Rainer und Birgit König
Dunkle Wolken überm Edion
Über die Autoren
Rainer König, Jahrgang 1943, ist in Mittelfranken aufgewachsen. Nach sechs Jahren Seefahrt
bei der Handelsmarine holte er das Abitur nach und studierte in Erlangen
Germanistik, Geschichte und Geografie. Als Gymnasiallehrer kam er nach Selb, wo
er seit 1978 lebt. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Tochter Birgit König ist 1979 in Selb geboren. Nach dem Abitur ging sie zum Zoll. Seit 2003 arbeitet
sie in Frankfurt am Main im Ermittlungsdienst. Sie ist verheiratet, hat zwei
Kinder und lebt bei Gelnhausen.
Die Königs haben inzwischen neun Romane vorgelegt:
• Wilder Mann, 2008
• Wilde Grenze, 2010
(In Tschechien unter dem TitelDivoká hraniceerschienen)
• Wildes Erwachen, 2012
• Wilde Visionen, 2014
• Limes – Zeit der Abrechnung, 2014
• Wildes Kristall, 2016
• Totensteine, 2018
• Der Fall Edion, 2020
• Dunkle Wolken überm Edion, 2022
Mehr über die Autoren:
www.rabiko-autoren.de
Die Handlung ist – fast – frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit damals lebenden Personen
sind rein zufällig.
Vorspiel
Der Besucher kam gleich zur Sache: »Du glaubst gar nicht, wie ich mich nach dir gesehnt habe«, eröffnete er ihr und zog sie zunächst heftig an sich, um sie auf den Mund zu küssen, schob sie dann in Richtung Bett und ließ sie dort unsanft auf den Rücken fallen.
»Aber du wolltest mir doch das Buch ...!« Ihren Protest tat er mit einem barschen »Später!« ab und schob ihr den Rock hoch. Was jetzt folgte, hätte der stille Beobachter wohl als Vergewaltigung bewertet, wäre da nicht das gedämpfte Stöhnen gewesen, das ein gewisses Einverständnis des Opfers signalisierte. Dessen gelegentlich geflüstertes »Nicht so laut!« bezog sich auf das Quietschen und Poltern, das die heftigen Bewegungen des
Mannes verursachten. Das eiserne Bettgestell geriet nämlich regelrecht ins Tanzen und stieß rhythmisch an die Zimmerwand.
Nachdem die Prozedur beendet war, wälzte sich der Mann von seiner Gespielin und lag nun auf dem Rücken neben ihr. Ohne ein Wort zu sagen, zündete er sich eine Zigarette an und starrte schweigend an die Decke. Die Frau
hatte sich aufgerichtet und strich ihm mit der Hand über das krause blonde Haar. Sein schmales Gesicht mit der spitzen Nase ließ ihn ziemlich jugendlich erscheinen und war wohl der Anlass für sie, ihn als »meinen kleinen Spitzmäuserich« zu bezeichnen, ein Kosename, der ihr allerdings nur einmal ausgekommen war,
weil er »dieses kindische Zeug« nicht hören wollte.
Der zwar kurze, aber heftige Kraftaufwand hatte seine Stirn leicht feucht werden
lassen. Als sie mit sanftem Wischen die Schweißtröpfchen entfernen wollte, zeigte er mit einer leichten Drehung zur Seite, dass er
in Ruhe gelassen werden wollte.
Der Herr Soldat ist heute mal wieder nicht gut drauf, dachte sie, vielleicht
sollte ich ihn doch lieber mal mit »mein tapferer Held« ansprechen. Dass er beim Militär war und auch an der Front gekämpft hatte, war ihr bekannt, davon hatte er oft genug erzählt. Außerdem trug er auch heute diese blöde Uniformjacke. Der feldgraue Waffenrock, der durch das Entfernen von
Rangabzeichen, Auszeichnungen und hoheitlichen Symbolen quasi entmilitarisiert
worden war, wirkte reichlich ramponiert und besonders die radikale Entfernung
des hohen Kragens verlieh dem ehemaligen Ehrenkleid eine gewisse Lächerlichkeit.
Die Frau nahm sich vor, jetzt ihr anfangs ins Spiel gebrachtes Anliegen in Gänze auszuführen. Er hatte sie nämlich in einem Brief wissen lassen, dass nun endlich »ihre Sache« veröffentlicht worden sei – eine Formulierung, die sie nur mit einem Buch in Verbindung bringen konnte.
»Du wolltest mir doch was mitbringen!«, hauchte sie erwartungsvoll.
»Tasche!«, brummte er und deutete auf den Stuhl neben dem kleinen Beistelltisch. Sie
machte sich an der schmalen Ledermappe zu schaffen, stieß aber nur auf ein schmales Heftchen, das sie auf dem Tisch ablegte.
»Da ist kein Buch drin!«, reagierte sie enttäuscht.
»Davon war keine Rede! Schau dir das verdammte Ding einfach mal an!«
Sie tat, wie ihr geheißen. Vor sich hatte sie nun ein buntes Deckblatt. Oben im blauen Balken fand sich
fett gedruckt der Schriftzug »LUNA-ROMAN«, darunter ein mit roten Rosen umrandetes Portrait einer hübschen jungen Frau mit langen blonden Haaren und einem Gesichtsausdruck, der auf
Trauer verwies. Es folgte der Titel des Romans: »Franziska muss sich entscheiden«. Den Abschluss bildeten links unten »Nr. 42« und rechts der Preis: »25 ₰«. Jetzt, schon reichlich enttäuscht, nahm sich die Betrachterin das Innere des Heftchens vor: Zunächst stieß sie nur auf Verlagsangaben wie Auflage und Verlagsort. Daneben begann schon der
Roman mit der Seite 1.
Die Frau war jetzt richtig wütend und schmiss das Heft in Richtung des Besuchers. Dann folgte eine gehässig vorgetragene Anklage: Was bildest du dir eigentlich ein? Ich mache die
Beine breit für lau und du lieferst Schrott! Wo, bitte schön, steht da mein Name? Wenn ich das geschrieben habe, muss der auch irgendwo
auftauchen! Und das Bild, das bin doch nicht ich! ‚Franziska‘ – dass ich nicht lache!«
Der Mann bequemte sich nun zu einer gefälligeren Antwort, die auf Schadensbegrenzung abzielte. Schließlich hatte er vor, noch etwas länger zu bleiben und seine Geliebte noch einmal zu beglücken, diesmal vielleicht sogar mit einem richtigen Vorspiel.
»Ach, Schätzchen, das ist ein Serienroman, da gelten doch ganz andere Gesetze als bei
einem Buch«, begann er sanft, »du hast zum Beispiel eine bedeutend höhere Auflage, weil ...«
»Ist mir scheißegal! Ich will meinen Namen lesen! Rosa!«, unterbrach sie ihn gereizt.
