Dünenrache - Hendrik Berg - E-Book
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Dünenrache E-Book

Hendrik Berg

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Beschreibung

In Husum genießt Kommissar Theo Krumme gerade die winterliche Ruhe an der Nordsee, als er in einem merkwürdigen Mordfall auf der Insel Sylt hinzugezogen wird. Der Maler Adrian Maurer steht unter Verdacht, seine Ehefrau umgebracht zu haben – doch von ihrer Leiche fehlt jede Spur, und der Künstler beteuert Krumme gegenüber vehement seine Unschuld. Sagt der Mann wirklich die Wahrheit? Oder ist er ein eiskalter Mörder? In den Sylter Dünen stößt Krumme bald auf düstere Geheimnisse, die auch mit seiner eigenen Vergangenheit verbunden sind …

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Buch

In Husum genießt Kommissar Theo Krumme gerade die winterliche Ruhe an der Nordsee, als er in einem merkwürdigen Mordfall auf der Insel Sylt hinzugezogen wird. Der Maler Adrian Maurer steht unter Verdacht, seine Ehefrau umgebracht zu haben – doch von ihrer Leiche fehlt jede Spur, und der Künstler beteuert Krumme gegenüber vehement seine Unschuld. Sagt der Mann die Wahrheit? Oder ist er ein eiskalter Mörder? In den Sylter Dünen stößt Krumme bald auf düstere Geheimnisse, die auch mit seiner eigenen Vergangenheit verbunden sind …

Weitere Informationen zu Hendrik Berg

sowie zu lieferbaren Titeln des Autorsfinden Sie am Ende des Buches.

Hendrik Berg

Dünenrache

Ein Nordsee-Krimi

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe März 2023

Copyright © 2023 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: Alamy Stock Foto / Westend61 GmbH; FinePic®, München

Redaktion: Heiko Arntz

KS · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30007-4V002

www.goldmann-verlag.de

Für meine Mutter Sigi

Kunst ist eine grausame Angelegenheit, deren Rausch bitter bezahlt werden muss.

Max Beckmann, Maler, Grafiker und Bildhauer

1

Der Sturm donnerte mit düsterem Grollen über die Insel, fuhr laut durch das hohe Schilf, schüttelte die alten Birken und fegte die letzten Blätter von den Ästen.

Die junge Frau lief den endlosen Weg am aufgewühlten Meer entlang. Allein, schluchzend, das Gesicht von Schlägen gezeichnet, stolperte sie durch die Nacht. Sie achtete nicht auf die wenigen beleuchteten Fenster der Reetdachhäuser auf dem hohen Kliff, hob nicht den Kopf, um zu dem roten Blinken der riesigen Windräder auf dem fernen Festland zu schauen. Während über ihr die schwarzen Wolken dahinrasten, tobte in ihrem Kopf ein zweiter Sturm. Sie war wie gefangen in ihrem Kummer, ihrem Elend und ihrem grenzenlosen Schmerz.

Schließlich verließ sie den Weg am Meer, wandte sich landeinwärts, ging vorbei an Dünen und Bäumen, die wie dunkle Geister ihre nackten, im Wind schaukelnden Äste nach ihr streckten.

Ein Geräusch ließ sie innehalten. Ein Knirschen im Sand. Nervös schaute sie sich um, lauschte, atmete die eisige Luft ein, den Duft nach Kiefern und Meer.

Hatte sie sich getäuscht?

Oder war er ihr gefolgt?

Wollte er sie nicht loslassen? Wollte er verhindern, dass sie ihre Qualen endlich beendete?

Für einen Moment hielt sie den Atem an. Doch außer dem Brausen des Windes war nichts zu hören, keine Schritte, kein Knistern von gefrorenem Dünengras unter schweren Stiefeln.

Also weiter. Wie im Rausch kämpfte sich die Frau durch die Nacht. Schon oft hatte sie diesen Weg genommen, hatte überlegt, doch im letzten Moment feige gezögert.

Aber nicht heute. Heute würde sie die Sache zu Ende bringen. Es gab keine Hoffnung mehr, dass er sich ändern würde, sosehr sie es sich all die Jahre gewünscht hatte. Ihre Mühen, ihre endlose Geduld waren umsonst gewesen.

Endlich, als der Mond eine Lücke in den Wolken fand, erreichte sie ihr Ziel: die Gleise, die von Sylt in einer schnurgeraden Linie über den schmalen Hindenburgdamm führten, jenen grünen Wall, gegen den jetzt auf beiden Seiten die tosenden Wellen der Nordsee krachten.

Sie schwankte benommen. Auf einmal erschien ihr alles wie ein Traum, wie eine erlösende Vision.

In der Ferne konnte sie bereits die Lichter des Zuges aus Niebüll erkennen, auf seinem Weg nach Westerland. Schnell kam er näher, in nur wenigen Augenblicken würde er hier sein.

Es war Zeit. Ein letztes kurzes Zögern. Dann der Entschluss. Die junge Frau holte tief Luft, schmeckte noch einmal das Salz des nahen Meeres. Der Wind zerrte an ihr, als wollte er sie zurückhalten.

Zu spät.

Sie machte einen Schritt, stellt sich breitbeinig auf die Gleise, blickte zu den Lichtern, die auf sie zurasten, immer schneller. Schon spürte sie das leise Beben der Bohlen unter ihren Füßen.

Auf einmal war alles still. Die Welt schien den Atem anzuhalten, die Möwen verharrten regungslos in der Luft, beobachteten von oben die Tragödie, die unter ihnen ihren Lauf nahm.

Sie streckte die Arme aus, schloss die Augen und wartete auf den Aufprall.

Das Ende.

Endlich.

Plötzlich wieder das Knirschen, ganz nah.

Der Geruch. Zu dem Salz des nahen Meeres nun auch Minze.

Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit. Und stieß sie in ein schwarzes Nichts.

2

Drei Wochen später

Es war, als würden sie in den Schlund der Hölle hinabsteigen. Vor ihnen hatte sich ein dunkles Loch aufgetan. Schon nach ein paar Metern verschwanden die brüchigen Stufen im Nichts. Täuschte er sich, oder drang der Geruch von Schwefel aus der Tiefe empor?

Cliff blickte zweifelnd zu Noah. »Was meinst du?«

»Wir sind richtig, los komm«, erwiderte der durchtrainierte Soldat, zog seine kleine Taschenlampe hervor und leuchtete hinab in den Keller.

Gemeinsam tasteten sie sich vorsichtig nach unten, beide mit gezogenen Waffen.

»Was, wenn das Schwein ein Nachtsichtgerät hat?«, flüsterte Cliff.

