Dünenblut - Sven Koch - E-Book

Dünenblut E-Book

Sven Koch

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Beschreibung

Ein Kommissar sieht rot! Spannende Küsten-Krimi-Kost liefert Sven Koch allen Krimi-Liebhabern, die Urlaubs-Lektüre für ihren Urlaub in Dänemark oder auf den ostfriesischen Inseln suchen, mit seinem 6. Kriminalfall für Kommissar Tjark Wolf und das ostfriesische Ermittlerteam rund um Femke Folkmer. Kommissar Tjark Wolf vom LKA Niedersachsen ist geschockt, als er aus seinem Dänemark-Urlaub in die niedersächsische Heimat zurückkehrt - und wegen dringenden Mordverdachts verhaftet wird. Seine dänische Kollegin Anne Madsen, mit der Tjark eine leidenschaftliche Nacht in seinem Ferienhaus verbracht hat, ist verschwunden. Im Haus: alles voller Blut. Der Kommissar ahnt, wer dahintersteckt. Doch dieser Kriminalfall zieht große Kreise. Zuletzt hatte Anne im Fall des Runen-Killers ermittelt, der Prominente ermordet und ihnen Zitate aus der Edda in die Haut ritzt. Tjark entzieht sich seiner Verhaftung und setzt sich nach Dänemark ab, wo er unter dem Radar der Behörden die Jagd auf den Runen-Killer eröffnet. Sven Koch begeistert seine Leser mit seinen vielschichtigen Küsten-Krimis um sein Ermittlerteam, die sogenannten "Fantastic Four" und Hauptkommissar Tjark Wolf - einen bärbeißigen Typen, der vor Alleingängen nicht zurückschreckt. Auch "die Ostfriesen-Typen" und "das Lokalkolorit sind gut getroffen" in seinen Kriminalromanen, befindet der Hellweger Anzeiger. Perfekte Urlaubs-Lektüre für die Küste oder Dänemark-Urlauber. Alle Nordsee-Krimis des ostfriesischen Ermittler-Duos "Femke Folkmer & Tjark Wolf Reihe" von Sven Koch auf einen Blick: Band 1 - Dünengrab Band 2 - Dünentod Band 3 - Dünenkiller Band 4 - Dünenfeuer Band 5 - Dünenfluch Band 6 - Dünenblut

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Sven Koch

Dünenblut

Thriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Ein Kommissar sieht rot!

Spannende Küsten-Krimi-Kost liefert Sven Koch allen Krimi-Liebhabern, die Urlaubs-Lektüre für ihren Urlaub in Dänemark oder auf den ostfriesischen Inseln suchen, mit seinem 6. Kriminalfall für Kommissar Tjark Wolf und das ostfriesische Ermittlerteam rund um Femke Folkmer.

 

Kommissar Tjark Wolf vom LKA Niedersachsen ist geschockt, als er aus seinem Dänemark-Urlaub in die niedersächsische Heimat zurückkehrt – und wegen dringenden Mordverdachts verhaftet wird. Seine dänische Kollegin Anne Madsen, mit der Tjark eine leidenschaftliche Nacht in seinem Ferienhaus verbracht hat, ist verschwunden. Im Haus: alles voller Blut. Der Kommissar ahnt, wer dahintersteckt. Doch dieser Kriminalfall zieht große Kreise. Zuletzt hatte Anne im Fall des Runen-Killers ermittelt, der Prominente ermordet und ihnen Zitate aus der Edda in die Haut ritzt. Tjark entzieht sich seiner Verhaftung und setzt sich nach Dänemark ab, wo er unter dem Radar der Behörden die Jagd auf den Runen-Killer eröffnet.

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. Kapitel74. Kapitel75. Kapitel76. Kapitel77. Kapitel78. Kapitel79. Kapitel80. Kapitel81. Kapitel82. Kapitel83. Kapitel84. Kapitel85. Kapitel86. Kapitel87. Kapitel88. Kapitel89. Kapitel
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1.

Heute

Tjark stand auf dem Friedhof der Sankt-Clemens-Kirche in Kirkeby auf der dänischen Insel Rømø und steckte sich eine Zigarette an. Die Kirche stammte aus dem dreizehnten Jahrhundert. Sie war weiß getüncht und hatte hellgraue Dächer. Wie viele nordische Gotteshäuser wirkte sie wie eine Burg, ihr Turm glich einem Bergfried mit Schießscharten, und ihr wuchtiges Schiff erinnerte an eine Scheune. Eine Kirche, wie für den Krieg gebaut. Eine Festung, um der Herde Gottes Schutz und Zuflucht zu gewähren.

Tjark betrachtete die verwitterten Grabsteine. Viele waren jahrhundertealt und Walfang-Kommandeuren der Insel gewidmet. In Gräbern jüngeren Datums lagen laut den Inschriften Männer aus Neuseeland. Fünf Piloten, die im Zweiten Weltkrieg über der Deutschen Bucht abgeschossen worden waren. Sie waren von einer Insel am Ende der Welt gekommen, um auf einer anderen Insel begraben zu werden. Einer, die durch den Rømødæmningen-Damm mit dem Festland wie ein Embryo mit der Plazenta verbunden war.

Er sah dem Rauch seiner Zigarette hinterher und blickte in den wolkenlosen Himmel. Das Blau war intensiv – tiefer als anderswo. Überall an der Nordsee sorgte der Wind dafür, dass die Konturen klarer und die Farben leuchtender waren. Tjark stellte sich vor, wie die Bomberformationen ihre Schatten auf das Land geworfen hatten. Er dachte an die Kampfjäger, die sich auf sie stürzten, die donnernden Flaks.

Bei den toten Piloten handelte es sich um gerade mal zwanzigjährige Burschen, und er fragte sich, ob jemals ihre Geliebten, Frauen oder Mütter hergekommen waren, um Blumen auf die Gräber zu legen. Von Neuseeland nach Rømø, zu einer Zeit, in der es noch keine Linienflüge gab – nein, das war ziemlich unwahrscheinlich. Vielleicht in späteren Jahren. Vielleicht auch niemals. Vielleicht waren die Gräber deswegen eher Mahnmale. Fünf Jungs von der anderen Seite des Globus, begraben auf einer Insel, deren Namen sie wohl nicht einmal aussprechen konnten. Fremde in fremder Erde, die ein fremdes Meer beschützen wollten.

Tjark lehnte sich an die kalkweiße Mauer, blinzelte und setzte sich eine Sonnenbrille auf. Durch die getönten Gläser verfolgte er das ballettartige Schauspiel, das sich vor den Gräbern der Piloten vollzog. Er sah Menschen, die sich wie in Zeitlupe bewegten. Wie in einem der Träume, in denen man vor etwas fliehen muss, sich aber in einer geleeartigen Masse zu befinden schien. Die Männer schritten über den kurz geschnittenen Rasen, als wollten sie Golf spielen und Maß für den nächsten Schlag nehmen, drehten sich um die eigene Körperachse oder hockten sich hin, um bunte Kärtchen mit Nummern abzustellen. Der Rasen war so grün, dass es in den Augen schmerzte. Die Farbe der faserfreien Overalls, die die merkwürdige Performancegruppe trug, unterschied sich keinen Deut vom Weiß der Kirche und der Mauer.

Die Farbe unterschied sich auch kaum von der blassen Frauenleiche, die zwischen den Grabsteinen lag – wenn man einmal von dem violett-schwarzen Muster absah, das ihr in die Haut geschnitten worden war. Sie war nackt, die Hände wie zum Gebet gefaltet. Die Gelenke waren mit Draht umwickelt. Die Muster sahen aus der Nähe aus wie Runen und überlagerten sich mit den Linien einiger Tätowierungen. Tatsächlich war der ganze Körper mit den in die Haut geschnittenen Runen übersät. Und am Kopf der Leiche waren Äste und Zweige zu einer Form geflochten, die an eine Krone oder ein Geweih erinnerte.

Es war ein schockierender Anblick. So als habe sich eine Höllenpforte geöffnet und etwas ausgespuckt, das auf dieser Welt nichts zu suchen hatte.

