Purpurdrache - Sven Koch - E-Book

Purpurdrache E-Book

Sven Koch

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Beschreibung

»Der Drache ist erwacht!« Diese anonyme Botschaft versetzt den Journalisten Marlon Kraft in höchste Alarmbereitschaft. Der Purpurdrache, der vor drei Jahren für ein schreckliches Geiseldrama verantwortlich war, hat Marlons Leben immer noch fest im Griff. Als mehrere Frauen aus Krafts Umfeld bestialisch ermordet werden, ermittelt dessen bester Freund Marcus zusammen mit der Polizeipsychologin Alexandra – und die beiden stoßen auf ungeheuerliche Verwicklungen im Zeichen des Drachen. Sind die Morde das Werk eines Wahnsinnigen? Das eines eiskalten Killers? Oder könnte es sein, dass Marlon selbst zum unberechenbaren Psychopathen mutiert? Purpurdrache von Sven Koch: spannender Thriller im eBook!

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Seitenzahl: 612

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Sven Koch

Purpurdrache

Thriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

Motto1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. KapitelEpilogNachwort
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The killer in me is the killer in you.

 

Billy Courgan, The Smashing Pumpkins

 

 

 

 

Vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens Prinzessinnen, die nur darauf warten, uns einmal stark und mutig zu sehen.

 

Rainer Maria Rilke (aus einem Brief an Franz Xaver Kappus)

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1.

Es herrschte Chaos, und nichts Geringeres hatte dieser heiße Vormittag verdient. Lediglich direkt an der Absperrung vor dem Flachdachgebäude des Kindergartens war es still, nachdem die Hubschrauber gelandet waren. Jetzt standen sie drüben auf dem geräumten Parkplatz des Supermarkts und sahen aus wie dicke Fliegen, die es sich in der Sonne auf dem heißen Asphalt bequem gemacht hatten.

SEK, dachte er, presste sich das Handy ans Ohr und klemmte sich den Notizblock unter die Achsel, um die Hand für eine Zigarette frei zu haben.

»Marlon hier«, murmelte er, als sich Sandra aus der Redaktion meldete. Vor seinem geistigen Auge sah er sie im knappen Tanktop und den schwarzen Edel-Flipflops vor dem iMac schwitzen, weil die Klimaanlage vorgestern ausgefallen und immer noch kein Technikteam erschienen war. Die Netzwerk-Administratoren machten sich fast in die Hosen, weil der Serverraum zunehmend einem Backofen glich.

»Wie ist die Lage?«, fragte sie mit ihrer rauchigen und immer etwas gelangweilt klingenden Stimme.

Gute Frage. Blaulicht, so weit das Auge reichte. Krankenwagen und Sanitäter in leuchtend roten Overalls. Ein Ambulanzzelt im Aufbau. Überall liefen Polizisten in Uniform mit Funkgeräten und zivile Beamte mit Headsets oder Handys wie aufgeschreckte Ameisen durch die Gegend. Dazwischen die dunkelgrünen VW-Bullis vom Grenzschutz. Die Mitglieder der mobilen Einsatzgruppe sahen in ihren Kevlarrüstungen aus wie dunkelgrün lackierte »Star-Wars«-Sturmtruppen. Sie tranken literweise Mineralwasser. Der Getränkemarkt hatte ein paar Kisten spendiert. Minütlich trafen neue Nachrichtenteams ein. Marlon sah Leute von der BILD und den Lokalradios. Natürlich auch die freiberuflichen Hyänen, die in ihren mit Polizeifunk-Scannern und GPS-Systemen ausgebauten 500er BMWs angerollt waren. Private TV-Teams fuchtelten mit Mikrofonen herum, auf denen die Logos von N-TV, RTL oder Pro7 standen. Mit Akkus bepackte Kameramänner suchten sich ihren Weg durch die Journalistentrauben, die sich rund um offizielle Interviewpartner, an der Absperrung zum Kindergarten und weiter hinten bei den Schaulustigen gebildet hatten. Die ebenfalls umlagerten Angehörigen glichen Figuren aus den Gemälden Edvard Munchs: verloren, benommen, fassungslos. In dem Gewirr aus Stimmen, Anordnungen, Kommentaren, Fragen und Flüchen war keinerlei Koordination und Struktur zu erkennen.

»Wie die Lage ist, kann ich dir verraten«, sagte Marlon zu Sandra und versuchte, das Handy fest genug zwischen Ohr und Schulter einzuklemmen, um sich die Marlboro anzuzünden. »Weltuntergang trifft es wohl am ehesten.« Das Nokia rutschte immer wieder weg. Verdammte Hitze. Kein Lufthauch regte sich. Die Julisonne brannte ihm heiß auf den Schädel mit dem kurzrasierten blonden Haar. Schweiß lief ihm in Bächen von der gebräunten Stirn herab, verfing sich in den verästelten Lachfalten seiner zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen und glitzerte in kleinen Perlen zwischen den Bartstoppeln.

»Gibt es schon Tote? Irgendeine Entwicklung?«

»Nein«, antwortete Marlon und zog, als sie endlich brannte, tief an der Zigarette.

Auf dem Dach des Supermarkts blitzte für einen kurzen Moment etwas auf. Zwei Männer in Schwarz liefen geduckt von links nach rechts. Wahrscheinlich war es die Reflexion eines Zielfernrohrs gewesen.

»Der Typ ist ein Psycho. Schieb alles und halt mir in jedem Fall die halbe Titelseite offen. Vielleicht brauche ich noch Unterstützung, um ein paar Stimmen einzufangen, und eventuell muss Micha Klinken putzen gehen für Privatfotos. Er soll sich nichts anderes vornehmen.«

»Habt ihr schon Bilder? Weltwirtschaftsgipfel und Landtagswahlen müssen noch mit rein, du weißt ja, dass …«, sagte Sandra, aber Marlon fiel ihr ins Wort.

»Keine Ahnung, besprich das mit Roloff, was weiß ich.« Er hatte andere Dinge im Kopf. Er war Polizeireporter. Außerdem war es gerade mal zehn nach elf. An diesem Tag konnte noch alles Mögliche passieren, das auf der Titelseite der Neuen Westfalenpost untergebracht werden musste. Tsunamis, Tornados, Attentate – die Welt war jeden Tag für Überraschungen gut. Aber das hier war besser als alle anderen Möglichkeiten, denn es passierte vor der Haustür und nicht im Kongo oder in einer amerikanischen Kleinstadt. Das hier war greifbar. Es war wie Kokain für Marlon, und es würde Opium fürs Volk sein. Er konnte es Sandra nicht verübeln, dass ihr das nicht klar war. Sie war noch jung und direkt von der Uni in die Nachrichtenredaktion gekommen. Sie hatte weder Staub gefressen noch Blut geleckt.

»In jedem Fall geht hier noch was«, fügte Marlon hinzu. »Eddie hat schon einen ganzen Chip voller Bilder. Ich melde mich.« Dann drückte er sie weg, steckte das Handy in die Gesäßtasche der Cargo-Hose und verscheuchte eine Wespe, die es sich auf seinem lachsfarbenen Poloshirt bequem gemacht hatte.

Eddie stand an den Flatterbändern, mit denen die Polizei den Kindergarten weiträumig abgesperrt hatte, und schwenkte das hellgraue Teleobjektiv. Sein Kopf war puterrot. Unter der Fotoweste musste er im eigenen Saft kochen. Ein paar Haarsträhnen hatten sich aus dem dunklen Pferdeschwanz gelöst und klebten auf seiner Nickelbrille.

»Meinst du, die gehen rein?«, fragte Eddie und schraubte das Tele ab, um es gegen ein Weitwinkelobjektiv auszutauschen. Er wollte ein paar Nahaufnahmen von den Angehörigen machen. Hier vorne gab es im Moment keine Action, und an sämtlichen Fenstern des Kindergartens waren zu Eddies Ärger die Jalousien heruntergelassen worden.

»Nie im Leben.« Marlon verzog das Gesicht. »Da sind knapp fünfzig Kinder drin – ein taktischer Alptraum. Schätze, die werden versuchen, den Typen zu beruhigen.«

»Stell dir bloß mal vor, da wäre dein Kind dabei!« Eddie schulterte ächzend seine überdimensionale Kameratasche und hielt die Canon mit angewinkeltem Arm auf die gleiche dekorative Art hoch wie die Cops in Action-Filmen ihre MPs.

»Gott sei Dank habe ich kein Kind«, zischte Marlon, dessen Gedanken in diesem Moment weniger mit Mitgefühl als mit Überschriften in 47 Punkt und seinen Namen in der Autorenzeile beschäftigt waren. Von diesem Kuchen musste er sich dringend ein ordentliches Stück abschneiden. Er schnippte die Marlboro über die Absperrung. »Aber wenn ich eines hätte, würde ich dem Kerl das Genick brechen.«

… und wie schön wäre es, einen Vater zu finden, der mir genau das in den Block diktiert. Mit vollem Namen und Foto …

»Na ja«, sagte Eddie, der Marlon um einen Kopf überragte. »Ich jedenfalls besorge mir jetzt mal ein paar Nahaufnahmen und Porträts.« Damit verschwand er.

Die Sache hatte gegen zehn begonnen, als Marlon mit der Aussicht auf einen langweiligen und heißen Tag in die Redaktion aufgebrochen war. Ihn erwarteten Telefonate über eine Hintergrundgeschichte zur letzten Puffrazzia. Vielleicht noch ein Vorbericht über einen Mordprozess und natürlich das gähnend langweilige Feature fürs Wochenende über Polizeichef Jonathan Schwartz, der in den Ruhestand gehen würde. Marlon schob diesen Bericht vor sich her wie ein Stück gammeliges Sushi. Mehr als einmal war er mit Schwartz aneinandergeraten.