»Dann sind wir am Arsch«, raunte Noah über die Schulter zurück.

Cliff starrte vor sich auf die Stufen. Stolpern konnte bei der steilen Treppe tödlich sein. Der Gestank wurde immer unerträglicher, nahm ihm fast den Atem, schien sich wie ein klebriger Schleim auf die Haut zu legen.

Was erwartete sie dort unten? Hatte Noah recht? Würden sie in diesem einsamen Haus mitten im Wald endlich die entscheidende Antwort finden?

Noah presste die Armbeuge vor die Nase. »Was immer da unten ist, muss dort seit einer Ewigkeit liegen.«

Cliff sah Maden, die sich auf den brüchigen Kellerstufen wanden. Instinktiv wich er ihnen mit seinen schweren, vom feuchten Schlamm des Waldes beschmutzten Stiefeln aus, um sie nicht zu zerquetschen.

»Psst!« Noah blieb stehen, hielt plötzlich die Faust hoch, ein Kommando, das seine militärische Karriere bei der KSK verriet, der Befehl, sich nicht mehr zu rühren.

Cliff lauschte atemlos in die dröhnende Stille. »Was?«

Noah wartete einen Moment, schüttelte dann den Kopf. »Nichts. War bestimmt nur eine vollgefressene Ratte.«

»Was sollte die denn hier zu fressen bekommen?«

»Ich habe da so eine Ahnung!« Noah ging weiter voran.

Endlich waren sie unten angekommen. Cliff starrte angestrengt auf den Lichtkegel, den Noahs Lampe warf. Nicht zum ersten Mal auf ihrer Jagd spürte der Profiler die Gegenwart von Schmerzen, Qualen und Tod.

»Da, schau!«, rief Noah.

Cliff zuckte erschrocken zurück, der Anblick traf ihn wie ein Faustschlag.

Vor ihnen, unter der von Spinnenweben triefenden Decke des Kellers, stand ein steinerner Tisch.

Darauf lag ein Körper – ein menschlicher Körper, der nichts Menschliches mehr an sich hatte: der am Bauch geöffnete Leib einer Frau.

Cliff ächzte. »Wir sind zu spät. Schon wieder.«

Noah ballte unwillkürlich eine Faust. »Vielleicht. Aber dieses Mal kriegen wir den Kerl!«

Er beleuchtete die Wand hinter dem Tisch. Und nun sah Cliff es auch: Jemand hatte mit roter Farbe – oder war es das Blut der Leiche? – kryptische Zeichen auf den weißen Putz gemalt. Satanistische Symbole.

Darunter Koordinaten, Längen- und Breitengrade, da war Cliff sicher.

Noah grinste freudlos. »Jetzt haben wir das Monster!«

Ein Raunen ging durch den kleinen Saal. Zufrieden über die Wirkung seines Vortrags schaute Ferdinand Gröde in die Runde, betrachtete sein Publikum mit dem stechenden Blick seiner dunkelbraunen Augen. Seine kahler Charakterkopf glänzte, sein kurzer, frühzeitig ergrauter Bart zuckte. Schließlich nahm er mit einer theatralischen Geste die Brille ab.

»Meine Damen und Herren, ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.«

Lauter Applaus setzte ein. Krumme sah ungläubig auf, betrachtete die begeisterten Gesichter des Publikums, das an diesem Mittwochabend in den Kulturspeicher am Husumer Hafen gekommen war. Viele Frauen, auch seine Freundin Marianne und seine junge Kripo-Kollegin Pat, saßen in der ersten Reihe. Männer waren nicht so zahlreich vertreten, junge Männer gab es praktisch gar nicht. Alle Augen waren auf den Bestsellerautor mit dem Sean-Connery-Touch gerichtet, der mit lässig übereinandergeschlagenen Beinen in seinem Lesesessel saß.

Krumme, der zur Rechten des Autors in einem weiteren Ledersessel Platz genommen hatte, rutschte nervös hin und her. Was hatte er hier nur verloren?

»Sie sind der Gaststar«, hatte ihm die junge Dame von einem großen Hamburger Verlag gesagt. »Vielleicht kann Herr Gröde von Ihnen als erfahrenem Kommissar ja noch etwas lernen.«

Krumme hatte die Anfrage natürlich abgelehnt. Was sollte der Quatsch? Ferdinand Gröde? Nie gehört! Erst der freundliche Druck seines Chefs bei der Husumer Kripo, Polizeirat Horst Krüger, war dafür verantwortlich, dass er jetzt hier vor ausverkauftem Haus im Rampenlicht saß. »Krumme, stellen Sie sich nicht so an«, hatte Krüger gesagt. »Ist doch eine tolle Gelegenheit, ein bisschen Werbung für die Polizei zu machen. Außerdem ist meine Frau ein Riesenfan von dem Kerl.«

Tatsächlich saß Frau Krüger ebenfalls im Publikum, genau wie ihr Gatte, was die Anspannung bei Krumme nicht unbedingt verringerte. Worüber sollte er hier bloß reden? Krumme hatte keine Ahnung.

Zur Linken des Autors saß Luisa Wilde, eine Journalistin aus der Kulturredaktion eines lokalen Radiosenders und Moderatorin dieser Veranstaltung. Wilde war eine attraktive Frau um die fünfzig. Sie hatte Grödes Lesung mit einem aufmerksamen Lächeln und gelegentlichem Kopfnicken begleitet. Während der Applaus noch anhielt, setzte sie ihre Brille auf und blickte in ihre Notizen.

Vorläufig unterhielt sich Wilde nur mit dem Starautor. Es war sehr offensichtlich, dass die Frau nicht nur von seinem literarischen Werk angetan war. Ihre Augen leuchteten, als sie mit Gröde über seinen Bestsellerstatus und die hoffentlich baldige Verfilmung seiner Bücher sprach.

Mit einem koketten Lächeln strich sie sich die langen Haare hinter das Ohr. »Ein Grund für Ihren Erfolg ist sicherlich, dass Ihre Romane so intensiv und wahrhaftig wirken. Und genau darüber möchte ich gern mit einem ausgewiesenen Experten reden, den wir Ihnen zu Ehren eingeladen haben.« Damit zeigte sie endlich mit einem eleganten Schwung ihrer langen Arme auf Krumme, stellte ihn als erfahrenen Kripobeamten vor, der nicht nur in Berlin, sondern auch hier in Nordfriesland eine ganze Reihe spektakulärer Fälle gelöst hatte. »Stimmt es, dass Sie in St.-Peter-Ording beinahe von der Mafia verbrannt wurden und draußen auf dem Heverstrom Drogenschmuggler mit einem Krabbenkutter gerammt und dann festgenommen haben?«

Krumme sah sie verwirrt an. Wo hatte sie denn den Blödsinn her? Sie war doch Journalistin. Hatte sie nicht recherchiert? Er sah hilfesuchend zu Krüger, der allerdings mit Nachdruck nickte.