Anne Madsen trat neben Tjark und durchbrach das Schweigen: »Das ist Freja Holm. Es ist ihr bürgerlicher Name. Sechsundzwanzig Jahre alt, aus Kopenhagen. Vor vier Tagen ist sie von ihrem Management als vermisst gemeldet worden. Unter ihrem Künstlernamen Hela kennt sie eigentlich jeder, der sich in Dänemark oder Schweden für Musik interessiert. Sie ist in den Charts und gilt als ein Gothic-Rock-Star. Du stehst doch auf Musik, da hast du sicher schon von ihr gehört?«

Madsen trug eine ausgewaschene Jeans und ein kariertes Holzfällerhemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Sie war Anfang fünfzig und eine Frau, der das Älterwerden hervorragend stand. Ihren Ausweis, der sie als Mitglied der Kriminalpolizei von Århus kennzeichnete, hatte sie wie eine Kette um den Hals hängen. Die Haare waren raspelkurz geschnitten und im Sommer noch sehr viel blonder als im Winter. Madsen hatte eine gesunde Hautfarbe und einige tiefe Falten an den Augenwinkeln beim Blinzeln gegen die grelle Sonne, obwohl sie eine modische Sonnenbrille trug.

»Nein, nie gehört. Ich mag eher Motown. Soul.«

Tjark drückte die Zigarette an der Schuhsohle aus und ließ sie in der Tasche seines olivgrünen Army-Blousons verschwinden, den er über die linke Schulter geworfen hatte. Er sah wieder zur Leiche. Der Anblick war so schockierend wie eben. An manche Dinge gewöhnt man sich nie, dachte er. Zum Beispiel, dem Wahnsinn so offen ins Gesicht zu sehen wie an dieser alten Kirche.

Madsen folgte seinem Blick. »Im letzten Winter ist eine prominente Beachvolleyballerin auf dieselbe Art und Weise hergerichtet tot aufgefunden worden – Mette Slettemark. Und jetzt finden wir eine weitere Prominente, und der Modus scheint identisch zu sein. Die Körperhaltung ist ähnlich. Sie ist außerdem unbekleidet, die Zeichen in der Haut und diese Äste am Kopf …«

Tjark musterte die Zeichen, die purpurn in der Haut klafften. Merkwürdig war, dass die Schnitte nicht blutig aussahen. Überhaupt schien es nirgends Blut zu geben.

Er fragte: »Macht er das mit den Runen, wenn sie noch leben?«

»Soweit wir wissen, ja.«

»Wäscht er die Körper ab?«

Madsen nickte. »Mette Slettemark hat er die Zeichen in die Haut geschnitten, sie danach erwürgt und ihr nach dem Tod die Hauptschlagadern geöffnet, um sie ausbluten zu lassen, allerdings nicht am Fundort. Er hat den Körper mit Bleiche gereinigt, bevor er ihn auf einem Feld platzierte. Ich nehme an, dass das bei Hela ebenfalls so war. Mette kniete in der gleichen Haltung auf dem Boden und war daran festgefroren. Es war Winter.«

Tjark nickte.

Madsen fuhr fort: »Wir gehen davon aus, dass der Täter Mette einige Zeit irgendwo festgehalten hat. Wie Hela wurde sie mehrere Tage lang vermisst, und bei der Obduktion stellte man fest, dass der Magen leer war. Das stützt die Annahme einer mehrtägigen Gefangenschaft. Wir glauben, dass der Täter in seinem Versteck alles vor- und nachbereitet. Dort tötet er das Opfer, schneidet die Runen in die Haut und drapiert es anschließend an einem anderen Ort.«

»Und bevor er die Leiche inszeniert, öffnet er ihr die Adern und lässt sie ausbluten, sagst du?«

»Ja.«

»Sie leben noch, während er schneidet?«

»Wir sind nicht hundertprozentig sicher.«

»Was bedeuten die Runen?«

»Bei Mette Slettemark handelte es sich um Zitate aus der Edda. Wir haben Spezialisten darauf angesetzt, und es dauerte seine Zeit, bis sie verstanden, was in den Körper geritzt worden war. Runen sind sehr alte Schriftzeichen – die ältesten stammen aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus. Sie waren niemals eine Schreibschrift, sondern eher eine offizielle Symbolschrift – was womöglich die Bedeutung dessen noch hervorheben soll, was der Täter in die Haut schneidet. Runen wurden zumeist für Inschriften verwendet.«

»Was hat er in ihre Haut geschrieben?«

Madsen sagte: »Das Zitat bei Mette stammt aus der Älteren Edda, der Lieder-Edda. Darin geht es um Götter- und Heldenlieder. Soweit man weiß, stammt die Edda aus Island und war ein mittelalterliches Sammelsurium verschiedener Sagen aus unterschiedlichen nordischen Epochen und der germanischen Mythologie, die bis zurück zur Zeit der Völkerwanderung reichen und auch das Nibelungenlied aufgreifen. Allerdings ist die Edda nicht in Runen geschrieben, sondern wurde im christianisierten Island in Altisländisch verfasst. Wie auch immer: Das in Mettes Haut geschnittene Zitat lautet ›Wechseln sollst du Worte niemals mit unklugen Laffen.‹ Was er in Helas Haut geschrieben hat, wissen wir natürlich noch nicht.«

Tjark fragte nach den Tätowierungen, die er auf der Haut von Freja beziehungsweise Hela erkannt hatte – auf den Schultern, den Armen und Beinen. Keltische Motive. Er selbst trug ebenfalls eine Tätowierung auf dem Unterarm. Die Welle war dem Holzschnitt »Die große Welle vor Kanagawa« von Hokusai nachempfunden. Das Motiv stand für Tjarks besondere Beziehung zur See. Er hasste sie und mied sie wie der Teufel das Weihwasser. Trotzdem kam er ständig mit dem Meer in Konflikt. Als ob irgendein Fluch auf ihm lastete und ihn das verdammte Wasser nicht loslassen wollte.

»Es sind nach unserer Meinung normale Schmuck-Tätowierungen«, erklärte Madsen, »zudem älteren Datums, und sie haben daher nichts mit der Täterhandschrift und nichts mit den Runen zu tun. Unser Mann schneidet. Er sticht nicht.«

Tjark nickte.

Madsen betrachtete Tjark einige Momente. Sie lächelte knapp. »Danke, dass du mitgekommen bist.«

»Mir war sowieso langweilig.«

Madsen lachte.

Tjark war kürzlich in das Ferienhaus in der Gegend von Hvide Sande am Ringkøbing-Fjord zurückgekehrt, das er auf unbestimmte Zeit gemietet hatte. Er war Polizist, Kriminalhauptkommissar, und arbeitete für das LKA Niedersachsen in einer Sonderkommission für Gewaltverbrechen und Organisierte Kriminalität, die sich SKO abkürzte und außer ihm aus Femke Folkmer, Fred Berger und Ceylan Özer bestand, die die Taskforce leitete. Zusammen waren sie die Fantastic Four – zumindest gefiel Tjark diese Bezeichnung, aber er wusste, dass nicht jeder fantastic fand, was die four so anstellten. Vor allem ein Mitglied des Quartetts wurde äußerst kritisch gesehen: er selbst, Tjark Wolf, der die Dienstvorschriften manchmal sehr individuell auslegte und sie eher als Richtschnur und Empfehlung ansah.

Tjark hatte einige Tage frei, während die anderen mit der Vorbereitung einer Überwachungsaktion auf Langeoog und auf dem Festland nahe der Küste beschäftigt waren. Er nutzte die Zeit, um sich zu entspannen und den Kopf wieder freizubekommen.

Madsen hatte ihn heute im Ferienhaus besucht. Sie hatten sich über alles Mögliche ausgetauscht und waren dann am Strand spazieren gegangen. Madsen war smart, erfahren und zweimal geschieden. Sie kannte sich ohne Frage mit Kerlen wie Tjark Wolf aus, deren Bedienungsanleitung nicht gerade einfach war. Tjark hatte ihr viel zu verdanken und fand sie außerdem attraktiv und anziehend. Andererseits glaubte er, dass eine Beziehung zwischen einer Polizistin aus Dänemark und einem Polizisten aus Deutschland so viel Zukunft hatte wie ein Schneeball auf einer Herdplatte – nämlich gar keine.