Als Marlon gerade bei McDrive seinen allmorgendlichen Kaffee bezahlen wollte, klingelte das Handy. Marcus, Marlons alter Freund und Tippgeber aus der Polizeibehörde, legte ohne ein Wort der Begrüßung sofort los: »Schnall dich an. Geiselnahme im Kindergarten Klabauterkiste. Mehr hab ich noch nicht. Wir sehen uns.«

Die Worte »Geiselnahme« und »Kindergarten« in einem Satz wirkten auf Marlon wie eine Spritze Adrenalin direkt ins Herz. Mit Vollgas und quietschenden Reifen war er losgerast, ohne den Kaffee zu bezahlen. Der auf der Mittelkonsole abgestellte Becher flog wie ein Geschoss ins Heck des Audi TT und verteilte seinen kochend heißen Inhalt auf den Lederpolstern.

Die Fakten, soweit Marlon sie offiziell vom Polizeisprecher und inoffiziell von Marcus sowie einigen Augenzeugen in Erfahrung gebracht hatte, stellten sich so dar: Ein Mann spaziert mit zwei Sporttaschen in den Kindergarten. Er zieht eine Waffe und teilt den Erzieherinnen mit, dass es sich um eine Geiselnahme handele. Es werde nichts geschehen, wenn seine Forderungen erfüllt würden. Eine der Frauen ist gerade auf der Toilette. Sie verständigt die Polizei per Handy und sagt, dass der Mann bewaffnet ist. Zu der Frau hält die Polizei eine Standleitung, kappt aber den Kindergarten sofort vom Telefonnetz, weil es sonst nur eine Frage der Zeit wäre, bis Anrufe auf die Klabauterkiste einprasselten und den Entführer nervös machten. Der Mann verlangt ein Funkgerät und nennt seine Forderungen. Er lehnt einen Arzt ab, weil er glaubt, dass dieser ein verkleideter Polizist sein könnte. Mit Psychologen spricht er nicht. Wenn der Mann auch nicht ganz dicht ist, so war er dennoch nicht zu unterschätzen.

Das war nicht viel, aber wie gewöhnlich wusste Marlon mehr als die meisten anderen, denn die Polizei arbeitete eng mit der Neuen Westfalenpost zusammen. Zwangsläufig. In der Region gab es keine weitere Tageszeitung, damit war die Polizei auf Gedeih und Verderb dem Blatt ausgeliefert, das täglich mehr als siebenhunderttausend Menschen darüber aufklärte, ob die Ordnungshüter gute oder schlechte Arbeit leisteten. Überbringer dieser Urteile war Marlon Kraft. Sein Einfluss stand außer Frage, dabei war für ihn das uralte Prinzip des Gebens und Nehmens selbstverständlich, ein inoffizieller Vertrag zwischen Polizei und Journalisten, der besagte: »Gibst du mir eine Story, feiere ich deinen Ermittlungserfolg.« Allerdings floss in Marlons Adern Boulevardblut, und so kam gelegentlich die Zusatzklausel im Kleingedruckten zum Tragen: »… Es sei denn, ich kann meine Autorenzeile über eine Story schreiben, die sich um das Abkassieren von Strafgeldern ohne Quittung oder nächtliche Schwulensaunabesuche von Abteilungsleitern dreht. Dann bin ich John Wayne. Und du bist mein Steigbügel.«

Marlon setzte die Sonnenbrille auf und überlegte gerade, ob er Micha in der Redaktion bereits darauf ansetzen sollte, eine Namensliste der Kinder zu organisieren, als er den vertrauten Geruch von Obsession und Zigaretten wahrnahm.

Marcus trug über seinem dunkelblauen Polohemd eine schusssichere Weste. Die Adern an den ergrauten Schläfen pulsierten wie kleine Schläuche. »Können wir reden?«, fragte er mit seiner tiefen Bassstimme. Er wirkte angespannt. Als Marlon nickte, fasst er ihn am Arm. »Komm mit.«

Die Polizei hatte die Einsatzzentrale in einer Dorfbäckerei eingerichtet. Als Marlon seinem alten Freund in den Verkaufsraum folgte, schlug ihm der schwere Duft von frischem Brot und süßen Puddingteilchen entgegen. Wespen hatten es sich auf dem Zuckerkuchen und den Obstschnitten bequem gemacht. An der Wand hing eine blaulila strahlende Lampe und wartete darauf, die Insekten mit Elektroschocks zu brutzeln.

Marcus führte ihn durch einen Flur, an dessen Ende hinter einer wuchtigen Eichentür ein kleines Büro lag, das die Polizei in Beschlag genommen hatte. In dem völlig überfüllten Raum stand die Luft. Es roch nicht mehr nach frischen Backwaren, es roch nach Schweiß. Telefone und Laptops bedeckten den Schreibtisch. Ein Grundriss des Kindergartens hing an der Wand. Thermosflaschen und Kaffeebecher sowie Pappteller mit angebissenen Brötchen standen herum. Hinter dem Schreibtisch thronte in einem mit Breitcord bezogenen Sessel Jonathan Schwartz höchstpersönlich. Der Alte wollte sich den letzten großen Auftritt seiner Karriere natürlich nicht nehmen lassen. Er redete gerade mit einem schwarzgekleideten Mann in Kampfstiefeln, brach das Gespräch aber sofort ab, als Marcus und Marlon den Raum betraten. Das nervöse Kribbeln, das Marlon in Erwartung exklusiver Infos verspürt hatte, verflog, als Schwartz von den Papieren aufsah und Marlon aus grauen Augen gleichgültig anblickte. »Ah, unser Starreporter«, murmelte er und bedeutete Marcus, die Bürotür zu schließen.

Die übrigen Polizisten sahen ihn schweigend an. Einige hatten die Arme vor der Brust verschränkt. Schließlich durchbrach Schwartz die Stille: »Also machen wir es kurz: Was wollen Sie wissen?«

Verunsichert trat Marlon von einem Bein auf das andere. Hier stimmte etwas nicht. Absolut nicht. »Wird das eine exklusive Pressekonferenz?«

»Fast.« Schwartz verschränkte die Arme und lehnte sich in dem Sessel zurück.

»Sie nehmen mich auf den Arm!«

Der Polizeichef schüttelte gemächlich den Kopf.

»Okay«, sagte Marlon zögernd. Wenn das ein Spiel werden sollte, dann war der Zeitpunkt zwar schlecht gewählt, aber er würde so lange mitspielen, wie es ihm dienlich sein konnte. »Planen Sie einen Zugriff?«

Schwartz schüttelte erneut den Kopf.

»Gibt es Verletzte?«

Wieder verneinte der Polizeichef.

»Steht die Identität des Täters fest?«

Schwartz nickte.

»Wie ist sein Name? Wer ist er und was will er?«

»Das«, brach Schwartz sein Schweigen, »möchte er Ihnen persönlich sagen.«

Die Worte trafen Marlon wie ein Blitz. Pure Elektrizität. Ein Interview mit dem Kindergarten-Geiselnehmer. Hochoffiziell abgesichert. Ein Kracher. Das würde bundesweit laufen. Mindestens. Schwartz wippte auf dem Stuhl, zog einen Kugelschreiber aus der Hemdtasche, klickte die Mine rein und raus.

»Die Situation ist extrem heikel, Herr Kraft«, erklärte er. »Wir haben in einem vollbesetzten Kindergarten einen bewaffneten Geiselnehmer, der sich in einem Ausnahmezustand befinden dürfte. Zunächst hatten wir angenommen, in seinen Sporttaschen befände sich Sprengstoff. Sie waren aber randvoll mit Spielzeug.«

Der Geiselnehmer und der Teddy. Die Geschenke des Teufels. Was für ein Titel.

»Daraus schließen wir, dass er den Kindern vermutlich nichts tun will. Der Mann ist fünfunddreißig Jahre alt, heißt Joachim Roth, stammt aus dem Nachbarort und leidet unter paranoider Schizophrenie, die offenbar nur leidlich behandelt wurde. Er ist mehrfacher Backgammon-Meister seines Clubs und hat den halben Hof seines Vaters beim Glücksspiel verzockt. Roth gilt als intelligenter Einzelgänger. Sein Vater ist Jäger und Hobbyschütze. Unser Mann hat also Zugang zu Schusswaffen, und er hat im Kindergarten einer Erzieherin eine Waffe gezeigt. Sie hält sie für echt. Seit wir Kontakt über Funk haben, wissen wir, was er will. Die Stimmung ist noch friedlich. Bisher quengeln nur ein paar Kinder, weil sie nicht rausdürfen. Aber es geht auf Mittag zu. Sie werden sich fragen, warum ihre Eltern sie nicht abholen. Die Lage könnte unseren Geiselnehmer, die Erzieherinnen und die Kinder schnell überfordern und außer Kontrolle geraten. In dem Raum befinden sich über fünfzig Personen! Der Stressfaktor ist immens. Ein Zugriff scheidet aus, denn es ist nicht auszuschließen, dass er ein Kind als Schutzschild nimmt oder wahllos zu schießen beginnt. Die Scharfschützen haben keine Chance, weil Roth die Jalousien heruntergelassen hat. Wir können auch niemanden einschleusen, weil er das sofort durchschauen würde. Wir schließen aus, dass Roth mit Argumenten zur Aufgabe zu bewegen ist. Wir müssen also auf ihn eingehen. Und jetzt kommen Sie ins Spiel, Kraft.«

Marcus reichte Marlon eine Tasse Kaffee. Er trank einen kräftigen Schluck. Als Marcus eine Zigarette folgen ließ, war Marlon klar, dass das italienische Frühstück nicht als Aufmerksamkeit, sondern zur Beruhigung gedacht war.

