Dunkler Grund - Hendrik Berg - E-Book
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Dunkler Grund E-Book

Hendrik Berg

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Beschreibung

Eine Tote auf einer Segeljacht, die gespenstisch stille Nordsee und tödliche Rache ...

Eine entsetzliche Entdeckung zerreißt die sommerliche Idylle Nordfrieslands: Auf einer Segeljacht im Husumer Hafen liegt eine erstochene Frau. Wer konnte der reizenden Nantje, die mit ihrem Mann ein beliebtes Fischrestaurant führte, nur so etwas antun? Kommissar Krumme und seine Kollegin Pat haben Nantjes Mann in Verdacht. Doch dann verschwindet der Restaurantbesitzer unter mysteriösen Umständen. Bei seinen Ermittlungen muss Krumme ein großes Risiko eingehen und kommt auf die Spur einer Wahrheit, so tief und dunkel wie die Nordsee …

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Buch

Eine entsetzliche Entdeckung zerreißt die sommerliche Idylle Nordfrieslands: Auf einer Segelyacht im Husumer Hafen liegt eine erstochene Frau. Wer konnte der reizenden Nantje, die mit ihrem Mann ein beliebtes Fischrestaurant führte, nur so etwas antun? Kommissar Krumme und seine Kollegin Pat haben Nantjes Mann in Verdacht. Doch dann verschwindet der Restaurantbesitzer unter mysteriösen Umständen. Bei seinen Ermittlungen muss Krumme ein großes Risiko eingehen und kommt auf die Spur einer Wahrheit, so tief und dunkel wie die Nordsee …

Weitere Informationen zu Hendrik Berg

sowie zu lieferbaren Titeln des Autors

finden Sie am Ende des Buches.

Hendrik Berg

Dunkler Grund

Ein Nordsee-Krimi

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe April 2021

Copyright © 2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: FinePic®, München; mauritius images/Ingo Boelter

Redaktion: Heiko Arntz

KS · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: {{$isbn}}

www.goldmann-verlag.de

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Ein einziger Schrei – die Stadt ist versunken,

Und Hunderttausende sind ertrunken.

Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,

Schwamm andern Tags der stumme Fisch.

Heut bin ich über Rungholt gefahren,

Die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.

Trutz, Blanke Hans!

Detlev von Liliencron

1

Krumme lag auf dem Rücken, blinzelte nach oben in die Sonne.

Für einen Moment hatte er die Orientierung verloren. Diese Ruhe. Kein Geräusch war zu hören. Selbst die Möwen waren verschwunden, ebenso das Gurgeln des Wassers unter dem Boot.

War er überhaupt noch auf dem Meer? Er spürte keine Bewegung, nicht das kleinste Auf und Ab. Aber er konnte das Knirschen der Taue am Mast hören, die frische Nordseeluft riechen.

Was passierte hier? Es fühlte sich nicht real an, als würde er träumen.

Leider war es genau das: ein Albtraum. Er war immer noch Gefangener dieses Irren.

Leise stöhnend drehte er sich auf die Seite. Die Qualen der vergangenen Stunden hatten Spuren hinterlassen. Der Schlag mit dem Schraubenschlüssel. Das Pochen im Kopf. Dazu die unerträglichen Schmerzen des gebrochenen Arms. So schlimm, dass er für einen Moment die Besinnung verloren hatte.

Er wollte aufstehen. Versuchte ächzend, sich mit dem gesunden Arm auf den nassen Holzplanken abzustützen. Aber er rutschte immer wieder weg.

Was für ein schrecklicher, nicht enden wollender Tag! Wie hatte er nur in diese Situation geraten können? Wieso hatte er nicht aufgepasst? Dabei war er ein erfahrener Kriminalkommissar und kannte sich mit gefährlichen Menschen aus. Er hätte es besser wissen müssen.

Er war noch immer auf den Knien, als er Schritte hörte, das knirschende Leder schwerer Stiefel. Erschrocken hielt er die Hand schützend vor sein Gesicht, blinzelte gegen das helle Sonnenlicht.

Vor ihm stand ein großer Mann. Einen Moment lang schaute er schweigend zu ihm herab. Dann zog er eine gewaltige Pistole hinter seinem Rücken hervor.

»Es hat doch alles keinen Sinn«, sagte er mit traurigem, starrem Lächeln. Und zielte auf Krummes Gesicht.

2

Waldhusen, nordfriesische Uthlande, Januar 1362

Ein stiller, kalter Morgen und die seltsame Ahnung, dass die Welt bald eine andere sein würde. Die kühle Luft prickelte auf ihrer Haut, schmeckte nach Salz und Meer. Es roch nach feuchtem Gras, nach Torf und fruchtbarer schwarzer Marscherde. Das Rauschen des Schilfs, die kleinen Wellen, die leise plätschernd über das grau schimmernde Wasser des weiten Koogs liefen – als würde Gott selbst mit der Hand sanft über seine Welt streichen.

Beeke hob den Kopf und blinzelte durch den Morgendunst in den Himmel. Die frühe Sonne in ihrem Rücken durchbrach die Wolken, und für einen kurzen Augenblick war die junge Frau in warmes Licht getaucht. Sie schloss die Augen, genoss diesen Moment zwischen Vergangenheit und Zukunft, der nur ihr allein gehörte.

Sie lächelte, strich sich die langen blonden Haare aus dem Gesicht, als sie eine kräftige Brise aus dem Osten erfasste. Ließ die Gedanken treiben und schob die andere Hand über ihren noch flachen Bauch, streichelte das zarte Leben, das in ihr heranwuchs.

Doch was bedeutete diese Stille, die wie eine Decke über der Natur lag, so berauschend und bedrohlich zugleich?

Ein Krächzen, ganz in der Nähe. Sie öffnete die Augen und erblickte einen Reiher, der nicht weit von ihr entfernt auf langen Beinen durch die stumme Welt stakste. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Seine Augen glänzten wie nasse Kohle. Ein kurzes Blinzeln, und der große Vogel erhob sich flatternd in die Lüfte. Ein paar schiefe Flügelschläge dicht über dem Wasser, dann gewann er in langen, eleganten Schwüngen langsam an Höhe. Beeke beobachtete, wie er sich einem Schwarm Wildgänse anschloss. In einem langgestreckten Pfeil strebten die Vögel laut klagend landeinwärts, weg vom Meer, Richtung Geest.