Mit den Vorteilen des Genres konnte er nicht landen, also schmeichelte er ihr
mit schriftstellerischem Talent: »Schau doch erst mal richtig rein, dann wirst du auf deine Geschichten stoßen. Du glaubst gar nicht, wie sich die Herren vom Verlag vor Lachen gebogen
haben, als sie die Episode mit dem ‚Gott-Vater‘ vor sich hatten. ‚Herrlich komisch!‘, meinte der ganz Obere. ‚Und dann wieder diese überraschende Tragik! Wirklich gelungen!‘ Genau das hat er gesagt! Und darauf kannst du dir wirklich was einbilden!«
Ein gewisser Erfolg war ihm schon beschieden: Rosa war zwar weit davon entfernt,
mit Stolz oder Dankbarkeit zu reagieren, aber sie zeigte sich, jetzt doch
bedeutend verbindlicher, interessiert daran, was ihr das denn geldmäßig so bringe und ob er denn schon eine bestimmte Summe zur Auszahlung zur Verfügung habe.
Da im Geldbeutel des Spitzmäuserichs Ebbe herrschte und der davon ausgehen konnte, dass er als Autor des Heftchens in zwei oder drei
Wochen gerade mal mit zwanzig Mark rechnen konnte, war ein schlagendes Argument
vonnöten:
»Ach, ich glaube, ich muss dir noch viel erklären, was dieses Geschäft angeht. Also, das Heft geht zunächst einmal in die Läden und an die Kioske. Und nach vier Wochen, wenn das nächste Heft ausgeliefert wird, schaut man sich den Umsatz an. Erst dann wird
abgerechnet. »Gut, dann kommst du wieder, wenn du die Kohle hast!«
Die unterkühlt vorgetragene Abfuhr versetzte ihn in Sorge, denn er hatte seine eigentlichen
Absichten, abgesehen von einer weiteren Nummer, überhaupt noch nicht ins Spiel gebracht.
*****
Jeder Beziehung zwischen Frau und Mann sollte ein Zauber innewohnen, der den
Liebenden das wahre Glück verheißt. So gesehen, war die Beziehung unseres Pärchens eher ein fauler Zauber, denn jeder der beiden suchte sein Glück auf Kosten des anderen zu erzielen: Sie wollte mit seiner Hilfe eine
erfolgreiche Schriftstellerin werden und er brauchte eine Bettgenossin, ohne
mit irgendwelchen finanziellen oder moralischen Verpflichtungen belastet zu
sein. Darüber hinaus schien sie ihm geeignet, eine wichtige Rolle in seinen Plänen zu spielen: Bei ihr fühlten sich Männer wohl und könnten sich durchaus das eine oder andere Geheimnis entlocken lassen.
*****
Nur jetzt keine Fehler machen!, dachte er. »Schatz«, begann er larmoyant, »mach doch nicht alles kaputt! Wenn du mich jetzt wegschickst, war alles umsonst.
Du hast jetzt den Fuß drin, und zwar im ganz großen Geschäft. Die Menschen gieren nach Sensationen und ...«
»... Geschichten von einer gewissen Franziska«, vollendete sie hämisch, »wobei ich mir die Gage in den Kamin schreiben kann.«
»Hör mir doch erst einmal zu, dann kannst du mich immer noch wegschicken.«
»Dann beeil dich, ich hab noch was vor!«
»Also, ich hab dir doch erzählt, was der Typ vom Verlag über dich gesagt hat. Da fielen aber auch Sätze, die dir zu denken geben sollten: ‚Mit der Frau lässt sich doch mehr machen! Die kleinen Schweinereien ums Bett herum‘, verzeih mir bitte, aber so hat er das gesagt, ‚sind ja ganz schön, aber wir wollen die Sensation! Schließlich verkaufen wir auch Zeitungen!‘«
»Das heißt ja wohl, dass der Schweinkram in aller Öffentlichkeit ablaufen soll!«
»Ach i wo! Du lässt die Männer über ihre Geheimnisse reden, über kleine und große Gaunereien. Dabei könntest du zum Beispiel helfen, Skandale aufzudecken. Und damit kannst du ohne
großen Aufwand viel Geld machen, denn die Zeitungen sind geradezu heiß darauf, solche Geschichten zu veröffentlichen.«
»Erspar dir die Mühe, du weißt genau, dass ich ein richtiges Buch schreiben will. Ich möchte nun mal Schriftstellerin werden.«
»Kannst du, und zwar ganz bequem!« Jetzt legte sich der tapfere Held mächtig ins Zeug, um ihr aufzuzeigen, wie sie ihr Ziel erreichen konnte: »Du schreibst für die Zeitung und hast so eine stabile finanzielle Basis. Nebenbei machst du dir
einen Namen als Sensationsjournalistin und bald, das prophezeie ich dir, will
man von dir auch ein Buch.«
Überzeugen konnte er nicht. Zum Schein ging sie jedoch auf seinen Vorschlag ein,
denn er hatte ihr die Erkenntnis geliefert, dass Wissen Macht ist und sie
gegebenenfalls ohne den Weg über die Zeitung die Möglichkeit bekam, sich ihren Wunschtraum zu erfüllen. Letztendlich wurde also zwischen den beiden ein Zauber wirksam, der sie
ins Verderben führen konnte.
Auszug
Februar 1927
Die junge Lehrerin, die im Februar 1926 ihren Dienst in Selb aufnahm, hatte
insofern Glück gehabt, als sich ihr die Gelegenheit bot, in einem Gebäude zu unterrichten, das auch noch Jahre nach seiner Fertigstellung als Muster
eines neuzeitlichen Schulhausbaus galt. Obwohl schon 1908 eingeweiht, war es
noch immer Besichtigungsziel von Fachleuten aus nah und fern, die mit
entsprechenden Planungen beschäftigt waren. Eine zentrale Dampfheizungsanlage, ein Schulbrausebad mit separaten
Umkleidekabinen, Aborte mit automatischer Spülvorrichtung, lichtdurchflutete Klassenzimmer mit bequemen Lüftungsmöglichketen und schließlich eine Schulküche waren eben nachahmenswerte Ziele, wenn es um den Neubau einer Schule ging.
Doch lange währte der Aufenthalt an dieser Schule nicht, denn schon ein Jahr später entschloss sich Johanna Winkler, das Angebot des Schulrats anzunehmen, an
die Gartenschule zu wechseln. Die Entscheidung fiel ihr nicht leicht, aber der
Schritt war mit einem Vorteil verbunden, auf den Hanna nicht verzichten wollte,
denn er eröffnete ihr den Weg in die Selbständigkeit: In der Gartenschule war nämlich eine kleine Wohnung vorhanden, die nur Lehrpersonal zur Verfügung stand. Und da es keine weiteren Bewerbungen für diese Bleibe gab, griff Hanna sofort zu, obwohl sie die Ahnung überfiel, dass ihre Eltern mit diesem Schritt nicht einverstanden sein würden.
