Küstenfluch - Hendrik Berg - E-Book

Küstenfluch E-Book

Hendrik Berg

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Beschreibung

An der Küste der Nordsee lauert der Tod ...

Als ein Orkan über Nordfriesland hinwegfegt, taucht ein rostiges Schiffswrack im Wattenmeer auf – und plötzlich häufen sich mysteriöse Todesfälle an der Küste. Der Bauer Jessen ist eines der Opfer. Doch war sein Tod ein Unfall oder Mord? Und was hat es mit Jessens kleinem Neffen Jan auf sich, der von furchtbaren Albträumen heimgesucht wird? Kommissar Theo Krumme ermittelt zusammen mit einer jungen Kollegin und stößt auf immer mehr Ungereimtheiten in der Familie. Dann verschwindet Jan, der sich von dem Schiffswrack magisch angezogen fühlte – und seine Spur führt direkt ins Watt ...

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Buch

Im nordfriesischen Wattenmeer wird ein Wrack entdeckt. Vor über hundert Jahren sank das Schiff vor Pellworm und lag all die Zeit verborgen im Schlick. Nun ist der rostige Riese wieder aus den Tiefen aufgetaucht. Ein unheilvolles Zeichen? Denn während sich die Touristen über eine neue Attraktion im Wattenmeer freuen, häufen sich plötzlich mysteriöse Todesfälle an der Küste. Kommissar Krumme, der aus Berlin nach Husum gezogen ist, nimmt die Ermittlungen auf, als der Bauer Hinnerk Jessen tot aufgefunden wird. Krumme und seine neue Partnerin Pat glauben nicht, dass es ein Unfall war. Mit ihren Nachforschungen machen sie sich jedoch äußerst unbeliebt, und insbesondere Krumme, der mit den Gepflogenheiten der Nordfriesen noch nicht vertraut ist, eckt an. Dann aber fasst Jan, der kleine Neffe des Opfers, Vertrauen zum Kommissar – und offenbart Ungeheuerliches …

Weitere Informationen zu Hendrik Berg

sowie zu lieferbaren Titeln des Autors

finden Sie am Ende des Buches.

HENDRIK BERG

Küstenfluch

Kriminalroman

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Originalausgabe März 2017

Copyright © 2017 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotiv: FinePic®, München

mauritius images/Christian Bäck

em · Herstellung: kw

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-19794-0V003

www.arkana-verlag.de

www.kailash-verlag.de

www.mosaik-verlag.de

www.goldmann-verlag.de

1

Das Unwetter hatte sich den ganzen Tag angekündigt. Nicht mit Regen oder starken Böen. Sondern mit einer unwirklichen Stille. Wie eine Decke lag sie auf dem Meer. Erst am späten Nachmittag näherte sich aus Westen eine Brise, zuerst noch leise, dann immer lauter, mächtiger. Schwarze Wolken schoben sich über die Flut, die mit Macht auf Nordfriesland drängte.

Am Abend erreichte der Sturm seinen Höhepunkt. Immer höher trieb er die Wellen auf die Küste zu. In schaumgekrönten Linien wälzten sie sich an der Landschaft Eiderstedt, den Halligen Süderoog und Südfall, an der Insel Pellworm und Nordstrand vorbei auf das Festland zu.

Die meisten Schiffe waren längst in die sicheren Häfen zurückgekehrt. Nur ein einsamer Kutter kämpfte noch mit den tosenden Fluten. Ein weißer Punkt in der dunklen Nacht.

Fluchend hielt Stave Geerkens das Ruder mit beiden Händen fest. Trotzdem wurde die MS Lena wie ein Spielzeug von den Wellen hin und her geworfen. »Schietwetter!«, schimpfte Stave und versuchte, die beschlagende Scheibe mit dem Ellenbogen frei zu wischen.

Eigentlich sollte er jetzt mit Mattes und Görcan, seiner kleinen Crew, längst in einer warmen Kneipe in der Husumer Altstadt sitzen. Aber heute war eben einer der Tage, an denen alles schiefging. Es hatte bereits am Morgen angefangen. Da waren statt der angemeldeten zehn Angler nur fünf auf den Kutter geklettert. Und dann, kurz bevor sie ihr Ziel erreichten, verreckte der Motor. Die Benzinpumpe, natürlich. Schon seit Wochen hatte sie Probleme gemacht, heute Mittag hatte sie endgültig ihren Geist aufgegeben.

Mehrere Stunden trieben sie mitten auf der Nordsee herum. Görcan war ein absolutes Genie, was Motoren anging. Aber es war schnell klar, dass er noch Stunden brauchen würde, um die MS Lena wieder zum Laufen zu bringen.

Zu lange für die Angler, die bei ihm eine vierstündige Tour auf die Nordsee gebucht hatten. Nach einem heftigen Streit war Stave nichts anderes übrig geblieben, als Kuddl Oecker über Funk anzurufen, damit er seine Gäste mit zu den Angelgebieten und anschließend zurück zum Hafen nahm. Ausgerechnet Kuddl, Staves größter Konkurrent auf dem engen Markt der Hochseeangeltouren.

»Soll ich dich abschleppen, min Jung?«, hatte Kuddl mit einem breiten Grinsen gefragt. Natürlich hatte Stave abgelehnt.

Vielleicht wäre es besser gewesen, er hätte zugestimmt. Für den Abend war schlechtes Wetter vorhergesagt worden.

Endlich tauchte Görcan mit ölverschmiertem Gesicht aus dem Maschinenraum auf und verkündete, die Kiste würde wieder laufen.

Der Himmel hatte sich schon bedenklich zugezogen, als es zurück nach Husum ging.

Aber so ein bisschen Wind konnte Stave nicht beeindrucken. Bevor er mit seiner MS Lena, benannt nach seiner toten Frau, Touren für Angler organisierte, war er dreißig Jahre lang als Fischer auf der Nordsee unterwegs gewesen. Gegen die gewaltigen Stürme, die er da erlebt hatte, war das Wetter an diesem Abend nur ein harmloser Nieselregen.

Sie hatten gerade den Westerhever Leuchtturm passiert, als er es zum ersten Mal an Backbord sah. Nur ganz kurz. Ein Schatten am Horizont, nicht weit von der Hallig Südfall entfernt, die einsam zwischen der Fahrrinne und der Insel Pellworm in der tosenden Nordsee lag.

Stave kniff die Augen zusammen, um es besser erkennen zu können. Eine große Welle krachte gegen die Scheibe und nahm ihm die Sicht.

»Was is’n?«, fragte Mattes, der hinter ihm auf einer kleinen Bank saß und trotz des Unwetters ungerührt eine Stulle aß.