»Unser Täter«, fuhr Schwartz fort, »kennt Sie. Er ist Krimi-Fan, wohl deswegen verfolgt er Ihre Tätigkeit und liest Ihre … Texte.«

Tätigkeit? TEXTE? Mistkerl.

»Jedenfalls hat er uns seine Forderungen genannt, und dazu gehört, dass er mit Ihnen sprechen will. Er hat ein Pamphlet verfasst, in dem es um staatliche Manipulation beim Lotto geht, die dazu dient, Spieler wie ihn abzuzocken, damit neue Kreisverkehre gebaut werden können.«

Einige Polizisten lachten kurz auf.

»Roth fordert, dass seine Erkenntnisse um zwölf Uhr in den Nachrichten gesendet werden. Wir haben also noch vierzig Minuten. Sobald er das in seinem Kofferradio gehört hat, will er sich stellen. Sie sollen sein Dokument verlesen, weil er Sie für einen neutralen und vertrauenswürdigen Journalisten hält. Er weiß es ja nicht besser …«

Wieder Gekicher.

»Das wird kein Sender mitmachen«, stellte Marlon fest.

»Doch«, antwortete Schwartz. »Radio 107,7. Der Lieblingssender unseres Täters. So etwas lässt sich doch keiner von euch entgehen, und ich bin mir sicher, dass Sie ebenfalls nicht widerstehen können. An Ihre moralische Verpflichtung zu appellieren halte ich ohnehin für zwecklos.«

»Und wenn ich ablehne?«, fragte Marlon. »Sie wissen, dass ich das nicht machen darf. Seit der Gladbecker Geiselnahme gibt es einen Zusatzpassus im Presserecht. Ich darf mich nicht aktiv in die Polizeiarbeit …«

»Ersparen Sie mir Ihre Belehrungen, Kraft. Und damit Sie beruhigt sind: Sie sind offiziell gedeckt. Ich stehe dafür ein«, unterbrach ihn Schwartz, dem der Hinweis sichtlich schwer über die Lippen kam.

»Und wenn ich es trotzdem nicht mache?«

»Dann muss ich ›bitte‹ sagen.«

Ein sarkastisches Lächeln umspielte Marlons Lippen. »So weit müssen wir es ja nicht kommen lassen.«

 

Die Pflaster ziepten an den Haaren von Marlons Oberkörper, als er die Bäckerei verließ. Marcus hatte ihn verkabelt und ihm kurz die Technik erläutert. Ein hochempfindliches Mikrofon klebe auf seiner Brust, über den Knopf in seinem Ohr werde die Leitstelle mit ihm Kontakt halten. In den Bügel des Hörers sei eine Mini-Kamera mit Restlichtverstärker integriert. Er brauche sich keine Sorge über die Reaktion des Geiselnehmers machen, der wisse, dass er mit ihnen verbunden sei.

Marlon schlug das Herz bis zum Hals. Die Story würde alles übertreffen. Das war der Stoff, der Preise gebiert. Und wenn es gutging, würde er am Ende als Held dastehen. Neue-Westfalenpost-Reporter befreit Kinder aus Hand von irrem Geiselgangster. Großartig. Natürlich musste es unbedingt einen Weg geben, das im Bild festzuhalten.

Während Marlon sich in Begleitung von Marcus und zwei weiteren Polizisten dem Eingang des Kindergartens näherte, ging ein Ruck durch die Journalisten. Kameras schwenkten auf die Gruppe, Reporter und Fotografen liefen auf sie zu, darunter auch Eddie, der aus der Wäsche guckte, als hätte er gerade Victoria Beckham an Marlons Seite entdeckt. Ein Polizeisprecher fing die Meute ab, um zu erläutern, was vor sich ging. Marlon genoss es, als er das entsetzte Gesicht des BILD-Reporters sah, der mit offenstehendem Mund zwischen Marlon und dem Polizisten hin und her blickte. Als sie die Absperrung passiert hatten, drängte sich Eddie an das Flatterband, ließ seine Kamera rattern und bedeutete Marlon mit einer Geste, dass er ihn für völlig durchgedreht hielt. Marlon antwortete mit zwei Handzeichen, um Eddie zu vermitteln, dass er darauf achten solle, ob sich irgendwo etwas öffnen würde. Eddie nickte, sah zu den Fenstern mit den Jalousien und dann wieder zu Marlon, der ihm zuzwinkerte. Unauffällig setzte sich der Fotograf von den Reportern ab.

»Okay«, hörte Marlon Schwartz’ Stimme blechern in seinem Ohrstecker, »er weiß jetzt, dass Sie kommen. Reizen Sie ihn nicht. Sie lesen den Text in das Funkgerät, wir zeichnen auf.«

Marlon nickte. Stimmen knarrten in der Ohrmuschel.

»Er geht rein …«

»… drei in Position …«

»… habe ihn …«

»… vier in Position …«

»… Team stand-by …«

Der Funkverkehr des SEK. Bei dem Gedanken, dass er sich im Fadenkreuz der Zielfernrohre einiger Scharfschützen befand, fröstelte Marlon. Marcus gab ihm einen Klaps auf die Schulter. »Die letzten Meter musst du alleine gehen. Wenn etwas schiefläuft, werden wir es sofort mitbekommen und handeln.«

»Aber nicht, bevor ich mein Interview habe. Heute Abend Tennis? Ich habe noch eine Rechnung mit dir offen«, antwortete Marlon betont locker.

Marcus schüttelte den Kopf. »Du bist unverbesserlich. Mach bloß keinen Mist.«

Hinter der Glastür des Kindergartens hörte Marlon aus dem spärlich erleuchteten Flur den gedämpften Klang lachender Kinder, Spielgeräusche und eine Gitarre. Garderobenhaken reihten sich an der Wand in Brusthöhe aneinander. Jeansjäckchen, Sweatshirts und Butterbrottaschen hingen daran. Darunter standen Bänke mit Schuhfächern, in denen kleine Turnschuhe und Sandalen steckten. Ein Regal war bis oben hin angefüllt mit Gummistiefeln. An den Wänden hingen bunte Bilder, die Bienen und Schmetterlinge zeigten. Dennoch hatte das Grauen Einzug gehalten. Der böse Butzemann war gekommen. Er würde nicht zögern, das eine oder andere Kind in seinem Sack mit ins Dunkelland zu nehmen, und draußen hielten sich Dutzende Notärzte in Bereitschaft, um verletzte kleine Körper zu behandeln. Scharfschützen lagen auf den Dächern, Maschinenpistolen waren entsichert und Gasgranatenwerfer geladen. Die martialische Maschinerie würde auf Knopfdruck mit aller Gewalt und Härte zuschlagen. Marlon schauderte.

Seine Sinne waren aufs äußerste geschärft. Jede Wahrnehmung, der leichte Duft nach Kakao, das Quietschen seiner Sohlen auf dem Linoleum – alles konnte wichtig sein. Ein Symbol, um den Lesern die Wahrheit hinter der Wirklichkeit zu verdeutlichen. Ja, das ist das wahre Koks, dachte er und zog die Nase hoch. Dumme Angewohnheit. Immer noch, obwohl er schon seit über einem Jahr clean war.

Von links hörte er ein Geräusch, zuckte zusammen und sah in dem verdunkelten Waschraum die Silhouette einer Frau.

»Frau Drawe«, hörte Marlon Schwartz über den Kopfhörer sagen, »die Erzieherin, die wir gebeten haben, den Kontakt zu uns aufrechtzuerhalten, damit wir wissen, was drinnen vor sich geht. Roth weiß nichts von ihr.«

»Okay«, flüsterte Marlon, wischte sich die Nase und schlich weiter. Er hatte vergessen, dass sie in der Einsatzleitung über die Mini-Kamera in verrauschten Videobildern all das sehen würden, was in seinen Blick geriet. Dann stand er vor der roten Tür, aus der das Kinderlachen, die Spielgeräusche und der Gitarrenklang drangen. Auf das Holz war ein großer Frosch geklebt, der überdimensionierte gelbe Augen hatte und aus dessen Fratze eine endlos lange Zunge schoss.

»Das ist die Tür«, sagte Schwartz. »Gehen Sie rein. Langsam. Unaufgeregt.«

»Sie haben gut reden.«

»Keine Angst. Solange Sie sich normal verhalten, wird nichts außer Kontrolle geraten.« Vorsichtig öffnete Marlon die Tür und musste sofort die Augen zusammenkneifen, als ihm das helle Licht der Deckenbeleuchtung in die Augen fiel.

»Restlicht runter«, hörte er, »haben kein Bild.«

»Restlicht ist runter«

»Bild steht.«

»Bestätigt.«

»Da ist ja die Ratte!«

Das Gewirr aus dem Funkverkehr und das laute Kreischen, Juchzen und Schreien der annähernd fünfzig Kinder irritierte Marlon für einen Moment. Jungen und Mädchen tobten ausgelassen durch den stickigen Raum, der nur für die Hälfte der Kinder ausgelegt war und aus allen Nähten zu platzen schien, bevölkerten die Puppenstube und die Leseecke, kneteten an den Tischen oder saßen auf dem Fußboden, der von Spielsachen übersät war. Die Schallkulisse war ebenso überwältigend wie das von Körperausdünstungen angereicherte feuchtwarme Klima. Mit schweißnassem Haar, roten Wangen und kalkweißem Gesicht saß eine der Erzieherinnen auf dem Sofa und spielte auf der Gitarre. Davor hockten einige Kinder auf einem Teppich, der mit Straßen und Verkehrszeichen bedruckt war. Aus weit aufgerissenen Augen sah sie Marlon an. Die beiden anderen Erzieherinnen spielten mit den Kindern, die ältere von beiden hielt ein Taschentuch in der Hand, mit dem sie sich immer wieder den rechten Augenwinkel rieb. Auch sie blickten zu Marlon, der nun nur noch Augen für den Mann hatte, der inmitten des Raumes auf einem Kinderstuhl saß, Indianerschmuck trug und eine nackte Barbie in Händen hielt. Auf seinem Schoß lag ein Funkgerät.

