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Anfang des 20. Jahrhunderts in Brandenburg... In einer schwülen Gewitternacht wird das Findelkind Clara auf der Türschwelle der Freiherrenfamilie derer von Rathenow gefunden. Die Haustochter Tatjana ist entzückt von dem Kind, kann aber nicht verhindern, dass es in ein Waisenhaus kommt. Zunächst jahrelang getrennt, nur verbunden durch kurze Briefwechsel, rückt das Schicksal Clara und Tatjana später eng zusammen, und es stellt sich die Frage, ob es "Das Gute" und "Das Böse" in dieser Welt überhaupt gibt.
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Seitenzahl: 364
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Antje Elsäßer
Dunkler Stern
Der englische Naturphilosoph John Michell (1724-1793) vermutete, dass es im Universum dunkle Sterne geben müsse, deren Gravitation ausreiche, um Licht gefangen zu halten.
Texte
©Copyright by Antje Elsäßer
Umschlagsgestaltung
©Copyright by Antje Elsäßer
Verlag
Antje Elsäßer
Ensisheimer Straße 34
79395 Neuenburg am Rhein
Druck
Epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Kapitel 1
Schwüle breitete sich lautlos über die Welt und hieß die Zeit stillstehen. Nicht der leiseste Lufthauch regte sich, die Wellen des Sees waren in der Unendlichkeit gebannt, und die Mücken im Schilf in einer ewigen Sekunde erstarrt. In dieser Sommernacht waren selbst die Grillen verstummt. Über den dunklen Kiefern wetterleuchtete es, und ganz weit in der Ferne durchdrang ein leises Grollen die verzauberte Natur.
Aus den hohen Fenstern des Herrenhaus derer von Rathenow fiel ein Lichtschein auf die gepflasterte Auffahrt und schien, gemeinsam mit beschwingter Klaviermusik, dieser magischen Stunde zu trotzen. Schon die zahlreichen Kutschen und Chaisen, die kaum alle Platz in der Remise gefunden hatten, ließen eine größere Gesellschaft vermuten.
Im Salon hatten die zahlreichen Gäste soeben eine musikalische Darbietung von einem Fräulein Daaben genossen, eine junge aufblühende Künstlerin der Berliner Oper. Man applaudierte, Christine Daabens gedrehte Löckchen wippten auf ihrer Schulter, als sie sich, errötend unter ihrem Rouge, graziös verbeugte und von der Hausherrin persönlich ein Champagnerglas überreicht bekam: „Carl Loewe wäre von ihrem Vortrag hingerissen gewesen,“ flötete Caroline von Rathenow, und ihr Lachen perlte wie der Champagner im Kelch.
Von einem hochlehnigen Ledersessel aus, beobachtete der alte Freiherr Nikolaus von Rathenow die Szene. Er war eine imposante Gestalt, schlohweißes Haar umloderte sein strenges Gesicht mit der markanten Nase, und seine gletscherblauen Augen blickten kühl zu seiner erheiterten Tochter hinüber. „Das rosafarbene Kleid, und dann dieser Ausschnitt, Caroline ist doch keine Zwanzig mehr,“ dachte er etwas unwirsch, genauer gesagt war sie gut zehn Jahre älter. Er fuhr regelrecht zusammen, als die Dame des Hauses etwas lauter kicherte: „Aber lieber Conrad, so lies‘ uns doch aus deinem neuen Buch „Verbotenes Rendezvous“, weiter vor, die Passage mit dem herrlichen Sonnenuntergang in den Sanddünen von Hiddensee…,“
Warum nur war er ihr gegenüber so tolerant, müsste er als Vater und vor allem als Freiherr von Rathenow in herausragender gesellschaftlicher Stellung nicht strenger durchgreifen? Doch im selben Moment schon wusste er die Antwort, als ein zartes herzförmiges Gesicht, umrahmt von zwei blonden Zöpfen vor seinem inneren Auge erschien und ihn mit flehenden blauen Augen anblickte. Unwillkürlich zuckte er zusammen und räusperte sich: „Genug, meinst du nicht, wir sollten die Kinder holen, sonst wird es für sie zu spät, liebe Tochter!“
Die Worte des Freiherren waren jovial, seine Stimme jedoch duldete keinerlei Widerspruch.