Stave beachtete ihn gar nicht. Er blickte auf das Radar. Und tatsächlich zeichneten sich dort in fast einem Kilometer Entfernung die Umrisse von etwas Großem ab.

Aber was?

Stave kannte diese Strecke besser als sein Wohnzimmer, unzählige Male war er hier langgefahren, bei Tag und Nacht, bei jedem Wetter. Aber so etwas Seltsames hatte er noch nie gesehen.

Wieder schaute er aus dem Kajütenfenster, konnte aber nur die Schaumkrone der nächsten Welle erkennen. Mattes stellte sich schmatzend neben ihn. Das heftige Schwanken des Kutters machte ihm genauso wenig aus wie Stave.

Er blickte auf das Radar und dann ebenfalls aus dem Fenster.

»Ein Wal?«

»Nee«, grummelte Stave und kratzte sich an seiner dicken Nase. »Das ist viel größer als ein Wal.«

In dem Moment krachte ein Donner über die aufgewühlte See, ein Blitz zerriss die Dunkelheit. In seinem Licht konnten sie Pellworms Küste am Horizont sehen, die Nordermühle, den rot-weißen Leuchtturm und dahinter, nur zu erahnen, den Turm der alten Kirche.

Aber nicht auf der Insel war der Blitz eingeschlagen. Er hatte sich ein anderes Ziel gesucht. Es lag glänzend im tosenden Meer. Etwas Metallisches. Scharfe Kanten wie ein gewaltiger Diamant. Es erhob sich aus der See, brach mit Urgewalt durch die Wellen. Wie ein schwarzes Loch schien es jedes Licht einzusaugen. Nur einen kurzen Moment erstrahlte alles so hell wie am Tag. Dann versank die Nacht wieder in kompletter Dunkelheit.

»Du lieber Gott, was war denn das?«, stammelte Mattes, immer noch mit der Stulle in der Hand.

Stave spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. »Keine Ahnung«, flüsterte er, »aber mit dem lieben Gott hat es bestimmt nichts zu tun.«

2

Eine Ratte, dachte Hinnerk, als er das Geräusch zum ersten Mal bemerkte.

Es war ein leises Scharren. Als hätte jemand nicht mehr die Kraft, die Füße zu heben, und schöbe sie stattdessen nur träge über den Boden.

Hinnerk schaute sich um. Keiner zu sehen. Er war allein auf dem Dachboden der Scheune. Aufmerksam lauschte er in die Dunkelheit, aber alles, was er jetzt hörte, war das Dröhnen des Sturms, der draußen über die Marsch fegte.

Er schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit. Das kleine Boot, das er Jan, seinem Neffen, zum Geburtstag schenken wollte. Zufrieden betrachtete er die Aufbauten, die er aus einem Stück Eichenholz herausgeschnitzt hatte. Zur Belohnung griff er nach der Pilsflasche, die auf dem Tisch stand, und trank einen Schluck. Er lehnte sich entspannt zurück und betrachtete sein kleines Reich. Auch wenn Paula, seine Frau, es nicht gerne hörte, hier fühlte er sich am Ende des Tages besonders wohl. Nur eine Werkbank, eine Lampe in dem dunklen hohen Raum, ein bisschen was zu basteln und zu reparieren, mehr brauchte es nicht, um ihn glücklich zu machen. Und zu reparieren gab es eigentlich immer etwas.

Er blickte zu dem einzigen Fenster und beobachtete, wie die schwarzen Wolken über den Himmel rasten. Morgen früh musste er eine Runde um den Hof drehen. Er war sicher, dass der Sturm Spuren hinterlassen würde. Heruntergefallene Dachschindeln, abgeknickte Äste. Ob das schiefe Baugerüst hinter dem Wohnhaus dem starken Wind standhalten würde?

Alles kein Problem für Hinnerk. So war das hier eben an der Küste, wo man lernte, mit den Folgen des Wetters zu leben.

Er schloss die Augen, genoss den Duft nach bearbeitetem Holz. Die frische, nach Meer und Salz riechende Luft, die durch das undichte Fenster in den Dachboden strömte.

Auf einmal wieder das Geräusch.

Nein, dachte Hinnerk. Das sind keine Ratten. Oder Mäuse. Oder überhaupt irgendein Tier. Abgesehen davon, dass die Schafe und Kühe auf dem Feld waren – das hörte sich an, als ob jemand draußen um die Scheune schlich.

Oder war sogar jemand in der Scheune?

Hinnerk stand auf.

»Hallo?«, rief er, aber niemand antwortete. Stille. Nur der Wind, der um das Haus blies.

Und dann wieder ein leises Schlurfen.

»Jan? Bist du das?« Er lächelte. »Hör zu, ich habe dir gesagt, du darfst nicht gucken! Es soll eine Überraschung sein.«

Keine Reaktion. Hinnerk zog die Stirn in Falten. Da hatte er sich wohl geirrt. Eigentlich sollte der Kleine ja auch längst im Bett liegen.

Wieder hörte er ein Geräusch. Dieses Mal war es eher ein Kratzen. Doch eine Ratte? Oder eine ihrer Katzen? Beides? Hinnerk wollte gar nicht wissen, was für Dramen sich hier in der Nacht abspielten.

Misstrauisch ging er zur Kante des Dachbodens. Er blickte hinunter in die Scheune, auf das Werkzeug, die Geräte, die neben dem Trecker standen und die er heute vor dem schlechten Wetter in Sicherheit gebracht hatte.

Nichts zu sehen. Alles in Ordnung. Er lächelte gedankenverloren. Wie oft war er schon allein hier oben gewesen? Unzählige Male. Noch nie hatte er Angst gehabt. Man konnte ja vieles über ihn sagen, aber eine Bangbüx war Hinnerk nun ganz bestimmt nicht.

Trotzdem, irgendwas war heute Abend anders. Etwas stimmte nicht. Etwas gehörte nicht hierher. Er spürte, wie sich die Nackenhaare aufstellten, als ob Strom in der Luft schwirrte.

Er wollte zum Arbeitstisch zurückkehren, als ihn ein heftiger Stoß in den Rücken traf. Hinnerk stöhnte auf, wollte sich umdrehen. Aber da verlor er schon das Gleichgewicht. Auf der Kante stehend ruderte er einen kurzen Augenblick mit den Armen – und fiel dann mit dem Rücken voran nach unten in die Tiefe.

Ein hässliches, schmatzendes Geräusch. Und ein fürchterliches Stechen, das plötzlich mit Wucht durch seinen Körper fuhr wie ein Meer aus brennenden Flammen.