»Na ja, ganz so war es nicht«, stammelte Krumme, ohne den Blick von seinem Chef zu nehmen. »Aber ein bisschen dramatisch geht es manchmal schon zu.«

Die Journalistin beugte sich vor. »Wie spannend. Eine Frage, die ich einem echten Kommissar wie Ihnen schon immer mal stellen wollte: Mussten Sie schon mal jemanden erschießen?«

Krumme seufzte. »Nein, also … zum Glück nicht.«

Die Frau wirkte enttäuscht. »Wirklich nicht? Oder dürfen Sie nur nicht darüber reden?«

Krumme lächelte verlegen, hob die Schultern und beschloss, lieber zu schweigen. Er blickte in die Runde. Vermutlich hatte auch das Publikum von ihm ein bisschen mehr Show erwartet.

Luisa Wilde setzte sich wieder aufrecht hin und zupfte an ihrem langen Rock. »Lieber Herr Kommissar, wie sieht es denn bei Ihnen mit Lesen aus? Welche Bücher haben Sie auf Ihrem Nachttisch liegen?«

Krumme räusperte sich und versuchte, sein störrisches Headset zu richten. »Eigentlich lese ich nicht so viel. Und im Bett schon gar nicht.«

»Ach was? Auch keine spannenden Krimis?«

»Früher habe ich Jerry Cotton ganz gern gelesen«, bekannte Krumme.

Schmunzeln im Publikum. Gröde lachte sogar laut auf, als wenn er nichts anderes erwartet hätte.

»Aber jetzt fehlt mir meistens die Zeit und die Muße zum Lesen«, fuhr Krumme fort. »Für Krimis vor allem.«

»Was? Das müssen Sie uns erklären.«

Krumme blickte nach unten in den Saal. Auf einer Lesung zu sagen, dass man kaum las, kam nicht so gut an.

»Also, ich mag Bücher durchaus«, fing er deshalb an. »Aber Krimis sind mir oft zu unrealistisch.«

»Ach ja?« Luisa Wilde tauschte ein amüsiertes Lächeln mit Gröde.

»Na ja, ich habe nichts gegen Krimis, die sind völlig okay. Bücher und Filme, das sind ja keine Reportagen, die funktionieren ganz anders.«

»Hört, hört«, rief Gröde in spöttischem Ton, was Gelächter im Publikum auslöste.

»Aber wenn Sie mich als Polizisten so direkt fragen, dann würde ich mich manchmal über ein wenig mehr Recherche bei Krimis schon freuen.«

»Da bin ich ganz bei Ihnen, Herr Kommissar. Aber Herrn Gröde können Sie mit diesem Vorwurf ja wohl nicht meinen, oder?«

Auf einmal herrschte absolute Stille. Krumme schaute unsicher ins Publikum und spürte eine unangenehme Hitze in seinem Nacken.

»Nur zu, mein Lieber«, meldete sich Gröde. »Ich kann Kritik vertragen.«

Krumme zögerte einen Augenblick. Dann seufzte er. »Na schön, also … dass ein Profiler und ein KSK-Soldat gemeinsam ermitteln, habe ich in meiner langen Karriere noch nicht erlebt.«

»Kann ich mir gut vorstellen. Hier in Nordfriesland vertraut man noch dem braven Schutzmann.« Gröde lachte, aber zum ersten Mal lachte keiner im Saal mit. Krumme vernahm ein leises, aber empörtes Raunen. Spott über ihre Heimat mochte hier im Norden niemand hören.

Sogar Frau Wilde kam ihm zu Hilfe. »Wenn ich richtig informiert bin, war Herr Krumme den Großteil seiner Karriere in Berlin aktiv. In Ihrer Heimatstadt, Herr Gröde.«

»Als Streifenpolizist?«, witzelte Gröde und suchte wieder erfolglos Gleichgesinnte, die mit ihm lachen wollten.

»Nein, bei der Mordkommission. Und viele Jahre bei der Sitte«, brummte Krumme.

»Da haben Sie sicherlich auch schlimme Dinge gesehen, oder?«, wollte Frau Wilde wissen.

»Allerdings …« Krumme zögerte. »Vieles davon werde ich nie mehr vergessen.«

»Ich bitte Sie, Herr Kommissar«, hakte Gröde nach, »jetzt müssen Sie uns aber schon ein bisschen mehr erzählen. Vielleicht kann ich eins von Ihren Erlebnissen sogar für mein nächstes Buch benutzen.«

Krumme blickte zu Marianne, die ihm ein mitleidiges Lächeln zuwarf. Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich bitte um Verständnis, dass meine Erlebnisse für irgendwelche Krimis verwendet werden, das möchte ich lieber nicht.«

Gröde verdrehte die Augen. »Herr Kommissar, keine Sorge, denken Sie, Ihre Erlebnisse könnten mich schocken? Ich habe für dieses Buch eine ganze Woche in der Anatomie der Charité hospitiert.«

»Oh, interessant«, warf Frau Wilde ein. »Sie waren im Krankenhaus?«

»Einen Tag sogar in der Pathologie. Ich habe mit meinen eigenen Händen eine blutige, noch tropfende Leber aus einem Körper entnehmen und in eine Schale legen dürfen.«

Die Journalistin hielt sich die Hand vor den Mund. »Wie schrecklich.«

»Und dann durfte ich sogar ein echtes Herz in dünne Scheiben schneiden.«

Die Leute im Saal schnappten hörbar nach Luft. Auch Krumme verzog das Gesicht. Gröde lächelte ihn an. »Sie sehen, Herr Kommissar, Recherche ist für mich das Allerwichtigste. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, können Sie sich jederzeit an mich wenden.«

Krumme betrachtete den Bestsellerautor, schüttelte dann langsam den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich das tun würde.«

Wieder war es im Saal ganz still.