Beim Spazierengehen hatte Madsen einen Anruf erhalten, und sie hatte Tjark spontan gefragt, ob er mitkommen wolle. Womit Madsen der Kunstgeschichte und der modernen Malerei einen großen Gefallen getan hatte, denn Tjark hatte eigentlich die Grundierung für das drittschlechteste Bild vorbereiten wollen, das jemals von der dänischen Küste gemalt worden war. Das zweitschlechteste und das schlechteste hatte er bereits fertig. Sie hingen an der Wand im Haus und hatten Madsen einmal zu der Frage motiviert, ob die Bilder von Kindern aus seiner Verwandtschaft stammten und er deswegen gezwungen sei, sie aufzuhängen.

Tjark blickte wieder zu der Leiche. Er hatte schon viel gesehen. Zu viel, wenn man es genau nahm. Aber etwas wie das hier …

»Schrecklich«, sagte Madsen leise. »Es ist unfassbar, dass Menschen in der Lage sind, anderen so etwas anzutun.«

»Ich beneide dich nicht um diesen Fall«, erwiderte Tjark.

»Dieser Mörder beschäftigt uns und unsere psychologischen Gutachter sowie Fachleute für nordische Mythologie schon seit geraumer Zeit.«

»Kommt ihr voran?«

Madsen schüttelte den Kopf.

»Hat er einen Namen?«

»Wer?«

»Euer Mann. Der, der das getan hat.«

»Die Medien nennen ihn den Runenkiller«, sagte Madsen.

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2.

Einige Tage zuvor

Der Mann stand am Hafen von Århus und sah den Schiffen zu, die sich durch die Fahrrinne manövrierten. Es roch leicht brackig und nach Abgasen. Die Sonne ging gerade unter. Zeitgleich war schon der Mond am Himmel zu sehen.

Licht und Dunkelheit, dachte der Mann, rangen in diesem Moment miteinander. Das war bezeichnend für seine Situation.

In der Ferne waren die großen Kräne zu sehen, die die Container von den Frachtern hievten. Er dachte darüber nach, dass der Plastikmüll aus Dänemark nach China und Indien exportiert wurde, wo aus den Abfällen neue Produkte hergestellt und dann zurückgeschifft wurden, um irgendwann wiederum als Müll zu enden, der erneut seinen Weg rund um den Globus antrat. Ein großer Kreislauf, mit dem jede Menge Geld verdient wurde. Er blickte auf den feinen Sand zu seinen Füßen. Hier an der Ostsee war er vollkommen anders als auf der anderen Seite Jütlands an der Nordsee. Sehr viel feiner.

Eigentlich, dachte der Mann, war an der Ostsee eine Menge anders. Die Nordsee war ohne Wind unvorstellbar. Sie war rau und ungestüm. Das konnte die Ostsee ebenfalls sein, aber sie erschien dem Mann eher als ein freundliches Meer. Es gab Menschen, die bevorzugten sie gegenüber der Nordsee. Bei anderen war es umgekehrt. Der Mann fand, dass jedes Meer seine Vorzüge hatte. Aber wenn man ihn vor die Wahl stellen würde, dann würde er die Nordsee nehmen. Ihm gefiel das Unberechenbare, das sie ausstrahlte. Die Gefahr. Man mochte gerade noch auf einer Sandbank stehen und das Gesicht in die Sonne strecken. Tat man das jedoch einen Moment zu lange, war vielleicht die Flut schon da und schnitt einem den Rückweg zum Festland ab, überspülte die Sandbank und riss einen mit sich. Sie war wie das Schicksal, das innerhalb eines Augenblicks das Leben auf den Kopf stellen konnte und es von links auf rechts drehte. Die Gezeiten hatten die Kraft, alles zu verändern – ja, so war die Nordsee: kraftvoll und stark.

Er ließ seinen Blick über das Wasser gleiten. Die Wellen kräuselten sich nur schwach. Ihre Farbe war tintenblau, während der Himmel darüber langsam pfirsichfarben wurde. Der Mann schloss für einen Moment die Augen. Trotz aller Geschäftigkeit am Hafen war es ruhig. Erstaunlich, wo doch im Moment ein dreihundert Meter langes Schiff an ihm vorbeifuhr. Lautlos. Nur die Wellen, die an Land schwappten, wurden etwas lauter.

Dann wurde die Ruhe von Basswummern übertönt.

Bumm. Bumm.

Es war nicht laut, aber deutlich zu vernehmen. Ein gleichmäßiger Rhythmus, wie ein Herzschlag. Der Wind trug ihn von jenseits der Bahnlinie herüber. Dort standen auf dem Areal des Northside Festivals haushohe Boxentürme, die das Aufprallen des Schlägels einer Fußmaschine auf das Fell einer Basedrum um ein Vielfaches verstärkt übertrugen.

Bumm. Bumm.

Der Mann zog die Eintrittskarte aus der Hosentasche und öffnete die Augen. Das Festival lief schon den ganzen Tag über. Aber er würde jetzt erst hingehen. Allerdings würde sein Motiv ihn von den Zehntausenden Festivalgästen unterscheiden. Er kam nicht dorthin, um seinen Puls mit dem Rhythmus des Schlagzeugs und dem der Masse verschmelzen zu lassen und eins mit ihr zu werden. Sein Ziel war ein gänzlich anderes.

Bumm. Bumm.

Der Mann warf einen Blick auf die Uhr. Zeit, den Hafen hinter sich zu lassen, um den Star des Abends nicht zu verpassen. Den Auftritt durfte er sich auf keinen Fall entgehen lassen. Denn es würde der letzte ihres Lebens sein, dachte der Mann und lächelte ein wenig. Ein aufregendes Gefühl, der einzige Mensch auf der Welt zu sein, der dieses Geheimnis kannte.

Bumm.

Bumm.

Dann nichts mehr.

Ein Herz würde aufhören zu schlagen.

Weil er es so entschieden hatte.

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3.

Heute war sie Göttin.

Hela stand in ihrem Tempel, breitete die Arme aus und warf den Kopf in den Nacken. Silbernes, goldenes und rotes Licht ergoss sich über ihren Körper. Es ließ die zahllosen Pailletten auf dem Ganzkörperanzug glitzern und verwandelte sie in ein gleißendes Wesen. Die Krone in Form eines mit Spiegelsplittern beklebten Geweihs strahlte weithin sichtbar und wurde überlebensgroß auf gigantische Videoleinwände projiziert. Das Meer ihrer Jünger breitete sich in blitzenden Wogen vor ihr aus. Aus Zehntausenden Kehlen schwoll der Jubel an, bis er selbst die Schlussakkorde aus den haushohen Boxentürmen übertönte.

Die letzten Klänge von »From Hell«, dem Titelstück ihres Hit-Albums, gingen fließend in den hypnotischen Anfangsriff von »Killing Moon« über – eine Coverversion des Songs von Echo & The Bunnymen aus den Achtzigern. Es war die letzte Zugabe des Abends und würde nächste Woche, falls die Plattenfirma recht behalten sollte, als Singleauskopplung direkt auf Nummer drei in den Charts hinter Lady Gaga und noch vor Rihanna einsteigen.

Mit Lady Gaga fühlte sich Hela verbunden, wenngleich sie eher als deren dunkles Gegenstück galt – denn in der nordischen Mythologie war Hela die Totengöttin und Herrscherin der Unterwelt. Wie Lady Gaga verstand sich Hela jedoch als Künstlerin und Musikerin, nicht nur als Interpretin. Sie schrieb viele ihrer Songs selbst und hatte sich wie Lady Gaga von unten nach oben gearbeitet – innerhalb von zwei Jahren von der durchgeknallten Gothic-Independent-Mieze aus den Szeneklubs bis zur Hauptbühne am Haupttag zur Hauptzeit auf dem Northside Festival in Århus. Von einem solchen Auftritt hatte sie als kleines Mädchen geträumt, aber niemals geglaubt, dass dieser Traum einmal wahr werden sollte. Und mehr als das: Ganz Skandinavien liebte sie. Als Schockrockerin, die sich auch mal in Kunstblut getaucht nackt fotografieren ließ und offen von der Renaissance des heidnischen Glaubens sprach, war sie zudem Dauergast auf allen Titelseiten und Star in vielen Gossip-Magazinen im Fernsehen. Auf Instagram hatte sie sechs Millionen Follower.