Beeke streckte die Hand aus und drehte sie langsam, sah, wie sich ihre Härchen auf der Haut aufstellten.

Seltsam. Sie empfand eine Spannung, als würde alles um sie herum den Atem anhalten. Ein Sturm zog auf. Nicht ungewöhnlich in dieser Jahreszeit. Aber heute war etwas anders, die Welt veränderte sich, sie hatte nur keine Ahnung, wie.

Beeke fröstelte, als die Sonne wieder hinter dem Wolkenschleier verschwand. Sie zog ihr fast bis zu den Knöcheln reichendes Leinenkleid enger zusammen.

Ein Kinderlachen holte sie aus ihren Gedanken. Sie riss sich vom Anblick des Panoramas der endlosen Marsch los, wandte sich um. Luider, ihr sechsjähriger Sohn. Er spielte im Windschatten der kleinen Hütte. Beeke lächelte.

Langsam ging sie auf ihr Heim zu, fühlte das scharfe Seegras an den nackten Knöcheln über ihren einfachen Sandalen. Beim Eingang war von dem aufkommenden Wind kaum etwas zu spüren. Sie schaute Richtung Dorf, aber ein dichtes, dunstverhangenes Birkenwäldchen ließ die ersten Hütten von Waldhusen nur erahnen. Es blieb der Eindruck, dass sie hier in den Uthlanden allein auf der Welt waren.

Luider saß auf dem von der Nacht immer noch feuchten Gras. Seine blonden Locken leuchteten wie ein Sonnenkranz um den Kopf. Er hatte sich entschlossen, sein trockenes Brot, das sie ihm am Morgen gegeben hatte, nicht selbst zu essen. Stattdessen riss er es auseinander und verfütterte es an ein paar Möwen. Laut schimpfend flatterten sie um ihn herum und stritten sich um jeden einzelnen Brocken.

»Du weißt, dass es bis heute Nachmittag nichts anderes mehr gibt?«, fragte sie ihn.

Aber Luider beachtete sie gar nicht. Immer wieder warf er den großen Vögeln Brotkrumen vor die gelben Füße.

Beeke trat in ihre Hütte. Nur ein kleiner, windschiefer Verschlag in der Unendlichkeit der Uthlande. Die Wände hatte Oke aus Lehm und Stroh gebaut. Ein einfaches Heim. Der Geruch nach Kohl, Asche und Salz. Aber Beeke war glücklich hier. Mit dem Reet auf dem schrägen Dach erinnerte es sie an ein Schaf, das sich vor dem rauen Nordwind hinter dem Stackdeich versteckte.

Beeke nahm den Besen und begann, den Boden zu fegen. Den Dreck zu beseitigen. Vor allem Asche und Kohlesplitter, die von der Feuerstelle auf den Steinen und dem festgetretenen Sandboden gelandet waren.

Seltsam. Selbst hier im Halbdunkel ihres kleinen Zuhauses spürte sie die bedrohliche Stille, die sich wie ein Kissen auf alles gelegt hatte. Sie schüttelte den Kopf, fühlte einen heftigen Druck auf den Ohren. Genau wie damals, als sie als Kind bei der Überfahrt nach Tating auf der anderen Seite des Heverstroms vom Ewer ihres Großvaters ins eisige Wasser gefallen und fast ertrunken war.

Erneut vernahm sie Luiders Lachen. Warum diese dunklen Gedanken? Sie hatte Oke, einen treuen, fleißigen Mann. Ein eigenes Heim, das zwar etwas abseits vom Dorf stand, aber dafür genug Platz bot für ein kleines Feld, auf dem sie Salat, Rüben und Kräuter anpflanzen und auf dem Markt verkaufen konnte. Und sie hatte einen Sohn, einen hübschen Knaben, den sie über alles liebte. Und der bald noch ein Geschwisterchen bekommen würde. Wieder streichelte sie über ihren Bauch.

»Wer bist du denn?«, hörte sie auf einmal Luiders freundliche Kinderstimme. Dann wieder Stille, keine Antwort. Beeke holte Luft, wer störte sie hier draußen? Sie umfasste den Holzstock des Besens mit beiden Händen, um nachzusehen, was vor der Hütte geschah, als sich knarrend die Holztür öffnete und ein dicker Mann eintrat. Er musste sich bücken, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Erst als er sich schnaufend aufrichtete, konnte sie sein Gesicht sehen. Beeke hatte ihn schon vorher erkannt. Niemand sonst in den Uthlanden trug ein so kostbares Gewand. Goldene Knöpfe auf der edlen Joppe aus Hirschleder, ein Halstuch aus Seide. An der Seite ein prächtiger Dolch. Oke hatte ihr verraten, dass er im fernen Arabien geschmiedet worden war.

»Meister Gebhardt?«, stammelte sie.

»Moin, Beeke.« Der dicke Mann wischte sich mit einem weißen Tuch den Schweiß von der Stirn, steckte es anschließend aber nicht weg, sondern hielt es sich mit angeekelter Miene unter die Nase.

»Was wollt Ihr?« Beekes Stimme zitterte. Sie erinnerte sich an den Zwischenfall vor zwei Tagen auf dem Markt in Rungholt. Olaf, ein Freund von Oke, hatte betrunken über Gebhardts Leibesfülle gespottet. Oke hatte zu denen gehört, die am lautesten gelacht hatten. Gebhardt, der sich in der Nähe mit einem Kaufmann unterhielt, hatte vor Wut gekocht, die Fäuste geballt, hatte aber nichts gesagt.

Er hatte nur sie, Beeke, angestarrt, obwohl sie versucht hatte, sich hinter Okes Rücken zu verstecken.

Schon oft waren ihr seine begehrlichen Blicke aufgefallen. Am liebsten wäre sie gar nicht mehr mit auf den Markt gegangen. Später hatte sie Oke heftige Vorwürfe wegen seines dummen Verhaltens gemacht. Aber ihr Mann hatte nur verächtlich mit den Schultern gezuckt und gesagt, sie solle sich nicht immer so viele Sorgen machen.

Jetzt war Gebhardt hier, in ihrem Haus. Mit abschätziger Miene schaute er sich um und blickte stumm aus dem einzigen Fenster.

»Was wollt Ihr?«, wiederholte Beeke ihre Frage.