Wie sich dann aber in dem anstehenden Gespräch herausstellte, hatte sie nur ihre Mutter gegen sich. Deren Argumente waren
lebenspraktischen Dingen zugewandt: »Ja muss denn das sein?«, begann sie. »Du hast doch hier alles, was du brauchst, ein geräumiges Zimmer, dein regelmäßiges Essen, alles umsonst!«
Hanna, ziemlich genervt, war drauf und dran, die aufflammende Diskussion mit
einer ungeheuerlichen Provokation im Keim zu ersticken: Eben nicht alles!, hätte sie ihrer Mutter am liebsten entgegengeschleudert. Was sagst du wohl dann,
wenn ich mit einem Verehrer in meinem Zimmer nächtige und der dann vielleicht sogar am nächsten Morgen mit am Frühstückstisch sitzt?
Der Gedanke, die Eltern mit dieser rücksichtslosen Schnoddrigkeit zu konfrontieren, war schnell wieder verworfen.
Schließlich waren die Moralvorstellungen verhaftet, die einfach nicht mit ihrem Wunsch nach Selbstbestimmung vereinbar waren. Außerdem zeigten Hanna die feuchten Augen der Mutter, dass die nicht mit offenen
Karten gespielt hatte und sie eher die Angst quälte, von ihrer Tochter verlassen zu werden, die ihr bisher eine wertvolle Verbündete war. Schließlich hatten beide gemeinsam beschlossen, dem Herrn Oberamtsrichter immer mal
wieder kräftig auf die Füße zu treten, wenn er eingeübte Verhaltensmuster pflegte, die sich, was seine Ehefrau anging, vornehmlich
auf eine ausgeprägte Maulfaulheit erstreckten.
Was blieb Hanna anderes übrig, als eben auch die Umstände ins Spiel zu bringen: Sie werde wohl oder übel die eine oder andere Kollegin (den Kollegen unterschlug sie vorsichtshalber)
empfangen müssen, vielleicht wolle man auch mal feiern. Und da könnte es eben schon mal lauter und vielleicht sogar später werden. »Ich sag’s ehrlich«, fuhr sie fort, »ich weiß doch, dass ihr eure Ruhe haben wollt. Außerdem fühle ich mich ein bisschen beengt, wenn ich euch da immer fragen muss. Und noch
was, Mutter: Was wirst du wohl sagen, wenn zwei dir unbekannte Leute in deiner
Küche auftauchen, um zusammen mit mir zu kochen?«
Eigentlich hätte ihre Mutter jetzt empört reagieren müssen: So weit kommt es noch, dass fremde Menschen in meiner Küche hantieren! Aber Frau Winkler dachte gar nicht daran, entrüstet zu sein. Mit »Ach, geh! Wer macht denn so was?« wischte sie das Argument beiseite und schwang, jetzt mit einem Anflug von Gehässigkeit, die Luxus-Keule: »Die Dame will nur ihre Freiheit ausleben. Weißt du eigentlich, wie viele Familien hier in dieser Stadt davon träumen, eine solche Wohnung wie die in der Gartenschule zu beziehen? Aber da sitzt
ja jetzt ein Fräulein drin, dem es zu gut geht!«
So nicht, liebe Mutter!, dachte Hanna. Trotzig entschied sie, gar nicht mehr auf
die Argumente der Mutter einzugehen. Doch die hatte schon ihren Ehemann im
Blick, der bisher geschwiegen hatte. »Heinrich!«, ging sie ihn reichlich aggressiv an. »Jetzt sag doch auch mal was! Oder ist dir das wieder mal völlig egal?«
Oberamtsrichter Winkler war die Entscheidung seiner Tochter mitnichten egal.
Zwar hätte er das Mädchen, das er innig liebte, gerne um sich gehabt, aber die Szenarien, die seine
Tochter entworfen hatte, beunruhigten ihn doch etwas. Er wollte vor allem seine
Ruhe haben. Außerdem sah er die Sache bedeutend entspannter als seine Frau: Hanna würde dann eben mal gerade ein paar Meter entfernt wohnen und vieles konnte doch
trotzdem so bleiben, wie es war. Aber jetzt war eine klare Position angesagt
und der fehlte es nicht an Schärfe:
»Zunächst, liebe Elfriede, verwehre ich mich ganz entschieden gegen die
Unterstellung, mir sei das Ganze egal. Im Gegenteil, ich bedaure den Entschluss
unserer Tochter, aber ich akzeptiere ihn. Sie ist inzwischen alt genug, um auf
eigenen Füßen zu stehen. Außerdem ist sie nicht aus der Welt und kann immer noch die Annehmlichkeiten
nutzen, die ihr das Elternhaus bieten kann. Und noch etwas: Dein Argument mit
der Wohnungsnot in dieser Stadt verfehlt sein Ziel, denn die Wohnung ist
zweckbestimmt, will sagen, sie kann nur von einer Lehrperson genutzt werden.«
Alle Achtung, Papa!, staunte Hanna. Diese Unterstützung hätte ich dir so nicht zugetraut!
Frau Winkler blieb als letztes Argument, jetzt schon fast verzweifelt
vorgetragen, nur noch der geldwerte Vorteil: »Aber sie muss doch Miete zahlen, und wenn sie die spart, dann ...«
Spöttisch grinsend unterbrach sie Hanna: »... dann ist das Geld bei der nächsten Inflation wieder weg.« Natürlich hätte sie wissen müssen, dass ihre Mutter im Moment nicht empfänglich für solche Späßchen war: Ihre eigene Tochter, die ihr einst Beistand zugesichert hatte, war
dabei, sich von ihr abzuwenden, und ihr Ehemann hatte sich auch noch mit ihr
verbündet. Zutiefst verletzt legte sie die Hände vors Gesicht, um ihre Tränen zu verbergen, und verließ überstürzt das Wohnzimmer. Von der Diele her konfrontierte sie Mann und Tochter dann
aber noch mit einer trotzigen Drohung: »Iich sooch etzat gouer nix mäier! Dirts kennts mer amaal ‘n Buggel untirutsch’n!« Die Wahl des Dialekts richtete sich wohl gegen ihren Mann, der immer großen Wert darauf legte, dass in der Familie hochdeutsch gesprochen wurde. Nicht
einfach für seine Frau, die von Kind auf der Selber Mundart verbunden war.