Roth sah weder aus wie ein Ungeheuer noch wie ein Irrer. Er hatte eher etwas von einem Mathe- und Computerfreak. Ein Außenseiter. Die schwarzen Haare waren kurz geschnitten, und er trug einen schmalen Oberlippenbart. Das bedruckte schwarze Hemd hing aus seiner verwaschenen Jeans und schien ein paar Nummern zu groß zu sein. Er war hager, bleich, und an dem schmalen Handgelenk glänzte eine riesige Multifunktionsuhr mit zahlreichen Knöpfen.

Als Roth Marlon entdeckte, huschte ein Lächeln über seine Lippen. Er gab die Barbie einem kleinen Mädchen mit wuscheligem Lockenkopf, setzte den Federschmuck ab und stand auf. »Hallo, Herr Kraft«, rief er und winkte ihm zu. Er klang, als steckte er noch im Stimmbruch, und seine Hand lag kraftlos wie eine tote Schlange in Marlons. »Freut mich sehr«, fügte er hinzu, den Kinderlärm mit einiger Anstrengung übertönend. »Es ist gut, dass wir uns endlich kennenlernen. Ich bin mir sicher, dass Sie den Ernst der Lage begreifen, wenn Sie das hier gesehen haben.«

Begreifst DU den Ernst der Lage?

Roth lächelte, und jetzt wusste Marlon, was ihn an dem Mann irritierte. Seine Augen. Sie waren so leer wie sein Lächeln. Ohne jeden Ausdruck. Sie hätten aus Glas sein können. Roth griff mit der rechten Hand hinter sich, um etwas aus dem Hosenbund zu ziehen. Eine Geste, die nicht unbemerkt blieb und Marlon einen Schritt zurücktreten ließ.

»Achtung!«

»Vielleicht greift er nach einer Waffe.«

»Vorsicht, Kraft!«

»… haben immer noch keine Sicht …«

Die Stimmen im Kopfhörer überschlugen sich, um sofort wieder zu verschwinden, als Roth ein sorgfältig zusammengefaltetes Dokument aus der Hosentasche zog und Marlon reichte. Er lachte. »Haben Sie einen Schreck bekommen? Oder haben die einen Schreck bekommen?«

Marlon zuckte mit den Achseln und griff nach dem Zettel. Er wirkte wie feines Büttenpapier.

»Wundert mich nicht«, sagte Roth, dessen Dauergrinsen an Marlons Nerven zerrte. »Ich werde schon seit Jahren überwacht. Sie versuchen, meine Gedanken zu stören. Mikrowellen. UV-Strahlung. Ich wundere mich über nichts mehr. Aber Sie kennen die ja.« Er trat einen Schritt näher. »Sie kennen die. Sie haben keine Angst. Ich lese Ihre Artikel. Und ich lese auch alles zwischen den Zeilen, Herr Kraft. Sie sind sehr geschickt. Aber ich verstehe alles. Ihre Botschaften kommen an.«

»N-natürlich. D-danke«, stammelte Marlon und fragte sich, was um Gottes willen Roth da faselte. Aber er nahm an, dass es besser sein würde, auf ihn einzugehen. Dann überflog er den Zettel. Wirres Zeug über Manipulationen beim Lotto zur Finanzierung geheimdienstlicher Aktivitäten. Marlon sah auf die Uhr. Zwanzig vor zwölf. Es blieb nicht mehr viel Zeit.

»Verstehen Sie meine Theorie?«, fragte Roth und legte den Kopf schief.

Marlon nickte und log: »Natürlich. Wenn das stimmt, dann ist das eine Sensation.«

Roth strahlte ihn an. »Mit meinem eigenen Geld haben die es finanziert, mich zu überwachen.« Das Lächeln verschwand von seinen Lippen. »Mit meinem eigenen Geld!«, schrie er, schnaubte, und sein Kopf lief hochrot an. Einige Kinder sprangen zur Seite. Die Erzieherinnen zuckten zusammen. Konnte dieser Mann durchdrehen? War er unberechenbar? Mit Sicherheit.

Die Stimme in Marlons Ohr meldete sich. »Kraft, wenn alles okay ist, husten Sie.« Marlon hüstelte nervös. »Okay. Lesen Sie das vor und verschwinden Sie«, sagte Schwartz. Marlon hüstelte wieder. »Wenn es Ihnen gelingt, bringen Sie den Mann auf den Flur, raus aus der Gruppe. Dann haben wir eine Möglichkeit. Aber: keine Heldentaten.«

Das Spiel bekam eine neue Wendung, dachte Marlon. Nun wollte die Polizei ihn offenbar doch als Instrument benutzen. Ein kleines Mädchen zupfte an seiner Hose. »Bist du erkältet?«, lispelte sie. Marlon lächelte gequält und schüttelte den Kopf. Sie hatte Pippi-Langstrumpf-Zöpfe und eine niedliche Zahnlücke. Ja, er musste versuchen, Roth hier rauszubringen. Aber vorher war noch dafür zu sorgen, dass Eddie ein Foto machen konnte. Reporter verhandelt mit dem Geiselnehmer. Erst das Bild würde die Geschichte zum Überknaller machen. Und dazu musste die Jalousie geöffnet werden.

Roth hatte sich wieder beruhigt. »Hier, das Funkgerät. Bitte verlesen Sie mein Vermächtnis. Wenn es in den Nachrichten gesendet worden ist, gehen wir raus. Ich will keinem etwas tun – aber: Niemand hat je auf mich gehört, und diese fürchterlichen Dinge müssen aufhören. Sie wollen mein Gedächtnis löschen. Ihnen wird man glauben. Ich vertraue Ihnen.«

Marlon nickte und sah sich in dem Raum um. An dem Fenster, direkt neben dem Sofa, war ein Schaltrelais in die Wand eingelassen. Es hatte zwei Tasten. Das musste die Steuerung für die Jalousien sein.

»Was ist das für ein Aufdruck auf Ihrem Hemd?«, fragte Marlon. Es sah aus wie eine Kung-Fu-Zeichnung in tiefem, leuchtendem Rot mit viel Gold.

»Der Drache«, flüsterte Roth. »Es ist der Purpurdrache. So nennen sie mich im Backgammon-Club wegen meines Hemds.«

»Das Vermächtnis des Purpurdrachen«, leck mich am Arsch.

Roth kicherte. »Die haben natürlich keine Ahnung. Aber Sie wissen es, nicht wahr? Er ist Ihnen gleich aufgefallen. Sonst hätten Sie nicht gefragt, richtig? Sie kennen sein Geheimnis.«

»Sicher«, sagte Marlon und zermarterte sich den Kopf, wie er an den Schalter der Jalousie gelangen könnte. »Ich weiß Bescheid. Aber wir haben nicht mehr viel Zeit. Und hier drinnen ist es zu laut. Wir könnten zum Lesen auf den Flur gehen. Da haben wir genug …«

Roth lächelte und schüttelte den Kopf. »Das werden wir nicht, Herr Kraft. Dann würde die Polizei sofort eingreifen, das geht nicht. Nein, wir lesen hier drinnen. Und ich bin mir sicher, dass die Kinder einen Moment lang ruhig sein werden.«

»Ganz wie Sie wollen«, sagte Marlon.

»Mist«, krächzte es in seinem Ohr. »Abbruch!«

Wie es schien, hatten sich die Wahnsinnigen da draußen bereits auf den Weg gemacht. Marlon schluckte.

»Vielleicht«, schlug er Roth vor, »gehen wir rüber in die Leseecke …«

… zu dem Schalter, an den ich mich versehentlich anlehnen könnte …

Roth war einverstanden. Die Erzieherin mit der Gitarre brachte die Kinder weg von dem Straßenteppich. Marlon lehnte sich neben dem Sofa an und tat so, als überfliege er das Vermächtnis noch einmal. Tatsächlich drückte er den Rücken sanft an die Wand, bis er einen kantigen Widerstand an den Lendenwirbeln spürte. Das Steuerungsrelais. Roth schaltete das Funkgerät ein.

»Wir werden jetzt senden«, sprach er hinein.

»In Ordnung, wir zeichnen auf«, rauschte es zurück.

Roth reichte das Gerät Marlon und erhob seine Stimme. »Alle Kinder sind jetzt leise …«

Die Kinder tobten und kreischten weiter.

»Sorgen Sie für Ruhe, verdammt!«, schrie er die Erzieherinnen an, die zusammenzuckten. Roth griff in seinen Hosenbund und zog eine Pistole hervor, die er einmal kurz vorzeigte und dann in der rechten Hand baumeln ließ. Jetzt zuckte auch Marlon zusammen.

»Kraft?« Marlon hustete.

Die Erzieherinnen knieten sich hin, legten sich die Finger an die Lippen und machten »Pssst«. Wie es aussah, eine hundertfach erprobte Methode, um für Ruhe zu sorgen. Die Kinder setzten sich, legten ebenfalls die Finger an die Lippen und machten »Pssst«.

Marlon starrte auf die Pistole in Roths Händen. Irgendetwas stimmte damit nicht.

»Können wir?«, krächzte es aus dem Funkgerät.

»Wir können«, sagte Marlon. Roth schloss die Augen, um seinem Vermächtnis zu lauschen, und verschränkte die Hände vor dem Hemd, auf dem sich der purpurne Drache schlängelte.