»Ich merke schon, Sie mögen meine Bücher nicht.«

Krumme zuckte mit den Schultern. »Ach, was weiß ich schon von Literatur. Wenn Menschen Interesse daran haben, Geschichten über das Ausweiden und das Auseinandernehmen von Körpern zu lesen, dann ist das so. Aber meine Aufgabe ist, alles zu tun, um solche Dinge zu verhindern, damit die Menschen sich über solche Verbrechen keine Sorgen machen müssen.«

3

Obwohl es bereits März war, hatte sich auch am nächsten Morgen wieder ein knackiger, trockener Frost auf die Marsch und die Felder Nordfrieslands gelegt. Auf den Inseln im Wattenmeer hatten die wenigen Schneewolken, die der Westwind in der Nacht von der Nordsee Richtung Festland getrieben hatte, für eine weiße Decke gesorgt. Doch für Husum hatte es nicht mehr gereicht. Als Marianne aus dem Fenster sah, war von Schnee nichts zu sehen.

Noch war alles still. Doch langsam wachte die Stadt auf. Einige Autos schlichen bereits über die vereiste Straße, aber Fußgänger waren nirgends zu sehen.

In der Wohnung war es kuschelig warm. Marianne hatte den Morgenkurier auf NDR 2 eingeschaltet. Zu den Klängen der üblichen Achtzigerjahre-Hits und den Staumeldungen aus dem Raum Hamburg bereitete sie noch im Morgenmantel das Frühstück vor, kochte Kaffee, wärmte Brötchen im Ofen auf und briet eine Portion Krabben in der Pfanne an. Und das alles, während sie mit dem zwischen Kopf und Schulter eingeklemmten Telefon mit ihrer Freundin Sabine plauderte.

»Ja, was für eine Katastrophe. Ich glaube, Theo und Gröde werden nie wieder ein Wort miteinander wechseln.«

Sie schlug vier Eier in einer Schüssel auf und verrührte sie in der Pfanne. »Was der Mistkerl Theo später an der Bar alles an den Kopf geworfen hat, nicht zu fassen. Theo sei ein Kulturbanause und solle froh sein, dass er die Zeit bis zur Rente hier in Husum arbeiten dürfe … Ja, schlimm, oder?«

Theo kam verschlafen gähnend, aber bereits fertig angezogen in die Küche und wurde sofort von ihrem Hund Sunny begrüßt. Das fast kalbsgroße Tier hatte bisher auf seinem Kuschelkissen, eigentlich eher einem Sack, gelegen und an seinem Lieblingsplüschhasen genagt. Nun sprang er aufgeregt um Theo herum. Marianne sah, dass ihren müden Freund so viel Zuneigung so früh am Morgen überforderte. Freundlich klopfte sie Sunny auf die Flanke und wies ihn mit einem Fingerschnipsen an, sich wieder hinzulegen, was er auch sofort tat.

»Du, Sabine, ich mache Schluss, wir sehen uns nachher in der Bibliothek«, sagte sie zu ihrer Freundin und stellte das Telefon zurück auf die Ladestation im Flur.

»Na, gut geschlafen nach der Aufregung von gestern Abend?«, fragte sie und kümmerte sich wieder um das Rührei.

Theo zuckte mit den Schultern und begann, den Frühstückstisch zu decken. »Was für eine Pleite«, brummte er schließlich. »Ich habe mich total blamiert.«

»Quatsch!«

»Warum habe ich mich nur von Krüger breitschlagen lassen? Ich hätte da nie hingehen sollen.«

Marianne betrachtete ihren Lebensgefährten voller Mitgefühl. Mit seinem vom Duschen noch abstehenden schütteren Haar machte er einen besonders niedergeschlagenen Eindruck.

»Wir haben doch gestern schon darüber gesprochen«, sagte sie und versuchte, seine widerspenstigen Haare glattzustreichen. »Du warst super. Die Leute waren alle auf deiner Seite.«

»Wirklich? Dann hast du Krügers Frau aber nicht gesehen. Die war total sauer, dass ich ihr Idol nicht mit mehr Respekt behandelt habe.«

»Unsinn. Ich habe mit ihrem Mann geredet. Der war auch der Meinung, dass Gröde sich respektlos benommen hat.«

Theo hatte sich hingesetzt. Erstaunt schaute er zu ihr auf, während sie ihm einen Kaffee eingoss. »Warum hat er dann nichts gesagt, als mir der Veranstalter praktisch Hausverbot erteilt hat?«

»Du übertreibst. Herr Petersen hat nur festgestellt, dass du bei Grödes nächster Lesung vielleicht besser nicht mit auf dem Podium sitzen solltest.« Sie beobachtete, wie Theo nachdenklich in den Milchschaum starrte. »Aber das würdest du ja eh nicht wollen, oder?«

Theo schüttelte den Kopf. »Ich ärgere mich am meisten über mich selbst. Ich halte mich für einen passablen Kommissar und bin eigentlich sehr zufrieden mit meinem Leben.«

»Nur eigentlich?« Marianne gab sich gekränkt.

Theo lächelte verlegen und drückte ihr einen Kuss auf die Hand. »Ich bin sehr glücklich mit meinem Leben, vor allem mit dem Teil hier in Nordfriesland. Ich habe tolle Freunde, komme gut mit meinen Kollegen im Präsidium klar. Gut, bis auf ein paar Schwachköpfe wie dem bescheuerten Friedrichs und seinen dämlichen Kumpel Ludwig, die immer …«

»Theo, was willst du mir sagen?«

Er stöhnte leise. »Ich kann eigentlich gut mit fast allen Leuten. Aber bestimmte Typen machen mich einfach wahnsinnig.«

»Typen wie Gröde?«

Er nickte. »Ja, vor allem diese Künstlertypen. Dieses arrogante Gequatsche, das kann ich einfach nicht ab. Ich kam mir vor wie der letzte Trottel, bloß weil ich keine Zeit habe, Bücher zu lesen.«

»Zeit hättest du schon, aber leider schläfst du immer nach ein, zwei Seiten ein.«

Er nippte an seinem Kaffee und wich ihrem Blick aus. »Aber nur, weil ich so viel arbeiten muss.«

Sie betrachtete ihn mit einem freundlichen Lächeln, versuchte noch einmal, seine Haare zu richten.

»Apropos, musst du nicht gleich los?«

»Er ist schon ein Widerling, dieser Gröde, oder?«

Sie nickte. »Aber ich muss zugeben, ich fand seine Bücher bis jetzt nicht ganz uninteressant.«

»Im Ernst? Dieses blutrünstige Geschreibsel? Und immer geht’s gegen wehrlose Frauen!«

Sie überlegte einen Moment und nickte dann. »Hast recht, manchmal sind seine Geschichten ein bisschen krank. Aber sein Stil und seine Sprache …« Sie bemerkte Theos vorwurfsvollen Blick. »Aber dass er sich über deine Arbeit lustig gemacht hat, das war völlig daneben. Wenn er wüsste, was du hier schon alles erlebt hast. Du wärst fast ertrunken, verbrannt und sogar …«

»Jaja, ist gut«, unterbrach er sie, »ich will da lieber nicht mehr drüber reden. Aber weißt du, was?«

»Was?«

»Eigentlich hat er recht. Grundsätzlich ist mein Job hier schon recht ruhig.«

»Husum ist eben nicht Berlin.«

»Allerdings nicht. Weißt du, was für Fälle ich aktuell auf dem Schreibtisch habe?«

Marianne schüttelte den Kopf.