Nikolaus von Rathenow maß den hageren Dichter Conrad von Crautwitz mit geringschätzigem Blick. Dieser junge Schönling mit den Pickeln auf der Stirn, war seit einigen Monaten der Galan seiner Tochter. Schlimm genug, dass diese sich vor einigen Jahren, nach der Geburt ihrer beiden Töchter von ihrem Gatten, einem strammen Militär, hatte scheiden lassen. Aber nun, die Liaison mit diesem crautwitzigen Conrad hatte ihr jetzt endgültig den Ruf einer „Femme Fatale“ eingebracht.
Nichts desto trotz, ihre intellektuellen Zirkel waren bei den brandenburgischen Familien von Rang und Namen beliebt, man nannte sie gerne die Rahel Varnhagen vom Lande.
Nun drehte sich Caroline von Rathenow schwungvoll zu ihrem Vater herum und sagte dann auch im gehorsamen Tochterton: „Du hast recht, lieber Papa, Tatjana und Cecilia sollen kommen!“
Von einer Kinderfrau begleitet, traten denn auch bald zwei niedliche Mädchen in den Salon. Tatjana, die ältere, etwa zehn Jahre alt, hatte ihr rötlich braunes Haar in offenen Kaskaden über ihre Schultern fließen lassen. Sie blickte dunkel und ernst zu den Gästen und nickte hier und da höflich in die Runde. Vor der alten Geheimrätin Kruse deutete sie einen leichten Knicks an.
Cecilia, die etwas jüngere, hatte herrlich goldglänzendes Haar, welches sie keck zu einer Hochfrisur aufgesteckt hatte, der aber einige kleine Löckchen gewollt entwichen waren. Ihre blauen lustigen Augen blickten einmal schnell im Saal umher, bevor sie sich rasch ans Pianoforte setzte und mit flinken Fingern einen Walzer zum Besten gab. Dann nickte sie ihrer Schwester zu, die sich mit einem Notenblatt zu ihr gesellte und, von ihr begleitet, ein kleines Lied anstimmte: „Komm lieber Mai…“ Tatjanas Stimme war hell und klar, fast knabenhaft und ohne jegliches Vibrato. Die Gesellschaft lauschte ergriffen und ergötzte sich an dem Bild der beiden musizierenden Kinder.
Zum ersten Male an diesem Abend wurden die Gesichtszüge des alten Freiherren weich, und seine Augen leuchteten voller Stolz in Betrachtung seiner beiden Enkelinnen. Entsprechend war dann auch der Beifall, und die Kruse flüsterte zu ihrer Nachbarin, Frau von Castelwitz: „Aus der kleinen Cecilia wird noch etwas Großes, sie werden sehen, meine Liebe!“ Die ältliche Gutsbesitzerin nickte zustimmend, bevor sie ergänzte: „Und die niedliche Tatty versteht es recht gut mit Pinsel und Farben umzugehen. Ich habe jüngst ein Aquarell von ihr gesehen.“
In diesem Moment klatschte Caroline von Rathenow gut gelaunt in die Hände: „Zu Tisch, zu Tisch, meine Lieben, es ist angerichtet!“ Mit Schwung klappte sie ihren Fächer zusammen und wies mit diesem in Richtung Speisesaal, dessen Flügeltüren nun von zwei Hausdienern geöffnet wurden. Ihr Vater runzelte abermals die Stirn, fand er das Benehmen seiner Tochter wieder einmal abgeschmackt und undamenhaft. Vielleicht bemerkte man auch daran, dass ihr als kleines Kind schon die Mutter gefehlt hatte? Nun denn… mit Hilfe eines Gehstocks, dessen Spitze ein silberner Löwenkopf zierte, erhob er sich, nahm die Geheimrätin Kruse an den Arm und geleitete sie zur gedeckten Tafel. Dieses Ritual vermisste er bei Conrad von Crautwitz, der über seine zwei linken Beine stolperte, und von seiner Geliebten aufgefangen werden musste. Caroline lachte und küsste ihren „Kleinen“ ungeniert auf die Nase. „Wo sind die Mädchen?“ fragte er verärgert, und seine Tochter erwiderte: „Sie essen bei Martha in der Küche, du weißt doch, wie sie das lieben!“ Nikolaus brummte unwirsch, schluckte eine bissige Antwort aber im letzten Moment herunter.