Wenigstens ein Hundertstel davon, nämlich annähernd sechzigtausend Menschen, standen jetzt auf der Festivalfläche vor ihr. Darüber spannte sich der klare Nachthimmel, der heute einen Stern vermisste, nämlich Hela, die mit ihrer vier Oktaven umfassenden Stimme zum zunächst fast symphonischen und getragenen Sound die ersten Zeilen des Liedes sang.

»Under blue moon I saw you, so soon you’ll take me up in your arms, too late to beg you or cancel it

though I know it must be the killing time, unwillingly mine …«

Plötzlich folgte eine Pause, in der alles still war. Sie dauerte fast fünf Sekunden. Auf der Bühne wurde es stockdunkel – um dann plötzlich in Laser- und Stroboskoplicht und begleitet von krachenden Gitarrenriffs regelrecht zu explodieren.

»Fate, up against your will, through the thick and thin …«

Jetzt rockte das Lied richtig los. Hela rannte auf den Mittelsteg, der sie direkt ins Publikum führte. Die Menschen drehten komplett durch und jubelten ihr zu. Die Blitzlichter und leuchtenden Displays von Zehntausenden Handys ließen es so aussehen, als spiegele sich der Sternenhimmel auf der Erde wider.

»He will wait until, you give yourself to him …«

Es knallte mehrfach wie Kanonensalut. Pyrotechnik erleuchtete den Himmel mit flammenden Fontänen.

»In starlit nights I saw you, so cruelly you kissed me.«

Alle Kameras waren auf Hela gerichtet. Die Videoleinwände zeigten ihr hundertfach vergrößertes Gesicht, die Lippen blutrot, die Augen mit weißen Kontaktlinsen versehen, vom Schweiß verschmiertes Mascara, die hellgrau gefärbten Haare mit dem kurzen Ponyschnitt unter der Spiegelkrone. Und schließlich riss sie die Hand hoch und deutete mit großer Geste auf den Nachthimmel, in dem in dieser warmen Juninacht ein gleißender Vollmond schien.

»The killing moon will come too soon.«

Es war grandios, und Hela spürte es. Es flutete durch ihre Adern und zerrte an ihren Nerven. Dieser Auftritt, dieser Song in dieser Vollmondnacht – es war perfekt, und sie hatte keinen Zweifel daran, dass dieser Song mit dieser Show überall auf der Welt funktionieren würde. Skandinavien würde zu klein werden für Hela. Die Welt wartete. Sie würde unsterblich werden.

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4.

Etwa eine Stunde später saßen Hela, Ole und die zwei neuen Typen von der Security, deren Namen Hela sich nicht merken konnte, in der Limousine, die in die Innenstadt rollte. Die Band hatte ihren eigenen Wagen und fuhr ihr zur Aftershowparty hinterher. Hela bestand darauf, dass die Jungs mitkamen, wenn anschließend gefeiert wurde. Am liebsten wäre sie in deren Wagen gefahren, aber Ole wollte das nicht.

Jetzt saß er neben ihr, die verspiegelte Sonnenbrille auf der Nasenspitze, grinste und zog an einem fingerdicken Joint. Schwerer, süßlicher Geruch füllte das Innere des Wagens aus. Ole wirkte auf Hela immer wie ein von oben bis unten tätowierter Wikinger, der sich versehentlich in einen schwarzen Designeranzug von Tiger of Sweden verirrt hatte – mit langem Bart, der bereits grau wurde. Neben Ole fühlte Hela sich wie ein kleines Mädchen – selbst in dem martialischen Lederoverall und den mit zahllosen Schnallen verzierten Schaftstiefeln, die sie nun trug.

Die Stylistin hatte Hela in der Garderobe nach dem Auftritt etwas aufgefrischt und ihr die Dinger in die Hand gedrückt. Ziemlich scharfe Teile von einem heißen, neuen Designer, der sich erhoffte, dass Hela in den Boots auf Selfies in sozialen Netzwerken oder in den echten Medien zu sehen sein würde. Leider waren die Stiefel brandneu, absolut nicht eingelaufen und insgesamt schrecklich unbequem.

Ole reichte den Joint an Hela weiter, die tief inhalierte und Sekunden später langsam einen dicken Schwall Rauch aus dem Mund entließ. Sie brauchte das zum Runterkommen.

Abgesehen vom Adrenalin des Auftritts in ihren Adern hatte sie sich eben total aufgeregt, weil sie diesen elenden Dreckskerl beim Einsteigen in der Menschenmenge entdeckt hatte – was nicht allzu schwer gewesen war. Ihr Stalker war recht auffällig. Torben, oder wie der hieß. Mit seinen fast weißen Haaren stach er hervor.

Okay, sie hatte jede Menge Fans, klar. Manche reisten ihr von Konzert zu Konzert hinterher und besorgten sich Karten für jede TV-Show, in der sie auftrat. Wenn man sich allein vorstellte, was das alles kostete! Total verrückt. Aber die allermeisten waren lieb und auf eine angenehme Art von ihrem Star besessen. Doch dieser Torben war anders. Unheimlich. Allein die Tatsache, dass Hela sich an seinen Namen erinnerte, war schon viel zu viel der Ehre für diesen widerlichen Typen. Er hatte in ihren Mülltonnen gekramt. Er hatte Fotos durch ihr Fenster gemacht. Er schrieb Briefe und tauchte überall dort auf, wo Hela auch war. Er übertrieb es total, und zwar auf eine Art und Weise, die bedrohlich wirkte.

Am liebsten hätte sie ihn sich ja persönlich gepackt und ihm gesagt, was sie von ihm hielt, um ihn dann von Ole und der Security ordentlich durchschütteln zu lassen, und ihm »Besorg dir ein Leben!« zugebrüllt, aber das ging natürlich nicht. Viel zu schnell konnte es geschehen, dass solche Typen einen auch noch anzeigten oder man dabei fotografiert wurde, und – schwups – schon war der Skandal da.

Deswegen hatte Ole vor ein paar Monaten ein paar alte Bekannte dazu motiviert, sich um Torben zu kümmern und ihm mit der Faust klarzumachen, dass er sich gefälligst von Hela fernhalten sollte. Das hatte bedingt funktioniert. Torben war wieder aufgetaucht wie eine Schmeißfliege. Ole hatte dann rechtliche Schritte eingeleitet. Der Typ hatte wirklich nicht mehr alle, nach dem, was seine Kumpel ihm berichtet hatten. Tatsächlich stalkte Torben alle möglichen Promis, darunter auch weitere, die Ole in seiner Agentur betreute – was bis dahin weder er noch die betroffenen Künstlerkollegen gewusst hatten. Und trotz einer einstweiligen Verfügung, die besagte, dass Torben Hela nicht näher als zweihundert Meter kommen durfte, war der Mistkerl eben dagestanden und hatte sie angeglotzt. Wie durchgeknallt musste man sein?

Hela seufzte, zog erneut am Joint und fühlte sich mit einem Mal tausend Kilo schwer, als wollten die Lederpolster sie in sich aufsaugen.

»Reg dich nicht auf«, sagte Ole in seinem tiefen Bass.

»Ich rege mich aber auf«, erwiderte Hela und nahm einen weiteren Zug.

»Wir machen den kleinen Wichser fertig. Er hat gegen seine Auflagen verstoßen.«

Hela gab ein genervtes Geräusch von sich. Sie spürte Oles Pranke auf dem Oberschenkel. Er tätschelte Hela und sagte, dass sie sich den Abend nicht von dem Idioten vermiesen lassen solle.

»Es war der Hammer«, fügte er hinzu, nahm die Hand wieder fort und verschickte irgendwelche Mails mit dem Handy, was er dauernd tat.

»Die Stiefel bringen mich um.« Hela spitzte vorsichtig die Lippen, um den roten Lacklippenstift nicht zu verwischen, und nahm noch einen Zug.

»Sehen aber heiß aus.«

»Fick dich, du musst sie ja nicht tragen«, erwiderte Hela im Ausatmen.