Natürlich kannte Hanna den Spruch »Die Zeit heilt Wunden«. Warten auf Selbstheilung war aber nicht das Ding der Pädagogin und so beschloss sie, den Prozess zu beschleunigen: Ohne von ihrer
Entscheidung abzulassen, gab sie in den nächsten Tagen gegenüber ihrer Mutter immer wieder mal die Zerknirschte, die sich von den Aufgaben
einer Wohnungseinrichtung und der Haushaltsführung überfordert sah. Gerne bediente sie sich der einleitenden Formulierung »Hätte ich gewusst ...«, um sie dann mit entsprechenden Details wie Tapeten, Möbel, Vorhänge, Geschirr, Heizmaterial zu kombinieren. Frau Winkler saugte diese Klagen auf
wie den geliebten Eierlikör und konterte mit Satzmustern, die sich ebenfalls der Möglichkeitsform bedienten: »Hätte ich dir alles sagen können« oder: »Es wäre besser gewesen, wenn ...«
Hanna entsprach dabei immer der Erwartung ihrer Mutter, indem sie betrüblich dreinblickte und gelegentlich hinzufügte: »Du hast ja eigentlich recht.« Aber sie war schlau genug, die grundlegende Veränderung nie wirklich in Frage zu stellen. Und damit war ihrer Strategie schon
ein gewisser Erfolg garantiert, zumal entsprechende Reaktionen erkennen ließen, dass die Mutter dabei war, sich mit der neuen Lage abzufinden. Als dann die
Wohnung für den Umzug zur Verfügung stand, hatte die bereits eine neue Rolle übernommen, die sie tatkräftig und zielstrebig ausfüllte: Sie plante, organisierte und verhandelte. Ob es nun die Tapeten, das
Mobiliar oder den Transport betraf – für alles gab es optimale Lösungen, die stolz im Familienrat präsentiert wurden. Dabei ließ die Hausherrin auch gerne wissen, dass sie die entsprechenden
Preisverhandlungen mit unerbittlicher Härte geführt hatte.
Frau Winkler legte inzwischen einen Elan an den Tag, der auch ihren Mann verblüffte und ihm sogar lobende Worte abnötigte. »Ich staune doch, meine liebe Elfriede«, ließ er sich anlässlich eines Abendessens vernehmen, »mit welcher Perfektion du bei dieser Aktion zu Werke gehst, die ja für dich zunächst doch so etwas wie ein rotes Tuch war.« Er legte seine Hand auf ihren Arm und Hanna schien es, als wolle er zu einer
feierlichen Danksagung anheben, aber er brachte nur ein »Danke!« hervor. Aber was dann geschah, war für seine Ehefrau eine äußerst freudige Überraschung, die ihr grenzenlose Glücksgefühle bescherte: Er erhob sich, beugte sich ihr zu und setzte ihr einen Kuss auf
die Wange.
Wie im Märchen, dachte Hanna lächelnd, bleibt nur die Hoffnung, dass sich, was die Ehe der beiden angeht, auch
die mit Glück erfüllt: »Und sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.«
*****
Mitte März nächtigte Hanna zum ersten Mal in ihrer neuen Wohnung. In den nächsten Tagen und Wochen zeigte sich, dass sie von der Befürchtung befreit war, ihre Mutter werde ihr weiterhin zur Seite stehen, indem sie
immer wieder mal auftauchte und sich tatkräftig in ihren Haushalt einmischte. Bald sollte sie bemerken, dass die Eltern
untereinander wohl die Absprache getroffen hatten, sich ihr nicht aufzudrängen. Aber sie empfing auch die Botschaft, dass sie jederzeit willkommen sei in
ihrem ehemaligen Zuhause. Ihr war es überlassen, sich jederzeit zu den Mahlzeiten einzuladen oder auch mal
unangemeldet aufzutauchen, sei es zu einem Kaffee oder um irgendwelche
Absprachen zu treffen.
Ein schönes Beispiel für die Zurückhaltung der Eltern war die Teilung des Selber Tagblatts: So war ausgemacht, dass auch Hanna die Verfügung über die von den Eltern abonnierte Zeitung haben sollte. Das Blatt war für die Lehrerin eine Art Pflichtlektüre, denn ihr sollte schon bekannt sein, welche Veranstaltungen in der Stadt
anstanden. Und es konnte auch nicht schaden, wenn man einen Blick auf die
Todesanzeigen warf, um bei der einen oder anderen Beerdigung anwesend zu sein.
Auch war Hanna sehr interessiert am politischen Geschehen. Und gerade in dieser
Beziehung war sie auf die Zeitung angewiesen. Zwar hätte sie sich gerne einen Radioapparat angeschafft, aber die Geräte waren doch sehr teuer. Und da hieß es eben, sich zu gedulden und zu sparen, bis dieser Luxus erreichbar war.
Die Weitergabe der Zeitung, die natürlich dem Oberamtsrichter nicht zuzumuten war, hätte ihre Mutter jederzeit mit einem kurzen Besuch bei Hanna verbinden können. Aber nichts dergleichen geschah, das Blatt steckte, wenn Hanna es aus
irgendwelchen Gründen nicht selbst abgeholt hatte, in ihrem Briefkasten.
Trotzkopf
Ruth Walberer hatte es ihrer Freundin Hanna nachgetan, indem sie sich inzwischen
in Erlangen auf den Beruf der Lehrerin vorbereitete. Damit konnte ihr Vater,
Sanitätsrat Dr. Walberer, überhaupt nicht einverstanden sein, denn er hatte seine Tochter sozusagen schon
anderweitig verplant: Er wollte sie nämlich an der Seite eines jungen Arztes sehen, der zunächst in seine Praxis eintreten und diese dann alleinverantwortlich übernehmen sollte. Zusammen mit seiner Ehefrau war er schon seit längerer Zeit dabei, Ausschau nach einem geeigneten Kandidaten zu halten.
Er hätte sich allerdings daran erinnern sollen, dass seine Tochter seit Kindertagen
eigene Wünsche und Ziele mit eisernem Willen verfolgte und dabei eine Strategie zur
Anwendung brachte, die den Eltern oft nur die Kapitulation ließ: Ruth verordnete sich ein Schweigegelübde, das mit starker Nahrungsreduzierung einherging. Diese Form des Protests
hatte Mutter und Vater schon mehrmals peinliche Gespräche eingebracht. Da hatte der Arzt zum Beispiel vor Jahren die Klage eines
Lehrers erfahren, seine Tochter sei in letzter Zeit antriebslos und beteilige
sich nicht am Unterrichtsgeschehen. Zudem sei sie sehr blass und man mache sich
Sorgen um ihre Gesundheit. Und schließlich waren auch noch seine Fähigkeiten als Mediziner in Zweifel gezogen worden: Er müsse diesen Zustand doch ebenfalls erkannt haben und solle endlich mit
entsprechenden Schritten reagieren.
In der Regel konnte dieser »Zustand« dann auch sehr schnell einer Verbesserung zugeführt werden: Ruth bekam eben das Fahrrad, das sie sich sehnlichst gewünscht hatte, oder ihr wurde der Wunsch erfüllt, dem Arbeiterradfahrverein beizutreten, was den Eltern, die sich dem
gehobenen Bürgertum zurechneten, erhebliche Bauchschmerzen verursachte. Ruth war allerdings
schlau genug, diese Form der Erpressung eher sehr dosiert einzusetzen. Aber der
Wunsch, Lehrerin zu werden, erforderte nun mal höchsten Einsatz.