Es wurde immer drückender und schwüler, und auf Geheiß des Familienoberhauptes wurden nun zwei Fenster geöffnet. Bald wehte eine erfrischende Brise über den gebratenen Truthahn und die Schüsseln mit Salaten aller Arten. Fräulein Daaben, gerade hatte sie ihre Potage gelöffelt, schrie plötzlich in ihrem höchsten Diskant: „Mon Dieu, es hat geblitzt, und sehen sie, dort hinten fegt ein strenger Wind durch den Kiefernwald!“ Man blickte durch die geöffneten Fenster auf die sich biegenden Baumwipfel im fahlen Mondlicht. „Kindchen, wer wird denn Angst vor…“ begann die Kruse mit tiefer beruhigender Stimme, als ein gewaltiger Donnerschlag krachte, der das chinesische Porzellan in der Vitrine erzittern ließ. Gleichzeitig knallten die Fensterflügel, und wurden hastig von Major Stendal geschlossen. Nun ging ein prasselnder Sturzregen hernieder, der alles hinwegschwemmte, was sich ihm in den Weg stellte. Die Gesellschaft hielt mit dem Mahl inne, und Frau von Castelwitz bemerkte: „Dieses Wetter wird uns nachher die Heimfahrt erschweren, ich bin nicht zum ersten Male mit meiner Kutsche im Morast stecken geblieben!“
Caroline von Rathenow, um die gute Stimmung besorgt, schlug mit ihrem Fächer auf die Tischkante und rief: „Champagner, wir wollen anstoßen!“ „Auf unsere Gastgeberin!“ scholl es ihr nun von allen Seiten entgegen und die Gläser klangen…
Die Natur wurde immer zorniger…
Wilde Sturmböen peitschten nun durch die Baumwipfel, von der 300 Jahre alten Linde im Garten brach krachend ein Ast. Das schwarze Wasser des Sees türmte sich zu meterhohen Wellen, die laut und unbändig gegen das Ufer schlugen, und dunkle Wolken jagten über den Himmel und wurden fast ununterbrochen von aufflammenden Blitzen beleuchtet. Schauerlich rumpelnd ließen die Donner die aufgewühlte Welt erbeben… Da… ein leiser Schrei, ein Wimmern fast! Eine feine menschliche Stimme, doch hatte sie schon verloren gegen das ohrenbetäubende Lärmen, den tosenden Sturm, gegen die wutschnaubenden Geister der Natur…
In der Küche ging es lustig zu, Martha war mit roten Backen dabei, das Dessert, ein Griesflammerie, mit Kirschen zu verzieren, dabei schob sie den beiden Mädchen löffelweise die Süßspeise in den Mund. „Noch einen,“ bettelte Cecilia und öffnete ihre verschmierte Schnute. „Ich bin dran,“ Tatjana riss ebenfalls ihren Mund auf, und Martha segelte elegant mit zwei Löffel – Reihern gleichzeitig in die hungrigen Mäuler. Alle drei lachten herzlich, nur Marie, das Küchenmädchen maulte: „Ich will Feierabend haben, tragen wir lieber den Nachtisch auf!“ „Wir kommen mit!“ bestimmte Cecilia sofort, witterte sie darin doch eine Chance dem Bett noch eine Weile zu entgehen. Doch Martha schüttelte schon resolut den Kopf: „Es ist schon sehr…,“ „Aber Martha,“ schmeichelte Tatty, „Wir wollen doch nur Gute Nacht sagen!“ Dagegen konnte nun auch die Herrin der Küche nichts sagen.
„Also gut, ganz kurz!“ seufzte sie und betrat wenig später mit ihren Schützlingen den Speisesaal.
Dort war indes eine deutlich bemerkbare Eile ausgebrochen, schnell noch das Dessert…
Die Aussicht auf eine unangenehme Heimfahrt hatte doch Spaß und Appetit erheblich reduziert.