Was war passiert? Wer hatte ihn gestoßen? Ungläubig versuchte Hinnerk, den Kopf zu bewegen. Ohne Erfolg. Er hatte keine Kontrolle über sich. Er spürte seinen Körper nicht mehr. Arme, Beine, alles nur ein einziger quälender, drückender Schmerz.

Stöhnend versuchte er, sich aufzurichten. Aber auch das ging nicht. Stattdessen erkannte er aus den Augenwinkeln, dass etwas aus seinem Bauch aufragte. Dornen, blutige Dornen.

Und es war sein Blut.

Erschöpft sackte er nach hinten. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er spürte einen seltsam metallischen Geschmack auf der Zunge, merkte, wie etwas Heißes aus seinen Mundwinkeln lief.

Mit aufgerissenen Augen starrte er nach oben, auf den Dachboden. Was war nur da oben? Wer war dort oben? Alles begann zu verschwimmen, unklar zu werden. Die Augenlider flimmerten. Das Letzte, was er noch erkennen konnte, war ein Schatten, der sich über die Kante des Bodens zu ihm herunterbeugte.

Hinnerk wusste: Er würde sterben, jetzt. Vielleicht war er schon tot. Denn auf einmal spürte er, wie eine Hand nach seinen Fingern griff. Eine Kinderhand. Sanft und zärtlich drückte sie ihn, streichelte ihn voller Mitgefühl und nahm ihn schließlich mit auf seine letzte Reise.

3

Die Welt um ihn herum drehte sich. Die Musik, die Farben, das Licht, alles wurde zu einem Strudel. Ihn schwindelte, nur einen Augenblick länger, und er wäre zur Seite gekippt.

»Tut mir leid, ich kann nicht mehr«, ächzte Krumme und hielt sich schnaufend an einer Säule fest.

»Oh bitte, noch ein letzter Wiener Walzer, Herr Kommissar«, rief Frau Schröter. Trotz ihrer 55 Jahre schien ihr die Anstrengung kaum etwas auszumachen. Mit vor Glück glänzenden Augen strahlte sie ihn an und hakte sich bei ihm unter. Krumme schüttelte den Kopf.

»Nein, ich brauche eine Pause.« Und hören Sie auf, mich Kommissar zu nennen, wollte er ergänzen. Seit einem Monat wohnte er nun bei ihr zur Untermiete. Und sie mochte partout nicht Theo zu ihm sagen oder ihn wenigstens mit seinem richtigen Nachnamen ansprechen.

»Na, du machst doch nicht etwa schlapp?«, rief ihm ein sehr dicker Mann mit seiner im Vergleich zu ihm sehr zierlichen Frau zu. Holger Mannsen, Kollege von der Bredstedter Schutzpolizei, und seine Frau Petra. Kaum zu fassen, mit welcher Leichtigkeit die beiden trotz Mannsens gewaltiger Leibesfülle über den Boden der Tanzschule schwebten.

Krumme hielt die Hände hoch. »Ich kann nicht mehr! Vielleicht hätte ich heute mehr trinken müssen. Außerdem sind meine Schuhe viel zu eng. Ich habe überall Blasen.«

»Ach komm, Theo. Ist doch sowieso gleich Schluss! Nur noch drei Tänze, hat Raoul gesagt.«

»Eine Rumba ist auch dabei!«, rief Mannsens Frau Petra voller Vorfreude. Schon drehten sich die beiden wie ein Karussell im Walzertakt auf die andere Seite des Raumes.

Krumme warf einen kurzen Blick zu Raoul, ihrem Tanzlehrer mit kubanischen Wurzeln, einem grauhaarigen Mann. Mit seinen über siebzig Jahren war er noch immer sagenhaft gut auf den Beinen und gab gerade einem jungen Studentenpärchen Anweisungen.

Aber Krumme hatte für diesen Abend genug. Er war ein eher mittelmäßiger Tänzer. Discofox, Slowfox, natürlich auch einen langsamen Walzer, das kriegte er hin. Aber drei Wiener Walzer hintereinander waren einfach zu viel Rock ’n’ Roll für ihn. Respektvoll neigte er den Kopf vor Frau Schröter. »Nicht böse sein. Ich muss unbedingt an die frische Luft.«

Kurz darauf stand er vor dem Haupteingang der Tanzschule am nördlichen Rand der Husumer Altstadt. Krumme atmete erleichtert durch. Schon besser. Die Hände tief in den Taschen vergraben blickte er in den Himmel. Verrückt, wie dramatisch sich das Wetter in den letzten zwei Stunden verschlechtert hatte. Er schloss die Augen und lächelte. Der kühle Wind fuhr durch seine verschwitzten Haare. Der Regen prasselte ihm ins erhitzte Gesicht, lief über die Stirn und Nase und tropfte auf das Kopfsteinpflaster. Eine heftige Böe traf ihn, so dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte.

Das Wetter war an der Nordsee nicht nur ein Grundrauschen im Hintergrund. Sondern etwas Lebendiges mit einem eigenen Willen, etwas nicht zu Kontrollierendes, das immer für eine Überraschung gut war. Das einen manchmal liebevoll in den Arm nahm. Und einem in Nächten wie diesen auch einen tüchtigen Tritt in den Hintern geben konnte.

Genau das war einer der Gründe, warum er vor einem Monat hierhergezogen war. Sein Leben in Berlin, in der großen Stadt? Schon nach kurzer Zeit nur eine graue Erinnerung, die mit jedem Tag mehr verblasste.

Krumme hörte den Donner eines nahen Blitzes und zuckte zusammen. Er blickte hinauf in den Himmel, in einen schwarzen Wirbel, wo Wolken sich nach unten wölbten, als ob sie etwas auf die Erde spucken wollten.

Auf einmal fühlte er sich unbehaglich, so allein auf diesem Hinterhof. Was stimmte nicht? Was war anders geworden? Es schien, als hätte sich ein Schatten über die Küste gelegt. Krumme dachte an die Nacht vor ein paar Jahren, als er zum ersten Mal nach Nordfriesland gekommen war. Auch damals war ein heftiger Sturm über die Marsch gefegt. Krumme war über den Deich gegangen und von einem gefährlichen Psychopathen niedergestochen worden. Doch schon bevor er den Mann getroffen hatte, war Krumme sicher gewesen, dass etwas Böses unterwegs war. Eine Ahnung nur. Aber in der langen Zeit als Kriminalkommissar hatte er gelernt, dass er auf Gefühle und Instinkte hören sollte.

