Dünenfluch - Sven Koch - E-Book
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Sven Koch

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Beschreibung

Der 5. Fall für das ostfriesische Ermittlerteam Femke Folkmer und Tjark Wolf: Sven Koch fasziniert mit einer Rachegeschichte um die kollektive Schuld einer Dorfgemeinschaft an der ostfriesischen Nordseeküste, um Fremdenfeindlichkeit und die persönlichen Geheimnisse Einzelner, scheinbar bestens bekannter Mitmenschen. Ein Kriminalfall vor dem Hintergrund deutscher Zeitgeschichte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und natürlich vor großartiger Nordseeküsten-Kulisse. Ein Pferderipper geht um in Werlesiel, dem kleinen Fischer- und Touristenort an der ostfriesischen Nordseeküste. Als auch Menschen sterben, zeigt sich, dass die Dorfbewohner ein schreckliches Geheimnis hüten. Ein Geheimnis, das die LKA-Sonderabteilung SKO rund um Tjark Wolf und Femke Folkmer lösen muss. Die Ereignisse führen in die Zeit zurück, als der Eiserne Vorhang fiel und - wie heute wieder - Flüchtlinge nach Deutschland strömten. Wo sie nicht immer willkommen waren… Alle Nordsee-Krimis des ostfriesischen Ermittler-Duos "Femke Folkmer & Tjark Wolf Reihe" von Sven Koch auf einen Blick: Band 1 - Dünengrab Band 2 - Dünentod Band 3 - Dünenkiller Band 4 - Dünenfeuer Band 5 - Dünenfluch Band 6 - Dünenblut

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Seitenzahl: 358

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Sven Koch

Dünenfluch

Kriminalroman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel
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1.

Enno Berkens spürte sofort, dass an diesem Morgen etwas anders war als sonst. Gerade ging die Sonne auf. Der Himmel färbte sich violett und explodierte in Rottönen. Das warme Licht ergoss sich im flachen Winkel über das Land und warf die Schatten der Zaunpfähle wie in einem surrealistischen Bild von Salvador Dalí auf die Weide, in deren Gras der Tau glitzerte. Er sah zu den Pferden. Wenn es tagsüber heiß war wie am Ende dieses mörderischen Septembers, grasten die Tiere draußen, auch über Nacht. Für gewöhnlich standen sie träge auf der Weide, schlugen sich den Bauch voll und spitzten allenfalls die Ohren, wenn Berkens auf seinem quietschenden Fahrrad um die Ecke bog, um das Wittmunder Echo auszutragen, die Werlesieler Heimatzeitung.

Doch heute war es anders. Heute lagen sie alle seitlich flach auf dem Boden. Pferde schliefen manchmal so, aber gewiss nicht alle gleichzeitig und überall auf der Weide verteilt.

Berkens war Rentner und trug das Echo in erster Linie deswegen aus, weil ihm langweilig war. Außerdem hielt ihn das Radeln fit, und ein paar Euro nebenbei konnten nicht schaden – die Flachmänner im Supermarkt und am Hafenkiosk gab es nicht umsonst. Auf der Titelseite der Zeitung war ein Luftbild des Maisfeldlabyrinths an der Festscheune abgebildet. Wahrscheinlich hatte es Carsten Harm, dem der »Dünenhof« gehörte, vom Gleitschirm aus mit seiner Profiausrüstung geschossen. Das Foto erinnerte an Aufnahmen dieser Kornfeldkreise, die angeblich von Außerirdischen angelegt wurden. Nun, beim Labyrinth war das eindeutig nicht der Fall, denn das fräste Ernst Hespe jedes Jahr in den Futtermais und kassierte bei den Touristen dafür ab, dass sie kichernd wie die Idioten in dem zehn Hektar großen Irrgarten umherliefen und dabei immer weniger kicherten, wenn sie nach einer halben Stunde immer noch keinen Ausweg gefunden hatten. Die Werlesieler selbst waren da routinierter, und es wurde jedes Jahr beim Scheunenfest darauf gewettet, wer wohl den traditionellen Maisfeldlauf gewinnen würde. Allerdings, und davon handelte der zum Bild gehörende Artikel, war unklar, ob das Scheunenfest nächste Woche auch tatsächlich stattfinden konnte.

Berkens nahm eine Hand vom Lenker, um in Richtung der Pferde auf zwei Fingern zu pfeifen. Aber es regte sich nichts. Er ließ einen Ruf folgen. Nichts geschah. Also verlangsamte er sein Tempo, runzelte die Stirn und kam schließlich zum Stehen. Er balancierte das Fahrrad mit dem Zeitungsstapel auf dem Gepäckträger so, dass er es auf die Seite legen konnte. Dann machte er einen großen Schritt über den Graben am Rand der Weide, wo das Gras so hoch stand, dass es ihm bis zu den Knien reichte. Seine Hände umfassten einen Balken des von Wind und Wetter grau gewordenen Zauns.

Berkens rief »Ho!« und klatschte in die Hände. Nichts geschah. Jetzt erst sah er, dass die Pferde in dunklen Lachen lagen und Fliegenschwärme über ihnen schwirrten. Das Gras um die Körper herum glitzerte nicht vom Tau. Es sah vielmehr aus, als sei dort eimerweise rote Farbe verschüttet worden. Doch es war keine rote Farbe. Es war Blut.

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2.

Und so beginnt es.

Es kriecht wie ein Nebel über das Meer, durch die Dünen und in die Stadt. Es zieht durch die Ritzen unter den Türen und an den Fenstern in eure Häuser, und ihr inhaliert es tief, wenn ihr erschreckt aus dem Alptraum aufwacht.

Das Grauen. Die Angst. Den Terror.

Mit euren Tieren fange ich an. Ich habe sie geschlachtet und in ihrem Blut gebadet. Ihr werdet die Nächsten sein.

Einer.

Nach.

Dem.

Anderen.

Ihr seid die Verfluchten. Ich weiß, was ihr getan habt, und ihr wisst es auch. Es ist lange her, ja, aber nichts ist vergessen, und ich habe bei meinem Leben geschworen, euch alle zu töten. Von heute an spürt ihr in jeder Sekunde den kalten Atem der Furcht und Verunsicherung in eurem Nacken. Was geht da vor?, fragt ihr euch. Was ist das?

Ich verrate es euch: Ich bin das.

Euer Tod.

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3.