»Dieses ist das Vermächtnis eines Verfolgten und von Radiation in seinem Gedächtnis Beschädigten. Der BND und der KGB planen unter dem Code Casino die Übernahme Mitteleuropas. Dazu sind verdeckte Gelder des CIA und der Al Qaida aus den Attentaten im Einsatz, es wird auch Geldbeschaffung zur Ausrüstung einer Armee unter unseren Augen betrieben …«

Um Gottes willen, lese ich das wirklich vor?

»… in Anschlägen auf mein Leben sollte meine Methode zur Einsatzverteilung und Gewinnquotierung in sogenannten Glücksspielen und beim Lotto vernichtet werden, indem mittels Medikamenten, Strahleneinsatz und künstlichem Schlafentzug mein Gedächtnis gelöscht werden sollte. Weitere Anschläge wurden auf mein Vermögen verübt, indem die von mir entwickelte Methode sabotiert wurde, was den staatlichen Einfluss auf das angebliche Glücksspiel Lotto beweist.«

Jetzt wusste Marlon, was mit der Pistole nicht stimmte. Durch einen Spalt in der Jalousie fiel etwas Sonnenlicht auf die Waffe, und nun sah er es deutlich. Sie hatte oben und unten Klebegrate. Außerdem war sie verkratzt und an einigen Stellen nicht schwarz, sondern dunkelblau. Dann fiel ihm das große Schiebefach hinter der Zieleinrichtung auf. Es war eine angemalte Erbsenpistole. Ein Spielzeug.

Marlon war erleichtert. Hier würde nichts passieren. Nichts, außer einer guten Möglichkeit zum Fotografieren für Eddie. Und im Ernstfall würde er mit einem Spielzeugpistolen schwingenden Irren auch noch selbst fertigwerden. Marlon presste den Rücken an die Wand und spürte, wie sich die Druckknöpfe in seine Lende bohrten. Mit einem Ruck sprang der Motor an. Die Jalousie ging nach oben.

»Was ist das?«, fragte Roth.

»Was ist was?«, entgegnete Marlon verblüfft.

»Kraft, was geht da vor? Die Jalousie öffnet sich …«, funkte es in seinem Ohr.

»Was passiert da?«, kreischte Roth und stürzte zum Fenster. Gleißendes Sonnenlicht fiel in den Raum. Die Jalousie hatte sich bereits um ein gutes Drittel gehoben.

»Was machen Sie da?« Roth stürzte auf Marlon zu, der sich umdrehte und sagte: »Oh, Mist, ich habe mich wohl an den Knopf gelehnt …«

Mit einem kurzen Seitenblick prüfte Marlon, ob sich die Jalousie bereits weit genug geöffnet hatte. Er sah das rote Absperrband. Eddie kniete dahinter und hielt sich die Kamera vors Gesicht. Gut so. Das war’s. Und dann stand Roth vor ihm und schleuderte Marlon gegen die Wand.

»Was tun Sie da?«, brüllte er.

Einige Kinder begannen zu weinen.

»Nur die Ruhe, ich bin zufällig an den Schalter gekommen …«

»Kraft, was passiert da?«, hörte Marlon es krächzen. »Team bereit.«

»Sind nicht mehr blind.«

»Zwo in Position!«

Um Himmels willen!

Dann riss Roth die Erbsenpistole hoch und ging auf Marlon los, der das Funkgerät fallen ließ, um den Angriff abzuwehren.

»Machen Sie das wieder runter!«, schrie Roth.

»Ziel hat Waffe«, hörte Marlon.

»Achtung, Zugriff!«

Sie tun es. Jetzt. Sie tun es wirklich.

»Es ist eine Erbsenpistole, Schwartz! Ein Spielzeug!«, brüllte Marlon aus Leibeskräften in das Mikro auf seiner Brust. Die Jalousie war fast oben. Lichtreflexe tanzten auf den Dächern. Polizisten zerrten Eddie zur Seite und warfen sich mit ihm auf den Boden.

Die Stimmen in Marlons Ohr überschlugen sich, während er mit Roth rang.

»Zwo keine Möglichkeit …«

»Wir hören Sie nicht, Kraft …«

»Sie kämpfen, es gerät außer Kontrolle.«

»Sechs hat Chance, siebzig Prozent.«

»Eins hat jetzt Chance, achtzig Prozent.«

Sie begriffen nicht. Sie verstanden nicht. Oder sie konnten ihn nicht verstehen. Das durfte nicht geschehen.

»Fünf hat neunzig Prozent.«

»Das reicht«, hörte Marlon die kalte Stimme von Schwartz, während ihm der heiße Atem von Roth ins Gesicht schlug.

»Runter!«, brüllte Marlon. »Alle runter!«

»Was …«, sagte Roth tonlos und hielt in seiner Attacke inne.

Dann zerbarsten die Fensterscheiben. Kinder kreischten und schrien um ihr Leben. Rauschen und Pfeifen in seinem Ohr. Ein Teddy zerplatzte. Unter der Decke zerfetzten Lampen. Marlon sah einen Stuhl. Den Autoteppich. Einen Kung-Fu-Drachen. Und das Reh. Ja, das Reh. Seine toten Augen.

Dann wurde alles rot. Purpurrot.

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2.

Drei Jahre später

Bang, bang, bang. Die Schüsse krachten durch den Raum. Alex zwang sich, durch den Mund zu atmen. Den Pulvergestank hatte sie von dem Moment an gehasst, als er ihr in der Ausbildung vor Jahren zum ersten Mal in die Nase gestiegen war. Dann legte sie die Pistole auf den Tisch, drückte auf den Knopf, und die Schießscheibe surrte heran. Helen grinste, verschränkte die Arme und sagte etwas. Alex nahm den klobigen Gehörschutz ab.

»Hä?«

»Verdammtes Miststück, habe ich gesagt. Stehst du auf Beschimpfungen, oder warum willst du das gleich doppelt?«

»Der Gehörschutz …« Alex tippte mit den Fingernägeln auf die gelbe Plastikschale.

Helen lächelte immer noch. Sie war einen Kopf kleiner als Alex und nach ihrer Schwangerschaft ein wenig in die Breite gegangen. Die Schutzbrille, die sie jetzt hochgeschoben auf der Stirn unter dem wuscheligen blonden Haar trug, hatte tiefe Abdrücke rund um die Augen hinterlassen, an denen sich die ersten Fältchen bildeten. Sie nickte in Richtung Schießscheibe. Alex zog die Schutzbrille ab, strich sich eine tiefschwarze Strähne aus dem Gesicht und kniff die Augen zusammen.

»Mach das nicht, das gibt Falten«, lachte Helen. »Die gehören nicht in so ein hübsches Schneewittchengesicht.«

»Hast du eine Ahnung …« Auch Alex lachte. Schneewittchen. So hatte Helen sie früher schon genannt. Weil Alex sie mit ihrem pechschwarzen Haar, der hellen Haut, den rehbraunen Augen und dem kirschroten Mund daran erinnerte. Helen liebte Spitznamen.

»Und warum Miststück?«, fuhr Alex fort. »Die Treffer sind doch alle plaziert?«

»Eben«, grinste Helen. »Und zwar alle im Gesicht.«

»Oh.« Jetzt erst fiel es auch Alex auf. Sie hatte auf der Mannscheibe tatsächlich sechs Treffer direkt im Gesicht der Zeichnung gelandet. »Tatsächlich.«

»Man könnte fast meinen, du seist Schütze statt Wassermann – eigentlich bist du auch viel zu zielgerichtet. Muss am Aszendenten liegen.«

»Du mit deinem Astro-Tick – du weißt doch, was ich davon halte.«

Helen nickte. »Na, dann hat das wohl mit Ihrem Job zu tun, Frau Doktor von und zu?«

Alex lachte. Andauernd machte sich irgendwer darüber lustig. Nun, sie konnte damit leben. Was den Namen anging, hatte es schon im Kindergarten begonnen. Alexandra Gräfin von Stietencron. Eine Steilvorlage für Kinder. Irgendwann in der Oberstufe hatte es aufgehört. Nach dem Abitur sowieso. Ihr Vater war damals ausgetickt, als Alex ihm mitgeteilt hatte, dass sie nicht Jura studieren würde. Noch heute hörte sie seine tiefe Stimme durch die Düsseldorfer Biedermeiervilla im schicken Oberkassel hallen. Sie, mit ihrem Einser-Abschluss. Lehrling wolle sie werden und Strafzettel verteilen – mit diesen Worten hatte er ihr Studium an der BKA-Akademie herabgewürdigt. Ein Jahr lang hatte er kein Wort mit ihr gewechselt. Als sie später das Medizinstudium aufgenommen hatte, war er zunächst versöhnt gewesen, um dann erneut in störrisches Schweigen zu verfallen, als sie auf Psychologie umsattelte, weil sie die Medizin nur als einen Trittstein auf ihrem Weg angesehen hatte.

Alex legte den Kopf schief und betrachtete die Schießscheibe. Sie war froh, dass sie das Ding nach der langen Zeit überhaupt getroffen hatte. Daran gemessen war das Ergebnis geradezu brillant. »Was gibt es denn auszusetzen?«

»Eigentlich nichts«, sagte Helen und schob ein neues Magazin in ihre Walther. »Nur: Psychologin, Kopf, Pistole, Kopftreffer – hallo?«

»Ah.« Alex nickte. »Verstehe. Tja, wer weiß: Die Schaltkreise da oben sind unergründlich.«

Helen lächelte und schob sich ihre Brille über die Augen. »Natüüüürlich. Aber du kommst zurecht, das stimmt. Ist wie Fahrradfahren, oder?«

»Mmh.« Es war tatsächlich wie Fahrradfahren. Alex hatte es für eine gute Idee gehalten, sich wieder etwas fit zu machen, bei Helen angerufen und gefragt, ob ein paar Runden im Schießkino drin seien. Natürlich gehörte Alex längst nicht mehr dazu, zumindest offiziell nicht. Aber: einmal Polizist, immer Polizist. Helen hatte einen Weg gefunden, Alex einzuschleusen.