Ole lachte heiser, nahm den Blunt und reichte ihn an die Bodyguards weiter. Sie arbeiteten für eine große Agentur, die ihr Personal immer wieder wechselte, was Ole inzwischen nicht mehr passte: Selbst Security-Kräften konnte man nicht hundertprozentig trauen, und manche gaben gegen ein paar Tausender private Informationen oder exklusive Handybilder von Prominenten an die Medien weiter. Damit hatte es zwar noch keine Probleme gegeben. Allerdings war Hela noch nicht lange so berühmt wie jetzt, nicht mal seit einem Jahr, und da nun ausreichend Geld da war, wollte Ole in Kürze ein festes Sicherheitsteam anstellen.

Hela versank noch tiefer in den Polstern, schloss die Augen und dachte an die Aftershow, zu der sie unterwegs waren. Ole hatte dafür das Train in Århus gebucht, einen hippen Klub, und zwei angesagte Goth- und Electro-DJs sowie ungefähr fünfhundert superwichtige Leute eingeladen, auf die Hela absolut keinen Bock hatte. Aber das gehörte eben dazu. Journalisten, Blogger, Produzenten, Booker, Plattenfirmenleute, Modetypen …

Hela gähnte und streckte sich. Leder quietschte auf Leder. »Ich bin total im Eimer«, sagte sie. Jedes Mal fiel sie nach Gigs in ein Kreislaufloch, und das Marihuana verstärkte das Gefühl. Es war eine blöde Idee gewesen. Sie hätte lieber Speed einwerfen sollen.

»Geht gleich wieder, du kennst das doch«, erwiderte Ole, ohne den Blick vom Handy zu heben. Er tippte mit einem seiner zahllosen Silberringe drauf, was ein klickendes Geräusch gab. »Die Marilyn-Manson-Comeback-Tour«, sagte er grinsend. »Sieht gut aus für uns. Wir sind im Vorprogramm.«

Tja, dachte Hela, in Skandinavien kannst du die Queen sein, aber in den Staaten kennt dich noch kein Mensch. Und wenn du wirklich groß sein willst, musst du es dort und in Japan schaffen. Ole arbeitete seit Wochen an dem Projekt Übersee. Und Marilyn Manson, wow, das wäre schon was. Zwar war der Schockrocker in den USA nicht mehr so angesagt wie noch vor einigen Jahren, aber er wollte es noch einmal wissen und hatte angeblich ein extrem vielversprechendes neues Album aufgenommen, das bald veröffentlicht werden würde.

»Cool«, sagte Hela und blickte aus dem Fenster, vorbei an den schweigsamen Gorillas mit dem Knopf im Ohr.

Wie hießen die noch? Nein, sie konnte sich beim besten Willen nicht an die Namen erinnern. Vielleicht hatte Ole es ihr auch nie gesagt.

Vor dem Fenster zog die Nacht vorbei. Straßenlampen, Schilder, Autos, Leuchtreklame, in orangefarbenes Licht getauchte Kreuzungen, einzelne Fußgänger. Dann verlangsamte der Wagen das Tempo. Draußen wurde es heller.

Hela lehnte sich wieder zurück und nahm einen letzten Zug, bevor sie aus der Handtasche einen Parfümflakon kramte, sich damit einsprühte und ein Pfefferminzbonbon einwarf, um den süßlichen Gras-Geruch zu übertünchen. Ole reichte ihr die übergroße Sonnenbrille, die sie sofort aufsetzte.

Der Wagen stoppte. Die Gorillas öffneten die Tür. Ole stieg aus und wartete auf dem roten Teppich. Grelle Scheinwerfer und Blitzlichtgewitter erfüllten das Innere des Fahrgastraums. Hela atmete tief ein. Dann setzte sie ein breites Lächeln auf und bemühte sich, so elegant wie möglich auszusteigen und dabei nach Möglichkeit keinen Marketing-Super-GAU zu verursachen und mit den blöden Plateaustiefeln umzuknicken.

Nun war sie wieder die Göttin und nicht mehr das kleine Mädchen neben Ole. Ihr Lederoverall glänzte wie gelackt. Sie winkte nach links, winkte nach rechts. Hunderte Menschen schrien ihren Namen. Einige mit professionellen Kameras und Fotoapparaten, andere mit Handys, Autogrammbildern von Hela und Filzschreibern in der Hand.

Aus dem Klub drang das Dröhnen der Bässe. Sie dachte daran, dass sie jetzt am liebsten ganz alleine im Hotel wäre, unter der Dusche und dann im Bett. Sie merkte kurz auf, als sie meinte, ein Gesicht in der Fotografenmenge erkannt zu haben. War das … Nein – oder doch? War das … er? Torben? Oder …

Die Blitzlichter ließen Hela fast erblinden. Im nächsten Moment sah sie trotz Sonnenbrille nichts mehr.

»Beeilt euch, Leute!«, rief sie grinsend den Fans und Fotografen zu und nahm eine letzte Pose ein. »Ich kann nicht mehr stehen! Die Stiefel bringen mich um!« Hela lachte, warf den Kopf in den Nacken. Eine geübte Pose. Sie wusste, wie gut sie so aussah. Ihre Zähne waren weiß wie Schnee.

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5.

Es war irgendwann zwischen Tag und Nacht, als Hela durch die Suite im Radisson Blu Scandinavia ging, oder besser: schlafwandelte, denn sie war unendlich müde. Hela hatte Ole nach etwa einer Stunde gesagt, dass sie jetzt schlafen gehen wolle. Ole hatte das nicht gepasst, die Aftershowparty war schließlich noch in vollem Gang, doch natürlich zitierte er einen der Bodyguards herbei, der dafür sorgte, dass Hela zum Hotel etwas außerhalb des Zentrums gefahren wurde. Der Mann war jetzt wahrscheinlich im Zimmer nebenan und hatte sich aufs Ohr gehauen oder würde es noch tun oder auch nicht. Hela war das vollkommen egal.

Sie musste jetzt schlafen. Morgen würde es wieder ein strammes Programm für sie geben. Sie putzte sich die Zähne und ging dann in der Suite auf und ab und warf schließlich zwei Schlaftabletten ein. Sie brauchte das Zeug, obwohl sie sich längst schwer wie ein Stein fühlte, aber sie wusste: Wenn sie sich hinlegte, würde das Karussell in ihrem Kopf losgehen und die zahllosen Eindrücke des Tages würden Samba tanzen. Schließlich schlüpfte sie aus dem Bademantel und zog ihr knielanges Schlafshirt an – da klopfte es an der Tür.

Hela gab einen langen Seufzer von sich. Wer wollte jetzt noch etwas von ihr? War das Ole oder eine Assistentin, die wegen des morgigen Terminkalenders etwas mit ihr besprechen wollte? Hela ging zur Tür, ohne sie zu öffnen.

»Ja?«, fragte sie.

»Hier ist Stennalf. Alles in Ordnung?«

»Stennalf?« Hela runzelte die Stirn.

»Ich passe auf dich auf, Hela.«

»Oh, okay«, sagte Hela. Es musste einer der Bodyguards sein. »Alles okay bei mir, keine Sorge«, fügte sie an.

»Ich muss das Zimmer untersuchen, bevor du schlafen gehst.«

Hela stöhnte genervt. »Das hast du doch eben schon.«

»Nein, das war mein Partner, der dich hergefahren hat. Ich muss noch einmal mit dem Detektor durchgehen. Das konnte er nicht, weil ich das Gerät habe.«

»Hä?«

»Neue Vorschrift. Elektrodetektor. Ich habe es vor deinem Auftritt schon untersucht. Da war alles sauber. Aber in der Zwischenzeit könnten Kameras oder Mikros in dem Zimmer versteckt worden sein.«

Das war der Fluch des Berühmtseins: Irgendwelche Leute konnten tatsächlich auf die Idee kommen, Prominente heimlich zu filmen und damit zu erpressen, dass sie alles ins Internet stellen würden.

»Ja, mein Gott …«, seufzte sie. Auch das würde sie noch über sich ergehen lassen und sich dann so schnell wie möglich ins Bett legen. Also öffnete sie die Tür.

Stennalf stand vor ihr. Sie versuchte, sich an sein Gesicht zu erinnern, konnte es aber nicht einmal sehen, denn es war unter der Kapuze eines Hoodies versteckt. Außerdem trug er eine dunkle Sonnenbrille. War das überhaupt einer von ihren Leuten? Warum zog der sich eine Kapuze über? Hinter ihm stand etwas im Flur.