Femke fuhr mit Vollgas über die Bundesstraße. Es war ihr gleichgültig, dass sie die erlaubte Geschwindigkeit bei weitem überschritt. Links rasten Maisfelder, Gehöfte und Windräder an ihr vorbei. Rechts die grüne Wand des Deichs und danach der undurchdringliche Bewuchs aus Sanddorn- und Hagebuttenbüschen entlang des Küstenstreifens. Dahinter lag das Wattenmeer. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Im Mund schmeckte es metallisch. Zum wiederholten Mal wischte sie sich mit dem Handballen über die feuchten Augenwinkel und zog die Nase hoch. Auf dem Beifahrersitz rappelte das Handy ununterbrochen. »Volker« stand auf dem Display. Seit sie die Treppen ihres Appartements in Wilhelmshaven heruntergelaufen war, versuchte er, sie zu erreichen. Aber Femke wusste bereits, was er ihr mitteilen wollte. Genau genommen wusste sie es, seit Jörn gegen halb sieben Uhr angerufen und Femke aus der Dusche geklingelt hatte. Jörn führte den Reiterhof bei Werlesiel. Er hatte geklungen, als sei ihm ein Gespenst begegnet: »Femke. Es ist alles ganz schrecklich. Du musst sofort kommen.«

Hinter dem Ortsausgang passierte sie eine riesige Baustelle. Überall standen Lkws, Bagger und Kräne. Ein Schild von geradezu epischen Dimensionen erklärte, dass hier ein Freizeitpark mit dem Namen »AquaParc« auf einer Fläche von dreißigtausend Quadratmetern entstand – aufgeteilt in eine tropische Wasserwelt und ein Nordsee-Erlebnis-Zentrum. Jede Menge Arbeitsplätze sollten geschaffen werden. Femke wusste, die Idee dahinter war, die Wirtschaft in der strukturschwachen Region anzukurbeln und dafür zu sorgen, dass auch außerhalb der Ferien- und Urlaubszeiten sowie bei schlechtem Wetter die Region rund um Werlesiel Konjunktur hatte. Die zweite Idee dahinter war, dass Knut Mommsen sich mit dem Bau ein Denkmal setzen wollte – Knut Mommsen, dem außer der größten Privatbrauerei der Region auch der halbe Ort gehörte.

Kurz hinter der Baustelle sauste der Wagen am großen Maisfeldlabyrinth vorbei und an der Festscheune, vor der seit einigen Tagen einige Protestschilder standen. Sie stammten von einer Bürgerinitiative, die von Mommsen geführt wurde. Auf den Schildern standen Slogans wie »Die Scheune gehört uns« und »Keine Unterkunft« sowie »Hier kein Asyllager«. Die Scheune gehörte der Gemeinde, und dieser sollten vom Landkreis weitere Flüchtlinge zugewiesen werden, die untergebracht werden mussten. Dazu standen nur noch wenige öffentliche Gebäude zur Verfügung. Zurzeit gab es sogar Überlegungen, auf private Kapazitäten wie Hotels und Pensionen sowie Ferienwohnungen zurückzugreifen – auch auf den Inseln. Der Sturm der Entrüstung war immens.

Femke bremste scharf ab, setzte den Blinker nach links und bog in den Wilden Acker ein. Der Weg führte geradewegs auf den Reiterhof zu. Zehntausendmal oder öfter war sie hier gefahren. Jedes Mal mit der Vorfreude auf ihren Justin. Doch dieses Mal war es grundlegend anders. Femke wusste, dass er sie nicht mit einem Schnauben und Kopfnicken begrüßen würde, wenn sie die Stallgasse entlang auf seine Box zuging. Er würde den massigen Körper nicht träge von der Weide auf den Zaun zubewegen und den Hals strecken, weil er die Leckerlis in Femkes Tasche witterte. All das würde Justin niemals wieder tun, wenn es stimmte, was Jörn gesagt hatte. Woran Femke nicht zweifelte – vor allem nicht wegen Volkers zahlloser Versuche, sie zu erreichen. Sie waren die Bestätigung dessen, was Jörn ihr erzählt hatte. Aber das Komische war: Es gab zwar keinerlei Zweifel an dem, was geschehen war – dennoch weigerte sie sich, es zu glauben. Als Polizistin wusste sie, dass es sich dabei um eine Art Schutzreflex der Seele handelte. Dennoch war es etwas völlig anderes, wenn einen selbst das Schicksal so hart traf, dass dieser Mechanismus ausgelöst wurde.

Mit knirschenden Reifen kam ihr Wagen an der Polizeiabsperrung zum Stehen. Der Weidezaun war mit rot-weiß gestreiftem Flatterband regelrecht umwickelt worden. Femke sah zwei Streifenwagen und zahlreiche Privatfahrzeuge am Wegesrand. Sie erkannte Volkers Range Rover. Jede Menge Menschen standen ratlos auf dem Weg und dem angrenzenden Hof. Einige trugen Reitkleidung, andere nicht. Manche weinten und lagen sich in den Armen. Andere rauchten und unterhielten sich gestenreich miteinander. Femke kannte alle. Jeden Einzelnen. Manche grüßten, wollten etwas zu ihr sagen. Femke ignorierte sie.

Im Gehen setzte sie die Pilotensonnenbrille mit den grünen Gläsern auf. Der Wind erfasste ihr langes, blondes Haar und spielte darin wie früher in Justins Mähne, wenn Femke mit ihm ausgeritten war. Das hohe Gras streifte an ihrer hellblauen Jeans entlang, zu der sie ein schlichtes weißes T-Shirt trug. Die Sonne brannte auf ihren Oberarmen. Unter den Sohlen ihrer Ballerinas knirschte der Kies der Zuwegung zur Weide. Dort stand Volker mit Jörn und zwei Polizisten in hellblauen Kurzarmhemden. Den einen kannte Femke. Es war ein langer Schlaks mit rötlichem Haar und der Lizenz zum Nerven. Als Femke noch die Polizeiinspektion in Werlesiel geleitet hatte, war Torsten Stibbe ihr Untergebener gewesen, wenngleich er sich regelmäßig benommen hatte, als sei es andersherum gewesen. Nachdem Femke zum LKA und zur Sonderabteilung für Schwerverbrechen und organisierte Kriminalität, kurz SOK, gewechselt war, hatte das Land die Inspektion aufgelöst und der in Esens zugeordnet, die hier zuständig war.

Torsten hob schwach die Hand zum Gruß. Volker löste sich aus der Gruppe und kam Femke entgegen. Sein Gesicht sprach Bände. Noch mehr die Hände, an denen getrocknetes Blut klebte. Volker war Tierarzt und seit letztem Winter Femkes Freund. Freunde waren sie zwar schon vorher gewesen, aber um Weihnachten herum hatte sich ihre Beziehung deutlich intensiviert.

»Femke«, sagte er, machte eine kraftlose Geste und Anstalten, sie zu umarmen.

Femke stoppte ihn mit einer abwehrenden Geste. Richtete ihren Blick auf die Pferde, die flach auf der Weide lagen. Sie zählte drei. Und erkannte Justin darunter.

»Ich habe versucht, dich zu erreichen.«

»Ich weiß«, sagte Femke, ohne den Blick von den Kadavern abzuwenden.