»Na, ist es nicht ein bisschen kalt hier draußen?«, holte ihn ein tiefer Bass aus den trüben Gedanken. Mannsen wollte zuerst nach draußen treten zu seinem Freund, blieb aber nach einem skeptischen Blick zum Himmel lieber in der offenen Tür der Tanzschule stehen. Seine Tanzschuhe funkelten im Licht der Neonwerbung. Krumme lächelte. Dass ausgerechnet der große Mannsen so zarte Lackschuhe trug, konnte er immer noch nicht glauben. Normalerweise war sein Kollege von der Schutzpolizei nur in festen Schuhen oder Gummistiefeln unterwegs. Oder in Fußballschuhen, wenn er als Trainer der Dorfmannschaft »Concordia Kleebüll« neben dem Sportplatz stand.

»Willst du nicht wieder reinkommen? Raoul hat schon nach dir gefragt.«

»Ich habe heute eigentlich genug getanzt.«

»Tanzen ist vorbei. Wir stehen alle an der Bar. Raoul hat einen Schnaps von seiner letzten Kubareise mitgebracht.«

»Na dann muss ich wohl mitkommen.« Krumme grinste und wandte sich zum Eingang.

»Ist wirklich sehr nett, dass du Petra, Marianne und mich begleitest.«

»Macht doch Spaß!«

»Nicht wahr?« Mannsen hielt die dicke Hand vertraulich grinsend vor den Mund. »Und Marianne ist auch ein Schatz, oder?«

Krumme war klar, dass sein Kollege ihn mit seiner Freundin verkuppeln wollte, die er schon seit Schulzeiten kannte und die seit fünf Jahren Witwe war. Aber vorerst reichte es ihm, dass sie seine Vermieterin war. Trotzdem nickte er höflich lächelnd.

»Wollen wir? Nicht dass der Schnaps schon alle ist«, sagte er und zeigte auf die Tür. Mannsen zwinkerte ihm frech zu, klopfte ihm auf die Schulter und ging vor. Krumme blickte ein letztes Mal unwohl zum Himmel, wo erneut ein grelles Leuchten den schwarzen Himmel zerschnitt. Dieses Mal war der Donner bereits etwas leiser. Wahrscheinlich hatte der Blitz irgendwo draußen auf den Inseln eingeschlagen.

Eine ungemütliche Nacht. Krumme fragte sich, wie wohl der nächste Tag werden würde. Dann folgte er Mannsen in die Tanzschule.

4

Am nächsten Morgen war Stave früh auf den Beinen. Er war zwar erst um Mitternacht ins Bett gegangen, hatte aber kaum schlafen können. Kurz nach sechs stand er auf, machte sich einen Kaffee und verließ sein Häuschen am Stadtrand von Husum. Mit seinem alten Ford Transit fuhr er die Nordseestraße hinaus Richtung Nordstrand. Das war früher mal eine Insel gewesen. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war sie durch einen Deich mit dem Festland verbunden worden, eine Verbindung, die später durch Landgewinnung ausgebaut wurde und Nordstrand in eine Halbinsel verwandelt hatte.

Stave überquerte den Damm und bog nach links ab, um zur südwestlichen Spitze zu fahren. Er suchte sich einen Parkplatz, dann stieg er eine Treppe hinauf auf den Deich.

Dort oben erwartete ihn eigentlich ein überwältigender Blick. Es herrschte Ebbe, das Meer hatte sich zurückgezogen. Normalerweise konnte er über das Wattenmeer bis hinüber nach Eiderstedt sehen.

Aber nicht heute.

Der nächtliche Sturm hatte sich verzogen. In ein paar Stunden schon würde die Sonne von einem makellos blauen Himmel scheinen. Doch noch lagen Nebelbänke über dem Watt und leuchteten im frühen Morgenlicht. Weiter als hundert Meter konnte er nicht sehen.

Auch gut. Stave war an der Nordsee aufgewachsen, er kannte hier jede Muschel. Er wusste genau, wo die gefährlichen Priele verliefen. Zur Sicherheit hatte er einen Kompass dabei, aber er glaubte nicht, dass er ihn brauchen würde.

Schuhe und Socken hatte er schon beim Wagen ausgezogen. Jetzt krempelte er die Hose hoch und ging hinaus in das Watt. Es quietschte, als er die Füße zum ersten Mal auf den graubraunen Schlick setzte. Wie warm der auch nach dieser stürmischen Nacht noch war!

Mit entschlossener Miene marschierte er Richtung Westen. Der Nebel war nicht überall gleich dicht, zwischendurch klarte es immer wieder auf. Dann konnte er die Hallig Südfall in der Ferne sehen. Oder Schiffe, die vor Eiderstedt im Heverstrom auf das Meer fuhren. Der Anblick der Kutter versetzte ihm einen kleinen Stich. Er wusste, es würde noch eine teure Reparatur werden, bevor er mit seiner MS Lena erneut Angeltouren veranstalten konnte.

Kurz vor der Stelle, wo er sein Ziel vermutete, zog der Nebel zu. Auf einmal konnte er höchstens zwanzig Meter weit sehen.

Als wenn es sich vor ihm und der Welt verstecken wollte.

Schließlich war es so weit. Zuerst nur ein Schatten, unheimlich, bedrohlich, dann wurden die Umrisse konkreter, waren immer besser zu erkennen: Ein Schiffswrack. Nicht nur eine kleine Barke, wie es sie hier im Watt überall gab. Keine verfaulten Bretter und Planken, die nur erahnen ließen, dass sie Überreste eines Boots waren. Nein, dieses Schiff bestand aus Stahl und Eisen. Wie ein rostiger Leviathan ragte es in den Nebel, so groß, dass Stave das Heck, das immer noch tief im Watt steckte, kaum erkennen konnte.

Er schluckte, der Anblick des Riesen nahm ihm den Atem. Aufrecht erhob sich das Wrack aus dem schwarzen Schlick, bereit, jeden Moment wieder auf Fahrt zu gehen. Der farblose schorfige Rumpf schien komplett intakt. Erst als Stave etwas zur Seite trat, sah er, dass an der Backbordseite ein großes Loch klaffte. Zeichen eines Zusammenstoßes? Oder war das Schiff, ein alter Frachter, auf ein Riff gelaufen?

Vorsichtig riskierte er einen Blick in den dunklen Innenraum, konnte außer einem schwarzen Schlund aber nur wenig erkennen. Rostige Streben, Zwischenwände, Überreste einer gewaltigen Maschine. Er hörte, wie Wasser gurgelnd durch das Wrack lief.

Wie alt es wohl war? Und wo war es hergekommen?

Er schaute sich die Hülle genauer an. Das Salzwasser hatte die Farbe komplett abgewaschen, auch von dem Namen war nichts mehr zu erkennen. Er drückte vorsichtig gegen den Rumpf. Überall hatte der Rost Blasen geschlagen, doch darunter war das Eisen erstaunlich robust. Er legte die Hand auf den alten Stahl. Bildete er es sich nur ein, oder spürte er ein Vibrieren? Als ob irgendwo noch ein Motor lief. Ein Generator? Es war seltsam, aber auf verstörende Weise hatte Stave den Eindruck, ein schwaches Spannungsfeld würde das gesamte Wrack umgeben.