»Tut mir leid«, sagte er. »Es geht ganz schnell.«

Etwas stach Hela in die Hüfte. Sie zuckte, machte einen Schritt zur Seite und fasste sich an die Stelle.

»Was …«, stammelte sie. Doch dann wurde ihr eine Hand auf Mund und Nase gepresst.

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6.

… und in dem T-Shirt und abgeschminkt, fand der Mann, sah Hela aus wie ein blasses junges Mädchen. Sie war leicht wie eine Feder.

Er fing sie auf, hob sie an und legte ihren Körper in den Behälter des Handwagens für die Hotelwäsche. Er schloss die Tür der Suite mit einem leisen Klicken, fasste den Wagen am Handgriff und schob ihn über den Flur, der mit seinem blau gemusterten Teppich an einen Fluss erinnerte.

Ich kann übers Wasser gehen, dachte der Mann, schmunzelte und bog ab, um den Fahrstuhl zum Lieferantenausgang zu nehmen. Er war randvoll mit Adrenalin, denn es war längst noch nicht ausgestanden. Er achtete weiterhin darauf, den Kopf unter der Kapuze gesenkt zu halten, sodass keine Überwachungskamera sein Gesicht aufnehmen konnte, das er eben nach dem Verlassen der Hotellobby zusätzlich hinter einem über Nase und Mund gebundenen Tuch und einer großen Sonnenbrille versteckt hatte.

Er stoppte am Fahrstuhl und drückte den Anforderungsknopf mit dem Zeigefinger. Er trug Handschuhe aus Leder. Die Fahrstuhltür öffnete sich mit einem leisen Rumpeln. Der Mann schob den Wäschewagen hinein, drückte den Knopf für das Kellergeschoss und wartete. Als der Fahrstuhl herabfuhr, spürte er, wie die Fliehkraft sein Blut nach oben drückte und ihm am ganzen Körper der Schweiß in Strömen über die Haut floss.

Im Kellergeschoss schob er den Wagen wiederum über einen sehr langen Flur. Dieses Mal lag kein Teppich auf dem Boden. Das Licht der Neonleuchten unter der Decke war nicht angenehm, dafür zweckmäßig und hell. Er konnte gut durch die Sonnenbrille sehen. Er hörte seinen eigenen Atem. Seine Schritte. Das leise Rattern der Räder auf dem glatten, grauen Estrich.

Vor einer Tür kam er zum Stehen. Daran befand sich in Griffhöhe ein Schlitz, um eine Schlüsselkarte einzuführen. Der Mann hatte aber keine solche Karte. Er fasste nach dem Griff, drückte ihn herab, ruckte daran. Die Tür bewegte sich kein Stück. »Fuck«, zischte er leise.

Aber hatte er eben in der Nähe des Fahrstuhls nicht einen anderen Ausgang gesehen – eine Tür mit einem leuchtenden »Exit«-Schild darüber? Der Mann wendete den Wäschewagen und ging dorthin zurück. Über der Tür war tatsächlich ein Schild angebracht. Es stand »Exit« darüber, und auch ein Symbol wies auf einen Notausgang hin, der nicht verschlossen war.

Der Mann verließ das Hotel und stand im Halbdunkel der Straßenlaternen. Er erkannte die Lieferantenzufahrt, den Hotelparkplatz und die überdachte Zuwegung, die zum Haupteingang führte. Er brachte die Örtlichkeiten mit dem Luftbild von Google Maps überein, das er im Gedächtnis gespeichert hatte.

Schließlich war ihm klar, wo er sich befand, und er setzte sich in Bewegung. Die Sonnenbrille behielt er auf – auch hier draußen konnte es Überwachungskameras geben, oder es konnte ihm auf dem Weg zum Auto jemand über den Weg laufen. Doch er hatte Glück: Alles war menschenleer.

Schließlich erreichte er das in einer Seitengasse abgestellte Fahrzeug, ein gemieteter Lieferwagen. Er öffnete die Hecktüren, zog eine Rampe heraus und fuhr den Wäschewagen hinein. Im Transportraum befestigte er das Gestell mit Spanngurten. Kurz darauf saß er am Steuer. Auch hier nahm er die Sonnenbrille nicht ab, das über Mund und Nase gebundene Tuch ebenfalls nicht. Es war nicht auszuschließen, dass er unterwegs gefilmt werden könnte.

Der Mann fuhr aus der Stadt hinaus und überlegte die ganze Zeit, wie noch gleich dieses verdammte Lied hieß. Es war etwas aus den Achtzigern. An einer Kreuzung kurz vor der Autobahnauffahrt fiel es ihm endlich ein. Ein One-Hit-Wonder, und der Titel hieß: »Sunglasses at night«. Darin hieß es: »Ich trage meine Sonnenbrille bei Nacht, damit ich meine Visionen im Auge behalten kann.«

Ja, dachte der Mann, genauso war es. Ganz genau so. Alles um sich herum ausblenden, um den Plan im Auge zu behalten. Er fuhr auf die Autobahn.

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7.

Es gab Tage, an denen Torben einfach alles hasste. Zum Beispiel Tage wie heute. Zu viel Stress, zu viele schlimme Gedanken, zu viel Mobbing – zu viel alles.

Er balancierte das Tablett mit dem Essen und den Medikamenten durch den überheizten Flur, in dem es nach Schweiß und Urin roch, hörte aus dem einen Zimmer ein Stöhnen, aus dem nächsten ein Röcheln und aus dem übernächsten einen bis zur Schmerzgrenze aufgedrehten Fernseher. Ihm begegnete Frau Sundstrom in ihrer lavendelfarbenen Strickjacke. Sie blieb auf der Stelle stehen und starrte ihn an, als sei er der Teufel höchstpersönlich.

»Guten Morgen, Frau Sundstrom«, sagte Torben und rang sich ein Lächeln ab. »Na, haben Sie sich wieder verlaufen? Soll ich Ihnen helfen?«

Frau Sundstrom musterte Torben aus wässrigen Augen. Sie hatte einen leichten Buckel und verwechselte ihn manchmal mit einem Schlagersänger aus den Fünfzigerjahren, eine Art Dean Martin aus Norwegen, für den sie immer noch schwärmte. Da schien es keine Rolle zu spielen, dass Torben die weiße Pflegerkluft wie alle anderen trug und wahrlich nichts mit einem Crooner gemein hatte. Er war dürr, hatte Aknenarben, trotz seiner erst fünfundzwanzig Jahre schlohweißes Haar und trug eine dicke Brille.

»Können Sie mir wohl sagen, wie ich nach Bergen komme?«, fragte Frau Sundstrom.

Bergen in Norwegen lag selbstverständlich einige Hundert Kilometer weit vom Haus Feierabend in Århus entfernt. Frau Sundstorm wollte ständig dorthin. Torben kannte den Grund nicht – irgendetwas in ihrem Leben musste mit Bergen zusammenhängen.

»Einfach den Flur runter und dann die dritte Tür rechts, Frau Sundstrom«, sagte er. Dort war ihr Zimmer.

Die alte Dame nickte und ging weiter. Vermutlich hatte sie im nächsten Moment vergessen, was Torben ihr gesagt hatte.

Torben ging ebenfalls weiter und stoppte vor Zimmer 47. Er holte tief Luft, sagte zu sich selbst, dass er es nicht ändern könne, dass es zum Job gehöre, und redete sich ein, dass es kein Mobbing der Pflegeleitung wäre, sondern Zufall, dass es immer wieder ihn traf – wobei es solche Zufälle im Dienstplan eigentlich nicht gab. Allein das Wort »Plan« sprach gegen einen Zufall.

Torben drückte den Türgriff mit dem Ellbogen herab und betrat Rainar Johnsons Zimmer, in dem es noch heißer war als auf dem Flur. Nicht nur war die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht, auch die Morgensonne knallte mit voller Wucht auf das Fenster.

Johnson saß wie immer in seinem Sessel und blickte vor die Wand. Er war über neunzig Jahre alt und wahrscheinlich den allergrößten Teil seines Lebens bösartig gewesen – eine Eigenschaft, die im Alter eher zu- als abnahm. Als Torben ihn grüßte, ruckte Johnsons Kopf sofort herum.