»Du bist nicht drangegangen.«

»Exakt«, erwiderte sie mit brechender Stimme. »Ich … Vielleicht wollte ich es einfach nicht bestätigt wissen. Ich weiß auch nicht. Tut mir leid.«

»Dir muss gar nichts leidtun.«

»Was …« Femke hustete in die Faust. »Was ist geschehen?« Sie räusperte sich und machte eine fahrige Geste. »Blöde Frage, ich weiß.«

Volker erklärte, dass Enno Berkens die toten Tiere beim Zeitungsaustragen entdeckt hatte. Woraufhin er sofort Jörn verständigte und Jörn sich vor Ort davon überzeugte, dass Enno keinen Unsinn erzählte. Jörn rief dann die Polizei an sowie die betroffenen Pferdebesitzer, zu denen Femke zählte. Schließlich hatte er Volker verständigt, der sofort herbeigeeilt war – und die Polizei hatte sich außerdem bei Volker gemeldet. Was alles an der Tatsache nichts änderte, dass drei Pferde tot waren.

»Wie?«, fragte Femke.

»Mehrere tiefe Stiche in die Drosselvenen. Es tut mir so furchtbar leid um deinen Opi. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Femke nickte und straffte sich. Opi. Justin hatte auf dem Hof sein Gnadenbrot bekommen. Er war ein alter und liebenswerter Kerl. Gewesen. Femke hatte ihn von Papa geschenkt bekommen, als sie sechzehn war. Seither war Justin stets viel mehr als nur ein Pferd für Femke gewesen. Bei einem Reitunfall hatte sie das erste Fingerglied ihres rechten Zeigefingers verloren, was sie zwangsweise zur Linkshänderin gemacht hatte – zumindest in allen Bereichen, bei denen es auf den rechten Zeigefinger ankam. Zum Beispiel beim Schießen. Mama und Papa hatten stets viel zu tun gehabt mit der Bäckerei und der kleinen Pension sowie den Ferienwohnungen. Justin war Femke zu jeder Zeit ein Freund gewesen, dem man seine Gedanken erzählen konnte und der einfach nur zuhörte und manchmal schnaubte, als wollte er sagen: Ich weiß genau, was du meinst, aber so ist es eben. Schließlich hatte er sich eine chronische Hufentzündung zugezogen, und an Reiten war nicht mehr zu denken gewesen. Dennoch kam Femke regelmäßig her, um sich um ihn zu kümmern. Genau genommen war Justin das Einzige, was sie noch mit Werlesiel verband – abgesehen von der Tatsache, dass ihre Eltern und Volker hier lebten. Aber sonst? Da war nichts mehr, gar nichts, und das Haus, das sie von Oma geerbt hatte, war seit letztem Jahr verkauft. Mit Justin war daher viel mehr gestorben als nur ein Tier, mit dem man eine enge Beziehung hatte. Es war ein Stück Heimat gestorben. Nein, getötet worden.

Femke deutete auf die Weide. Sie sagte: »Ich … Ich weiß, dass es wieder eine dumme Frage ist, denn wie es aussieht, ist die Weide ein Tatort, aber … Kann ich zu ihm?«

»Besser nicht«, sagte Volker leise.

Femke ignorierte seine Worte. Sie drängte sich wortlos an ihm vorbei und bewegte sich auf die beiden Polizisten und Jörn zu. Jörn telefonierte gerade. Er machte ein trauriges Gesicht und trat zur Seite. Sie hörte Wortfetzen wie »Versicherung« und »Nein, keine Ahnung, wer«. Schließlich kam sie vor Torsten und seinen Kollegen zu stehen, der einen gewaltigen Schnäuzer und eine teilnahmslose Miene trug.

»Moin, Chefin«, sagte Torsten. Immer noch nannte er sie so.

»Kann ich zu ihm?«

Torsten stemmte die Hände in die Hüften. Er blickte zu Boden, machte einen schmatzenden Laut und schüttelte leicht den Kopf. »Das weißt du doch, dass das nicht geht, da kann ich keine Ausnahme machen.«

Femke nahm abwehrend die Hände hoch und ließ sie wieder fallen.

Torsten hakte die Daumen in seinen Gürtel. »Die Kripo weiß Bescheid, das machen die Kollegen aus Aurich. Die müssten gleich hier antanzen, ansonsten mache ich denen Beine.«

Femke sagte mit belegter Stimme: »Die Rechtsmedizin soll kommen. Volker in allen Ehren, aber … Aber das hier ist ein schwerer Fall von …« Femke rang mit dem Wort. »Sachbeschädigung«, ergänzte sie. Denn das war es im rechtlichen Sinn: Sachbeschädigung und ein Verstoß gegen das Tierschutzgesetz. Beides klang unfassbar kalt.

»Tjou«, machte Torsten, »aber das ist ja wohl nicht auch noch meine Baustelle. Mir reicht es schon, dass ich diesen Schiet hier überhaupt am Hals hab, und die Burschen aus Aurich können ruhig auch was tun für ihr Geld, ich meine …«

»Torsten«, zischte Femke. »Nicht heute. Heute nicht, okay?«

Torsten zuckte schwach mit den Achseln, schien aber verstanden zu haben, dass Femkes Toleranzgrenze sich aktuell weit im Minusbereich befand.

»Also gut, Rechtsmedizin anrufen«, sagte er dann.

»Wessen Tiere sind noch getötet worden?«, fragte sie.

»Eines gehörte Jörn«, sagte Volker, der sich von hinten näherte. »Das dritte Leefmanns Tochter.«

Er machte eine Geste in Richtung einer Gruppe von Mädchen, die einander umarmten und weinten. Daneben standen ihre Mütter und Väter – darunter Willem Leefmann, ein knapp zwei Meter großer Kerl, dessen Haut von der Sonne rot verbrannt war und dessen tief liegende Augen stets verschlagen blickten. Leefmann war Klempner und führte außerdem eine Facebook-Gruppe der Bürgerinitiative gegen die Unterbringung von Flüchtlingen in Werlesiel. Der Mann war nach Femkes Meinung so intelligent und einfühlsam wie ein Stück Blei und hatte sein Augenmerk inzwischen auf neue Sündenböcke gerichtet, die er dafür verantwortlich machen konnte, dass er als Klempner sein Geld mit der Scheiße anderer Leute verdienen musste. Im Moment allerdings tat er ihr leid. Noch mehr seine Frau und vor allem seine Tochter, die gerade mal so alt war wie Femke damals, als sie Justin bekommen hatte.

Femke wandte sich zu Volker, strich ihm leicht über den Unterarm und sagte leise: »Tut mir leid«, weil sie ihn eben so kalt behandelt hatte.

Volker nickte nur.

Femke blickte zwischen ihm und Torsten hin und her und fragte: »Wisst ihr schon irgendetwas?«

»Nichts«, meinte Torsten.

Volker schien etwas sagen zu wollen.

»Ja?«, fragte Femke.