»Faszinierend, oder?«, hörte er eine leicht näselnde Stimme. Er drehte sich um und erblickte einen hageren Mann in einer grünen Öljacke. Genau wie er hatte der Fremde die Hose hochgekrempelt und stand mit nackten Füßen im Watt. Die schulterlangen Haare klebten feucht vom Nebel am kantigen Schädel, um den Hals baumelte ein Fernglas.

Mit einem langen Stock, den er wie einen Wanderstab benutzte, zeigte er auf das Wrack.

»Unglaublich, was alles aus dem Watt auftaucht, wie?«

Stave zog die Füße mit einem leisen Schmatzen aus dem Schlick und ging einen Schritt zurück. »Ich habe hier schon oft Überreste von alten Schiffen gesehen«, sagte er, »allerdings noch nie ein so großes Wrack.«

»Ja, stimmt, es ist riesig. Wussten Sie, dass seit 1600 vor Pellworm über 800 Schiffe gesunken sind? Seitdem liegen sie verborgen im Watt. Windjammer, Fischkutter, Frachter. Da sind schon ein paar Brocken dabei.«

»Bis Pellworm ist es aber noch ein bisschen hin.«

»Klar. Doch mit jedem Wechsel von Ebbe und Flut bewegen sich diese Wracks weiter, versteckt unter dem Schlick. Und bei einem Sturm wie letzter Nacht können sie dann wieder auftauchen. Oft zig Kilometer von dem Ort entfernt, wo sie vor vielen Jahren gesunken sind.«

Auf einmal hörten sie ein lautes Brummen. Dieses Mal kam es nicht vom Schiff. Stave schaute nach oben, wo der Nebel sich komplett aufgelöst hatte. Überall schien bereits der blaue Himmel durch. Ein Hubschrauber kam näher und flog mehrere Kurven über das rostige Wrack.

Stave kratzte sich an der Nase. »Sieht aus, als hätte Nordfriesland eine neue Attraktion.«

5

»Noch einen Kaffee, Herr Kommissar?«

Frau Schröter stand mit der dampfenden Kanne neben ihm am Frühstückstisch und sah ihn freundlich an. Krumme bemerkte, dass sie zwar noch einen Bademantel trug, ihre Haare aber bereits frisch frisiert waren. Sie musste extra früher aufgestanden sein. Dabei waren sie beide am letzten Abend doch erst nach Mitternacht wieder zu Hause gewesen.

Krumme lächelte. »Nein danke, Frau Schröter«, sagte er, »ich habe noch.«

»Wie sieht’s mit Brot aus? Soll ich Ihnen noch eine Scheibe abschneiden?«

»Nicht nötig, ich habe keinen Hunger mehr. Ihre selbstgemachte Marmelade schmeckt übrigens köstlich.«

Frau Schröter nickte zufrieden und ließ ihn dann allein in der Küche zurück. Krumme blickte seiner Vermieterin lächelnd hinterher. Die Gute, er hatte ihr schon mehrmals gesagt, dass sie sich seinetwegen keine Mühe machen sollte. Er konnte sich auch allein sein Frühstück zubereiten. Schließlich war er nicht ein Feriengast, sondern ihr Untermieter. Aber so beharrlich, wie sie bei der Anrede »Herr Kommissar« blieb, stand sie jeden Morgen vor ihm auf und sorgte dafür, dass der heiße Kaffee und das frische Brot schon auf dem Tisch standen.

Mit einem entspannten Seufzer lehnte er sich auf dem Stuhl zurück und sah hinaus auf den nach dem Gewitter der letzten Nacht wieder blauen nordfriesischen Himmel. Im Hintergrund lief das Morgenradio mit den Lokalnachrichten aus Schleswig-Holstein. Und durch das offene Fenster konnte er ein Rotkehlchen hören und die frische, salzige Luft des nahen Meeres riechen. Herrlich.

Sein neues Zuhause. Seit vier Wochen wohnte er jetzt schon in dem kleinen Haus am nördlichen Rand der Husumer Altstadt zur Untermiete. Zwei Zimmer, Bad, keine eigene Küche. Die teilte er sich mit Frau Schröter.

Schon nach so kurzer Zeit dachte er kaum noch an Berlin. Seine dunkle Wohnung in Neukölln, der Schmutz und der ständige Lärm, das muffige Büro im Polizeipräsidium in der Sonnenallee – alles nur noch trübe Erinnerungen.

Wer hätte gedacht, dass ihm der Wechsel von der Großstadt ins kleine Husum so leichtfallen würde?

Er schaute auf seine Uhr und seufzte. Zeit, zur Arbeit zu gehen. Krumme trank seinen Kaffee aus, schnappte sich seine Jacke und machte sich auf den Weg.

Die Küche im dritten Stock des Polizeipräsidiums an der Poggenburgstraße, gegenüber vom Husumer Hauptbahnhof, sah so aus wie alle Büroküchen, die von vielen Mitarbeitern genutzt wurden. Schmutzige Tassen im Spülbecken. Auf der Ablage benutzte Teebeutel. Der Mülleimer quoll über, und die Spülmaschine war nicht ausgeräumt.

Eigentlich genau wie in Krummes alter Küche in Berlin. Jetzt war er bemüht, Ordnung zu halten, vor allem, um sich vor Frau Schröter nicht zu blamieren. Gedankenverloren goss er sich einen Kaffee ein, als Hauke Friedrichs und Karsten Ludwig sich ebenfalls in die kleine Küche drängten.

»Ah, der Berliner Kollege. Alles frisch?«, erkundigte sich Friedrichs. Er war fast zwei Meter groß und hatte lange, spinnenartige Arme und Beine. Trotzdem hing ihm ein strammes Bäuchlein über die Bundfaltenhose.

Sein Kumpel Karsten ›Katsche‹ Ludwig war das genaue Gegenteil: klein und untersetzt. Sein dicker haarloser Kopf saß praktisch ohne jeglichen Hals auf dem Oberkörper, insgesamt hatte er große Ähnlichkeit mit einer Kugel.

»Moin«, sagte Krumme nur und nickte den Kollegen zu. Er konnte die beiden nicht leiden.

»Und? Wie geht’s mit Ihrer neuen Kollegin?«, erkundigte sich Ludwig. Er grinste.

»Gut, sehr gut«, erwiderte Krumme tonlos und wich seinem Blick aus.