»Einen Ehestreit in Schauendahl, der ein bisschen aus dem Ruder gelaufen ist. Und dann ist da noch der Hilfsarbeiter aus dem Außenhafen, der auf dem Markt in der Altstadt wiederholt die Hose runtergelassen hat.«

Sie lächelte. »Und dafür bist du als Kripokommissar zuständig?«

Er nickte. »Sind gerade viele krank. Da helfe ich eben.«

»Du Armer.«

»Ach was. Aber dieser Blödmann Gröde hat recht, hier ist es ruhig und friedlich. Kein Wunder, die Nordfriesen sind mit Abstand die glücklichsten Menschen von ganz Deutschland.«

»Aber du hättest schon gern wieder mal ein bisschen mehr Action?«

»O nein, nein, überhaupt nicht. So, wie es ist, ist es perfekt.«

Sie grinste. »Du wirst eben auch nicht jünger.«

»Ganz genau.« Er nippte an seinem Kaffee und lächelte. »Bitte keine Psychopathen mehr.«

Sie lachte. »Und was ist mit dem Hosenrunterlasser aus dem Hafen?«

»Ach, der war nur betrunken.«

Das Telefon im Flur klingelte.

Marianne wollte aufstehen, aber Theo war schneller. Sie lächelte ihn dankbar an. Dann legte sie sich Rührei auf ihr Brötchen und nahm einen herzhaften Bissen. Mit vollem Mund schaute sie aus dem Fenster, hinaus in den Wintertag, und freute sich, wie gut die Spatzen das Futter in ihrem Vogelhäuschen auf dem Balkon angenommen hatten.

Wie schön, dass Theo wieder gute Laune hatte und sich den gestrigen Abend nicht zu sehr zu Herzen nahm.

Aber wo blieb er denn? Normalerweise ließ er sich von keinem noch so wichtigen Anruf von seinem geliebten Krabbenrührei abhalten.

Seltsam, Theo war kaum zu hören. Marianne stellte das Radio leiser und lauschte.

Tatsächlich vernahm sie jetzt Theos gedämpfte Stimme am Telefon. Die meiste Zeit hörte er nur zu. Den paar Worten, die er erwiderte, konnte sie entnehmen, dass es kein angenehmes Gespräch war.

Besorgt erhob sie sich und ging zu ihm in den Flur. Und erschrak.

Theo saß vornübergebeugt auf dem kleinen Hocker neben der Garderobe, den Telefonhörer am Ohr. Er war ganz grau im Gesicht und schien sie gar nicht wahrzunehmen.

Mit wem um Himmels willen telefonierte er? Was war passiert? War etwas mit Maria geschehen, seiner Ex-Frau? Oder mit seiner Tochter Hannah, die mit ihrem Mann und ihrem Baby in Australien lebte?

Nein, es musste jemand anderes sein. Sie sah, wie Theo angestrengt versuchte, das Gespräch zu beenden.

»Nein, es tut mir leid«, sagte er mit belegter Stimme. »Ich kann Ihnen nicht helfen. Das ist Ihr Problem.«

Schließlich legte er auf und starrte nachdenklich an die Wand.

»Mein Gott, Theo, was ist los? Wer um Himmels willen war das?«

Doch statt zu antworten, sah er sie nur traurig an – und vergrub dann das Gesicht stöhnend in seinen Händen.

4

»Ist nicht so gut gelaufen gestern Abend mit Krumme, was?«, sagte Friedrichs mit seiner heiseren Stimme.

Pat stand mit ihm in der kleinen Küche im Flur des Präsidiums und wollte sich einen Kaffee holen, als ihr leptosomer Kollege aufgetaucht war. Dünne Arme und Beine, Kettenraucher, die Daumen seiner langen Spinnenhände selbstzufrieden hinter den Gürtel seiner grauen Stoffhose geklemmt.

Friedrichs. Kriminalhauptkommissar wie Theo und zusammen mit seinem Kumpel und Kollegen »Katsche« Ludwig immer auf der Suche nach einem Grund, Theo schlechtzumachen. Daran hatte sich in den über sechs Jahren, die er jetzt im Norden lebte, nichts geändert. Vorher hatte Theo, damals noch als Berliner Kommissar, während seines Urlaubs einen Fall hier in Nordfriesland auf spektakuläre Weise gelöst – einen Mordfall, an dem Friedrichs und Ludwig vorher kläglich gescheitert waren.

»Wie kommst du denn darauf?«, antwortete Pat auf seine Frage. »Ich fand den Abend sehr interessant.«

»Interessant?« Friedrichs kratzte sich mit seinen langen Raucherfingern an der Nase. »War doch ein totaler Reinfall.«

»Woher willst du das wissen? Du warst doch gar nicht da.«

»Nein, aber alle reden drüber. Dieser Schriftsteller soll Krumme total bloßgestellt haben«, sagte er mit breitem Grinsen.

»Ganz im Gegenteil. Der Kerl hat sich über uns Polizisten hier im Norden lustig gemacht. Theo hat ihm ordentlich Kontra gegeben.«

»Ach ja? Die Kollegen meinen, Krumme hätte uns alle blamiert.«

»Moin, Friedrichs, nichts zu tun?«

Kriminalrat Horst Krüger, der Leiter der Kripo Husum, trat in den kleinen Raum.

»Moin, Chef, ich wollte mir nur einen Kaffee holen«, murmelte Friedrichs, schnappte sich einen Becher und machte sich auf den Weg zu seinem Büro.

»Haben Sie nicht was vergessen?«, fragte Krüger.

»Wieso? Was denn?«

»Na, den Kaffee!«

Friedrichs wurde knallrot, goss sich schnell etwas ein und stakste dann mit langen Schritten davon. Pat lächelte, hätte Krüger am liebsten geknutscht. Was wohl okay gewesen wäre, schließlich war Horst Krüger ihr Patenonkel, was außer Theo aber niemand im Haus wusste.

»Ist Krumme schon da?«, erkundigte er sich.