»Willst du es wirklich im Detail hören?«

»Ja.«

Volker zögerte. Dann erklärte er: »Der Täter muss einen scharfen Gegenstand wie ein Messer eingesetzt haben und hat damit jeweils mit jeder Menge Stiche die Drosselvene perforiert. Dazu musst du wissen, wo die sich befindet, und zumindest einige Male ein Pferd aus der Nähe gesehen haben. Es wirkt so, als sei er von einem Tier zum nächsten marschiert, und …«

Volker zögerte wiederum und sah Femke fragend an. Schließlich sagte er: »Wenn du derartig in die Gefäße stichst, spritzt das Blut heraus wie aus einem Wasserschlauch. Dementsprechend müsste ein Täter ausgesehen haben und ist vielleicht jemandem aufgefallen. Außerdem weißt du, wie Pferde sind. Du musst erst einmal an die Tiere herankommen. Das klappt nur, wenn du dich mit ihnen auskennst oder wenn die Tiere dich kennen. Oder beides.«

Femke atmete tief ein und atmete tief aus. In ihrem Magen fühlte es sich an, als glühte dort ein heißes Stück Kohle. Schließlich sagte sie das Wort, der ganze Satz wollte ihr noch nicht gelingen.

»Pferderipper …« Sie atmete noch einmal tief durch und setzte erneut an. »Ein psychisch gestörter Mensch.«

Die Motive von Pferderippern waren schwer zu fassen. Man nahm an, dass die Tiere den Mördern als eine Art Prügelknabe dienten. Pferderipper zerstören mit ihren Taten ein mächtiges Lebewesen. Dieser Kontrast lässt sie selbst umso mächtiger erscheinen – etwas, das ihnen im Leben fehlt oder das ihnen genommen wurde.

»Und wie gestört«, sagte Torsten.

Femke fuhr fort: »Wir hatten hier im Norden schon öfter solche Fälle. Und wenn du herausfinden willst, wer es war, musst du erst kapieren, was mit so einem Menschen los ist, der solche Dinge tut.«

»Und?«

Femke nahm die Sonnenbrille ab und rieb sich über die Augen. »Ich rede von einem Menschen mit schwachem Selbstwertgefühl und immensem Hass auf alles Mögliche. Dem sehr schlimme Dinge widerfahren sind, denen gegenüber er machtlos war, deswegen vielleicht psychisch krank geworden ist. Der Pferde tötet, um die Stärke zu erfahren, die ihm im entscheidenden Moment einmal fehlte oder genommen wurde, und … Scheiße, jetzt lass mich auf die verdammte Weide, Torsten.«

Femke drängte sich an Torsten vorbei und stieß ihn zur Seite. Er protestierte, hielt sie jedoch nicht auf. Sollte die Kriminaltechnik eben ihre Spuren von der Summe der Spuren abziehen, dachte Femke. Sollten die Kollegen aus Aurich sie eben anschnauzen, wenn sie eintrafen. Das war ihr egal.

Sie tauchte unter der Absperrung hindurch und marschierte über die Weide. Sie hörte Geräusche hinter sich, Volker, der sie aufhalten wollte. Aber sie ging einfach weiter, wedelte mit der rechten Hand, wie um Fliegen zu verscheuchen.

Schließlich stand sie vor Justins Kadaver, der in einer großen Pfütze von teils geronnenem, teils noch flüssigem Blut lag. Sie schluchzte auf und hielt sich die Hand vor den Mund. Wie automatisch sank sie auf die Knie. Es war ihr gleichgültig, ob das Blut ihre Jeans durchtränken würde.

Sie legte eine Hand auf Justins Flanke. Sein Körper war warm von der Sonne. Zahllose Bilder schossen ihr durch den Kopf. Wie sie mit Justin über den Deich ritt und am Watt entlang. Ihr erstes E-Springen. Justin, wie er sich auf dem Rücken wälzte, was Femke immer zum Lachen brachte. Sein weiches Maul. Sein Atem auf ihrer Haut. Der Blick in seinen Augen, die jetzt gebrochen und milchig waren und Fliegen Platz zum Landen boten.

Femke spürte, wie sich Volker neben sie hockte und ihr den Arm um die Schulter legte. Sie ließ es geschehen, und dann brachen die Tränen aus ihr hervor. Sie ergossen sich in wahren Sturzbächen, und Femke schlang die Arme nun ebenfalls um Volker.

»Er hat doch keinem etwas getan«, wimmerte sie, als sie wieder einigermaßen sprechen konnte. »Wie kann jemand das Vertrauen eines Tieres so ausnutzen, das auf ihn zukommt, und dann … dann …«

Volker strich Femke übers Haar und schwieg. Schließlich löste sie sich aus der Umarmung und stand auf. Eine Zeitlang starrte sie nach unten und sammelte sich. Dann hob sie das Kinn und sah sich um. Sie sah Blutspritzer auf der ganzen Weide. Sie betrachtete die beiden anderen Pferde. Blickte sich im Kreis um. Fasste den Zaun ins Auge. Drehte sich um die eigene Achse, nahm die Sonnenbrille ab und blinzelte ihre Tränen fort, um klarer sehen zu können. Sie schätzte Entfernungen, scannte das Terrain, wog die Position der Kadaver im Verhältnis zueinander und den Blutspuren ab.

Während ihre Blicke weiter über die Weide glitten, sagte sie leise zu Volker: »Weißt du, was das Problem mit Tierrippern ist? Sie meinen eigentlich Menschen, aber an die trauen sie sich nicht heran, oder sie sind nicht mehr fassbar, weil sie verstorben sind. Die Pferde sind nur ein Ersatzobjekt. Manche Ripper überschreiten die Grenze nie, sie bleiben bei den Pferden und ändern mal dies oder das. Aber hier … Hier ist jemand direkt aufs Ganze gegangen. Hier hat sich ein lange aufgestauter Zorn entladen.«

Volker machte ein fragendes Gesicht.

Femke erklärte: »Oft verletzt ein Ripper zunächst die Tiere. Danach tötet er eines. Dann noch eines. Hier hat er gleich drei Pferde abgeschlachtet. Pferde sind große und mächtige Wesen, etwas anderes als ein Esel, eine Ziege, ein Pony oder eine Kuh. Daraus schließe ich das. Ein Pferd allein reichte nicht aus, um den Zorn zu stillen.«

»Du meinst, wer auch immer hierfür verantwortlich ist, könnte sich als Nächstes einen Menschen vornehmen?«

»Mhm.«

»Willst du meine Meinung hören?«, fragte Volker.

»Inwiefern?«

»Stibbe und die anderen Polizisten sind eben den ganzen Weg abgegangen, den gesamten Wilden Acker, aber sie haben nichts gesehen. Keine Spuren von Blut. Sie sind auch an der Bundesstraße entlang und haben nichts gefunden. Keine Spuren auf dem Radweg oder so. Wie ich schon sagte: Der Täter muss von oben bis unten mit Blut bespritzt gewesen sein und doch irgendwie her- und wieder fortgekommen sein.«

»Und was ist also deine Meinung? Dass er im Auto kam?«

»Nein, ich denke, durch die Felder.«

Volker deutete zum Weidezaun im Westen. Sie marschierte los. Volker folgte ihr.