Die Töne von Axel F., der einprägsamen Titelmelodie von Beverly Hills Cop, plärrten aus Alex’ Handtasche.

»O nein«, stöhnte Helen. »Das ist … Das kann doch wohl echt nicht wahr sein, Schätzchen: Axel F.?«

Alex zuckte mit den Schultern und zog das Handy aus der Tasche. »Ja, das war aber ein Zufall mit dem Klingelton, denn …« Sie brach abrupt ab, als sie die Nummer im Display sah. »O Gott …«

»Sag nicht«, sagte Helen und legte die Waffe beiseite, »sag nicht, sie sind es?«

»O Gott, o Gott!« Alex sprang von einem Bein auf das andere. Doch nicht hier. Ausgerechnet hier und jetzt. Das passte ü-b-e-r-h-a-u-p-t nicht.

Helen legte die Hand vor den Mund. »Sie sind es.«

Die Nummer im Display war die des LKA – genauer gesagt die Durchwahl von Dr.Johannes Stemmle aus der Operativen Fallanalyse. Die Abteilung hatte ihre Wurzeln im US-amerikanischen Profiling. Bei ungeklärten Tötungsdelikten berieten speziell ausgebildete Kriminalbeamte, unterstützt von Psychologen, die Sonder- und Ermittlungskommissionen. Ihr Job war es, anhand aller verfügbaren Daten Tathergang und Tatphasen akribisch zu rekonstruieren und Verhaltensaspekte abzuleiten, um Aufschluss über die Motive des Täters und dessen Verhaltenscharakteristik zu erhalten. Stemmle war der Koordinator für das landesweite Pilotprojekt, auf das sich Alex vor einigen Wochen beworben hatte. Mittelgroßen Behörden sollten in ausgewählten Städten Psychologen zugeordnet werden. »Ein Testballon«, hatte Stemmle erklärt, »der auch nur auf das Drängen eines Kollegen zustande gekommen ist, der unbedingt neue Wege beschreiten will.« Machte ja nichts – in neuen Wegen war sie gut, wenngleich Stemmle ihr als Berufsanfängerin keine allzu großen Hoffnungen gemacht hatte.

In dem Projekt ging es vorrangig um die Supervision der Einsatzkräfte, Personalentscheidungen, Gesprächsangebote. Außerdem sollte Betroffenen Beistand und bei Bedarf ermittlungstaktische Hilfe geleistet werden. Das Land hatte die Sache abgenickt, in der Hoffnung, dass Kapazitäten bei den überlasteten kriminalpsychologischen Abteilungen des LKA und BKA entlastet sowie Kosten bei der Beauftragung teurer freier Gutachter gespart werden konnten.

Alex sah den potenziellen Job als Sprungbrett. Vielleicht entwickelte sich aus dem Projekt eine feste Stelle, wenn sie ihre Sache gut machte, wozu sie finster entschlossen war. Ihr Lebenslauf übertraf die Anforderungen ohnehin bei weitem: kriminalpolizeiliche Ausbildung an der BKA-Akademie, ein paar Semester Medizin, »Summa cum laude«-Promotion in Psychologie, eine ganze Reihe einschlägiger Workshops in Forensischer Psychiatrie und Seminare in operativer Fallanalyse sowie ein einjähriges Praktikum im privaten kriminalpsychologischen Institut ihrer Mentorin, die Gutachten und Täterprofile für die Landeskriminalämter anfertigte. Zudem war Alex gerade mal zweiunddreißig Jahre alt sowie Bezirksmeisterin im Triathlon und die Tochter von Alexander Graf von Stietencron, der an der Düsseldorfer Kö einer angesehenen Kanzlei vorstand, seit Jahrzehnten erste Wahl in Wirtschaftsfragen. Die Referenzen waren vorzüglich. Nur nicht, und Stemmle war nicht müde geworden, es zu betonen, ihre mangelnde Berufserfahrung.

Alex atmete durch, schluckte schwer und nahm das Gespräch an. Eine Absage. Es stand so fest wie das Amen in der Kirche. Mit zusammengepressten Lippen und der freien Hand aufs Herz gedrückt, stand sie mit überkreuzten Beinen da, verfolgte konzentriert Stemmles Worten, nickte gelegentlich und ließ ein »Mmh« folgen. Helen gab keinen Mucks von sich. Schließlich verabschiedete sich Alex, klappte das Handy zusammen und sank mit einem »Puuuh« in sich zusammen.

»Sie haben dich nicht genommen.« Helen hielt sich die Hand vor den Mund. »Diese Idioten.«

»Der Dienststellenleiter habe gesagt, ich sei ja etwas jung.«

»Ja und? Spinner!« Sofort schoss die Farbe in Helens Gesicht, wie immer, wenn sie wütend wurde.

»Die Berufserfahrung sei ja auch nicht so doll …«, seufzte Alex.

»Und wie soll man Berufserfahrung bekommen, wenn nicht durch die Praxis? O Mann, wenn ich das schon wieder höre …«

»Ja.« Alex atmete schwer aus. »Das hat der Dienststellenleiter auch zu Stemmle gesagt.«

»Wie«, fragte Helen verwirrt, »was hat er gesagt? Das verstehe ich jetzt nicht.«

»Dass man Berufserfahrung nur durch Praxis erhält.« Ein breites Lächeln legte sich wie ein Sonnenstrahl auf Alex’ Gesicht. »Ich habe den Job.«

»Aaaaah!« Helen riss die Hände hoch wie ein Boxer nach dem Sieg. »Du Miststück!«

Sie sprang auf Alex zu und nahm sie in die Arme. »Mensch, ich freue mich so für dich!«

Alex spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten und sich der Kloß in ihrer Brust löste. »Ja. Ist das nicht toll? Stemmle hat dann auch zugestimmt. Er hat es zwar an eine ganze Reihe von Auflagen geknüpft, aber was soll’s. Und ich Idiotin fange an zu heulen.«

»Das macht doch nichts, Süße.«

Doch, dachte Alex, tut es. Sie zog die Nase hoch, wischte sich durch die Augenwinkel und hatte sich wieder gefangen. »Das habe ich alles dir zu verdanken, Helen. Wenn du mir nicht die Ausschreibung …«

»Papperlapapp.« Helen machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Doch, es ist so. Du weißt ja nicht, was es für mich bedeutet …«

»Für mich bedeutet es jedenfalls, dass wir bald wieder Kolleginnen werden, und das finde ich großartig. Ich meine, ein paar Kilometer liegen ja dazwischen, das ist echt wilde Prärie da hinten. Aber für den Anfang bestimmt nicht schlecht, oder?«

»Ja, das glaube ich auch.«

»Und wann geht’s los?«

Alex hob die Augenbrauen. Es fühlte sich fast so an, als verkünde sie den Geburtstermin eines Babys. »In drei Wochen.«

Helen grinste und schob die Schutzbrille wieder über die Augen. »Okay, Cowgirl. Dann sollten wir keine Zeit verlieren und noch ein wenig trainieren.«

»Ja«, lächelte Alex, »das sollten wir.«

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3.

Die Erntesaison begann in Lemfeld für gewöhnlich Anfang August, wenn die Felder hoch standen und die mit reifen Körnern gefüllten Ähren sich in Richtung Boden neigten. Der Monat hatte ungewöhnlich kalt und feucht begonnen. Die Äcker waren verregnet, die Erde nass, die Gerste von Sturmböen niedergedrückt, und damit war an Arbeit im Korn noch nicht zu denken. Einige Spaßvögel hatten den Stillstand genutzt und Kreise in die Felder gezeichnet, die vielleicht vor einigen Jahren noch Aufsehen erregt hätten, jetzt der Lokalpresse aber nur noch eine müde Bildzeile mit der ironischen Überschrift »Grüße vom Sirius« wert waren. Nachdem sich der Spätsommer dann wieder zurückgemeldet hatte, herrschte Hochbetrieb auf den Äckern, und der Klang der Mähdrescher dröhnte über Lemfeld wie vor mehr als sechzig Jahren die Rotoren der amerikanischen Geschwader auf dem Rückweg von ihren Bombardierungen.

Reinhold Kröger drehte seit dem frühen Morgen seine Runden auf dem gewaltigen John Deere, genoss die kühle Brise aus der Klimaanlage sowie einige Butterbrote, die er sich mit Spiegelei belegt hatte. Für heute Mittag waren Gewitter angesagt. Er musste sich beeilen. Aber Eile war bei der Feldarbeit ein relativer Begriff. Der John Deere fraß sich wie eine dicke Heuschrecke Stunde um Stunde gemächlich durch das Korn – nur unterbrochen von gelegentlichen Stopps am Traktor zum Entleeren des Tanks. Das GPS wies Kröger den Weg, und das monotone Surren der Maschine und die sanfte klassische Musik aus dem Radio ließen ihn schließlich für einen Moment einnicken. Krögers Kopf kippte nach vorne, die grauen Haare fielen ihm in die wettergegerbte Stirn und schließlich das Butterbrot aus der Hand.