„Die Kutscher sollen schon mal anspannen lassen“, schmatzte die Kruse mit einer Kirsche im Mund und drückte noch gleichzeitig den beiden Mädchen einen Gutenachtkuss auf die Wangen.
Schon wenig später kämpften die Dienstmädchen mit Hüten, Mänteln und Stolas und verteilten alles unter die Gäste, dann öffnete Hausdiener Hansen die große Tür, indem er sich mächtig mit einem heftigen Windstoß anlegen musste. Da…wieder ein leises Wimmern. Hansen blickte erstaunt auf die oberste Treppenstufe und gewahrte ein seltsames dunkles Bündel. „Beim Deubel, wat iss dat?“ entfuhr es ihm und eilte durch den prasselnden Wasservorhang. Inzwischen quoll auch die erlesene Gesellschaft aus dem Portal und Fräulein Daaben versuchte energisch gegen einen Donner anzukämpfen: „HAANSEN, einen Schirm!!“ Der Gerufene, Wasserbäche flossen von seinem grauen Haar in den Kragen, kam mit erschütterndem Gesichtsausdruck und einem Stoffbündel zurück: „Herr von Rathenow!! Wo ist der gnädige Herr?“ schrie er, drückte die Daaben mit feuchten Händen beiseite und stürmte ins Haus. Eine durchgehende Wasserspur hinterlassend, eilte er ins Kaminzimmer, wo das würdige Familienoberhaupt sich mit einer Zigarre und dem zotteligen Zeus gemütlich niedergelassen hatte. Zeus hob nur etwas desinteressiert seine empfindliche Bernhardinernase, während Freiherr von Rathenow sein Faktotum etwas kritisch musterte. „Gibt es irgendein Problem Hansen?“ fragte er kühl und blickte einer Rauchschwade nach. „Herr, Herr, seht selbst…“ Er stürzte zum Lehnsessel und hielt seinem Herrn das durchweichte Stoffbündel unter die Adlernase. Der alte Freiherr fuhr zurück, starrte erst auf das Bündel, dann auf seinen Diener und rief erstaunt: „Ein Kind!! Wo haben sie das her, um Himmel Willen?“ „Es lag auf der obersten Stufe der Freitreppe, gnädiger Herr!“ Der alte Rathenow starrte wieder auf den Säugling, der wohl erst wenige Stunden alt sein mochte. „Es ist ein Zigeunerkind … das schwarze Haar der dunkle Teint. Fahrendes Volk wird es uns hier abgelegt haben!“ Inzwischen waren auch Caroline und die anderen neugierigen Gäste ins Zimmer getreten. „Man will den Rathenows ein Kuckucksei unterschieben!“ plusterte sich Geheimrätin Kruse wichtigtuerisch auf. Major Stendal schüttelte empört den Kopf und die kleine muntere Cecilia rief: „Wenigstens haben sie es nicht aufgegessen, sondern nur hier abgelegt!“ Sie hüpfte aufgeregt um ihren Großvater herum. Das Kind lag still in Hansens Armen und blickte mit seinen großen blanken Augen auf den Freiherrn, der sich irgendwie irritiert fühlte. „Heute soll sich Martha drum kümmern, morgen verständigen wir das Waisenhaus in Templin!“ Er wollte schon mit einer Handbewegung die Gäste zum Gehen auffordern, da trat die kleine Tatjana hinzu und blickte das Findelkind ruhig an. „Es ist so wundervoll, es ist ein Mädchen und soll Clara heißen.“ Leicht strich sie dem Kind durch die dichten schwarzen Locken. Der Großvater runzelte die Stirn: „Lass das, Tatty. Das Kind gehört nicht zu uns, ruf Martha!“
Als Martha den Säugling später auswickelte bestätigte sich Tatjanas Aussage: Sie hatten ein kleines Mädchen vor sich liegen, und in Ermangelung eines Namens nannten sie es, ganz nach Tatjanas Willen, Clara!
Kapitel 2
„Ach Conradchen, lass gut sein!“ Carolines perlendes Lachen erfüllte den Wintergarten, wo jeden Sonntag das Frühstück eingenommen wurde. Sie liebte den jungen Literaten wie ein Schoßhündchen, seit sie ihn das allererste Mal bei einer Vorlesung in einem Kaffeehaus am Kurfürstendamm gehört hatte. Wie erotisch war da seine sonst eher zurückhaltende Stimme angeschwollen, als er sich den wirklich fundamental brennenden Stellen seines neusten Romans hingegeben hatte.