Dass sich eine junge Frau der diesem Beruf verordneten Ehelosigkeit* fügen wollte, verstanden weder Eltern, Verwandte noch Bekannte, wenn man einmal
von ihrer Freundin Hanna absah. Schließlich hatten sich die beiden das Versprechen gegeben, eine gewisse Zeit gemeinsam
durch das Leben zu gehen. »Weltfremd« sei Ruth, wurde behauptet, denn sie beraube sich des wahren Glückes, das einer jungen Frau nun mal nur die Heirat biete. Frau Walberer ging
sogar mit der Vermutung hausieren, ihre Tochter wolle einfach nicht erwachsen
werden und hänge noch irgendwelchen romantischen Kindheitsträumen nach. Hinter vorgehaltener Hand wurden aber auch Stimmen laut, die die
Sache viel pragmatischer sahen: »Die will einfach nichts von den Männern wissen, weil sie halt ... na ja, eben andersrum ist.« Die Zuordnung dieser Art war allerdings in Selb nicht gesellschaftsfähig – im Gegenteil: Die wenigen Lehrerinnen erfreuten sich allgemeiner Hochachtung.
Aber eins sollten sich die Fräuleins schon ins Stammbuch schreiben: »Hände weg von den Männern!«, denn die Missachtung dieser Regel führte schnell zum Verlust des Heiligenscheins.
Was auch immer ihr Umfeld zu sagen hatte, gerecht werden konnte es Ruth nicht.
Wie sollten diese Menschen auch eine junge Frau verstehen, die gewissermaßen aus der Zeit gefallen war, indem sie die herrschenden Konventionen ablehnte
und damit auch dem Zwang entgehen wollte, möglichst schnell unter die Haube zu kommen, dann Kinder zu gebären, einem Haushalt vorzustehen und dabei auch noch ihren Ehemann glücklich zu machen.
*****
Osterferien
Ruth war an diesem Gründonnerstag schon am Vormittag aus Erlangen angereist. Am Nachmittag wollten
sich die beiden Freundinnen treffen, und zwar in Hannas neuem Zuhause.
Eigentlich war ein gemütlicher Plausch bei Kaffee und Kuchen geplant. Beide hatten einen gewaltigen
Gesprächsbedarf: Ruth wollte von ihren Erfahrungen in der Lehrerbildungsanstalt
berichten, Hanna von ihrem Alltag in der Schule. Natürlich sollte auch die Abteilung »Tratsch« nicht zu kurz kommen, denn es gab genug Neuigkeiten in der Stadt, die sich
hervorragend breittreten ließen.
Eigentlich! Aber kaum hatte Ruth in dem kleinen Wohnzimmer mit angeschlossener
Kochnische Platz genommen, schob ihr Hanna zwei ausgeschnittene Zeitungsmeldungen unter die Nase
und wies sie an: »Lies das mal! Stand gestern und heute im Tagblatt.«
Ruth überflog die Zeilen:
Selb. In den Morgenstunden des gestrigen Tages wurde an der Verbindungsstraße zwischen Erkersreuth und Asch die Leiche einer unbekannten jungen Frau
aufgefunden. Nach Inaugenscheinnahme durch die Selber Polizeibehörde wurde festgestellt, daß sie einer Gewalttat zum Opfer gefallen ist, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit in den davor liegenden Abend- oder Nachtstunden zugetragen
hat. Kommissär Werner von der Selber Schutzmannschaft richtet sich mit folgendem Appell an
die Bevölkerung: »Wer zwischen den Restaurationen Edion und Weidmannsheil zur in Frage kommenden
Zeit auffällige Beobachtungen gemacht hat, möge sich bitte in der Selber Dienststelle melden.«
Wir berichten weiter.
Grausame Bluttat an der Grenze
Wer hat Beobachtungen gemacht?
Selb. Bei der in den Morgenstunden des 13. April zwischen den Restaurationen Edion und
Weidmannsheil aufgefundenen Leiche (wir berichteten) handelt es sich um die
ursprünglich aus Rehau stammende Rosa M. Ihr wurde mit einem am Tatort verbliebenen
Stein eine tödliche Kopfverletzung zugefügt. Da vor Ort keine Handtasche gefunden wurde, ist zu vermuten, daß sie einem Raubmord zum Opfer gefallen ist. Es ist inzwischen bekannt, daß die Frau aushilfsweise als Bedienung in der Restauration Edion beschäftigt war und ein Zimmer im Weidmannsheil angemietet hatte. An den Ermittlungen
sind inzwischen auch Kriminalisten der Landespolizei Hof beteiligt. Wie uns die
Selber Polizei mitteilt, ist man immer noch auf der Suche nach Zeugen, die
ungewöhnliche Beobachtungen gemacht haben. Interessiert ist man auch an Personen, die
in den letzten Tagen mit der Frau in Kontakt standen. Ihnen wird größtmögliche Diskretion zugesichert.
»Hier bei uns, ganz in der Nähe!«, reagierte sie betroffen. »Das gibt’s doch nicht!«
»Genau! Hat auch mir den Atem verschlagen! Aber hast du gelesen, wen es da
getroffen hat?«
Die Freundin blickte wieder auf die Meldungen. »‚Unbekannte junge Frau‘ heißt es hier, aber ... oh, jetzt hab ich’s: ‚Rosa M. aus Rehau‘.«
»Du musst schon genauer lesen! ‚Ursprünglich‘ steht da!«
»Sagt mir auch so nichts! Du kennst die wohl?«
»Natürlich! Du wahrscheinlich nicht, aber du weißt, wer das ist. Ich nenne nur ein Stichwort: Tagebuch!«
Ruth blickte kurz verdutzt drein, dann nickte sie freudig grinsend: »Das ist doch das Dämchen, das damals beim Prozess gegen Müller als Schriftstellerin aufgetreten ist. Hast du mir doch geschrieben! Wenn
ich mich richtig erinnere, wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen, als diese berühmten Aufschreibungen verlesen wurden.«
»In der Tat! Ich habe mich damals köstlich über meinen Vater amüsiert. Er ließ sich doch tatsächlich mit ihr auf eine Diskussion über den Tagebuchroman und die damit einhergehende Verfremdung ein. Mein Vater!«, Hanna lachte. »Keine Ahnung von Literatur, trifft auf eine Zeugin, die von ihrem Anwalt mehr
schlecht als recht auf ihre Rolle vorbereitet worden ist.«
»Das war doch der Kaspari! Aber der hat doch diesem Fiesling von Staatsanwalt
letztendlich eine vernichtende Niederlage bereitet!«
»Das ist richtig. Aber bei der Instruktion dieser Zeugin ist er offensichtlich an
seine Grenzen gestoßen. Außerdem hat sie ihn so richtig in die Pfanne gehauen, indem sie quasi zugegeben
hat, dass sie sich prostituiert, was ja der Kaspari unbedingt vermeiden wollte.«
»Aber die Frage ist doch jetzt«, gab Ruth zu bedenken, »warum diese Frau sterben musste.«
»Möchte ich auch wissen. Ich denke, es gibt nur eine Person, die uns darüber etwas sagen könnte.«
»Rieke!?«
Hanna nickte: »Statten wir ihr doch einfach einen Besuch ab! Was hältst du von übermorgen?«
»Abgemacht!« Ruth war inzwischen dabei, wieder einen Blick auf die beiden Artikel zu werfen.