Lautes Krachen riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Einen Augenblick lang war er benommen, und er starrte wie durch einen roten Nebel auf die großflächig plattgedrückte Gerste im Zentrum des Kornfeldkreises. Der John Deere ruckelte. Dem Krachen folgte ein Knirschen. Dann schaltete das Sicherungssystem die Maschine aus. Nur das Radio lief weiter und spielte eine Nocturne von Chopin. Kröger rieb sich mit den schwieligen Handballen über die Augen, aber der Nebel wollte nicht verschwinden. Schließlich durchfuhr es ihn wie eine Eisenfaust. Es war kein Nebel. Die komplette Windschutzscheibe war mit feinen rotbraunen Tropfen besprüht, die in zähen Schlieren an dem Plexiglas herabliefen. Blut.

Der Landwirt schoss aus dem Ledersessel und sprang aus dem Führerhaus. Irgendein dämliches Rehkitz, das sein Lager in dem Kornfeldkreis eingerichtet hatte, musste in das Schneidwerk geraten sein. Abgesehen davon, dass das eine Riesensauerei und unter Umständen einen teuren Schaden bedeutete, hieß das auch: Mach’s gut, Gerste. Denn das Gewitter zog bereits auf. Die Luft war zum Schneiden. Klebrig, heiß und feucht. Ein schwüler Wind raschelte in den Ähren.

Kröger ballte die Fäuste und marschierte vorbei an den mannshohen Reifen des John Deere, um sich den Schaden zu besehen. Als er an der gewaltigen, fast fünf Meter breiten Einführungsschnecke angekommen war, stockte ihm der Atem. Das Metall war über und über mit Blut bezogen, und die komplette Front des Mähdreschers war damit besprüht. Nicht auszumalen, welche Schweinerei das Mistvieh hinter den Messern im Dreschwerk angerichtet haben würde. Aber es musste etwas weitaus Größeres gewesen sein als ein Rehkitz, dachte Kröger. Vielleicht war es auch Aas gewesen, vielleicht …

Rechts außen an dem Schneidwerk hatte sich ein Fetzen Stoff verfangen, und als Kröger genauer hinsah, erkannte er einen orangefarbenen BH. Als er den abgetrennten Fuß entdeckte, an dem noch ein Flipflop steckte, löste sich ein heiserer Schrei aus seiner Kehle, und eine unverdaute Masse aus Eierbroten folgte.

Das Aas war ohne Zweifel weiblich.

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4.

Menschen, die Geldautomaten blockieren und sich benehmen, als würden sie die Geräte neu programmieren. Rentnerinnen in Metzgereien, die sich jede Scheibe Wurst vorführen lassen, als handele es sich dabei um 69er Châteauneuf.« Marlon schürzte die Lippen und dachte nach. Der Typ im Parkhaus war ihm heute ebenfalls auf die Nerven gegangen. »Alte Säcke, die ihre Audis nicht unter acht Zügen einparken«, tippte er in das Laptop. Die Finger flogen über die Tastatur. Schließlich lehnte er sich in dem silbernen Stuhl auf der Terrasse des Cafés zurück, leerte den dampfenden Espresso in einem Zug und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. So viel zu heute.

Viviane, seine Therapeutin, hatte ihm empfohlen, diese Listen täglich zu führen, um seine Aggressionen zu artikulieren. Klappte ganz gut. Das Word-Dokument mit dem Titel »Bullshit« umfasste inzwischen fünfundachtzig Seiten. Bald könnte er nach einem Verlag suchen. Ein Lächeln huschte über Marlons Lippen. Die junge Mutter am Nachbartisch auf der Außenterrasse lächelte freundlich zurück. Missverständnis. Machte nichts. Lächeln ist Lächeln, und jedes Lächeln ist gut, wie er bei Viviane gelernt hatte.

Die Sonne versteckte sich hinter den Wolken. Die Luft in der Stadt war tropisch und stickig, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie sich in einem Gewitter entladen würde. Marlon mochte Gewitter, aber heute sorgte die drückende Luft für dumpfe Kopfschmerzen, die sich vom Nacken aus über die Hirnschale ausbreiteten. Außerdem pochte und juckte die Narbe an der Schläfe, wo ihn die Kugel gestreift hatte. Einen Zentimeter weiter rechts, und er wäre entweder nur noch ein sabbernder Lappen oder der kälteste Polizeireporter der Stadt gewesen.

Zwei Tage lang hatte er auf der Intensivstation gelegen. Nach den Schmerzen war der Wahnsinn gekommen. Als es nicht mehr zum Aushalten gewesen war, hatte Marlon Sandra um Vivianes Adresse gebeten. »Posttraumatische Belastungsstörung« lautete kurze Zeit später die Diagnose. Immer wieder die gleichen Alpträume. Schweißausbrüche. Panikattacken. Zugeschnürter Hals. Einmal hatte er in der Redaktion einen Weinkrampf bekommen, als er sich zwischen zwei Fotos nicht entscheiden konnte. Ein anderes Mal hatte er im Büro übernachtet, weil er sich im Dunkeln nicht mehr allein auf die Straße traute. »Höchste Zeit«, hatte Eddie am anderen Morgen gesagt und besorgt über die Brille gelinst, »dass du was tust.«

Schuld an allem war natürlich die Sache mit dem Kindergarten gewesen. Nächtelang, monatelang hatte Marlon sich deswegen zerfleischt, denn er fühlte sich für alles verantwortlich, was geschehen war und was hätte geschehen können. Seinetwegen war alles außer Kontrolle geraten. Seinetwegen hatten die Scharfschützen geschossen. Seinetwegen war der Kindergarten gestürmt worden. Ja, es war nur gerecht, dass es ihn erwischt hatte. Er hatte es verdient. Genau wie Roth, dem eine Kugel die Schulter zerfetzt hatte und der im Hochsicherheitstrakt der Forensischen Psychiatrie saß, den er frühestens in ein paar Jahren wieder verlassen würde.

Marlon hatte gezittert, geweint, sich tagelang in seiner Wohnung eingeschlossen. Immer und immer wieder hatte er die Schreie der Kinder gehört. Wie ein Echo. Er hatte dem Trägerverein des Kindergartens anonym zehntausend Euro gespendet und dem lieben Gott jeden Tag dafür gedankt, dass keinem Kind ein Haar gekrümmt worden war, obwohl er weder an Gott noch an sonst wen glaubte. In der Münsterkirche hatte er sogar fünfzig Kerzen gekauft und für die Heilige Jungfrau Maria angezündet.

Was in den kleinen Seelen der Kinder vorgegangen sein mochte, als bis an die Zähne bewaffnete Polizisten ihre Spielzeuge unter den schweren Stiefeln zertreten hatten, hatte er sich Hunderte Male ausgemalt und sich vor Wut darüber den Kopf an der Tür blutig geschlagen. Vielleicht würde ein Mädchen drogenabhängig werden. Vielleicht ein Junge zum Verbrecher. Alles seinetwegen. Alles seine Schuld.

Manchmal wurde es ihm auch jetzt noch zu viel, dann kam die Erinnerung an jene schrecklichen Momente zurück, in denen es schien, als schössen aus jeder seiner Poren die Nervenenden heraus, als kreiselte die Welt um ihn herum, bis er in ein grelles Loch stürzte, in dessen Zentrum sich nichts als Schwerelosigkeit befand. Ein Zentrum ohne Schmerz und Reue, in dem sich zu dem Paar rehbrauner Augen ein sich schlängelnder Drache gesellte, bevor alles schwarz wurde. In diesen Augenblicken schien er endgültig kurz vor dem Durchdrehen zu stehen.

Die Beteuerungen von Marcus, es habe sich um eine Art Unfall gehandelt, an dem Marlon keine Schuld trage, hatten ebenso wenig geholfen wie ein Gespräch mit Polizeichef Schwartz, der Marlon für den Einsatz gedankt und statt einer weiteren Scharfschützenkugel einen Präsentkorb geschickt hatte.

Dank. Nein, keinen Dank. Lieber Anklagen.

Marlon wollte die Schuld. Er wollte büßen. Erst Viviane, Ärztin für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychotherapeutin, hatte ihn wieder auf die Spur gebracht. Als er seine Schwellenangst überwunden hatte und vor ihrer Praxis stand, war er nur noch ein Schatten seiner selbst: fünfzehn Kilo leichter, gefühlte fünfzig Jahre älter, schlaflos und gejagt von den Geistern, die er selbst heraufbeschworen hatte.

Die anfänglichen Gespräche waren fruchtlos. Mit aller Vorsicht versuchte Viviane, ihm zu verdeutlichen, dass er die zerstörerischen Kräfte herauslassen müsse, um nicht selbst daran zugrunde zu gehen. Ein erster Fortschritt war, als Marlon begriff, dass er krank war und es für seine Krankheit einen Namen gab. »So wie bei den Vietnam-Veteranen«, erklärte ihm Viviane. »Ein Trauma.«

Marlon schlug sich die Nächte im Internet um die Ohren und sog alles in sich auf, was er zu dem Thema finden konnte. Es half, der namenlosen Angst ein Gesicht zu geben, um wieder in das eigene schauen zu können. Und dann organisierte sie ihm besondere Medikamente. Ganz neu. Noch im Versuchsstadium. Viviane hatte ihre Kontakte spielen lassen und dafür gesorgt, dass Marlon in ein Testprogramm aufgenommen wurde. Irgendwann schlief er dann wieder die erste Nacht durch. Und vergaß. Die Erinnerungen waren nur noch Bilder, an die keine Emotionen mehr geknüpft waren, und die Bilder verblassten wie ein Polaroid, das jemand auf der Fensterbank im grellen Sonnenlicht vergessen hat. Die Pillen radierten das Böse aus. »Und dabei«, hatte Viviane zu scherzen versucht, »sind da auch Betablocker drin, im Zweifel also auch gut für dein überlastetes Herz.«

Marlon schob die Sonnenbrille in die Haare, die er mittlerweile schulterlang trug, und steckte sich eine Zigarette an. In der Ferne hörte er Donnergrummeln. Menschen huschten über den Platz. Schülerinnen hockten auf dem Sims des Marktbrunnens und leckten an bunten Eiskugeln. Er steckte den Adapter ins Handy und schloss es an den Laptop an, um seine Privatpost zu checken, bevor er die Mittagspause beenden würde. Vier Mails waren eingetroffen. Zwei warben für Penisverlängerungen, die dritte für neue Jeans aus einem New Yorker Onlineshop. Die vierte hatte als Betreffzeile »Für Herrn Kraft« angegeben. Mit dem Absender konnte Marlon nichts anfangen: [email protected]. Die Mail bestand aus einem Satz. Marlon zuckte zusammen und schlug mit den Knien so heftig unter den Bistrotisch, dass die Espressotasse zu Boden fiel und auf dem Kopfsteinpflaster zerschellte. Wieder und wieder las er den Satz, und das Entsetzen kroch durch seine Adern.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte die junge Mutter.