»Schon wieder schicken sie mir die blinde Albino-Missgeburt«, knurrte er.

»Ja.« Torben stellte das Tablett mit dem Essen und den Pillendosen auf einem Teewagen ab. »Aber das lässt sich nun mal nicht ändern, Herr Johnson.«

»Mit solchen wie dir hätten wir kurzen Prozess gemacht«, murmelte Johnson und verfolgte jede von Torbens Bewegungen mit Argusaugen. Der Alte war einer von sechstausend Dänen gewesen, die sich im Zweiten Weltkrieg im Frikorps Danmark der Division Wiking freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatten. Er hatte in Russland gekämpft, war Offizier gewesen und nach dem Krieg wegen Landesverrats zu acht Jahren Haft verurteilt worden. In den Neunzigerjahren stand er erneut vor Gericht, als es um die Aufklärung von Massakern in der Ukraine und an Juden ging.

»Missgeburt«, zischte Johnson Torben zu.

Torben schluckte und schob den Wagen mit dem Essen an Johnsons Sessel. Er wusste, dass er solche Beschimpfungen nicht an sich heranlassen durfte. Das hatte er sein Leben lang gelernt, denn schon in der Schule hatten sie sich über seine Haare – eine Pigmentstörung war die Ursache – lustig gemacht.

»Sie müssen Ihre Tabletten nehmen, Herr Johnson. Bitte mit dem Essen.«

Johnsons knöcherne Hand schoss nach vorn und packte nach Torbens Unterarm. »Wenn ich nicht so alt wäre«, fauchte er, »würde ich aufstehen und dir das Genick brechen. Unwertes Leben. Schau dich an. Verhunztes Erbgut. Weg mit dir.«

»Ihre Tabletten, und lassen Sie bitte …«

»In Russland hätten wir zehn Stück wie dich vor dem Frühstück erschossen und darüber gelacht.«

Torben löste sich aus dem Griff. Er knirschte mit den Zähnen und beugte sich zu Johnson herab, roch seinen sauren Gestank und den schlechten Atem. Er hatte die Nase voll von dem Kerl. Ein für alle Mal. Bisher hatte er sich immer zusammengerissen, aber jetzt …

Jetzt flüsterte er ihm ins Ohr: »Wenn du heute schläfst, komme ich zu dir und drücke dir das Kopfkissen aufs Gesicht, bis du nicht mehr atmest.«

Johnson schnappte nach Luft. Torben stellte sich wieder aufrecht hin. So schnell wie möglich verließ er das Zimmer, wobei er Johnsons Geschrei ignorierte. Auf dem Flur lief er fast in zwei Kolleginnen, die miteinander kicherten, als sie Torben aus dem mit dem Nazi besetzten, berüchtigten Zimmer 47 kommen sahen.

»Tatsch dich selber an und nicht mich, Torben«, sagte Ulla, die Dickere von beiden, und lachte.

Torben presste die Lippen zusammen. Er atmete schwer. Mit schnellen Schritten marschierte er zur Teeküche und schloss sich in der Herrentoilette ein.

Tatsch dich selber an, Torben.

Ja, dachte er. Vielleicht. Vielleicht half das, um sich zu beruhigen und das alles auszuhalten. Diesen ganzen Wahnsinn. Er musste sich erleichtern und an etwas anderes denken. Es half ja sonst auch immer.

Er setzte sich auf die Klobrille und nahm das Smartphone aus der Hosentasche. Er rief die Bildergalerie auf – und spürte, wie er sich unmittelbar entspannte. Mit Wischbewegungen glitt er durch die Galerie und betrachtete die Bilder, die er am Abend zuvor von Hela gemacht hatte. Hela, die ihn nicht an sich heranlassen wollte. Aber davon hatte er sich nicht beeindrucken lassen und war ihr gestern nahegekommen. Wirklich sehr nahe.

Er stöhnte leise, lehnte sich zurück und stieß mit dem Rücken an den Spülkasten. Mit einer weiteren Wischbewegung vergrößerte er die Aufnahme, auf der Helas Brüste am besten zur Geltung kamen. Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie sie sich anfühlten. Wie sie schmeckten. Hela, dachte er. Sie hatte ausgesehen wie eine Göttin – seine ganz persönliche.

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8.

Heute

Madsen und Tjark standen schweigend an der Kirche und beobachteten das Treiben. Ein Mann trat zu ihnen. Er trug einen weit geschnittenen hellen Leinenanzug und dazu ein hellblaues Hemd, das der Farbe seiner Augen glich. Sein Gesicht war schmal und drückte eine Besorgtheit aus, die gut zur Körperhaltung passte, als lastete ihm ein unsichtbares Gewicht auf den Schultern. Mit einer routinierten Geste strich er sich durchs Haar, das er wie Bryan Ferry frisiert trug. In den Achtzigern hätte man es als Popperlocke bezeichnet. Die andere Hand reichte er Tjark.

»Niels, Tjark. Tjark, Niels«, sagte Madsen und stellte damit ihren Chef vor.

»Tja, da haben wir Amtshilfe, ohne sie beantragt zu haben, hm?« Niels lächelte freundlich.

Madsen hatte ihn angerufen und gefragt, ob es okay sei, wenn sie Tjark mitbringe. Ihr Chef hatte nichts dagegen gehabt, solange Tjark sich für die Dokumentation in eine Liste eintrage, falls er das Kirchengelände betrat. Niels’ Englisch war ebenso ausgezeichnet wie das von Madsen.

Er ergänzte: »Schön, Sie kennenzulernen, Tjark. Sie sind nicht unerheblich an einem der größten Ermittlungserfolge meiner Abteilung beteiligt gewesen, wenngleich im Hintergrund.«

Niels spielte auf die Geschehnisse vom letzten Winter an, die unmittelbar mit dem Klären des Todes seiner Mutter zusammenhingen.

»Hallo, Niels«, sagte Tjark nur.

Niels deutete auf die Leiche, neben der ein Grüppchen Polizisten stand. Es wurden Fotos und Videos gemacht. Auch das Rechtsmediziner-Team war soeben eingetroffen.

Niels fuhr fort: »Wir aus Århus sind hier eigentlich nicht zuständig. Die Kollegen waren jedoch so freundlich, uns hinzuzuholen, weil sie unsere Meinung hören wollen, da wir den Mette-Fall bearbeiten und alles auf denselben Täter hindeutet. Mette Slettemark …«

»Ich habe es Tjark erklärt«, unterbrach ihn Madsen.

Niels fragte: »Was meinen Sie dazu?«

»Sehr freundlich von Ihren Kollegen, Sie hinzuzubitten.«

»Das meine ich nicht. Sie haben in Deutschland einmal einen Fall mit einem Serientäter an der Küste bearbeitet. Sie beschreiben in Ihrem Buch einen weiteren – ich glaube, es ging um einen Todesengel? Eine Pflegerin, die eine Reihe von Patienten im Krankenhaus getötet hat?«

Niels war gut informiert. Oder von Madsen gut unterrichtet worden. Tjarks True-Crime-Buch mit dem Titel »Im Abgrund« über reale Fälle war vor einigen Jahren ein Bestseller gewesen. Und er hatte vor nicht allzu langer Zeit tatsächlich mit einem aufsehenerregenden Fall zu tun gehabt – mit einem Serienmörder, der seine Opfer in den Dünen an der ostfriesischen Nordseeküste verscharrte.

»Ja«, bestätigte Tjark. »Aber etwas wie das hier … Zudem ein Star. Ein gefundenes Fressen für die Medien.«

Tjark machte einer Geste zur Hauptstraße. Dort stand ein Rudel von Journalisten und Schaulustigen vor einer Gruppe uniformierter Polizisten, die den Tatort abschirmten. Objektive und TV-Kameras richteten sich auf Kirche und Friedhof, obwohl die Polizei vor der Leiche natürlich einen Sichtschutz aufgespannt hatte. Tjark wusste, dass sich auch Objektive der Polizei auf die Reporter und Gaffer richten würden. Vielleicht war einer unter ihnen, der beobachten wollte, wie dumm sich die Polizei anstellte und wie geifernd sich die Medien auf alles stürzten – weil er der Täter war und die Aufmerksamkeit genoss.