Es war ein Maisfeld. Die Bauern bauten inzwischen reichlich davon an, weil die Pflanze über ihre Früchte hinaus jede Menge Rohstoffe erbrachte, die man an Biogasanlagenbetreiber verkaufen konnte.

Am Zaun blieben sie stehen. Das hellgraue Holz war an einigen Stellen dunkel verschmiert, das Gras zertrampelt. Ebenso auf der anderen Seite des Zauns, wo sich ein schmaler Grünstreifen anschloss. Dann kam ein Graben, wieder ein Grünstreifen, womöglich ein schmaler Wirtschaftsweg. Schließlich folgte die grüne Wand aus Mais, in die sich die Reihen wie Pforten ins Nichts öffneten. An einigen der großen Blätter waren wiederum dunkle Flecken zu sehen.

»Weißt du, was Jörn gesagt hat?«, fragte Volker.

»Nein, woher?«

»Er hat gesagt, dass hier manchmal Sabine Hespe entlangläuft, um die Pferde zu streicheln und mit Gras zu füttern.«

»Die Sabine Hespe?«

»Ja.«

Femke nickte. Das hörte sich belanglos an, spazieren gehen, Pferde streicheln und füttern. War es aber nicht, wenn man Sabine kannte. Sie war nach Femkes Meinung psychisch krank und nach Meinung anderer im Ort gemeingefährlich. Sabine konnte regelrecht explodieren. Femke hatte als Polizistin im Ort schon einige Male das zweifelhafte Vergnügen gehabt, solche Ausbrüche mitzuerleben. Es gab nichts, was man ihr nicht zutrauen konnte, wenn sie ausrastete. Gar nichts. Aber die Pferde? Femke überlegte und kam zu dem Schluss: Ja, auch das konnte man Sabine zutrauen.

»Ich werde mit ihr sprechen«, sagte Femke.

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4.

Tjark war am frühen Morgen losgefahren, nachdem er in Dänemark in seinem Ferienhaus bei Hvide Sande am Ringkøbing-Fjord rasch das Nötigste zusammengepackt hatte. Dort hatte ihn Ceylan am späten Abend erreicht. Ceylan Özer, Leiterin der Sonderkommission für Schwerverbrechen und organisierte Kriminalität des Landeskriminalamts, kurz SOK, der außer Femke und Tjark noch sein alter Partner Fred angehörte.

Tjarks knapp eins sechzig kleine Chefin mit dem Selbstbewusstsein eines zwei zwanzig großen Sumoringers hatte sich nicht lange mit Smalltalk aufgehalten: »Cowboy, ich störe dich ungern in deiner wohlverdienten Urlaubswoche, aber es ist etwas Schlimmes passiert.«

Sie erzählte, was mit Femkes Pferd geschehen war, und Tjarks Stimmung sank auf den Nullpunkt.

»Ich habe Femke für den Rest der Woche freigegeben«, fuhr Ceylan fort. »Das ist ein Schock für sie. Sie wohnt vermutlich so lange bei ihren Eltern oder ihrem Freund. Ich dachte nur, dass du Bescheid wissen solltest, okay?«

Ziemlich okay, dachte Tjark und beendete das Gespräch. Jemand hatte die Fantastic Four berührt. Das war seine persönliche Bezeichnung für die SOK, eine Anspielung auf die Marvel-Comic-Helden, die unerbittlich den Kampf gegen das Böse ausfochten. Kaum war ein Schurke ausgeschaltet, tauchte der nächste auf. Es war wie in einem Hamsterrad – seit immer und für alle Zeit, weil die Menschen nun mal so waren, wie sie waren. Aber niemand, so viel war klar, berührte die Fantastic Four. Ceylans Anruf hatte außerdem Tjarks Spinnensinn klingeln lassen. Es war wie ein Kopfschmerz, der sich langsam ankündigte und stärker werden würde. Wie bei Spiderman, der Gefahr im Voraus erkennen konnte. Ein sechster Sinn wie bei manchen Tieren, die Erdbeben, Feuer oder Gewitter erahnten. Ein Urinstinkt, den manche Polizisten dafür entwickelten, dass etwas nicht stimmte. Daher hatte er nicht gezögert und seinem schwarzen BMW Z4 Roadster Asphalt zu fressen gegeben.

Der einzige Weg nach Deutschland führte über Kolding und Flensburg sowie über Hamburg und damit durch den Elbtunnel, wo Stau gewesen war. Ebenso dichter Verkehr herrschte zwischen Hamburg und Bremen auf der A1 und zwischen Bremen und Oldenburg auf der kurzen A28. Tjark hatte überlegt, ob er in Oldenburg abfahren und einen kurzen Abstecher nach Hause machen sollte – er lebte dort noch immer in einem Loft –, sich aber dagegen entschieden. Auf der A29 Richtung Wilhelmshaven kam er schneller voran, brauchte aber dennoch deutlich über sechs Stunden, bis er in Werlesiel ankam.

Werlesiel erreichte man, wenn man von Wilhelmshaven aus über Wittmund fuhr, Carolinensiel ansteuerte und von dort aus an der Küste und am Deich entlang nach Neuharlingersiel und Bensersiel fuhr. In Werlesiel gab es keinen Fährverkehr zu den Inseln. Dennoch konnte man von den Anlegern aus die orangeroten Aufbauten der Fähren in der Ferne sehen. Der Ort gruppierte sich um den pittoresken Hafen, wo stets einige Fischerboote und bunte Krabbenkutter lagen. Sie waren nicht nur Dekoration oder Vehikel für Ausflüge beziehungsweise für Trips zu den Seehundbänken. Mit ihnen wurde noch richtig gefischt – wenngleich eher zum Eigenbedarf und um den Fang an Touristen zu verkaufen. Am Hafen gab es außerdem eine Promenade, einige Parkplätze sowie ein kleines Fischerdenkmal und viel Gastronomie, Räuchereien, Fischgeschäfte, Imbissbuden mit Krabbenbrötchen und kleinere Pensionen. Dem Hafen vorgelagert war eine Marina, wo jede Menge Sportboote ankerten. Ein Strand war für die Touristen künstlich aufgeschüttet. Etwas außerhalb lagen die Privatbrauerei, wo das »Werlesieler« hergestellt wurde, die Großbaustelle des »AquaParc« und eine seit Jahren leerstehende Kurklinik, für die sich keine sinnvolle Nachnutzung fand.