Marlon wollte nicken, brachte aber nicht mehr als ein weiteres ruckartiges Zucken zustande. Er sah das Mädchen neben der Frau. Ihre kleine Tochter. Bestimmt war sie schon im Kindergarten. Bestimmt war sie … Ein helles Fiepen schoss durch Marlons Gehörgänge, und er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Dann wurden die Töne rhythmisch und bildeten eine kleine Melodie. Jetzt spürte Marlon auch die Vibration am Gürtel. Glücklicherweise also kein Tinnitus. Nur der Pieper. Mit zitternden Händen löste er den Clip und sah auf das Display.

»Leichenfund. Lemfeld. Ecke Waldstraße/Eichenweg.«

Marlon steckte den Pieper zurück an den Gürtel.

Wieder las er den Satz der E-Mail. War diese Gleichzeitigkeit ein Zufall? Mit schweißnassen Fingern schloss Marlon die Mail und klappte das Laptop zu. Nein. Das war kein Zufall. Es war der Anfang von etwas. Und jemand wollte, dass er es wusste. Die Botschaft in der Mail ließ keinen anderen Schluss zu. Sie lautete:

Der Drache ist erwacht.

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5.

Der Tatort war ein Desaster, der Mähdrescher hatte alles verwüstet. Ein Alptraum für die Spurensicherung und zudem kein angenehmer Anblick so kurz vor dem Mittagessen. In der Kantine stand Schweinebraten auf dem Speiseplan, und Alex hatte sich deswegen schon am Morgen dafür entschieden, wieder zum Italiener zu gehen und Rucola mit Parmesan zu bestellen. So wie gestern, vorgestern, letzte Woche und die beiden davor – kurz: seit sie den Job angetreten hatte. Der Kellner Angelo grinste schon, wenn er sie erblickte. Wahrscheinlich würden sie den Salat bald nach ihr benennen: »Rucola di Alessandra«. Klang nicht schlecht. Immer noch besser als »Haxe mit Pampe à la Gräfin von Stietencron«. Aber wie es aussah, würde der Parmesan warten müssen.

Alex schob sich die Sonnenbrille in die langen schwarzen Haare, die sie zum Zopf zusammengebunden trug, kniete sich hin und zerrieb einige Ähren zwischen den Fingern. Sie rochen intensiv und waren dunkel verfärbt. Die Spurensicherung hatte das Feld mit dem Kornkreis weiträumig abgesperrt. Männer in weißen faserfreien Overalls vermaßen das Areal rund um den Mähdrescher. Jemand machte Fotos, und gerade rollte ein Leichenwagen über die schmale Straße an den vielen Polizei-Bullis und Kombis entlang, die links und rechts des Weges parkten. Neben dem schwarzen BMW, mit dem Alex und Marcus hierhergefahren waren, stand Marcus und unterhielt sich mit diesem unsympathischen Reineking, der das Büro neben ihr hatte. Er war mit seinem Wagen in den Graben gefahren und suchte nun nach jemandem, der ihn wieder rausziehen würde. Vermutlich wies Marcus ihn gerade energisch darauf hin, dass es im Moment andere Probleme gäbe als einen Kripo-Beamten mit Tomaten auf den Augen.

Landwirt Kröger hatten sie vom Notarzt ins Krankenhaus fahren lassen. Der Mann stand unter Schock, und auch fünf Milliliter Diazepam hatten ihn nicht so weit beruhigt, dass er zu einer koordinierten Aussage fähig gewesen wäre. Angesichts des Mähdreschers, der aussah, als sei er auf groteske Weise für den Einsatz in einem Horrorfilm präpariert worden, war Alex die Krisenintervention von vornherein absurd erschienen.

Die Faktenlage bislang war klar: Kröger war mit seinem Mähdrescher über eine Frauenleiche gefahren, die in dem Kornfeldkreis gelegen hatte. Dabei war sie teilweise zerstückelt worden. Ob die Frau eine Selbstmörderin war oder ein Tötungsdelikt vorlag, würde die Obduktion ergeben. Vorher war an eine Identifizierung nicht zu denken, so schrecklich war die Leiche von den scharfen Häckselmessern des Mähdreschers zugerichtet worden. Der Notarzt hatte gemeint, die Frau müsse schon einige Stunden tot gewesen sein. Starre Gliedmaßen, Konsistenz des überall verteilten Blutes, Farbe der Haut und Flecken – Alex kannte die Parameter und hatte wissend genickt, um den Anschein zu erwecken, dass das nicht die erste Leiche war, die sie außerhalb der Pathologie in Augenschein nahm. Einige Kollegen warteten nur darauf, dass sie sich übergeben müsste, aber sie hatte nicht vor, ihnen die kotzende »Psychotante« oder die brechende »Durchlaucht« zu geben, um bei den dämlichen Spitznamen zu bleiben, die sie bei den Kollegen weghatte.

Die schwüle Luft hatte einen zarten Schweißfilm auf Alex’ Haut gezaubert. Die helle Bluse klebte ihr am Körper. Sie riss eine weitere Ähre ab und pulte die Körner heraus. Der Leichenwagen war zum Stehen gekommen. In Kürze würden die Bestatter mit ihren schwarzen Kunststoffsäcken ausrücken. Vielleicht sollte sie noch einen Blick auf die Tote werfen. Außerdem interessierte sie, ob die Spurensicherung bereits etwas gefunden hatte. Sie stand auf und schritt durch den Kornkreis auf den Mähdrescher zu.

Irgendetwas, das hatte sie bereits kurz nach dem Eintreffen zu Marcus gesagt, stimmte an diesem Ort nicht. Marcus hatte ihr zugestimmt. Gewiss, es hatte immer wieder Berichte über merkwürdige Kreise in Kornfeldern gegeben. Eine Zeitlang war behauptet worden, es handele sich um Zeichen von Außerirdischen. Doch letztlich hatte sich jedes Mal herausgestellt, dass Spaßvögel nachts mit viel Phantasie und zum Teil außerordentlicher Kunstfertigkeit diese Kreise geschaffen hatten. Das Rund in diesem Kornfeld maß etwa fünfzehn Meter im Durchmesser. Es war ein schlichter Kreis ohne kunstvolle Ausläufer und Schnörkel. Die Ähren waren im Uhrzeigersinn auf den Boden gedrückt worden, und je näher es auf den Mittelpunkt zuging, desto enger schien die Rotation zu werden, um schließlich in einen wahren Wirbel zu münden. Dort im Zentrum stand der John Deere, und dort hatte die Leiche gelegen.

Alex zerkrümelte die Körner in der Hand und führte sie unter die Nase. Sie rochen leicht verbrannt. Das war es, was sie von Anfang an irritiert hatte. In dem gesamten Kreis musste Hitze auf die Ähren eingewirkt haben. Aber vielleicht war das auch nur eine zwangsläufige Begleiterscheinung. Sie wusste nicht, mit welchen Techniken die unbekannten Baumeister operierten, damit sich das Getreide nicht wieder aufrichtete, und sie hatte auch nie zuvor einen Kornfeldkreis aus der Nähe gesehen. Möglicherweise gehörte Hitze einfach zum Modus Operandi.

Was eindeutig nicht dazugehörte, war eine Leiche. Die Frau dürfte nicht wesentlich älter als sie selbst gewesen sein. Alex hatte Marken-Flipflops gesehen, zudem einen edlen, orangefarbenen Push-up-BH und eine ausgewaschene Designer-Jeans. In allem steckten noch Körperteile, aber Alex hatte versucht, das auszublenden und sich nur auf die Bekleidung zu konzentrieren, sonst hätte sie sich doch noch übergeben müssen.

Die Kleidung war die einer jungen Frau, die Wert auf ihr Äußeres legte und genug Geld hatte. Und weil die Jeans noch fest auf den Hüften des Torsos saß, war zumindest auf den ersten Blick ein Sexualdelikt auszuschließen. Genauso auszuschließen war allerdings, dass sich jemand mitten in einen Kornfeldkreis legte und einfach starb.

»Na, Frau Doktor, ziemliche Schweinerei, was?«, fragte Schneider und steckte sich eine Pall Mall an. Der langjährige Ermittler im Lemfelder Kriminalkommissariat war ein ganz sympathischer Kerl, aber man musste ihn zu nehmen wissen. Er trug ebenfalls einen weißen Overall, in dem er wie ein Tier schwitzte und der sich straff über dem gewaltigen Bauch spannte.

»Allerdings«, bestätigte Alex und unterdrückte den Hinweis darauf, dass sie nicht promoviert hatte. Für Schneider war sie von Anfang an »Frau Doktor« gewesen, und er gehörte zu der Sorte Mensch, die selten ihre Meinung änderten, wenn sie erst mal eine gefunden hatten.