»Du«, sie deutete auf eine Zeile, »hier steht ‚Kommissär Werner‘. Ist das ein Druckfehler? Das müsste doch der Walter sein!«
»Passt schon! Der ist inzwischen in Pension. Sein Nachfolger heißt Werner. Der kommt aus Nürnberg und war dort bei der Landespolizei. Auch so eine Sache«, fuhr Hanna nachdenklich fort, »die meinem Vater gewisse Sorgen macht.«
»Inwiefern?«
»Da fragt man sich doch, warum lässt sich der von der Großstadt nach Selb versetzen, um einer mickrigen Schutzmannschaft vorzustehen. Und
mein Vater denkt eben, dass das so ein Poschinger-Verschnitt sein könnte, der hier in der Stadt aufräumen soll. Du weißt doch, unsere mehrheitlich linken Stadtoberen sind der Staatsregierung ein Dorn
im Auge.«
»Verstehe! ‚Mit dem eisernen Besen kehren‘, um diesen Poschinger zu zitieren. Gibt es da schon entsprechende Signale?«
Hanna schüttelte den Kopf: »Der ist doch gerade mal vier Wochen hier in Selb. Ich hab sein Bild in der
Zeitung gesehen. Sieht recht ordentlich aus, auf jeden Fall besser als dieser
unselige Assessor, und mein Vater beschreibt ihn als sehr höflich, aber doch ziemlich zurückhaltend.«
»Besonders die«, lachte Ruth, »haben’s manchmal faustdick hinter den Ohren.« Es folgte ein erwartungsvoller Blick auf Hanna: »Und?«
»Was willst du hören?«
»Du weißt schon, was ich meine! Gefällt er dir?«
Hanna mimte die Empörte: »Hör doch auf mit diesen Spielchen! Deutlich für dich zum Mitschreiben: Ich kenne den Mann nicht, es steht kein Rendezvous an
und ich habe wirklich nicht vor, mit einem Beamten anzubandeln. Die sind alle
von derselben Sorte: Knäibohrer sagt man auf Selberisch! So ein Exemplar ist mit meiner Mutter
verheiratet.«
»Aber du stellst ihn mir doch mal vor?«, reagierte Ruth grinsend.
»Wenn du dich unbedingt unglücklich machen willst, gerne!«
Der Ermittler
Kommissär Carl Werner, der neue Leiter der Selber Schutzmannschaft, hatte sich im Mai
1917, versehen mit dem Notabitur, freiwillig zum Militärdienst gemeldet. Als Fahnenjunker wurde er einem Feldgendarmerie-Korps
zugeteilt. Damit hatte er zunächst einmal den Spott seiner Schulkameraden zu ertragen, die sich wie er selbst
nichts sehnlicher gewünscht hatten, als der kämpfenden Truppe zugeteilt zu werden. »Da hast du dir ja einen schönen Druckposten eingehandelt«, war nur eine der Schmähungen, die er sich anhören musste. Dabei hatte die Musterungsbehörde eigentlich nur seinem Wunsch entsprochen, nach dem Krieg Polizist zu werden.
Aufgrund des Disziplinverfalls in der Etappe der Westfront wurde seine Einheit
im August 1918 an den Unruheherd beordert. Und damit sah sich der inzwischen
zum Leutnant beförderte Kriegsfreiwillige plötzlich inmitten des Gemetzels, aber nicht als Ermittler in
Disziplinangelegenheiten, sondern im Schützengraben. Denn die eigentlichen Polizeiaufgaben verrichteten die ranghöheren und damit älteren Mitglieder der Truppe. Das »Jungvolk«, ob nun Mannschaftsdienstgrad, Unteroffizier oder Leutnant, musste die durch
hohe Verluste entstandenen Lücken in der Infanterie füllen.
Die Tatsache, dass er bei der Feldgendarmerie gedient hatte, mochte seine Chance
befördert haben, nach dem Krieg bei der Landespolizei unterzukommen. Im Februar 1919
wurde er dem Polizeipräsidium Nürnberg als Kriminalassistent zugeteilt.
Eigentlich hatte der Neue, der zuletzt als Inspektor mit der Aufklärung von Kapitalverbrechen beschäftigt war, nicht damit gerechnet, in Selb mit einem Mordfall konfrontiert zu
werden. Er sah die Leitung einer zunächst kleinstädtischen Polizeibehörde vielmehr als Sprungbrett für die Führungsposition in einer größeren Stadt, wie zum Beispiel in Hof, Bayreuth oder Erlangen.
Karrierestreben war aber beileibe nicht das einzige Motiv Werners, der
Landespolizei und damit Nürnberg den Rücken zu kehren. Der junge Mann hatte noch fast zehn Jahre nach Kriegsende bei
seiner verwitweten Mutter gewohnt. Zunächst lag das an seinem schmalen Gehalt, dann wurde es zur Gewohnheit, weil damit
eine gewisse Bequemlichkeit verbunden war: Er wurde von seiner Mutter umsorgt,
die ihm als Köchin, Dienstmädchen sowie Wasch- und Putzfrau diente.
Natürlich hatte er den Wunsch, eine eigene Familie zu gründen. Er war sogar schon einmal für ein paar Monate mit einer jungen Frau liiert. Dafür, dass es nicht zu einer festen Bindung kam, gab es genügend Gründe: Vielleicht war er tatsächlich das Muttersöhnchen, das jede Kandidatin mit der Mutter verglich, um sie am Ende als
untauglich auszusortieren. Dazu kamen die ungünstigen Dienstzeiten: Die häufige Abwesenheit in Abend- und Nachtstunden sowie an Wochenenden wollte die
Partnerin nicht so ohne weiteres akzeptieren. Außerdem war er nicht der Typ, der gesellige Veranstaltungen liebte. Wenn dann auch
noch die Gefahr drohte, dass bei solchen Anlässen getanzt wurde, kam für ihn der Besuch schon mal gar nicht in Frage. Überhaupt verließ er die Wohnung nur ungerne zu irgendwelchen Unternehmungen, ganz gleich welcher
Art. So gesehen, war Werner ein Stubenhocker, der einer lebenslustigen jungen
Frau nicht viel zu bieten hatte. Die Verflossene hatte ihm bei der Trennung
sogar geraten, sich in die »Hupfla« einweisen zu lassen. Sie konnte es einfach nicht ertragen, dass er tagsüber »das Maul nicht aufbekam« und er, wenn sie die Nacht zusammen verbrachten, mit Alpträumen zu kämpfen hatte, die ihn schwer in die Wirklichkeit zurückfinden ließen. Wie sollte sie auch wissen, dass ihr Partner traumatisiert aus dem Krieg zurückgekehrt war und er die Bilder von zerschossenen und verstümmelten Leibern nicht mehr aus dem Kopf bekam. Ob nun Kameraden oder Feinde,
Grauen und Entsetzen waren ungeteilt, jedem Opfer galt sein Mitgefühl und jeder Tote ließ ihn zweifeln: Warum du und nicht ich?