Werlesiel verfügte darüber hinaus über einen dicht bewachsenen und kilometerlangen Küstenstreifen, der das Land vor der Nordsee schützen sollte. Darin hatte ein Serienmörder vor einigen Jahren seine Opfer vergraben, und daran erinnerte sich Tjark, als er mit dem Wagen hier entlangfuhr. Die Geschehnisse um die Dünengräber hatten den Ort und erst recht Femke in einen Schockzustand versetzt. Wie es aussah, war der Schrecken nun in Form eines Tierrippers zurückgekehrt. Vermutlich jemand, der aus persönlichen Gründen Blut für etwas sehen wollte oder den Ort für etwas bluten lassen wollte, das in Werlesiel geschehen war.

Es war Mittag, als Tjark beim Passieren der Großbaustelle des AquaParcs die Mundwinkel verzog. Er wusste, wer der Bauherr war. Knut Mommsen. Jemand, den Tjark vor Jahren kennengelernt hatte und nicht besonders schätzte. Was noch freundlich ausgedrückt war.

Er kam an einer großen Scheune mit grünen Holzwänden und einem knallroten Dach vorbei, die mit einer Reklame als »Festscheune« ausgezeichnet war und nach Tjarks Wissen als Dorfgemeinschaftshaus und Veranstaltungszentrum diente und locker fünfhundert Menschen fasste. Davor waren heute Schilder aufgebaut, die wie selbst gemalt wirkten. Tjark las nicht, was darauf stand. Er hatte sein Augenmerk bereits auf den Eingang eines Maisfeldlabyrinths gerichtet, vor dem aus Strohballen einige große Figuren errichtet worden waren, die überdimensionalen Puppen glichen. Schließlich passierte er ein weiteres Maisfeld, einen Bauernhof und den Zaun einer Pferdweide, an dem rot-weiß gestreiftes Polizeiabsperrband im Wind flatterte. Die Weide selbst interessierte ihn nicht. Er war kein Tierkiller-Jäger. Ihn interessierte in erster Linie, wie es Femke ging. Wenige Minuten später fuhr er am Hafen von Werlesiel in eine Parkbucht und stieg aus.

Jedes Mal, wenn er an der Nordseeküste war, fiel ihm auf, dass die Farben hier intensiver waren. Der Wind sorgte stets für klare Luft, und die Sonnenstrahlen wurden durch keine verschmutzten Atmosphäreschichten diffus gefiltert. Das Grün der Felder und Wiesen war satt und schien in Hunderten Schattierungen zu strahlen. Der Himmel war von einem tiefen Blau, in dem man sich verlieren konnte. Die Wolken hatten klar umrissene Konturen wie in einer Kinderzeichnung. Es war, als habe man die ganze Zeit durch eine Milchglasscheibe geschaut, die mit einem Mal weggenommen worden war. Es roch nach Tang, geräuchertem Fisch und brackigem Salzwasser. Am Himmel kreischten Möwen. In der Ferne waren die bunten Punkte einiger Lenkdrachen zu sehen und dahinter das glitzernde Watt und die Nordsee. Der Wind spielte in den Takelungen der Kutter und ließ sie leise gegen die Masten klicken.

Nach den Ferienmonaten hatte sich Lethargie im Ort breitgemacht. Die meisten Geschäfte, Restaurants und Kneipen schienen geschlossen zu sein. Wo sonst Hochbetrieb herrschte, ging heute nur eine Katze gemächlich über die aus rötlichen Pflastersteinen gebaute Uferpromenade. Es wirkte, als habe ganz Werlesiel Muskelkater und müsste wieder zu Atem kommen. Vielleicht hatte die merkwürdige Stimmung aber auch einen anderen Grund.

Die Hafenbäckerei mit angeschlossener Pension war allerdings geöffnet. »Folkmer« stand auf der grünen Markise vor dem Schaufenster mit den Auslegewaren. Unter der Markise standen drei Tische mit Plastikstühlen, deren Polster ebenfalls grün waren. Auf einem davon saß eine blonde Frau. Vor ihr standen ein Teller und eine große weiße Tasse. Ihre Haare waren zum Pferdeschwanz gebunden. Sie blickte auf, sah zu Tjark, nahm die Pilotensonnenbrille mit den grünen Gläsern ab und starrte ihn aus rot geränderten Augen ungläubig an.

»Du?«, fragte Femke.

»Ich«, sagte Tjark und ließ seine Sporttasche fallen.

Er zog geräuschvoll einen weißen Stuhl vom Tisch, um sich daraufzusetzen und sich eine Zigarette anzuzünden. Wegen des Windes gelang es ihm erst beim dritten Anlauf. Er inhalierte tief und stieß den Rauch in einer weißen Wolke in den Himmel.

»Ceylan hat mich angerufen und mir gesagt, was passiert ist. Ich dachte, ich komme besser mal längs«, sagte Tjark.

»Warum hast du dich nicht gemeldet und gesagt, dass du kommen willst?«

Tjark zuckte mit den Achseln. »Wie geht’s dir?«

Femke zuckte ebenfalls mit den Achseln. »Schlecht. Ich weiß nicht, ob ich zorniger bin als traurig oder mich schuldig fühle oder alles gleichzeitig. Ich muss immer daran denken, dass das nicht passiert wäre, wenn ich Justin am Vorabend in der Box gelassen hätte, weißt du?«

Tjark wusste. Er hatte seinen Eltern vor vielen Jahren eine Reise nach Dänemark geschenkt. Hätte er das nicht getan, würde seine Mutter wohl noch leben.

»Was willst du überhaupt hier?«, fragte Femke.

Tjark zog wieder an der Zigarette und schwieg.

Femke versuchte zu lächeln. »Sorry, ich … Habe ich nicht blöd gemeint. Es ist nett, dass du vorbeikommst. Das ist nicht selbstverständlich.«

»Dieser Ort meint es nicht gut mit dir«, sagte Tjark.

Femke keuchte ein trauriges Lachen hervor und aß den Rest Butterkuchen, der vor ihr auf dem Teller lag. »Inzwischen frage ich mich wirklich«, erwiderte sie und wischte sich einige Krümel mit dem Zeigefinger aus dem Mundwinkel, »ob mich irgendwer verflucht hat.«

»Vielleicht ist die Stadt verflucht.«

»Wer weiß«, erwiderte Femke achselzuckend.

»Moin«, sagte eine ältere, mollige Frau zu Tjark.

Sie kam aus der Bäckerei heraus. Ihr Ton war scharf, und ihre Augen musterten ihn unfreundlich. Sie trug eine Art weißen Kittel mit dem Aufdruck »Hafenbäckerei«, der wegen ihres gewaltigen Busens stramm gespannt war. Ihr Haar war von grauen Strähnen durchzogen und zum Dutt hochgesteckt, die Wangen von geplatzten Äderchen gerötet. Ihre Gesichtszüge glichen denen von Femke. Die Augen waren nahezu identisch.

Sie legte Femke die Hand in den Nacken und sagte besorgt: »Na, mein Mädchen?«, ohne Tjark aus dem Blick zu lassen.