Pat zeigte in den Flur. »Da kommt er gerade.«

Tatsächlich spazierte er in diesem Moment in seiner dicken Winterjacke durch den Gang, die Augen auf den Boden gerichtet, offensichtlich in Gedanken. Trotz ihres Winkens bemerkte er sie überhaupt nicht, sondern marschierte direkt in ihr gemeinsames Büro.

Pat und ihr Onkel folgten ihm. Als sie in das Zimmer kamen, hatte Theo seine Jacke auf seinen Stuhl gehängt und schaute mit starrer Miene aus dem Fenster, hinaus auf den Bahndamm, wo gerade ein Güterzug Richtung Hamburg vorbeifuhr.

»Da ist ja unser Medienstar«, begrüßte ihn Krüger.

Theo drehte sich abrupt um. Er hatte sie nicht kommen gehört.

Horst Krüger zeigte ihm eine Ausgabe der Husumer Nachrichten, die er bisher unter dem Arm getragen hatte. »Selbst die Zeitung schreibt heute über Ihren Auftritt.«

Pat blickte mit Theo auf die Titelseite. Es zeigte ihn und Gröde auf dem Podium zusammen mit der Journalistin, deren Namen Pat schon wieder vergessen hatte.

»Beeindruckend, oder?«, fragte Krüger.

»Na ja«, erwiderte Theo wenig begeistert.

Tatsächlich hatte der Schriftsteller die Arme verschränkt, sein Lächeln wirkte deutlich gequält. Theo daneben war anzumerken, dass er keine Erfahrung mit solchen Auftritten hatte. Er blickte mit angestrengter Miene in die Kamera, während er mit ungelenk verdrehten Händen in dem Sessel kauerte.

»Wie auch immer«, erwiderte Krüger, »danke, Krumme, dass Sie die Fahne der Kripo hochgehalten haben.«

Theo nickte nur und wich seinem freundlich-forschen Blick unsicher aus. Was war heute nur los mit ihm? Pat war gewohnt, dass ihr Bürokollege jeden Morgen erst einmal eine Weile brauchte, um in Schwung zu kommen. Doch so zerstreut und abwesend hatte sie ihn noch nie gesehen.

Das schien auch ihrem Patenonkel aufzufallen. »Alles in Ordnung, Krumme?«

»Jaja, klar, war nur … in Gedanken«, erwiderte Theo. Er setzte sich auf seinen Bürostuhl und betrachtete den vertrockneten Ficus auf dem Schreibtisch, um zu vermeiden, sie anzuschauen.

Pat tauschte einen Blick mit Krüger.

Der räusperte sich. »Krumme, raus mit der Sprache, was ist los? Sie sehen schrecklich aus.«

Theo schaute überrascht auf. »Mir geht’s gut, wirklich. Draußen ist es bloß ziemlich kalt, vielleicht …« Er schwieg und gab vor, sich auf seine Unterlagen auf dem Schreibtisch zu konzentrieren.

»Hören Sie, ich weiß, vielleicht ist gestern Abend nicht alles so gelaufen, wie wir uns das vorgestellt haben. Aber Sie müssen sich keine Gedanken machen, Sie haben sich gegen diesen Kerl gut geschlagen. Das hat sogar meine Frau gesagt und die …«

»Herr Krüger, bitte«, fuhr Theo ungeduldig dazwischen, »richten Sie Ihrer Frau herzliche Grüße aus, aber ich muss mich jetzt auf ein Verhör vorbereiten …«

Das Klingeln des Telefons unterbrach ihn. Pat nahm ab, meldete sich und erkundigte sich, worum es ging. Dann hielt sie die Hand vor die Muschel und wandte sich an ihren Kollegen.

»Ein Herr Maurer aus Sylt. Er möchte dich sprechen.«

Zu ihrer Überraschung reagierte Theo entsetzt, geradezu panisch. »Nein, nicht, ich will nicht mit dem Kerl reden!«

»Aber er sagt, es ist wichtig«, sagte Pat verwundert.

»Aber nicht für mich!«, stieß Theo hervor und riss ihr das Telefon aus der Hand. »Hallo, Herr Maurer, oder wie auch immer Sie sich jetzt nennen!«, bellte er in den Hörer. »Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen mich in Ruhe lassen! Rufen Sie mich nie wieder an! Verstanden?«

Theo knallte den Hörer auf die Gabel.

Pat sah hilfesuchend zu Krüger, der Theo mit gerunzelter Stirn musterte.

Theo schien erst jetzt bewusst zu werden, wie sonderbar er sich verhalten hatte. Er stöhnte leise, blätterte in seinen Unterlagen und schwieg, wissend, dass er seinen Kollegen eine Erklärung schuldete.

»Ein Herr Maurer aus Sylt«, wiederholte Krüger misstrauisch. »Etwa Adrian Maurer?«

Worum ging es hier? Pat blickte verwirrt von ihrem Patenonkel zu Theo. Der holte tief Luft und nickte langsam.

»Krumme«, sagte Horst Krüger und war auf einmal nur noch strenger Chef, »raus mit der Sprache, was ist hier los?«

5

Eigentlich hatte Krumme gehofft, dieses für ihn so unangenehme Thema vor Pat geheim halten zu können. Und vor allem ihr Patenonkel sollte nichts davon erfahren. Aber als guter Kripochef war er wohl auch über Fälle der benachbarten Zweigstellen bestens informiert. Und nachdem er nun schon den Namen erfahren hatte, gab es keinen Sinn mehr, länger zu schweigen.

»Das war Adrian Maurer, ein Kunstmaler aus Sylt«, erklärte er und sah Pat an. »Er hat mich heute Morgen zu Hause schon mal angerufen. Da habe ich ihm bereits gesagt, dass ich ihm nicht helfen kann.«

»Helfen? Wobei?«, fragte Pat.

Krumme holte tief Luft, schloss für einen Moment die Augen, bevor er fortfuhr. »Er lebt in Keitum, einem kleinen Künstlerdorf in der Nähe von Westerland, wo …«

»Ich glaube, wir wissen alle, wo Keitum liegt«, unterbrach ihn Krüger ungeduldig.