»Wo ist Oke?«, fragte Gebhardt, ohne sie anzuschauen. Sein Blick war an den schmutzigen Holztellern hängengeblieben, die sich auf einer niedrigen Bank stapelten.

»Nicht da.«

Er wandte sich zu ihr um. »Wo steckt er?«

Beekes Augen zuckten nervös. »Er arbeitet im Torf.«

Gebhardt musterte sie. Sein Blick glitt mit einem Lächeln über ihren Körper. Unwillkürlich verschränkte Beeke ihre Arme vor der Brust. Konnte es sein, dass Gebhardt gar nicht wegen Oke gekommen war? Er musste doch wissen, dass er tagsüber arbeitete.

»Mudder!«

Luiders Stimme klang ängstlich, aber seltsam dumpf von der anderen Seite der Wand.

»Ja, was ist denn?«

»Der böse Mann soll weggehen!«

Beeke fröstelte bei den Worten. »Habt Ihr gehört? Selbst mein Sohn will, dass Ihr verschwindet.«

Gebhardt bleckte die Zähne zu einem hässlichen Grinsen. Er mochte ein reicher Mann sein, der Handel mit der ganzen Welt trieb, aber seine Zähne waren trotzdem schwarze Ruinen.

»Ich glaube nicht, dass er von mir redet«, sagte er.

Beeke verstand sofort, was er meinte.

»Luider!« Sie wollte sich an dem Kaufmann vorbei aus dem Haus drängen. Doch ein mächtiger Schatten versperrte ihr den Weg. Nickels, Gebhardts Handlanger. In den Uthlanden wurde er »die Hand« genannt. Man erzählte sich, Nickels habe einmal einen Ochsen auf dem Markt in Husum mit einem einzigen Schlag niedergestreckt. Beeke glaubte nicht, dass ein Mensch so stark sein konnte. Aber Nickels sah mit dem schwarzen Ledermantel, den tief liegenden Augen unter den buschigen Brauen, mit der grimmigen Miene und vor allem mit seinen riesigen, fleischigen Händen auch nicht wie ein Mensch aus. Eher wie ein Bote aus der Hölle.

»Lasst mich raus zu meinem Kind!«, rief sie.

Erneut versuchte sie hinauszugelangen. Doch Nickels rückte nicht von der Stelle.

»Beruhig dich, Weib«, schimpfte Gebhardt, packte sie am Arm und zog sie zurück ins Haus, »dem Kleinen geschieht nichts.«

»Bitte, geht! Lasst uns in Ruhe! Wir haben Euch nichts getan.«

Gebhardt schüttelte den Kopf. »Dein Mann hat mich vor allen Leuten zum Gespött gemacht.«

»Aber Oke hat doch gar nichts gesagt.«

»Er hat gelacht. Dieser armselige Bastard hat sich über mich lustig gemacht. Dafür wird er büßen.«

Beeke versuchte sich loszureißen, doch ohne Erfolg. Schließlich gab sie auf. Als Gebhardt spürte, dass sie keinen Widerstand mehr leistete, stieß er sie von sich.

Beeke stolperte rückwärts gegen die Wand. »Ich bitte Euch«, sagte sie, so ruhig sie konnte, und sah dabei demütig zu Boden. »Was kümmert Euch das dumme Gerede von einfachen Leuten wie uns?«

Gebhardt trat dicht zu ihr. Er lächelte. Dann strich er ihr mit seiner nach Tabak stinkenden Hand über die Haare. Sie erstarrte. »Du hast recht, dein Mann ist nur ein dummer Nichtsnutz. Ich könnte ihn zertreten wie einen Wurm.«

Gebhardts Hand packte ihre Schulter. Plötzlich spürte Beeke seine schmierigen Finger an ihrem nackten Hals. Sie hielt die Luft an.

»Oder ich zeige ihn an. Sage irgendeinem dummen Büttel, dass er mich bestohlen hat. Dann kommt dein Mann an den Pranger.«

»Aber Oke würde doch niemals stehlen.«

Gebhardt grinste. »Ich bin sicher, nach einer Nacht auf der Streckbank wird er zugeben, Petrus persönlich den Himmelsschlüssel gestohlen zu haben.«

»Bitte!« Sie flüsterte. »Warum …?«

»Ich will zu meiner Mutter!«, hörte sie Luider jammern. Aber Nickels hatte den Eingang versperrt und ließ den Jungen nicht herein. Verzweifelt suchte Beeke nach einem Ausweg. Aber ihr wollte nichts einfallen.

»Keine Angst, dein Balg interessiert mich nicht.« Gebhardt beugte sich vor, schnüffelte wie ein fettes Schwein an ihren Haaren. »Und auch Nickels wird ihm nichts tun. Zumindest nicht, wenn ich es ihm nicht befehle.«

Derweil schob sich seine Hand langsam weiter nach unten und umfasste ihre Brust. Beeke stockte der Atem.

»Und auch deinem Mann muss nichts passieren.« Im Halbdunkel der kleinen Hütte klang seine Stimme wie das Zischen einer Schlange. »Nicht wenn du tust, was man von dir verlangt.«

Eine Träne lief ihr über die Wange, als sie ihm in die böse funkelnden Augen sah und sich seine mit Ringen besetzte Hand brutal in ihre Brust krallte.

3

Husum

Gegenwart

Ein abnehmender Mond beschien den Yachthafen. Schwarzes Wasser schlug gegen die Boote, die an dem langen Holzsteg festgemacht hatten. Ein LKW fuhr über die nahe Zugbrücke, am Stadtkern vorbei. Ein fast leerer Güterzug verließ die Stadt nach Süden Richtung Hamburg. In der wieder einsetzenden Stille war das leise Quaken einer Ente zu hören. Eine Möwe kauerte, den Kopf in ihr Gefieder gezogen, auf einem fauligen Poller, der aus dem trüben Wasser ragte. Zu dieser späten Stunde war diese Ecke des Hafens wie ausgestorben. Falls sich irgendwo ein Mensch auf den Segelyachten aufhielt, hatte er sich schon lange schlafen gelegt. Bis auf die Notbeleuchtung war nirgends ein Licht zu sehen.

Ein Transporter erschien auf der Zufahrt zu einer benachbarten Lagerhalle, die den Yachthafen Richtung des Außenhafens abgrenzte, und blieb dort im Schatten stehen. Ein Mann öffnete die Wagentür und stieg aus. Er schaute sich eine Weile um, aber nirgends war ein Mensch zu sehen.