»Wie schön. Ich bin sicher, bei Ihnen kann sie noch einiges lernen«, sagte Friedrichs. Auch ihm war die Schadenfreude deutlich anzumerken.

Krumme nickte wieder. Er nahm den Kaffee und machte sich auf den langen Weg zu seinem Büro.

Diese Idioten. Er wusste genau, dass es hier in der Polizeidirektion einige gab, die ihn nicht besonders mochten. Die ihm unterstellten, dass er sich nur deshalb aus Berlin nach Husum hatte versetzen lassen, um schon mit 55 Jahren einen entspannten Vorruhestand einzuleiten.

Dann diese Geschichten aus Kleebüll und der Hallig Hooge. In beiden Fällen, einmal als aktiver Berliner Kommissar und einmal als Urlauber, hatte Krumme die Initiative ergriffen und insgesamt drei gefährliche Mörder überführt. Und dabei die Kollegen von der Kriminalpolizei in Husum nicht gut aussehen lassen, die besonders auf der Hallig nicht sorgfältig genug gearbeitet hatten.

Nun saß er selbst in der Polizeidirektion an der Poggenburgstraße. Krumme war sicher, dass es noch eine Weile dauern würde, bis er sich hier eingelebt hatte und von allen akzeptiert wurde. Solange würden einige bestimmt alles tun, um ihm das Leben so schwer wie möglich zu machen.

Dazu gehörte, dass seine Vorgesetzten ihm vor ein paar Tagen ausgerechnet eine junge Absolventin der Polizeischule ins Zimmer gesetzt hatten.

Er hatte das Büro erreicht. Durch die halboffene Tür konnte er seine neue Kollegin sehen. Sie saß hinter ihrem Computer, aber wie so oft blickte sie nur auf ihr Handy. Sie hieß Patrizia Reichel, war gerade mal 24 Jahre jung und groß gewachsen. Wie Hauke Friedrichs überragte sie Krumme fast um anderthalb Köpfe. Auch sonst war sie von eher kräftiger Statur. Nicht direkt dick, aber stämmig.

Die riesenhafte Absolventin der Polizeischule und der zerzauste Kommissar aus der Hauptstadt – Krumme wusste, dass sie beide ein ungewöhnliches Paar abgaben. Krumme holte tief Luft und ging hinein.

»War was?«, erkundigte er sich.

Patrizia schüttelte den Kopf, ohne dabei wenigstens kurz aufzuschauen.

Viel geredet hatten sie bisher nicht. Krumme war kein Meister des Smalltalks, hatte aber am Anfang ein paar Mal probiert, mit ihr zu plaudern. Über das Wetter, natürlich. Über die Qualität des Mittagessens. Über sein altes Büro in Berlin. Über den Zugverkehr auf der Bahnlinie gegenüber dem Präsidium.

Offensichtlich nicht unbedingt Themen, für die sich eine junge Frau wie Patrizia erwärmen konnte. Sie hatte stets nur knapp geantwortet und ihn dabei mit einer Mischung aus Unverständnis und Langeweile angesehen. Ob sie ihn für einen Idioten hielt? Für einen alten Mann, kurz vor der Rente, von dem man nicht mehr allzu viel erwarten sollte?

Dass er neu in Husum war, freiwillig aus der Hauptstadt in die friesische Provinz gekommen war, all das schien sie kein Stück zu interessieren. Lieber spielte sie mit ihrem Handy herum oder hackte hektisch in die Tastatur ihres Computers. Wusste der Teufel, was genau sie dort den ganzen Tag anstellte. Kriminaldirektor Krüger, ihr gemeinsamer Chef, hatte ihr irgendwelche Rechercheaufgaben im Internet gegeben. Krumme hatte kurz nachgefragt, worum genau es dabei ging. Darauf hatte sie mit einigen Fachwörtern geantwortet, in einem Ton, der wohl suggerieren sollte, dass er sowieso keine Ahnung von diesem Thema hatte. Stimmte ja auch. Aber woher sollte sie das wissen? Also nickte er betont lässig und fragte nicht weiter nach.

Na schön, er teilte sein Zimmer mit einer praktisch Fremden. Und wenn er die grinsenden Mienen der Kollegen sah, allen voran Hauke Friedrichs’ und Katsche Ludwigs, war klar, dass sie ihm eins auswischen wollten. Sollte er sich darüber aufregen? Krumme beschloss, cool zu bleiben. Er hatte schon schlimmere Situationen gemeistert. Er war eben neu hier. Mit der Zeit würden sich die Dinge von allein zurechtrücken.

Also beließ er es bei »Moin, Mahlzeit, Schönen Feierabend«, ignorierte das große Mädchen hinter dem Computerbildschirm und kümmerte sich ansonsten nur um seinen Kram. In Berlin hatte er am liebsten allein gearbeitet. Patrizia schien jetzt auch kein Interesse an Teamarbeit zu haben. Darauf immerhin konnten sie sich einigen.

Ihr gemeinsames Telefon klingelte. Bevor er reagieren konnte, hatte Patrizia bereits abgenommen.

»Ja?«, sagte sie mit überraschend tiefer, tonloser, gelangweilter Stimme ins Telefon. Sie verzog keine Miene, als sie Krumme während des Gesprächs anschaute. Dann legte sie auf und fuhr sich erst einmal durch die Haare.

»Und?«, fragte er ungeduldig.

»Das war der Chef. Ein Toter. Draußen in Eiderstedt. Sie haben ihn heute Morgen gefunden. Wir sollen uns darum kümmern.«

Krumme atmete tief durch. Schluss mit den blöden Statistiken. Er schnappte sich seine Jacke von dem windschiefen Garderobenständer und freute sich. Endlich wieder echte Polizeiarbeit.

6

Nach einer nur halbstündigen Autofahrt – ihr erster gemeinsamer Einsatz, Patrizia saß überraschend nervös am Steuer – hatten sie ihr Ziel erreicht: Den Jessen-Hof, einen dreihundert Jahre alten Haubarg nahe der Nordseite Eiderstedts. Ein mächtiger Bauernhof, der komplett zu Wohnungen umgebaut worden war, in denen die Familie lebte.

Im Moment interessierte sie aber nur die Scheune. Kollegen hatten sie weiträumig abgesperrt. Vor dem offenen Tor stand bereits der Passat der Spurensicherung und neben einem Streifenwagen auch ein Rettungswagen.