»Guten Tag, Frau Folkmer«, sagte Tjark.

Er kannte Femkes Mutter von damals, als er in einem Zimmer über der Backstube gewohnt hatte. Sie kannte ihn ebenfalls und schien ihn immer noch nicht zu mögen. Vielleicht, weil sie ihn dafür verantwortlich machte, dass ihr Mädchen weggezogen und zur Kripo gegangen war.

»Ach, Sie«, sagte Imke Folkmer. Mit einem Blick, der bedeutete: Dann ist der Ärger ja nicht weit.

»Ja.« Tjark stieß Qualm durch die Nase aus. »Ich.«

»Geht das um Femkes Pferd? Sind Sie deswegen hier?«

»Vielleicht.«

»Eine Schande«, sagte sie, beugte sich vor und gab Femke einen Kuss auf den Scheitel. Femke wich ein wenig aus. »Wenigstens hast du was gegessen.« Sie ließ ihre Tochter wieder in Ruhe und fragte mit einem Seufzen: »Und Sie, Herr Wolf? Doppelten Espresso und ein Puddingteilchen?«

Tjark lächelte und nickte. »Sehr gerne.«

Imke Folkmer nickte ebenfalls, lächelte aber nicht und verschwand in der Backstube, wo augenblicklich ein Kaffeeautomat sirrte. Eine Minute später kam sie wieder heraus, stellte Tjark stumm eine Tasse, einen Teller und einen Aschenbecher hin und verschwand erneut.

»Mütter«, murmelte Femke gespielt genervt.

Tjark drückte die Zigarette aus. Er selbst wusste nur aus der Erinnerung, wie Mütter waren. Seine war vor vielen Jahren in Dänemark auf einer Fähre gestorben und von der Nordsee Tage später angespült worden.

Er fragte Femke: »Was genau ist geschehen?«

Femke schlang sich die Arme um den Oberkörper und erzählte, was sie wusste. Tjark sah dabei den Möwen zu, trank den Espresso und aß das Puddingteilchen. Beides war köstlich.

»Die Kripo Aurich ermittelt«, sagte Femke schließlich. »Sie befragen alle und jeden, gehen die Datenbanken durch und schauen sich einschlägig Vorbestrafte und die üblichen Verdächtigen an.«

»Kann es eine persönliche Sache sein?«, fragte Tjark.

Femke blinzelte nachdenklich und schüttelte schwach den Kopf. »Kann ich mir nicht vorstellen. Warum wurden die anderen Pferde getötet?«

»Und wenn es gegen die anderen Pferdebesitzer ging?«

»Das wäre dasselbe in Grün – warum sollte dann jemand mein Pferd töten?«

Tjark nickte.

Femke schwieg eine Weile und starrte auf die Schiffe im Hafen. Leise sagte sie: »Ich mache mir Gedanken über eine bestimmte Frau.«

»Eine Tatverdächtige?«

»Ich weiß noch nicht. Sie soll regelmäßig bei den Pferden spazieren gehen und sie füttern.«

»Was nicht strafbar ist.«

»Nein, aber …«

»… aber du hast so ein Gefühl. Was macht sie verdächtig?«

»Sabine Hespe ist etwa so alt wie ich. Ihrem Vater gehört ein großes Gehöft. Er betreibt außerdem das Maisfeldlabyrinth. Sabine ist sehr auffällig. Immer schon gewesen. Nach meiner Meinung ist sie psychisch krank. Aber wie das auf dem Land und mit den sturen Böcken von Familienoberhäuptern manchmal so ist: Das wird in Kauf genommen, totgeschwiegen und vom Allgemeinmediziner behandelt – falls überhaupt. Menschen wie Sabine gibt es in jeder Stadt, denke ich. Sie stehen auf einer Verkehrsinsel und starren dich an. Sie gehen in Zeitlupe durch den Supermarkt und reden mit sich selbst oder irgendwelchen Stimmen.«

Tjark steckte sich noch eine an und hörte aufmerksam zu.

»Als ich noch die Polizeistation führte, haben wir sie einmal aufgegriffen. Sie lief splitterfasernackt und sturzbetrunken durch Werlesiel und fragte jeden Passanten, ob er Sex mit ihr wolle, und brüllte herum, dass der ganze Ort sie vögeln könne. Wobei sie andere Worte als vögeln verwendete. Ein anderes Mal hat sie ein parkendes Auto demoliert.«

Tjark inhalierte tief und folgte dem Flug einer Möwe mit dem Blick. Sie hatte einige Zeit über mehreren Containern mit Abfällen und dem Förderband einer Fischsortieranlage gekreist. Zusammen mit anderen stieß sie nun auf die Fahrrinne zur Marina herab, durch die sich gerade ein Kutter schraubte. Die Vögel hofften wohl darauf, dass entweder kleine Fische und Krebse an die Oberfläche gewirbelt oder unnützer Fang zurück ins Meer geworfen werden würde.

Femke fuhr fort: »Wir sind verschiedentlich gerufen worden und haben uns um Sabine gekümmert. Aber es war bisher nie so heftig, dass Anzeige erstattet oder eine Zwangsunterbringung veranlasst worden wäre. Was nach meiner Meinung sinnvoll gewesen wäre, damit sich Fachleute mit ihr befassen. Das Ordnungsamt hat damit zwar durchaus gedroht, aber ihr Vater hat das stets abgewiegelt und sich um allen Schaden gekümmert, den sie angerichtet hat. Und dann kannst du eben nichts machen. Außerdem ist Sabine nicht immer so. Oft wirkt sie vollkommen normal. Dann wieder, als würde sie unter Hochdruck stehen und irgendetwas wäre kurz davor, sie zur Explosion zu bringen. Als ich sie nackt gesehen habe, sind mir Narben an ihrem Körper aufgefallen. Ich glaube, sie ritzt sich.«

»Du meinst, sie könnte ausgerastet sein und die Pferde getötet haben. Traust du es ihr zu?«

Femke zuckte mit den Achseln. »Wer weiß.«

»Du hast sie konkret im Verdacht?«

»Es gibt Blutspuren am Zaun. Dort, wo sie oft entlanggeht. Es gibt außerdem Blutspuren in einem angrenzenden Feld. Es ist ein Acker ihres Vaters, der direkt an den Hof anschließt.«

»An einem Zaun gehen viele Menschen entlang.«

»Die Weide grenzt an die Reithalle, einen Radweg neben der Bundesstraße und den Weg zum Reiterhof namens Am Wilden Acker. Im Osten gibt es nur einen schmalen und unbefestigten Wirtschaftsweg und ein übermannshohes Maisfeld. Würdest du deinen Wagen an der Straße parken, wo ihn jeder sehen kann? Oder blutüberströmt zu Fuß über den Radweg laufen?«

»Nein, ich würde das Feld nehmen.«

»Wo wir die Blutspuren gefunden haben. Ich habe das den Kollegen von der Auricher Kripo erzählt.«

»Andererseits«, sagte Tjark, »kann jeder diesen Weg einschlagen. Das muss nichts heißen.«

»Nein, muss es nicht. Trotzdem schließt sich der Hof direkt an das Feld an. Das kann etwas heißen. Der Weg durch das Feld führt direkt zu Sabine, wenn du verstehst, was ich meine.«

Tjark verstand.