»Er hat dort sein Atelier, malt Ölbilder oder so. Marianne kennt ihn, meint, er wäre berühmt, eine richtige Legende im Norden.«

»Und da hat sie recht«, sagte Krüger. »Wir haben einen Kunstdruck von ihm bei uns im Wohnzimmer hängen.«

»Ach ja?« Krumme schaute ihn überrascht an. »Ich hab seinen Namen vorher noch nie gehört. Wie auch immer. Seine Frau ist jedenfalls vor zwei Wochen verschwunden. Die Polizei glaubt, er hätte sie umgebracht.«

Pat, die an ihrem Schreibtisch, Krumme gegenüber, Platz genommen hatte, sah ihn verwundert an. »Sie glaubt? Gibt es denn keine Beweise?«

»Er sagt, nein. Trotzdem sitzen die Kollegen ihm angeblich im Nacken. Aber noch haben sie nichts gefunden, was eine Verhaftung rechtfertigen würde.«

»Was genau haben sie denn gefunden?«

Krumme goss sich ein Glas Wasser ein. »Irgendwelche Blutspuren, keine Ahnung. So genau wollte ich es gar nicht wissen. Ich habe ihm gleich gesagt, dass ich ihm nicht helfen kann und dass er mich nie mehr anrufen soll.«

»Aber warum ruft er ausgerechnet dich an? Und was soll das für eine Hilfe sein?«, fragte Pat.

»Na ja, er hat gesagt, er hat schon viel von mir gehört, von uns, von den Fällen, die wir in den letzten Jahren gelöst haben. Und da er nicht glaubt, dass die Kollegen aus Flensburg ihn unvoreingenommen behandeln, wollte er wissen, ob ich nicht nach …«

»… nach Sylt kommst und ihm hilfst?« Pat schüttelte den Kopf. »Wie schräg ist das denn?«

Krumme blickte zu Krüger, der ihn aufmerksam beobachtete.

»War das wirklich alles, Krumme?«

Er zögerte, dann gab er sich einen Ruck. »Nein, tatsächlich kennen dieser Maurer und ich uns schon von früher. Aus Berlin.«

»Aber Sie haben doch eben gesagt, Sie haben noch nie von ihm gehört?«

Er nickte. »Seine Stimme kam mir sofort bekannt vor. Dieser schnarrende Bass und diese arrogante Art … immer von oben herab.«

»Raus damit, Krumme. Woher kennen Sie den Mann?«

Er trank einen Schluck Wasser, auf einmal hatte er einen völlig trockenen Mund. »Vor dreißig Jahren in Berlin, ich war noch ganz neu bei der Kripo in Neukölln, da haben wir in einem Mordfall in einer Kleingartensiedlung am Reuterkiez ermittelt. Eine Lehrerin. Es war schrecklich. Maurer war der Hauptverdächtige.«

»Adrian Maurer? Der Künstler aus Keitum?« Krüger setzte sich auf einen der Besucherstühle und sah Krumme fragend an.

»Maurer ist ein Pseudonym. Damals hieß er Gerhard Fichte und war genau wie das damalige Opfer Lehrer an einer Schule in Neukölln.«

Krüger lehnte sich zurück. »Maurer ist der Mordverdächtige von damals?«

Krumme nickte. »Zu der Zeit war er Kunstlehrer.« Er trank noch einen Schluck, schaute, wie das Wasser im Glas sprudelte. »Jedenfalls wurde er am Ende vom Gericht freigesprochen. Die Beweise reichten nicht aus.«

»Und der Mörder der Lehrerin …«

»… wurde bis heute nicht gefunden.«

»Und weil Sie ihn damals nicht überführen konnten, hofft dieser Fichte oder Maurer, wie er jetzt heißt, dass Sie dafür sorgen, dass es die Kollegen aus Flensburg bei dem neuen Fall auf Sylt auch nicht schaffen?«

»Was für eine bescheuerte Logik!«, fand Pat.

Krumme seufzte. »Na ja, nicht ganz.« Wieder nippte er an seinem Glas. Dann sah er von Pat zu Krüger. »Es war meine Aussage, die damals dafür gesorgt hat, dass er freigesprochen wurde.«

»Was?«

Krumme spürte ein Zucken im Nacken, wie immer, wenn er über ein unangenehmes Thema sprechen musste. »Ich habe zugegeben, dass ein Indiz, das für seine Schuld sprach, falsch war.«

»Was heißt ›falsch‹?«, wollte Pat wissen.

Krumme seufzte. »Wir, die Kollegen und ich, waren damals zu hundert Prozent sicher, dass Fichte der Mörder war. Aber wir hatten keine Ahnung, wie wir das beweisen sollten. Wir waren verzweifelt, haben jeden Tag bis spät in die Nacht geschuftet. Schließlich haben wir keinen anderen Ausweg mehr gesehen.«

»Was habt ihr getan?«

»Wir haben einen entscheidenden Hinweis gefälscht, um Fichte hinter Gitter zu bringen.«

Pat sah ihn mit offenem Mund an. »Ihr habt das Gericht betrogen?«

Krumme nickte. »Wir haben es so arrangiert, dass seine Fingerabdrücke am Tatort waren. Obwohl nach der Tat alles abgewischt worden war.«

»Du sagst ›wir‹. Das heißt, du hast da wirklich mitgemacht?«

Er zögerte. »Ich war noch jung, ich gehörte nicht zum inneren Kreis der Kollegen, die diese Entscheidung gefällt haben. Aber kurz vor der Gerichtsverhandlung wurde ich eingeweiht. Also ja, ich war mitverantwortlich.«

Krumme schnaufte müde und wischte sich mit der Hand über die auf einmal verschwitzte Stirn. »Meine Güte, die arme Frau war damals regelrecht massakriert worden. Und alle Indizien sprachen eindeutig für Fichte als Mörder. Aber es fehlte der endgültige Beweis. Was sollten wir tun? Der Kerl durfte einfach nicht davonkommen …«

Er brach ab, versunken in seine Erinnerungen.

»Weiter«, forderte Krüger ihn auf.

»Tatsächlich sah es vor Gericht aus, als wenn Fichte für die Tat verurteilt würde. Alles sprach gegen ihn, dazu hatte er ein klares Motiv und überhaupt: Er hat die Zeugen beschimpft und sogar die Richterin beleidigt. Aber dann hat uns sein Anwalt in die Mangel genommen und …« Er schwieg, schaute aus dem Fenster nach draußen, wo es zu schneien begonnen hatte.

»Und was?«, fragte Krüger.

»Schließlich musste auch ich in den Zeugenstand.«

»Und was hast du gesagt?«

Er sah die wie immer komplett in Schwarz gekleidete Pat traurig an. Ihr vorwurfsvoller Blick machte ihm ein bisschen Angst. So empört hatte er sie noch nie gesehen.

»Ich habe schließlich zugegeben, dass der entscheidende Beweis fingiert war. Damit konnte Fichte die Tat nicht nachgewiesen werden. Dieser widerliche Kerl hat das Gericht als freier Mann verlassen.«

Für einen Moment herrschte Stille in dem kleinen Büro. Krumme blickte nur auf den vertrockneten Ficus, schob den Topf auf dem Tisch herum.