»Moin«, rief Krumme fast schon wie ein echter Friese den Kollegen von der Streifenpolizei entgegen, die vor dem Absperrband eine Zigarette in der Sonne rauchten. Bei ihnen wartete neben einem Koffer auch ein Mann mit zurückgegelten Haaren. Seine Hände steckten tief in den Taschen eines langen Trenchcoats, den er trotz der Mittagshitze trug. Aber weder er noch einer der anderen beachtete Krumme. Alle starrten nur zu Patrizia, die mit schwarzer Jeans, einem sackartigen T-Shirt und halbhohen Chucks wie eine dunkle Riesin hinter ihm stand.

Patrizia schien solche Blicke gewohnt zu sein. Zumindest ließ sie sich nichts anmerken. Mit ausdrucksloser Miene blieb sie im Hintergrund – und zog ihr Handy aus der Tasche, um ihre letzten Nachrichten zu checken. Oder was auch immer. Krumme seufzte. »Sie sind der Neue aus Berlin, oder?«, fragte einer der beiden Streifenpolizisten, ein stoppelhaariger Bodybuilder mit tiefliegenden Hundeaugen.

Krumme verzog das Gesicht und zeigte auf den Krankenwagen. »Was macht der denn hier?«

Der Kollege des Bodybuilders, ein magerer Mann mit krummem Rücken und verschlagenem Hyänenblick, grinste.

»Der ist für die Schwester des Toten. Sie hat ihn heute Morgen gefunden und ist gleich umgekippt.«

»Kein Wunder, ist echt kein schöner Anblick«, sagte der Mann mit dem Gel in den Haaren.

»Und Sie sind …?«, fragte Krumme.

»Schröder, Gerichtsmedizin«, antwortete der Mann, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen.

»Sagen Sie bloß, Sie sind schon fertig?«

Der Mediziner nickte. »Die Todesursache ist mehr als klar. Ich nehme an, es ist kurz vor Mitternacht passiert. Den Rest sage ich Ihnen, wenn ich den Burschen auf meinem Tisch hatte.«

Krumme beschloss, sich den Tatort endlich selbst anzuschauen. Als er Patrizia mit einem Zeichen aufforderte, ihm zu folgen, bemerkte er, wie sie gerade mit ihrem Handy und dem Polizeiwagen im Hintergrund ein Selfie knipste.

»Wollte ich posten. ›Mein erster Fall‹«, erklärte sie verlegen, als sie seinen vorwurfsvollen Blick sah.

»Spinnst du? Pack bloß das Scheißding weg«, zischte Krumme.

Als die beiden schließlich die Scheune betraten, verstanden sie sofort, was der Gerichtsmediziner gemeint hatte. Ihnen bot sich ein recht unappetitlicher Anblick, auf den Krumme in dieser friesischen Idylle überhaupt nicht gefasst war. Auch seine junge Kollegin stöhnte leise auf. Für einen Moment sah sie aus wie ein junges Mädchen – was sie in ihrem Herzen wohl auch war. Krumme atmete tief durch und trat langsam an den Toten heran.

Der dunkelhaarige Mann steckte mit weit ausgestreckten Armen auf den Dornen einer Egge, die sich an vier Stellen durch seinen Körper gebohrt hatten. Seine aufgerissenen Augen starrten in einer Mischung aus Entsetzen und Verständnislosigkeit zum Dach. Der Boden war schwarz von seinem getrockneten Blut. Krumme sah, wie Patrizia neben ihm würgte und sich die Hand vor den Mund hielt. Da muss sie durch, dachte er. Eine Kriminalpolizistin sollte so einen Anblick ertragen können.

Der Beamte mit dem schiefen Rücken, der ihnen in die Scheune gefolgt war, bemerkte, wie Patrizia litt.

»Autsch, das hat wehgetan, was?«, sagte er und grinste dabei über das ganze Gesicht. Patrizia schwieg und wendete sich ab.

»Haben Sie sonst noch eine sinnvolle Information für uns?«, erkundigte sich Krumme.

»Hinnerk Jessen, 38 Jahre. Landwirt. Ist von dem Boden da oben heruntergestürzt.«

»Der Hof gehört ihm?«

»Nein, seinem Vater Tore Jessen. Hinnerk hat sich um die Landwirtschaft gekümmert, zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder Finn. Ihre Schwester Ingrid Jacobs und deren Mann wohnen mit ihren beiden kleinen Kindern ebenfalls hier auf dem Hof, haben aber mit der Landarbeit und der Viehwirtschaft nichts zu tun.«

Krumme blickte zu Patrizia, die bereits ihr Notizheft herausgeholt hatte und mitschrieb. Sehr gut.

»Und wo sind die alle?«, fragte er.

»Hinnerks Frau ist gerade bei ihrer Schwester in Hamburg. Ingrids Mann ist auf Geschäftsreise. Die anderen haben wir ins Haus geschickt, bis wir mit ihnen reden können.«

Krumme nickte zufrieden.

»Spurensicherung?«

»Ich bin hier oben«, kam eine Stimme vom Scheunenboden. Krumme schaute sich um und fand eine schmale Treppe, die hinaufführte. Patrizia folgte ihm.

Der Kollege, ein rund 50-jähriger Mann mit hoher Stirn und buschigen Augenbrauen über einem strengen Gesicht, fotografierte gerade Hinnerks Arbeitstisch. Krumme stellte sich und Patrizia vor. Der Mann hieß Köhler.

»Dürfen wir uns ein bisschen umschauen?«, erkundigte sich Krumme.

Köhler sah ihn zuerst verständnislos an, nickte dann. »Bitte, machen Sie, was Sie wollen. Ich bin hier fertig.«

»Schon?«

Der Mann kniff die Augen zusammen und musterte den Kommissar. »Jawohl. Ich habe alles fotografiert und Fingerabdrücke genommen. Ansonsten war hier nichts zu holen. Kein Müll, keine Spuren. Hinnerk hat vor seinem Tod alles sauber gemacht.«

Krumme sah sich überrascht um. Tatsächlich war auf dem Dachboden kein Staub zu sehen.

»Also für mich ist die Sache klar«, fing sein Kollege an. »Der Mann hat hier oben gebastelt und dazu das ein oder andere Bierchen getrunken. Dann wollte er noch ordentlich Klarschiff machen. Aber so angeschickert, wie er war, hat er da vorn das Gleichgewicht verloren, ist vom Boden runter auf die Egge gefallen – und zack!« Patrizia zuckte zusammen, als er mit beiden Händen aufeinanderklatschte.

»Sie meinen, er war betrunken?«

»Vielleicht nicht besoffen, aber ein bisschen beschwipst auf jeden Fall.« Er zeigte auf vier leere Bierflaschen, die neben einem Modellschiff standen. Unter dem Tisch war eine Kiste mit weiteren Flaschen zu sehen. »Genaueres kann Ihnen natürlich nur der Gerichtsmediziner sagen.«

»Also ein Unfall, meinen Sie?«

Köhler schloss seine Tasche mit einem leisen Klicken.