Leise ergänzte Femke: »Ich könnte ausflippen, dass mir die Hände gebunden sind. Ich würde am liebsten alles auf den Kopf stellen. Es war mein Pferd. Es ist meine Stadt. Ich kenne hier alle. Ich bin Polizistin und habe eine Waffe. Und was mache ich? Hier herumsitzen, in die Luft starren und mich zwingen, mich nicht einzumischen.«

Na ja, dachte Tjark. Er saß hier ebenfalls nur herum. Mit dem Unterschied, dass er nicht hergekommen war, um sich herauszuhalten. Absolut nicht.

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5.

Tjark zog an der Zigarette und merkte auf, als ein Lieferwagen mit hochtourig drehendem Motor an der Mole entlangraste. Abrupt vor den Stellplätzen kam er zum Stehen und blockierte Tjarks Z4. Es war ein weißer Mercedes Sprinter mit dem Firmenaufdruck »Leefmann – Meisterbetrieb Bauinstallation, Sanitär, Gas«.

Heraus stieg Willem Leefmann persönlich. Tjark erinnerte sich an ihn – sie waren einmal recht heftig aneinandergeraten. Leefmann war ein großer Kerl. Nach Tjarks Einschätzung ein einfacher Mann mit einem einfachen Weltbild. Der Schlag Mensch, der durch kein Argument von seiner Sichtweise abzubringen war, wenn er erst einmal eine Sichtweise gefunden hatte. Er trug einen Blaumann und wirkte, als wolle er einen Baum ausreißen, als er mit raumgreifenden Schritten auf die Bäckerei zumarschierte und dabei Geld zählte, das er aus der Hosentasche genommen hatte. Schließlich schien ein Ruck durch ihn zu gehen, denn er erkannte Femke und Tjark.

»Ach nee«, sagte Leefmann, was anklagend klang. »Die feinen Herrschaften von der Polizei trinken Kaffee, statt ihre Arbeit zu machen.«

Tjark und Femke sagten nichts.

Leefmann schwadronierte: »Ich wollte mir gerade ein belegtes Brötchen holen, aber jetzt ist mir der Appetit vergangen.«

»Beruhige dich, Willem«, sagte Femke. »Es ist für uns alle schlimm.«

»Schlimm?« Leefmann gingen fast die Augen über. »Ich habe eine Sechzehnjährige, die sich eingeschlossen hat und mir den ganzen Tag die Ohren vollheult. Das Pferd war ihr Ein und Alles. Der Gaul hat sechstausend Euro gekostet, und ich hab den Wiggel mit der Versicherung am Arsch! Ich habe kein Auge zugetan heute Nacht, und du sitzt hier rum und trinkst Kaffee!«

»Willem, die Kollegen von der Kripo …«

»Ja, die waren bei mir. Bist du nicht bei der Kripo oder was? Und der da auch nicht?« Leefmann deutete mit dem Finger auf Tjark, der weiterhin schwieg.

Femke sagte: »Das ist nicht unser Fall und nicht unsere Zuständigkeit – egal, ob ich persönlich ebenfalls …«

Leefmann blaffte: »Seit unser Ort voll ist mit den ganzen Flüchtlingen, ist hier nichts mehr sicher! Im Supermarkt räumen sie die Regale leer, überfallen die Leute auf offener Straße – du kannst als Frau hier im Dunkeln keinen Fuß mehr vor die Tür setzen. Und keine Polizei weit und breit auf der Straße, seitdem die Dienststelle dicht ist!«

»Das stimmt. Der Rest nicht«, sagte Femke.

»Und jetzt schlachten die Schietbüddel uns die Pferde ab! Was kommt denn da als Nächstes?«

»Schietbüddel?«, fragte Tjark.

»Ja, das Pack aus der Klinik! Und jetzt wollen sie die Scheune auch noch mit denen vollstopfen.«

»Er meint Flüchtlinge«, erklärte Femke. »Das Land nutzt die alte Kurklinik als Übergangswohnheim für fünfhundert Personen. Sie wollen noch mehr zuweisen und dafür weitere öffentliche Gebäude wie die Festscheune nutzen und überlegen außerdem, auf Ferienwohnungen zurückzugreifen. Auch auf den Inseln sollen Flüchtlinge untergebracht werden.«

»Was sollen die mit den Pferden zu tun haben?«, fragte Tjark.

»Die machen doch alle diesen Scheiß. Schächten und Scharia. Denen bringen sie beim Islamischen Staat doch bei, wie man das macht, Mensch!« Leefmann schnitt sich mit dem Zeigefinger am Hals lang.

»Klar«, sagte Tjark und nickte.

»Die haben mit Werkzeugen auf mein Pferd eingehackt!«

»Werkzeuge?« Tjark blickte zu Femke.

Sie erklärte: »Die Rechtsmedizin ist sich sicher, dass die Tatwaffe kein Messer war. Sie gehen von einem scharfen Werkzeug aus. Vielleicht ein Stemmeisen oder ein großer, spitzer Schraubenzieher.«

Leefmann schnaubte. »Wo soll das hinführen, Femke? Ist irgendwer von deinen feinen Kollegen zur Klinik gefahren, um sich umzusehen? Nein, war keiner da. Die werden sogar noch beschützt von Security, und da stehen Rettungswagen vor der Tür. Stehen die auch vor unseren Altenheimen? Nein! Und stattdessen verdächtigen sie hier alle im Ort und waren sogar bei Hespe. Und ihr trinkt hier Kaffee – ich könnte kotzen!«

»Hespe?«, fragte Tjark.

»Landwirt Ernst Hespe«, erklärte Femke. »Sabine Hespes Vater.«

»Als ob Sabine etwas damit zu tun hätte, so ein Quatsch.« Leefmann rubbelte sich mit der Pranke über den Schädel.

»Warum nicht?«, fragte Tjark.

»Die ist vielleicht etwas irre, aber doch nicht so.«

»Und die Flüchtlinge schon?«

»Denen ist alles zuzutrauen. Wer weiß, wie viele Terroristen die hier als Flüchtlinge einschleusen.«

»Haben Sie Stemmeisen im Wagen, Herr Leefmann?«

Leefmann blickte Tjark an wie ein Ochse, dem man zwischen die Hinterbeine getreten hatte.

»Haben Sie doch sicher. Auf Ihrem Wagen steht ›Bauinstallation‹.«

»Was soll das denn heißen?«

»Darf ich mir Ihre Stemmeisen mal ansehen?«

»Was?«