Dann schob er die Seitentür des Wagens auf, zog einen großen Plastiksack heraus und versuchte, ihn sich auf die Schulter zu legen. Erst im zweiten Anlauf gelang es dem Mann zu verhindern, dass der Sack auf den Asphalt fiel.

Schließlich ging er mit dem Plastiksack in beiden Armen über eine unbeleuchtete Rasenfläche zum Steg. Der Sack nahm ihm die Sicht. Als er die wenigen Stufen zu den Stegen hinunterging, glitt er auf den nassen Planken aus und verlor das Gleichgewicht. Mit einem dumpfen Poltern schlug der Sack auf die Holzbretter.

Der Mann fluchte leise. Völlig aus der Puste, entschied er sich, seine Strategie zu ändern und den schweren Sack lieber hinter sich herzuziehen. Schnaufend machte er sich an die Arbeit, ging rückwärts weiter über den Steg. Dass er jetzt viel mehr Lärm verursachte, war nicht zu ändern.

Er war noch nicht weit gekommen, als in der Kabine eines Motorbootes ein Licht anging. Rascheln und ein empörtes Murmeln waren zu hören. Der Vorhang am Backbordfenster wurde zur Seite geschoben.

Der Mann kauerte sich neben den Sack und rührte sich nicht. Er hoffte, seine Silhouette würde mit dem Schatten des Bootes hinter ihm verschmelzen. Und tatsächlich – nach einer Weile wurde die Gardine wieder zugezogen, die Lampe ausgeschaltet. Trotzdem verharrte der Mann in seiner Position. Als sich nach einer kleinen Ewigkeit nichts mehr im Innern des Bootes rührte, atmete er erleichtert durch.

Seufzend entschied er sich, den Sack doch mit beiden Armen zu tragen, egal wie schwer er war. Schnaufend stapfte er weiter über den Steg. Sein Ziel lag ganz am anderen Ende – ein rund fünfzehn Meter langes Segelboot, komplett aus Holz.

Als er es endlich erreicht hatte, setzte der Mann seine Last vorsichtig ab. Nach Luft ringend überlegte er, wie er vorgehen sollte. Schließlich kletterte er auf das Schiff und machte sich an der Decksluke zu schaffen. Sie stand einen Spaltbreit offen. Es dauerte eine Weile, bis es ihm gelang, die Luke komplett zu öffnen.

Dann trat er an die Bordwand, beugte sich vor, bis er den Plastiksack zu fassen bekam, und zerrte ihn ächzend über die Reling. Er hatte ihn bereits fast auf dem Schiff, als der Sack an einem Haken hängenblieb – und aufriss. Eine blutbeschmierte Hand rutschte aus der Öffnung.

Der Mann fluchte erneut. Mit einem Ruck befreite er den Sack, schob ihn auf das Bootsdeck und wuchtete ihn hinein in die offene Luke. Der Sack rutschte hinunter, als plötzlich ein lautes Scheppern aus dem Inneren der Yacht erklang. Erschrocken warf der Mann sich auf den Umlauf neben der Reling, verharrte dort im Schatten, bewegte sich nicht.

Doch er hatte Glück. Niemand hatte ihn gehört, auf keinem der anderen Boote rührte sich etwas.

Nach einer Weile rappelte er sich auf. Er schaute nachdenklich in die offene Luke. Dann drückte er sie wieder nach unten, verließ die Yacht und kurz darauf mit dem Lieferwagen auch den kleinen Hafen. Nur die auf dem Poller schlafende Möwe hatte für einen Moment zu ihm aufgeschaut.

4

»So, jetzt wollen wir doch mal sehen, was wir heute gelernt haben«, sagte die große schlanke Frau mit den Wanderschuhen, der kurzen Trekkinghose und dem sportlichen Hoodie. Ihr Blick wanderte über die Gruppe der Kursteilnehmer, die sich zusammen mit ihren Hunden im Halbkreis aufgestellt hatten. Dann nickte sie einem Jungen zu. »Malte, du fängst an!«

Mit vor Aufregung geröteten Wangen suchte der Junge den Blickkontakt seines Hundes, der brav neben ihm im Gras saß – Olly, eine junge englische Bulldogge. Das Tier erwiderte seinen Blick mit halboffenem Maul, aus dem der Speichel auf den Boden troff. Malte nickte, dann gingen sie los und drehten eine kleine Runde auf der Wiese.

»Sehr gut, ganz toll«, rief Steffi, die Hundelehrerin. »Das macht ihr super!«

Der kleine Junge und sein Hund hatten die Ausgangsposition bei der Gruppe wieder erreicht. Malte blieb stehen, und Olly nahm sofort gehorsam neben ihm Platz, den Kopf aufmerksam auf sein Herrchen gerichtet. Zur Belohnung bekam er ein kleines Wurststückchen, das er mit einem Happs verschlang. Alle anderen applaudierten.

»Habt ihr gesehen?«, wandte sich Steffi an die übrigen Kursteilnehmer. »Olly ist brav neben Malte gegangen, immer im richtigen Tempo. Die Leine hing die ganze Zeit locker in der Luft. Olly hat nicht ein einziges Mal ungeduldig in irgendeine Richtung gezogen. Sehr gut. So muss das sein.« Steffi lächelte. »Wie sieht’s aus? Wollen wir alle zusammen mal eine Runde drehen?«

Sechs der sieben Kursteilnehmer waren Kinder, wie Malte um die zehn Jahre alt, zusammen mit ihren Hunden: zwei Labradoren, einem frechen Rauhaardackel, einem Mops, einem knuffigen Bernhardiner und Olly, der kleinen Bulldogge – allesamt gerade dem Welpenalter entwachsen. Der siebte Kursteilnehmer war Krumme. Er schaute mit einiger Skepsis zu Sonny herunter, seinem Hund, der ebenfalls noch wie ein Baby aussah. Allerdings wie ein ziemlich großes Baby. Kein Wunder, denn seine Eltern waren Gloria, eine Neufundländerin, Hütehündin in einem Schäferhof auf der Halbinsel Eiderstedt, und Watson, eine Mischung aus Leonberger und Bernhardiner – so genau wusste Krumme das nicht. Watson gehörte seiner Nachbarin Netti, aber Krumme und seine Freundin Marianne waren in den letzten Jahren so etwas wie sein Zweitherrchen und – frauchen geworden. Gemeinsam mit dem fast kalbgroßen Hund hatten sie schon einige Abenteuer erlebt.