Nur eine Frau, die sich in die verständnisvolle Rolle einer Therapeutin gefügt hätte, wäre ihm eine Hilfe gewesen. Von Vorteil wäre es auch gewesen, wenn sich diese Partnerin für das Zeitgeschehen interessiert hätte. Vielleicht wäre es ihr gelungen, ihn in angeregte Gespräche zu verwickeln. Werner hatte nämlich das Geschehen auf dem Schlachtfeld enorm politisiert. Seine zunächst stark ausgeprägte patriotische Euphorie war schon nach wenigen Wochen an der Front verflogen
und am Ende solidarisierte er sich mit den Forderungen der aufständischen Matrosen in Kiel.
An der Front war es vor allem das Auftreten der hohen Offiziere und der adeligen
Frontbesucher, das ihn maßlos erregte: Die Clique sah die kämpfende Truppe als Verfügungsmasse, die man angesichts der drohenden Niederlage sinnlos verheizen
durfte, um noch irgendwelche Faustpfänder in der Hand zu haben. Nach der Schlacht verhöhnte man die Opfer mit hohlen Phrasen, indem man den Ort der Schande zum »Feld der Ehre« erhob, vom »Heldentod« sprach und »Deutschlands Ruhm und Ehre« pries. Die Überlebenden überhäufte man mit Orden, die aus ausgebeulten Manteltaschen geholt wurden. Für den Händedruck oder gar ein persönliches Wort fehlte besonders bei den Gemeinen oft die Zeit, denn die Herren
mussten wieder zurück an den großen Tisch, um an ihren Schlachtplänen zu feilen und die Truppenteile wie Schachfiguren zu verschieben. Natürlich sah man sich auch verpflichtet, den anwesenden Abkömmlingen aus königlichem oder kaiserlichem Haus mit einem Empfang im Casino die Ehre zu
erweisen.
Die Beerdigung der Gefallenen an den hastig ausgehobenen Gruben überließ man den Kompanieführern, die sich dabei entweder der Wortwahl ihrer Oberen annäherten oder sich in ihrer Verzweiflung mit einem »Vaterunser« begnügten. Die eigentlich dafür vorgesehenen Feldgeistlichen waren mangels Masse schon längst nicht mehr in der Lage, dieses traurige Ritual flächen- und zeitdeckend zu begleiten.
Es war also kein Wunder, dass Werner die Ziele der Novemberrevolution unterstützte und sich für den Aufbau einer demokratischen Nachkriegsordnung einsetzte. Aber mit wem
sollte Werner schon über den Krieg und das Tagesgeschehen der Nachkriegszeit diskutieren? Sich einer
Partei anzuschließen oder an politischen Veranstaltung teilzunehmen, hatte der Polizist für sich ausgeschlossen, und seine bisherigen Bekanntschaften wollten von Politik
nichts hören.
Bald musste er auch feststellen, dass er seine Vorstellungen besser nicht mit
seinen Kollegen teilte, denn in Polizeikreisen sah man die Revolution als
Verschwörung vaterlandsloser Gesellen, die der kämpfenden Truppe in den Rücken gefallen waren. Frauen und Männer, die demokratischem Gedankengut nachhingen, waren nicht gelitten in einem
Beamtenapparat, der an der alten Ordnung festhalten wollte.
Es war wiederum kein Wunder, dass sich der Polizist gerade in Selb beworben
hatte: War ihm doch bekannt, dass dort Sozialdemokraten und Kommunisten »an der Macht« waren, was eben nicht zu chaotischen Verhältnissen geführt hatte, sondern zu einer prosperierenden Stadt, die wegen ihrer
Fortschrittlichkeit bayernweit beneidet wurde.
Praktisch im Vorbeigehen hatte Werner mit dem Ortswechsel ein weiteres Problem
gelöst: Er war der mütterlichen Aufsicht entflohen und konnte sich den gelegentlich erhobenen Vorwurf
ersparen, er sei ein verwöhntes Muttersöhnchen. Blieb die Frage, ob sich in Selb der Wunsch nach einer Partnerin erfüllen ließ.
*****
Werner hatte den vorläufigen Bericht der Hofer Kollegen vor sich auf dem Schreibtisch. Diese
kriminaltechnische Analyse bestätigte zunächst eigentlich nur schon Bekanntes, was Todesursache, Tatwerkzeug sowie Übereinstimmung von Fund- und Tatort betraf. Verwertbare Fuß- oder Reifenspuren wurden nicht gefunden. Kein Wunder dachte er, ich muss den
Schutzmännern bei Gelegenheit doch mal verklickern, dass man beim Eintreffen am Tatort
nicht alles noch Verwertbare ohne Rücksicht auf Verluste niederwalzt.
Aber der Bericht bot auch gute ermittlungstechnische Ansätze: Die Hofer hatten mehrere Zigarettenstummel der Marke Slavia sichergestellt, die dem möglichen Täter zugerechnet wurden, weil dem Opfer keine Raucherspuren anhafteten. Kein
deutsches Produkt!, da war sich Werner sicher. Könnte also aus dem Nachbarland stammen, spekulierte er. Außerdem fand sich der Hinweis, dass Verletzungen an Händen und Armen den Schluss zuließen, dass sich das Opfer heftig zur Wehr gesetzt haben musste und beim Täter eventuell entsprechende Spuren gefunden werden könnten. Letzteres lasse auch die Vermutung einer unsittlichen Annäherung zu, hieß es in dem Bericht, worauf der hochgeschobene Rock des Opfers hinweise.
Bei der Befragung in der Restauration Weidmannsheil war er auf einen wichtigen Hinweis gestoßen: Die Wirtin, eine Frau Goßler, hatte von einem Besucher der Rosa Messer gesprochen, der am Vormittag des
letzten Samstags mit der Bitte an sie herangetreten sei, mit der Mieterin in
Kontakt zu treten. Sie habe ihn dann nach oben geschickt, weil er sich als
Vertreter eines Verlages vorgestellt und versichert habe, es gehe um eine rein
geschäftliche Besprechung. Ihr war es dabei sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass der
Mieterin eigentlich Herrenbesuche nicht erlaubt seien, denn sie wolle sich auf
keinen Fall der Kuppelei schuldig machen. »Ower däi hout ja scho allerweil davoa g’redt, dass’se a Bouch schreibt«, hatte sie noch hinzugefügt, »nuja, dou howe halt denkt, wird scho pass’n.«
Die Wirtin hatte allerdings den Verdacht für sich behalten, dass dort oben mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nur etwas besprochen worden war. Schließlich hatte sie aus der Kammer rhythmisches Poltern wahrgenommen, das sie dann
doch eher an eine Bettgeschichte denken ließ.