»Und der Mord an der Lehrerin wurde bis heute nicht aufgeklärt?«, fragte Pat.

Krumme schüttelte den Kopf.

Sie stöhnte. »Gut, jetzt verstehe ich, warum er dich wieder haben will. Er will, dass du ihn wieder raushaust.«

»Was haben Sie ihm gesagt?«, wollte Krüger wissen.

»Na, was wohl? Natürlich habe ich ihm gesagt, dass ich ihm nicht helfe! Niemals! Verrecken soll er!«

6

Dieses Pochen! Es machte sie wahnsinnig! Seit Stunden hörte sie es immer wieder. Gleichmäßig, schmerzhaft laut. So laut, dass sie am Morgen mit einem leisen Schrei aus dem Schlaf geschreckt war. Zuerst hatte sie geglaubt, nur geträumt zu haben, doch dann hatte das Klopfen nach ein paar Minuten wieder eingesetzt.

Es war noch dunkel gewesen, sieben Uhr am Morgen, bis auf die kleine Nachttischlampe auf der Kommode vor dem Kleiderschrank gab es kein Licht. Und die Fensterläden des Schlafzimmers waren den ganzen Tag über geschlossen, seitdem die Fotografen mit ihren Teleobjektiven in das Nachbarhaus eingezogen waren.

Zuerst hatte sie sich die Ohren zugehalten und dann die Daunendecke über den Kopf gezogen.

Nach einer Weile war das Pochen verstummt. Erleichtert hatte sie ihr Kissen gerichtet und an die dunkle Decke blickend versucht, ihre Gedanken zu sortieren. Nach einer Weile war sie wieder in einen leider nur leichten Schlaf geglitten, wie immer erfüllt von wirren Träumen, in denen helle Vergangenheit und trübe Gegenwart auf unangenehme Weise zusammenflossen.

Doch dann hatte das Klopfen wieder eingesetzt. Als wenn ein riesiger Specht von außen gegen die Haustür hämmern würde.

Benommen richtete sie sich auf. Sie wusste, dass sie sich manchmal Dinge einbildete, Geräusche hörte, wo nur Stille war. Mit den Jahren passierte ihr das öfter. Konnte es sein, dass auch dieses Klopfen gar nicht existierte?

Oder stand womöglich jemand vor ihrer Tür? Wer immer sie so früh störte, sie würde ihm nicht öffnen. Sie erwartete niemanden, keiner hatte sich angemeldet, und die Kurierfahrer wussten, dass sie Pakete nur vor die Tür stellen sollten.

Oder waren da wieder Kinder aus dem Dorf, die sich einen Spaß daraus machten, die verrückte Frau aus dem einsamen Haus in den Dünen zu erschrecken? Je mehr sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien ihr diese Möglichkeit. Diese verdammten Bengel! Immer wieder hatten sie in der letzten Woche Schneebälle an ihre Tür geworfen und waren dann grölend davongelaufen. Ob die Reporter sie dafür bezahlten? Um sie so aus dem Haus zu locken? Möglich war’s.

Für eine Weile herrschte wieder Stille. Endlich entschloss sie sich aufzustehen. Für einen Moment verharrte sie sitzend auf der Kante des großen Bettes, zog sich dann ihren seidenen Morgenmantel über, schlüpfte in ihre warmen Hausschuhe und ging die alte knirschende Holztreppe hinunter ins Erdgeschoss. Noch waren alle Fenster geschlossen. Auf einen Knopfdruck hin fuhren die Rollläden des Panoramafensters zur Terrasse leise nach oben und gaben den Blick auf die Winterlandschaft frei. Der gefrorene Rasen, die sanften, von Puderzuckerschnee bedeckten Hügel der Sylter Dünen vor dem hell leuchtenden Himmel des nordfriesischen Winters. Und dahinter das wie ein schwarzer Spiegel schimmernde Meer.

Sie seufzte, von Melancholie und zugleich grenzenloser Liebe zu dieser Landschaft erfüllt.

Kein Klopfen mehr. Und keine Kinder oder andere unerwünschte Besucher. Auf dem Weg, der von dem Friesenwall in einem langen Bogen hinauf zu ihrer Haustür führte, waren im frischen Schnee keine Spuren zu sehen. Sie war allein und das war gut so. Denn allein sein, bedeutete, die Kontrolle zu behalten, und sei es nur die Kontrolle über die Erinnerungen ihres an Erinnerungen reichen Lebens.

Für eine Weile stand sie reglos da und schaute hinaus in ihren Garten. Der zugefrorene kleine Teich neben ihrer großen Terrasse glänzte golden im Licht der Sonne.

Schließlich wandte sie sich ab und ging in die Küche. Sie kochte sich einen Tee und nahm aus dem Schrank über der Spüle eine halb volle Schachtel mit Schokoladenkeksen, die ihr ein Kampener Konditor regelmäßig schickte. Gratis! Nur damit er gegenüber seiner Kundschaft behaupten konnte, dass sie ein Fan seines Gebäcks war.

Schließlich kehrte sie zurück ins Wohnzimmer. Sie setzte sich in ihren alten Sessel, ein Geschenk ihrer Mutter, die schon lange tot war. Früher hatte er fast hundert Jahre in einem Schloss im Allgäu gestanden, nun war er für sie wie ein guter Freund, der ihr immer wieder Zuflucht vor den Zumutungen und Schrecken der äußeren Welt gewährte.

Sie nahm ihre Decke, legte sie sorgfältig um ihren schlanken Körper, denn in einem kalten Winter wie diesem wurde es in dem großen Haus selten richtig warm.

Sie nippte an ihrem Tee und schaute nachdenklich aus dem Fenster. Von hier oben konnte sie bis hinunter zum Strand sehen. Im Sommer führte die Segelschule, die sich rechts am Hafen befand, Kurse für Kinder durch. Dann war die Bucht gefüllt mit lauter kleinen Optimistenseglern, die kreuz und quer über das blaue Wasser glitten. Wie sie es liebte, die Jungs und Mädchen zu beobachten! Sie hatte sich extra ein Fernglas gekauft, um alles genau betrachten zu können.

Doch nun war Winter und die Segelschule geschlossen. Der Hafen und der Strand wirkten wie ausgestorben. Nur selten wanderten einsame Spaziergänger an dieser abgelegenen Stelle am Ufer entlang.

Sie griff nach ihrem Fernglas und versuchte, etwas Interessantes zu entdecken, konnte in der Ferne aber nur einen einzelnen Kutter auf der Nordsee sehen, der seine Netze durch das dunkle Meer zog. Dahinter sah man die riesigen Windräder auf dem Festland.