Nun hatten sie ihren eigenen Hund. Sonny. Nach Watson hatten sie überlegt, auch ihm einen Namen zu geben, der etwas mit Krummes Beruf als Kommissar bei der Husumer Kripo zu tun hatte. »Holmes« hatte Krummes dreißig Jahre jüngere Kollegin Pat vorgeschlagen, die jetzt zusammen mit Marianne bei den Eltern hinter der Absperrung stand. Columbo, Kojak und sogar Derrick waren im Gespräch gewesen. Schließlich hatte sich Marianne mit ihrem Wunsch durchgesetzt. Sonny – wie Sonny Crockett, der von Don Johnson gespielte Kommissar in der amerikanischen Fernsehserie Miami Vice, einem Idol ihrer Jugend.

Wie sein Vater war Sonny gutmütig, aber doch eigenwillig. Nachdem er beim wilden Spielen ihr Wohnzimmer in Trümmer gelegt hatte, war klar: Sonny brauchte professionelle Hilfe. Er musste in die Hundeschule. Leider hatte Krumme die Anmeldung verschlafen. Am Ende gab es keinen anderen freien Platz mehr als in diesem Kinderkurs – bei Steffi, die hauptberuflich ebenfalls in der Husumer Polizeidirektion arbeitete, aber nicht wie Pat und Krumme bei der Kripo, sondern als Kommissarin bei der Schutzpolizei.

Krumme war alles andere als begeistert gewesen. »Ein Kinderkurs? Mit Hunden? Das habe ich ja noch nie gehört!«

»Ich auch nicht«, hatte Marianne zugegeben, während sie die Website studierte. »Ist eine neue Idee. Damit die Kleinen und ihre Hunde von Anfang an eine gemeinsame Verbindung aufbauen können.«

»Und da soll ich mitmachen? Auf keinen Fall! Ich mache mich doch nicht lächerlich.«

»Stell dich nicht so an. Es geht nicht um dich, sondern um den Hund. Außerdem wird das bestimmt sehr süß.«

Süß war es hier an diesem sonnigen Dienstagmorgen auf einer Wiese in Husums Norden, das musste Krumme zugeben. Beobachtet von ihren Eltern hörten alle Kinder Steffi mit großem Ernst zu und hatten im Laufe der ersten Stunde mit ihren Hunden bereits ein paar wichtige Lektionen gelernt.

Nur Sonny tat sich ein bisschen schwer. Lag es an seinem ungestümen Temperament? Oder an seinem in Hundedingen immer noch unsicheren und unerfahrenen Herrchen? Jedenfalls gab es für Sonny auf der Wiese so viele Dinge zu entdecken. Blätter, Maulwurfshügel oder Vögel, alles war aufregender, als sich auf Steffis Schulstunde zu konzentrieren.

Entsprechend groß war Krummes Anspannung bei der abschließenden Übung.

»Also los!«, rief Steffi den Kindern und ihm zu. »Zeigt euren Eltern, was eure kleinen Freunde heute gelernt haben!«

Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Gemeinsam tippelten die Kinder mit ihren Hunden in einem großen Bogen über die Wiese.

Nur Sonny hatte keine Lust. Statt auf Krummes auffordernden Blick hin loszumarschieren, legte er sich glücklich hechelnd auf den Rücken und wollte gestreichelt werden.

Steffi lächelte. »Probleme, Herr Kollege?«

Krumme verzog das Gesicht, sah, wie ihm Marianne und Pat freundlich zuwinkten, während die danebenstehenden Eltern sich bestens amüsierten.

»Keine Probleme«, brummte Krumme und kniete sich neben Sonny. »Mein Kleiner, komm, lass mich jetzt nicht hängen«, flüsterte er nervös und gab dem Hund einen Klaps auf den Hintern.

Sofort sprang Sonny auf. Aber statt brav mit ihm spazieren zu gehen, sprang er ausgelassen um ihn herum.

»Nein, nicht! Bei Fuß! Kommst du wohl her!«, rief Krumme erschrocken. Verzweifelt versuchte er, ihn mit beiden Händen einzufangen. Aber Sonny wollte nicht kommen, sondern spielen. Bevor Krumme sich die Leine schnappen konnte, schoss er davon und rannte seinen Artgenossen freudig bellend hinterher.

Sofort vergaßen die Hunde, was sie heute gelernt hatten. Einige rissen sich von ihren kleinen Herrchen und Frauchen los. Andere zerrten sie mit überraschender Kraft hinter sich her. Warum langsam spazieren gehen, wenn man mit neuen Kumpels spielen konnte? Wo es eben eine geordnete Kolonne gab, herrschte auf einmal das Chaos: umherspringende Welpen, die, angeführt von Sonny, von einer Seite der Wiese zur anderen jagten, verfolgt von verzweifelten Kindern, die sich beim Versuch, ihre Lieblinge wieder einzufangen, gegenseitig über den Haufen rannten. Einige blieben schluchzend auf dem Boden liegen, worauf es ihre Eltern nicht mehr hinter der Absperrung hielt. Aufgeregt stürmten sie an der hilflosen Steffi vorbei auf die Wiese, wollten helfen, machten das Chaos aber nur noch schlimmer.

Nur Krumme hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Er schaute sich das Treiben eine Weile fassungslos an, dann vergrub er voller Scham das Gesicht in den Händen.

»War doch super fürs erste Mal!«, sagte Marianne lächelnd, als sie kurz darauf zurück zu den Autos gingen. Zusammen mit Sonny, der sich von ihr problemlos zum Parkplatz führen ließ, an der Leine, ohne jedes Gezerre.

»Sehr witzig«, brummte Krumme. »Ein Vater hat mir Prügel angedroht, wenn ich mit Sonny noch mal zum Hundetraining komme.«

»Ach was«, warf Pat ein, die sie zum Auto begleitete. »Er war nur erschrocken, weil seine Tochter sich die Knie aufgeschlagen hat. Ich habe mit ihm geredet. Er hat sich wieder beruhigt.«

»Wirklich?«

»Aber natürlich.« Pat grinste. Sie zeigte zu Sonny. »Aber vielleicht braucht der Kleine noch ein bisschen Nachhilfe bis zum nächsten Mal.«

Krumme stöhnte. »Was für eine Katastrophe!« Verlegen schaute er zu einer empörten Mutter, deren schluchzende Tochter ihren kleinen Rauhaardackel fest im Arm hielt und einen großen Bogen um Sonny machte.