Madsen schüttelte kaum merklich den Kopf. »Noch wissen sie nicht, wer das Opfer ist. Sie werden ausflippen, wenn sie erfahren, dass es sich um Hela handelt. Ganz Skandinavien wird durchdrehen. Erst ein Sportstar, jetzt ein Popstar.«

Niels seufzte und massierte sich die Nasenwurzel. »Ich sehe schon die Schlagzeilen. Hela gilt als eine weibliche Marilyn Sowieso …«

»Manson«, ergänzte Madsen.

»Genau. Marilyn Manson, dieser Teufelsrocker. Meine Nichten sind ein Fan von dem – und von Hela. Und genau in diese Richtung wird uns die Presse drängen: Satanismus, Ritualmord.« Niels rieb sich besorgt über den Mund und knetete die Lippen.

Tjark nickte. »Runen und Edda klingen für mich ebenfalls ziemlich nach Ritualmord.«

»Keine Frage«, erwiderte Niels. »Aber Sie können sich vorstellen, was die Medien daraus machen werden. Sie werden uns rösten.«

»Das mit dieser Art Krone oder Geweih hat er auch bei dem anderen Opfer gemacht?«

Madsen antwortete: »Ja. Alles scheint identisch zu sein. Wir haben über die Inszenierung der Toten ein Gutachten bei der Uni Århus anfertigen lassen. Die Wissenschaftler haben erklärt, dass mit dem Inszenieren der Opfer möglicherweise Bezug auf Darstellungen von Freya genommen werden könnte, der großen Erdgöttin aus der nordischen Mythologie. Freya hat ihren Bruder geheiratet, Freyr. Er ist der Gott der Fruchtbarkeit und der Natur. Er wird oft mit einem Hirschgeweih dargestellt. Was wiederum Bezug auf Cernunnos nimmt, den gehörnten Gott, den keltischen Herrn der Tiere und der Natur. Es gibt eine sehr bekannte Darstellung auf dem Kessel von Gundestrup, der hier in Dänemark gefunden wurde. Er stammt aus der La-Tène-Zeit, fünftes Jahrhundert vor Christus. Die Gottheit wird oft in sich gekehrt und meditierend gezeigt – wie ein Buddha. Das passt zu der knienden Haltung der Opfer. Ich habe Massen von Informationen darüber und Abbildungen auf meiner Cloud gespeichert.«

»Cloud?«, fragte Tjark.

»Cloud«, wiederholte Madsen. »Internet. Da speichere ich meine Notizen ab.«

»Ah.« Tjark hatte keine Cloud. Er vertraute auf handschriftliche Notizen und seine Erinnerung. Tjark deutete mit dem Kopf in Richtung Leiche. »Sie wirkt meditierend. Wie im Gebet.«

»In sich gekehrt wie Freyr«, wiederholte Madsen.

»Ja.« Niels nickte. »Und Hela heißt mit bürgerlichem Namen Freja.«

»Könnte das eine Anspielung sein? Freya und Freyr und Freja?«, fragte Tjark.

Madsen glaubte das offenbar nicht. »Eher ein Zufall, nehme ich an. Der Name ist in Dänemark sehr gebräuchlich. Bei Mette Slettemark gibt es keinen namentlichen Zusammenhang zu mythologischen Figuren. Trotzdem ist der Modus der Tat identisch. Hätte der Name also im Fall von Hela eine Rolle gespielt, wäre es sicherlich auch bei Mette der Fall gewesen.«

Niels sagte: »Im Mette-Slettemark-Fall hatten wir in Bezug auf die Medien Glück, weil nur das mit den Runen durchgesickert ist. Es waren keine Reporter am Fundort. Aber hier haben wir die volle Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Die Leute haben aus der Distanz Bilder von der Toten gemacht, bevor wir den Sichtschutz aufbauen konnten. Die beiden Streifenbeamten, die als Erste hier erschienen waren, konnten das nicht verhindern. Die Menschen werden jedes Detail in den sozialen Medien diskutieren und Fotos und Filme hochladen, die uns bei der Arbeit zeigen. Sobald öffentlich wird, dass es Hela ist, wird das alles zu einem fürchterlichen Albtraum für uns …«

Madsen massierte sich den Nacken.

Tjark beneidete die beiden nicht um diesen Fall. Wenn dergleichen in Deutschland geschehen würde – ein Promi auf diese Art und Weise hingerichtet –, nein, besser nicht darüber nachdenken.

Er fragte Madsen: »Du hast gesagt, er hat Mette ausbluten lassen?«

»Ja. Mette hatte Einschnitte an allen Hauptgefäßen – an den Beinen, am Hals und an den Handgelenken. Er hat erst nach dem Tod die Adern geöffnet, sagen die Rechtsmediziner – also: nachdem er sie erwürgt hatte. Und es ist klar, dass er das woanders getan haben muss, denn ansonsten wäre am Fundort alles vollgespritzt gewesen. Wir hätten eine große Blutlache gefunden. Aber da war gar nichts. Genau wie hier. Er bereitet sie vor, bringt sie an einen ausgewählten Ort und setzt sie in Positur.«

»Warum tut er das alles?«

»Wissen wir nicht. Auch nicht, was die Orte zu bedeuten haben. Der Fundort von Mette war ein Feld auf Jütland, ganz am anderen Ende und weit oben im Norden. Und was diese Kirche zu bedeuten hat …« Madsen zuckte mit den Achseln und warf Niels einen vorsichtigen Blick zu. »Ein ritueller Hintergrund, nehme ich an?«

»Das Blut könnte er für rituelle Handlungen benötigen«, überlegte Tjark laut.

»Darüber haben wir schon im Fall Mette Slettemark nachgedacht«, erwiderte Madsen.

Niels schaltete sich wieder ein: »Vielleicht steht er auf Blut. Vielleicht hat es auch rein praktische Gründe. Die Rechtsmedizin meint, dass die Runen wahrscheinlich an allen Körperstellen gleich gut erkennbar sein sollten. Es lasse sich besser arbeiten, wenn sich kein Tropfen Blut mehr im Körper befinde.«

»Also«, Tjark kratzte sich an der Stirn, »er lässt sie erst ausbluten und setzt dann die Schnitte für die Runen?«

»Vielleicht.«

»Weil sie sich zum Beispiel vor Schmerzen winden oder sich zur Wehr setzen würde, was seine Arbeit ruinieren würde?«

»Wer weiß«, sagte Niels. »Unsere Rechtsmediziner schließen andererseits nicht aus, dass der Täter Mette die Zeichen in die Haut geschnitten haben könnte, während sie noch lebte. Laut toxikologischem Befund war sie narkotisiert. Es wurde ein Mittel eingesetzt, das sie zwar teilweise betäubte, aber bei Bewusstsein hielt. In dem Fall verspürte sie die Schmerzen nicht, müsste aber sehr genau mitbekommen haben, was mit ihr geschah.«

Scheiße, dachte Tjark. Was für ein abartiger Typ. Ihm fiel etwas auf. »Ohne dass Blut im Körper war, habt ihr einen toxikologischen Befund bekommen?«

»Es bleibt ein gewisser Restbestand an Blut im Körper. Ich will gar nicht wissen, wie unsere Leute es aus den Adern und Organen gepresst haben.«

Tjark dachte nach. »Wenn eure Rechtsmediziner das annehmen, würde es bedeuten, der Täter wollte, dass das Opfer alles mitbekommt, aber nicht, dass es dabei zappelt, sich wehrt und seine Arbeit verdirbt. Deswegen würde er es narkotisiert haben.«

Madsen nickte. Niels ebenfalls.

»Und er ließ es ausbluten, weil …«

»Wissen wir nicht«, meinte Madsen.

Niels erklärte: »Die Mediziner hatten es schwer, weil die Leiche blutleer war und komplett gereinigt. Es ließ sich einfach nicht sicher feststellen, ob er die Schnitte am lebenden Körper gesetzt hat. Nach meiner Meinung hat er das aber getan.«

»Warum?«, fragte Tjark.

»Reine Gefühlssache. Ich halte ihn für einen sadistischen Scheißkerl. In lebendiges Fleisch zu schneiden macht ihm mehr Spaß, als totes Fleisch zu benutzen.«