs, die zu Facebook gehören. Genauer gesagt, handelt es sich um fast 2,8 Milliarden Menschen auf der klassischen Facebook-Plattform, knapp über 2,0 Milliarden auf dem WhatsApp-Messenger und über 1,2 Milliarden auf der Bild-und Video-Plattform Instagram (oder wie viele sagen: »Insta«).69 Damit stellt der Konzern aus dem Städtchen Menlo Park in Silicon Valley zweifelsohne eines der mächtigsten Unternehmen der Welt dar. Schließlich hat Facebook sich in den letzten Jahren auch noch andere Unternehmen wie die Virtual Reality Headsets produzierende Firma Oculus einverleibt, um in Zukunft auch in dem Geschäftszweig der virtuellen Welten mitmischen zu können. Facebook at the Hacker Way is here to stay (siehe auch Abbildung 2.1.) – allerdings ziehen auch Schatten auf, wie der aktuelle Antitrust-Case (das Kartellamt-Verfahren) gegen Facebook zeigt.70

Aufgrund dieser gewaltigen Zahlen könnte man schnell zu der Auffassung gelangen, dass jenseits von Facebook keine anderen erfolgreichen Social-Media-Angebote existieren. Dies entspricht allerdings nur dem etwas naiven westlichen Blick auf die Social-Media-Nutzung. In Asien – besonders in China – haben sich, nachdem westliche Netzwerke wie Facebook und die Suchmaschine Google verbannt wurden71, chinesische Tech-Unternehmen durchsetzen können, die bereits jetzt sehr große Reichweiten erzielen und entsprechende Macht am Markt besitzen. Abgekürzt werden die großen chinesischen Tech-Unternehmen als »BAT« und sind allesamt an der Börse gelistet. BAT steht für die Tech-Giganten Baidu, Alibaba und Tencent. Während Baidu eine Art chinesisches Google ist, stellt Alibaba – vereinfacht dargestellt – eine Kombination aus chinesischem Amazon und Ebay dar. Im direkten Vergleich mit dem Mega-Konzern Facebook scheint mir aber vor allen Dingen Tencent aus Shenzhen (shenzhèn shì, 深圳市) erwähnenswert. Dieses Unternehmen betreibt unter anderem die Plattform WeChat (auf chinesisch weixìn; 微信).

Abbildung 2.1.: Willkommen bei Facebook am Hacker Way in Menlo Park (Foto von Christian Montag).

Manche*r mag sich jetzt fragen, wieso an dieser Stelle im Buch sowohl lateinische als auch chinesische Schriftzeichen aufeinander folgen. Dafür muss man wissen, dass die pinyin-Sprache (拼音) bereits in den 1950er-Jahren eingeführt wurde. Es handelt sich bei der pinyin-Sprache um ein lateinisches Laut-System, welches genau definiert, wie in putonghuà (普通话; also Hochchinesisch) die chinesischen Worte korrekt ausgesprochen werden. Dies ist bedeutsam, da viele Chines*innen Dialekte sprechen, die von Region zu Region zu großen Sprachbarrieren führen. Die chinesischen Schriftzeichen sind also der Kleister, der eine ganze Nation kulturell zusammenhält. Interessanterweise stellt die Verfügbarkeit des pinyin-Systems im digitalen Zeitalter einen Segen dar, da man keine Tastatur mit tausenden Schriftzeichen braucht, sondern durch Eingabe der Lautschrift mit der entsprechenden Betonungsebene zwischen einer kleinen Anzahl an Zeichen auf dem Smartphone oder dem Desktop-Computer das richtige Zeichen für die eigene Kommunikation aussuchen kann.

WeChat kann als eine Art Pendant zu WhatsApp gesehen werden, zumindest wenn man dem Namen nachgeht. Weixìn bedeutet nämlich »kleine Nachricht«.72 Tatsächlich ist an WeChat aber gar nichts mehr klein. Diese chinesische Online-Plattform zählt beim Schreiben des Buches bereits über 1,2 Milliarden Nutzer*innen.73 Wer die Chines*innen immer noch als »Copycats« abtut, unterschätzt das Reich der Mitte dramatisch.74 In einigen Schlüsselindustrien, gerade im Digitalbereich, haben sie bereits die Nase ganz weit vorn. In Bezug auf die Entwicklung von Anwendungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) ist China in Teilen sogar an den USA vorbeigezogen.75 Das Land nutzt dabei seine Standortvorteile: 1,4 Milliarden Chines*innen produzieren massenhaft Daten, die von den chinesischen Tech-Unternehmen eingesetzt werden können, um ihre immer besser werdenden KIs zu trainieren. Die Digitalisierungsstrategie der Kommunistischen Partei in Beijing hat diesen Trend gehörig beschleunigt, zumal in China der größte Überwachungsstaat der Welt entstanden ist.76 Allerdings sollten wir uns nicht vorschnell in Polemik gegenüber China ergehen, denn auch wir leben im Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Der Begriff wurde von Shoshana Zuboff geprägt77 und weist darauf hin, dass im Westen (was ist überhaupt noch der Westen?78) Bürger*innen von großen Tech-Konzernen (und Regierungen) ausgespäht werden. Die Geschichte um Edward Snowden und die NSA muss an dieser Stelle sicherlich nicht neu erzählt werden.79

Zurück zur Mega-App »WeChat«: WeChat ist deutlich mehr als ein reiner Messenger, und selbst amerikanische Social-Media-Konzerne fangen nun an, Ideen aus dem Reich der Mitte zu übernehmen. Um dies zu illustrieren, schauen wir uns die Abbildung 2.2. näher an. Ich habe die Bilder im Zentrum von Chengdu (Chéngdu, 成都) aufgenommen. Chengdu ist eine 14-Millionen-Metropole im Herzen der Provinz Sichuan.