Pats Handy meldete sich. Sie ging dran und trat ein wenig zur Seite, um in Ruhe sprechen zu können. Derweil öffnete Marianne die Wagentür ihres Golfs. Sonny hüpfte freundlich hechelnd in das Auto. Ob er sich bewusst war, was für ein Unheil er angerichtet hatte? Wohl nicht. Unbekümmert saß er auf dem Rücksitz und nagte an seinem Plüschtier, einer Mischung aus einem verknoteten Lappen und einer Seeschlange.

Krumme dachte daran, wie schwierig es war, Watson in dieses Auto zu bekommen. Das große Tier füllte praktisch den kompletten Innenraum aus. Einmal hatte der Hund auf der Rückbank Krumme derart abgelenkt, dass er bei Rot über eine Ampel gefahren war und von feixenden Kollegen der Verkehrspolizei einen saftigen Strafzettel kassiert hatte. Trotzdem war das nur halb so peinlich gewesen wie sein heutiger Auftritt.

»Vielleicht ist es mir nicht bestimmt, die Person am anderen Ende einer Hundeleine zu sein«, erklärte er niedergeschlagen.

»Blödsinn.« Marianne griff nach seiner Hand und drückte sie. »Mach dir keine Gedanken. Kleine Hunde sind wie Kinder, sie wollen vor allem spielen. Natürlich ist es schwer, da die Kontrolle zu behalten.«

Krumme schnaufte. »Aber die anderen Kinder hatten keine Probleme mit ihren Hunden.«

Marianne grinste. »Du bist ja auch kein Kind mehr, Theo. Du musst Sonny einfach zeigen, wer von euch der Chef ist, dann wird er auch spuren.«

»Wenn hier jemand der Chef ist, dann du. Auf dich hört er. Du bist sein Alphatier. Das ist bei Watson auch nicht anders.«

»Hör auf zu jammern. Sonny liebt dich heiß und innig, vom ersten Moment an. Er ist vor allem dein Hund, nicht meiner.«

»Meinst du?«

»Schau ihn dir doch an.«

Krumme blickte nachdenklich zu Sonny, der ihn aus dem Auto heraus freundlich anschaute und jetzt neugierig den Kopf schief legte. Krumme lächelte. Süß war er, keine Frage, dachte er. Offensichtlich konnte Sonny seine Gedanken lesen, denn sofort sprang er im Auto vor der Scheibe herum und bellte aufgeregt.

»So, genug gespielt, Theo.« Pat kam wieder zu ihnen zurück. Mit besorgter Miene hielt sie ihr Handy hoch. »Das war Krüger.«

»Euer Chef?«, fragte Marianne.

Pat nickte und blickte zu Krumme. »Wir müssen los. Es gibt Arbeit.«

5

Auch im malerischen Husumer Binnenhafen direkt in der Altstadt lagen einige Segelschiffe. Doch der eigentliche Yachthafen befand sich auf der anderen Seite einer Hebebrücke, nur einen kurzen Fußweg entfernt in einer eher unscheinbaren Ecke des industriell geprägten Außenhafens – ganz in der Nähe zur Polizeidirektion. Der Vorteil für alle Segler: Man konnte – bei Flut – am Fischmarkt, den Lagerhallen und den weithin sichtbaren Speichern vorbei direkt in den Heverstrom und damit in die Nordsee fahren.

Krumme hatte an den Yachthafen dennoch nicht die besten Erinnerungen. Vor zwei Jahren hatte Bernd, ein schnöseliger Anlageberater und früherer Verehrer Mariannes, ihn und Marianne von hier aus mit auf eine Segeltour genommen, auf seiner Yacht. Ein eher unerfreulicher Ausflug, der für Krumme mit einem unfreiwilligen Bad in den eiskalten Fluten der Nordsee vor St. Peter-Ording geendet hatte.

Aber daran wollte Krumme jetzt nicht denken. Heute ging es nicht um einen Segelausflug. Nachdem sie Marianne und Sonny zu Hause in der Nordstadt abgesetzt hatten, waren Pat und Krumme mit dem Auto direkt ans Hafengelände gefahren.

Krumme atmete tief durch, als sie aus dem Golf ausstiegen. Bei der Hundeschule hatte noch ein Dunstschleier die Sonne verborgen. Der hatte sich inzwischen verzogen und einem strahlend blauen Himmel Platz gemacht. Ein angenehmer Frühlingstag. Es roch nach Nordsee und – hier in direkter Hafennähe – nach Fisch. Die in Husum geborene Pat rümpfte die Nase, aber Krumme liebte dieses spezielle Aroma. Die Nähe zum Meer war einer der Gründe dafür, dass er vor knapp vier Jahren seinen Job bei der Berliner Kriminalpolizei in Neukölln aufgegeben und sich eine neue Stelle hier in Nordfriesland gesucht hatte.

»Die Kollegen von der Spurensicherung sind auch schon da«, stellte Pat fest und zeigte auf einen blauen Passat-Kombi.

Krumme drückte den Rücken durch. »Schauen wir mal.«

Obwohl der Yachthafen etwas abseits von den üblichen Touristenattraktionen lag, hatten sich schon ein paar Schaulustige eingefunden. Dichtgedrängt standen sie vor dem mit einem rot-weißen Flatterband abgesperrten Bootssteg und reckten die Hälse.

Krumme und Pat mussten sich bis zum Steg durchdrängeln. Dabei half es, dass die wie immer komplett in Schwarz gekleidete Pat mindestens einen Kopf größer war als die meisten Anwesenden. Irritiert traten die Leute beiseite. Einige tuschelten, andere kicherten. Sie waren in der Tat ein ungleiches Paar – ein älterer Herr mit Rückenproblemen und zerzaustem Haarkranz und eine junge Frau von fast zwei Metern Größe. Wo sie auftauchten, sorgten sie für Aufsehen. Krumme war es egal. Sollten die Leute denken, was sie wollten.