An den Namen des Besuchers konnte sie sich nicht mehr erinnern, aber sie konnte
mit brauchbaren Informationen dienen, was sein Aussehen anging: Besonders
aufgefallen war ihr seine graue Uniformjacke, denn so was trage man doch heute
nicht mehr, dann eine Schiebermütze und schließlich sein schmales Gesicht, »der hout ausg’schaut wäi a Hungerleider«, fügte sie noch hinzu. Zur Frage des Alters konnte sie nur mit der Einschätzung »halt a gunger Hupfer« dienen.
Im Ganzen doch eine vielversprechende Spur!, ging es Werner durch den Kopf. So
was hast du dir doch eigentlich gewünscht für den Anfang in Selb, einen Mordfall, wo die Täterschaft nicht gleich wie ein offenes Buch vor dir liegt und du zeigen kannst,
was du als Ermittler draufhast. Kann dir nicht schaden auf dem Weg zum Ziel!
Zwei gute Ansätze hast du schon mal, überlegte er: eine Zigarettensorte, die aus der Tschechoslowakei stammen könnte, und einen Besucher, vielleicht auch aus dem Nachbarland! Damit geriet
seine Euphorie allerdings ein wenig ins Wanken, denn ihm war bewusst, dass die
Nähe einer Landesgrenze für die Polizei immer eine ungünstige Voraussetzung war. Noch komplizierter wurde die Sache für ihn selbst: Ortsfremd, wie er nun einmal war, hatte er keinerlei Ahnung von
den Gepflogenheiten grenzüberschreitender Zusammenarbeit, und es stellten sich Fragen: Gibt es überhaupt so etwas wie eine funktionierende gegenseitige Amtshilfe? Oder: Sind
die Nachbarn überhaupt bereit zur Zusammenarbeit?
Wer gab die Antworten? Vielleicht sein Vertreter, Inspektor Eigner? Kein guter
Gedanke, ging es ihm durch den Kopf, gerade den Mann um Rat zu fragen, der sich
ebenfalls auf seinen Posten beworben hatte. So im Vorbeigehen eben mal einen
der Schutzleute anzuzapfen, kam auch nicht in Frage. Bald würde es heißen, dass der Neue keine Ahnung von Tuten und Blasen habe. Blieb ihm nur ein
kollegiales Gespräch mit dem Staatsanwalt, dem eigentlichen Herren des Verfahrens. Der war ja
schon vor zwei Jahren nach Selb gekommen und würde sich entsprechend auskennen. Aber Werner verwarf auch diesen Gedanken, denn
von Nürnberg her kannte er die eiserne Regel, diese Herrschaften erst dann zu
bedienen, wenn es handfeste Ergebnisse gab. »Wenn die sich erst mal in die Ermittlungen einmischen, wirst du diese Klugscheißer nicht mehr los«, hatte es geheißen.
Er hatte eine Entscheidung getroffen: Eine Spur konnte in die Tschechoslowakei führen und er würde sofort Nägel mit Köpfen machen. Ohnehin hatte er vor, mit den Dienststellen der Nachbarorte in
Kontakt zu treten, um sich vorzustellen und vor allem auch Möglichkeiten der Zusammenarbeit auszuloten. Er betrat Eigners Amtszimmer und bat
ihn, ihm eine telefonische Verbindung mit der Polizei Asch zu machen. »Ich finde in meinen Unterlagen leider nicht die entsprechende Nummer«, schob er erklärend nach. Die sofortige Hinwendung des Untergebenen zu einer Telefonliste
zeigte ihm, dass er zunächst nichts falsch gemacht hatte.
»Stadt- oder Staatspolizei?«, wollte Eigner wissen.
Werner ging davon aus, dass seine Einstellung für den Mann eine herbe Enttäuschung gewesen sein musste und er deshalb das Wirken des Neuen äußerst kritisch beäugen würde. Befindlichkeiten dieser Art waren ihm von der Landespolizei her zur Genüge bekannt und er nahm sich vor, von Anfang an eine gedeihliche Zusammenarbeit
anzustreben. Freundlich-distanziert wollte er auf den Inspektor zugehen. Um
einen Rat würde er ihn jetzt nicht fragen, aber er konnte ihm schon ein bisschen den Bauch
pinseln. »Also, ich sehe, dass die drüben mit uns vergleichbare Strukturen haben«, begann er, »aber, was jetzt mein Anliegen angeht, da würde ich gerne auf Ihre Erfahrungen zurückgreifen. Also, zunächst möchte ich mich bei denen mal sehen lassen und dann gibt es in unserem Fall
Spuren, die nach drüben führen könnten. Ich werde Ihnen gleich anschließend den Bericht der Kriminaltechnik zukommen lassen.«
Dankbar nahm Eigner das Angebot an: »Ich denke, die Stadtpolizei ist besser für uns. Die wissen ziemlich genau«, führte er aus, »was in ihrer Stadt so läuft.« Diese Feststellung musste allerdings begründet werden und damit sah er die Chance für sich, sein Herrschaftswissen an den Mann zu bringen und dem Neuen damit seine
Grenzen aufzuzeigen.
Werner bekam einen Einblick in das fragile Nebeneinander zwischen Deutschen und
Tschechen im Nachbarland. Im Ascher Ländchen, erfuhr er, lebten, so wie im gesamten Sudetenland, mehrheitlich Menschen
deutscher Herkunft. Die Leitungsfunktionen staatlicher Behörden seien aber fast ausschließlich mit Tschechen besetzt. »Und die«, ließ Eigner einfließen, »mögen die Deutschen und damit auch uns auf der anderen Seite nicht so recht.« Mit dem Hinweis, er könne da Sachen erzählen, die »Sie gar nicht glauben wollen«, leitete er zu einer Reihe von Beispielen über, die »tschechische Hinterfotzigkeit« belegen sollten. Schließlich fand er wieder zurück zur Ascher Stadtpolizei: Diese kommunale Behörde sei in Übereinstimmung mit der Bevölkerungsmehrheit natürlich fest in deutscher Hand. »Sogar der Leiter, ein gewisser Kotschenreuther, ist ein Deutscher«, schloss er.
Werner war erfahren genug, jetzt nicht mit Staunen oder gar Dankbarkeit zu
reagieren. Freundlichkeit, aber auch kritische Distanz waren angesagt. Nach dem
banalen »Sachen gibt’s« stellte er Eigners ein bisschen zu offen an den Tag gelegte Selbstgefälligkeit in Frage: »Ein bisschen vermisse ich in Ihren Ausführungen doch die Behandlung der Ursachen dieser, man könnte ja wohl sagen, Missstimmung zwischen Deutschen und Tschechen, die aus
meiner Sicht nicht nur eine Seite zu verschulden hat.«