»So sieht’s doch aus, oder nicht? Aber wen interessiert hier schon meine Meinung?« Er zog ein Taschentuch aus seiner Hose und schnäuzte sich. Dann schnappte er seine Sachen und wollte nach unten gehen.

»Was ist mit dem Rest der Scheune?«, fragte Krumme.

Köhler starrte ihn verwirrt an.

»Ich will, dass auch unten alles nach Fußspuren abgesucht wird.«

»Die ganze verdammte Scheune?« Der Mann sah ihn ungläubig an.

Krumme nickte. »Nach Fingerabdrücken natürlich auch. Und vergessen Sie nicht die Egge und die anderen Maschinen.«

Köhlers Augen wurden zu Schlitzen. »Aber wenn es doch ein Unfall war?«

»Das werden wir schon sehen. Holen Sie sich ruhig Verstärkung, wenn Sie Hilfe brauchen. Vielen Dank«, ergänzte Krumme, um ihm zu zeigen, dass das Gespräch für ihn zu Ende war.

Köhler musterte ihn abschätzig. Dann nahm er seine Tasche und machte sich auf den Weg. Er fluchte leise, als er auf der steilen Treppe fast das Gleichgewicht verlor.

Krumme ging langsam auf dem Dachboden herum, blickte in jede Ecke und sah sich alles genau an. Es roch nach altem Stroh und Kuhdung. Ansonsten war alles so sauber und aufgeräumt, dass man vom Boden hätte essen können.

Vorsichtig riskierte er einen Blick durch die Dachbodenöffnung nach unten. Das Licht der Sonne fiel in einem breiten Strahl durch das Tor genau auf den toten Hinnerk. Von hier oben sah er aus wie ein gekreuzigter Heiliger.

»Passen Sie auf, dass Sie nicht auch noch runterfallen«, sagte Patrizia, die sicherheitshalber auf Abstand blieb. Krumme hatte ihr eigentlich das kollegiale »Du« angeboten. Aber sie schien doch so viel Respekt vor ihm zu haben, dass sie lieber beim »Sie« und »Herr Krumme« blieb.

Er trat einen Schritt zurück und schaute sich weiter um. Das alte, durchgesessene Sofa, der Kalender an der Wand, die Fußballzeitungen auf dem Tisch. Offensichtlich war diese Ecke für Hinnerk nicht nur ein Arbeitsplatz, sondern auch eine Art Wohnzimmer gewesen.

Er hörte ein leises Rascheln. Gab es hier Mäuse? Oder Ratten? Er hasste Ratten! Er musste an den Hinterhof seiner alten Berliner Wohnung denken, an das pelzige Monster, das er dort einmal neben dem Müll entdeckt hatte.

Wieder das Geräusch, dieses Mal aber viel leiser. Angestrengt lauschte Krumme in die Stille. War das wirklich ein Tier? Vielleicht eine Kuh, die irgendwo im Stall stand?

»Ist was?«, erkundigte sich Patrizia.

»Was denkst du, was hier passiert ist?«, fragte er sie. Patrizia überlegte einen Moment, zuckte dann mit den Schultern.

»Stimmt schon, sieht alles nach einem Unfall aus. Obwohl …« Sie zeigte zu dem Modellschiff, das immer noch auf dem Arbeitstisch lag. »Ich kann nicht glauben, dass jemand, der so süße Dinge bastelt, so besoffen ist, dass er einfach von der Scheune fällt.«

Krumme betrachtete seine junge Kollegin. Er nickte zufrieden.

»Komm, mal schauen, was die Familie sagt.«

7

Der Jessen-Hof war bis vor dreißig Jahren ein Haubarg gewesen, in dem es neben dem Wohnbereich auch Platz für Tiere und Landmaschinen gegeben hatte. Mittlerweile war der Hof komplett als Wohngebäude umgebaut worden.

Die Kollegen hatten Krumme verraten, dass die Angehörigen in der Wohnung von Ingrid Jacobs warteten, Hinnerks Schwester, die zusammen mit ihren beiden kleinen Kindern und ihrem Mann Niklas auf dem Hof lebte.

Als Krumme und Patrizia die geräumige Küche mit einem wunderbaren Blick auf den weitläufigen Garten betraten, saßen dort eine Frau mit rot geweinten Augen und ein Hüne, beide mit schwarzgelockten Haaren. Ingrid Jacobs und Finn Jessen, die beiden Geschwister des Toten. Dazu eine gelangweilt dreinblickende Beamtin der Schutzpolizei, die in der Ecke in einer Illustrierten blätterte.

Krumme setzte sich mit Patrizia an den Tisch. Stirnrunzelnd bemerkte er, dass seine junge Kollegin nicht nur ihr Notizheft herausholte, sondern auch ihr Handy griffbereit vor sich auf die Tischplatte legte.

»Mein Beileid«, sagte Krumme. Ingrid schluchzte leise und wischte sich zitternd eine Träne aus den Augen. Ihr Bruder Finn nickte nur niedergeschlagen und starrte auf seine riesigen Hände. Krumme blickte zu Patrizia, die Finn aufmerksam und mit einem wohlwollenden Lächeln betrachtete.

Krumme warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, worauf Patrizia verlegen nach unten sah.

Er erkundigte sich, wer noch hier auf dem Hof lebte. Mit starrer Miene erzählte Ingrid, dass es vier Wohnungen gab. Der tote Hinnerk lebte zusammen mit seiner Frau Paula, die gerade ihre Schwester in Hamburg besuchte und noch nichts von dem Tod ihres Mannes wusste. Finn wohnte allein in einer kleinen Wohnung im Erdgeschoss und war zusammen mit Hinnerk und ihrem Vater Tore, der oben unter dem Dach wohnte, für die Arbeit auf dem Hof verantwortlich. Ingrid selbst lebte mit ihrem Mann Niklas und ihren Kindern Jan und Grete in der größten Wohnung mit der Terrasse und dem Garten. Sie erklärte den Beamten, dass Niklas eine Druckerei in Tönning besaß und gerade auf Geschäftsreise in München war.

»Und Ihre Kinder? Wo sind die jetzt?«, fragte Krumme.

»Olga, unsere Betriebshelferin, passt auf die beiden auf«, sagte Ingrid.

»Ihre Betriebs… was?« Krumme sah sie an.

»Ihre Magd«, erklärte Patrizia.

Ingrid verriet ihm, dass das Zuhause der alten Dame, die praktisch ihr ganzes Leben auf dem Jessen-Hof verbracht hatte, eine kleine Wohnung neben der ehemaligen Gemeinschaftsküche war.