»Moin«, begrüßte er den Kollegen Köhler von der Spurensicherung, einen mürrischen Mann, nur ein wenig jünger als Krumme und mit einer ähnlichen Frisur. Sein besonderes Merkmal waren seine buschigen Brauen, unter denen seine Augen kaum zu erkennen waren.

»Moin«, brummte Köhler, ohne aufzuschauen. Gerade war er dabei, auf Knien den Bootssteg nach Spuren abzusuchen.

»Ich habe gehört, wir haben eine Leiche?«, erkundigte sich Krumme.

»Ach was?«, brummte Köhler. »Tatsächlich? Und ich wollte hier nur mal ein bisschen sauber machen.«

Er zeigte zu einer großen Segelyacht am Ende des Stegs, wo ein uniformierter Kollege Stellung bezogen hatte. Genau wie er zogen sich Krumme und Pat Handschuhe und weiße Schutzanzüge über, stiegen um Köhler herum und marschierten zu dem Boot.

Das Segelschiff am Ende des Stegs war eine richtige Schönheit. Krumme war kein Experte, hatte in Berlin auf dem Wannsee und mittlerweile auch hier auf der Nordsee zusammen mit Marianne ein paarmal gesegelt, aber immer nur in kleinen Jollen. Die Symphony dagegen war fast ein Großsegler, ein Zweimaster, fünfzehn Meter lang und bestand komplett aus poliertem, in der Vormittagssonne glänzendem Holz.

»Moin, Theo«, begrüßte ihn der Kollege Kurt Breuer, ein Polizeihauptwachtmeister mit leicht gerötetem Gesicht, was nicht an der nordfriesischen Sonne lag, sondern an den regelmäßigen Feierabendbierchen. »Und schon wieder haben wir eine Leiche im Hafen, schlimm.«

Eine leichte Übertreibung. Es stimmte, sie hatten vor gut einem Jahr eine männliche Leiche bei den alten Speichern aus dem Wasser gezogen, zu einem Eisklumpen gefroren und grässlich entstellt. Seitdem hatte es in Husum aber keine Tötungsdelikte mehr gegeben. Nordfriesland war eben nicht Berlin. Zum Glück, wie er fand.

Krumme und Pat kletterten vorsichtig über die Reling an Bord. Sie wollten nach hinten zur Kajütentür gehen, als Breuer sich meldete. »Sie ist hier«, sagte er und zeigte auf eine offen stehende Decksluke.

Die beiden Polizisten wandten sich um. Dann kamen sie zurück zu Breuer und schauten durch die Öffnung hinab in den Innenraum der Yacht.

Pat schlug betroffen die Hand vor den Mund, und auch Krumme seufzte bedrückt. Von unten starrten sie die weit aufgerissenen Augen einer toten Frau an – einer jungen Frau mit halblangen blonden Haaren, die in einem wirren Kranz um ihr bleiches Gesicht lagen. Irgendjemand hatte sie in einen blauen Müllsack gesteckt und dann durch die Luke in das Schiff geworfen. Die Tüte war an mehreren Stellen gerissen, der blutverschmierte Körper zum Teil herausgerutscht. Nun lag sie mit verdrehten Gliedern auf dem Boden zwischen der Sitzecke und dem Esstisch.

»Die arme Frau«, sagte Breuer.

»Was ist passiert?«, fragte Pat mit bebender Stimme.

Krumme sah zu ihr. Obwohl sie jetzt schon vier Jahre bei der Polizei war und so einige Tote gesehen hatte, nahm der Anblick von Gewaltopfern sie noch immer mit. Andere Kollegen machten Witze darüber, Krumme fand das eher sympathisch.

Er betrachtete die Tote. »Sieht nicht so aus, als wäre sie einfach nur gestolpert und durch die offene Luke gefallen«, sagte er.

»Die Gerichtsmedizin ist auf dem Weg«, erklärte Breuer. »So lange fassen wir nichts an.« Er zeigte auf die Blutflecke auf dem Boden. »Keine Ahnung, ob sie erschossen oder erstochen wurde.«

»Oder erschlagen? Schaut euch die Hämatome am Kopf an.« Krumme setzte seine Brille auf, konnte auf die Distanz aber auch nicht mehr erkennen. »Komm, wir müssen runter«, sagte er zu Pat. »Vielleicht finden wir irgendeinen Hinweis darauf, wer die Frau ist.«

Pat sah noch immer in das Innere des Boots: »Sie heißt Nantje«, sagte sie mit tonloser Stimme.

Krumme und Breuer drehten sich erstaunt zu ihr um.

»Du kennst sie?«

Pat zuckte mit den Schultern. »Nicht direkt. Sie ist die Frau von Sebastian Schreiber.«

Krumme zog die Augenbrauen hoch. »Sebastian Schreiber? Wie das Schickimickirestaurant in der Altstadt?«

Pat nickte. »Ja, das Fischrestaurant. Ob das Schickimicki ist, weiß ich nicht.«

Er zog die Nase kraus. Seit einem Jahr war das »Schreibers« das angesagteste Restaurant in Husum. Er war schon einige Male mit Marianne daran vorbeispaziert, hatte sich angesichts der hohen Preise aber nicht entscheiden können hineinzugehen. Was Marianne sehr schade fand.

»Aber gut laufen tut der Laden schon.« Breuer kratzte sich an der dicken Nase. »Sonst könnte er sich nie so eine Yacht leisten.«

Krumme sah ihn überrascht an. »Soll das heißen …?«

»Ja, das Schiff hier gehört Schreiber.«

Krumme sah zu Pat. Die schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht gewusst.«

»Weiß er schon Bescheid, dass seine Frau …?«

Breuer schüttelte den Kopf. »Vom Hafenmeister haben wir eine Festnetznummer bekommen. Er ist aber nicht drangegangen.«

Krumme warf Pat erneut einen Blick zu. Die nickte, holte ihr Handy hervor und ordnete einen Streifenwagen ab, um bei Schreibers Haus nach dem Rechten zu sehen.

»Wer hat die Frau gefunden?«, fragte Krumme Breuer.

»Der Hafenmeister. Ist vorne in seinem Büro, wenn du mit ihm reden willst.«

Krumme nickte. »Aber erst gucken wir uns das Schiff von innen an.«

Gemeinsam mit Pat ging er zum Heck und stieg die enge Treppe hinunter in die Kabine. Krumme wusste, dass Pat trotz ihrer Größe durch ihr Tanztraining durchaus zu geschmeidigen Bewegungen imstande war. Aber jetzt musste sie den Kopf ganz tief einziehen, um durch den engen Eingang und die steile Treppe nach unten zu gelangen.

Krumme hockte sich in eine Ecke, versuchte wie immer, erst die Atmosphäre eines Raums aufzunehmen, bevor er begann, die Details zu untersuchen.

Obwohl die Yacht von außen so groß wirkte, war im Innern doch alles eng wie in einer etwas zu groß geratenen Puppenstube. Eng, aber edel – die Tische, Bänke, die Einbauküche, der Teppich, alles war vom Feinsten. Tropenhölzer, neueste Technik, glänzende Messingbeschläge. Schreibers Restaurant schien tatsächlich gut zu laufen. Auch dem Geruch nach zu urteilen, war die Yacht nagelneu und kaum benutzt.

Nur die verrenkte Leiche der toten, blutverschmierten Frau im Plastiksack passte nicht ins schöne Bild. Auf absurde Weise fiel jetzt durch die offene Luke an der Decke ein breiter Sonnenstrahl in die halbdunkle Kabine und tauchte die Tote in ein dramatisches, irgendwie unangemessenes Licht.

Pat fotografierte wie immer mit ihrem Handy. Sicher hatten auch Köhler und seine Kollegen von der Spurensicherung entsprechende Aufnahmen im Kasten. Aber Krumme wusste, dass Pat ihre Fotos später auf ihren Rechner übertrug, sie mit irgendwelchen Programmen bearbeitete und sortierte, was sich schon mehrmals als große Hilfe herausgestellt hatte.

»Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass das hier nicht der Tatort ist. Umgebracht wurde die arme Frau woanders«, sagte er, während er begann, sich auf dem Boden im Umfeld der Leiche umzusehen.

»Und dann hat er sie einfach wie Abfall durch die Luke geschmissen«, sagte Pat mit Verachtung in der Stimme und machte ein weiteres Foto.

»War die Kabinentür offen, als ihr gekommen seid?«, rief er Breuer zu, der auf dem Deck neben der offenen Luke stand.

»Nein. Die war abgeschlossen«, kam die Antwort von oben. »Wir mussten sie aufbrechen.«

Krumme hockte sich hin, betrachtete die Tote nachdenklich. Für einen Augenblick verspürte er tiefe Trauer. Eben noch war er an einem wunderbaren Frühlingsmorgen mit Sonny und den anderen Hundewelpen auf einer grünen Wiese herumgelaufen. Jetzt stand er unweit vom schönen Husumer Zentrum im Innern einer sündhaft teuren Segelyacht vor einer toten und offensichtlich misshandelten Frau. Bei seiner früheren Arbeit bei der Neuköllner Sitte hatte er schlimmer zugerichtete Opfer gesehen. Aber das war etwas völlig anderes gewesen. Berlin war eine Großstadt, in deren dunklen Ecken sich viele unheimliche Überraschungen versteckten. Aber hier in den freundlichen Norden gehörte so ein Anblick einfach nicht hin.

»Alles in Ordnung, Theo?«, erkundigte sich Pat.

»Hast du deine Fotos?«

Sie nickte.

Krumme richtete sich auf und streckte ächzend den Rücken. »Dann lass uns mal mit dem Hafenmeister reden.«

Als sie über den Steg zurückgingen, kam ihnen Doktor Fleischer mit einem Kollegen aus der Gerichtsmedizin entgegen. Fleischer, der außerhalb seines Sezierraums noch hagerer wirkte, als er ohnehin schon war, hatte wie immer eine Zigarette im Mund. Krumme wollte ihm erklären, wie der aktuelle Stand der Dinge war, aber Fleischer winkte mit einem heiseren Husten ab.

»Wir kommen schon klar.«

»Kriegen wir den Bericht noch heute?«

»Mal sehen.« Fleischer schnippte seine Kippe in das Hafenwasser und erwischte dabei fast eine Ente. Mit Absicht, da war Krumme sicher.

Das Büro des Hafenmeisters befand sich in einem einfachen Gebäude an der Südseite des Hafenbeckens. Als Pat und Krumme den geräumigen Raum betraten, herrschte überraschend ausgelassene Stimmung. Der Mann mit dem gemütlichen Seebärenbauch und dem grauen Kinnbart hieß Ulf Jensen und trank mit zwei Gästen gerade Schnäpschen – am späten Vormittag!

»Auf den Schreck, Herr Kommissar«, erklärte er Krumme gutgelaunt, »wollen Sie auch einen Lütten?«

Krumme lehnte energisch den Kopf schüttelnd ab und sah dabei vorwurfsvoll zu dem Kollegen aus dem Präsidium, Polizeihauptwachtmeister Lothar Petersen, einem Bodybuilder mit kurzen, gegelten, im Sonnenlicht schimmernden Haaren. Grinsend hielt er sein Gläschen hoch: »Meins war nur halbvoll. Bin ja im Dienst.«

Die dritte Person im Raum hockte mit durchgedrücktem Rücken auf einem Plastikstuhl vor Jensens Schreibtisch, ein hagerer, rund siebzig Jahre alter Mann mit ledriger, von der Sonne gegerbter Haut. Ein vom Rauchen gelbgefärbter Schnauzer quoll ihm weit über den Mund. Er stellte sich als Gerald Hübner vor und hatte in der Nacht auf seinem Boot im Yachthafen geschlafen.

»Verrat dem Kommissar mal, was du heute Nacht gesehen hast, Gerald«, forderte ihn der Hafenmeister auf.

»Den Mörder. Ich habe ihn gehört«, verkündete er stolz, mit heftig wackelndem Schnauzer, unter dem der Mund kaum zu erkennen war.

»Nur gehört?«

»So um zwei Uhr morgens. Hab geschlummert wie ein Murmeltier, dahinten in der PaulaII, das ist mein Boot. Da hat es auf einmal wie verrückt gescheppert. Ich war sofort wach. Hab mir die Rübe total an der Kabinendecke gestoßen.«

»Und?«

»Ich habe durch den Vorhang geluschert, aber …« Er schüttelte den Kopf.

»Aber was?« Krumme wurde langsam ungeduldig.