Der junge Conrad von Crautwitz umfasste die Taille seiner Freundin und war im Begriff mit seiner Hand noch etwas höher zu wandern, als Caroline ihn dann doch energisch zurückwies: „Lass nur, Vater kommt gleich, und du weißt doch wie er…,“ In diesem Moment hörten sie fröhliche Kinderstimmen und nur wenige Augenblicke später stürmten Celly und Tatty, in allerliebsten geblümten Chiffonkleidern herein und kletterten übermütig auf die Korbstühle.
„Martha bringt gleich Pfannekuchen, sie muss sich nur erst um Clara kümmern,“ erklärte Celly wichtig ihrer Mutter während sie Crautwitz komplett ignorierte. Desgleichen Tatty, die ihre Mutter bittend ansah und sagte: „Bitte Mutter, ich möchte, dass Clara bei uns bleibt, Großvater will sie in ein Waisenhaus geben, bitte Mutter!“ Caroline von Rathenow sah ihre älteste Tochter verständnislos an: „Tatjana hör auf albern zu sein, ein Kind über dessen Herkunft man nichts weiß…“ Da musste sie wieder lachen, denn Conradchens Hand hatte an ihrem Oberschenkel Gefallen gefunden. Cecilia und Tatjana sahen sich genervt an, oh wie hassten sie den pickeligen Galan ihrer Mutter. Dann änderte sich die Stimmung schlagartig: Freiherr Nikolaus von Rathenow trat würdevoll in den Wintergarten, und seine beiden Enkelinnen sprangen sofort auf, knicksten und wünschten Großvater einen wundervollen GUTEN MORGEN! Der lächelte, nickte seiner Tochter zu und ignorierte Conrad von Crautwitz. Jetzt, da die Runde komplett war, wurde das Frühstück aufgetragen. Marie servierte Kaffee und Schokolade, Martha kam mit Weißbrot und den heiß ersehnten Pfannekuchen. Bei Tisch duldete das Familienoberhaupt kein kindliches Geschwätz, und so musste sich Tatty bis zur letzten Tasse Kaffee gedulden, bevor sie ihre bebenden Worte an den Großvater richtete. „Liebster Großpapa, ich möchte dir wegen Clara etwas…“ Mit einem hoheitsvollen Wisch seiner Hand durch die Luft war dieses Thema ein für alle Mal erledigt. Tatjana senkte traurig den Kopf und schwieg bis die Tafel aufgehoben wurde…
Nun begann es leise auf das Glasdach des Wintergartens zu prasseln. Das Unwetter von gestern Abend hatte sich zwar beruhigt, aber die Nachwirkungen in Form eines düster bewölkten Himmels und der jetzt beginnende Regen erinnerten noch daran. Da kam dem Mädchen plötzlich eine Idee und nur mit Mühe konnte sie ihre Freude verbergen. „Tatjana, Cecilia, nehmt eure Stickrahmen und geht auf eure Zimmer,“ hörte sie sie die etwas ungeduldige Stimme ihrer Mutter, die sicherlich den Sonntagmorgen allein mit diesem Crautwitz verbringen wollte. Auch der Großvater hatte sich erhoben, denn er wollte sich in die Bibliothek zurückziehen: „Nachher lesen wir weiter in der Ilias,“ zwinkerte er seiner ältesten Enkelin zu und er wunderte sich, dass die Aussicht auf Achill und Odysseus heute wenig Wirkung zeigte. Tatty rauschte ab, doch statt sich mit dem verhassten Stickrahmen auf ihr Zimmer zu verziehen, steuerte sie direkt die Personalräume an und stand alsbald in Marthas Reich. „Martha, wo ist sie, kann ich sie sehen?“ rief sie gleich und vergaß fast dabei zu atmen. Die rundliche Köchin mit den Lachfältchen in den Augenwinkeln lächelte: „Deine Clara schläft, sie hat Milch getrunken und ist frisch gewickelt. Komm mit.“ Leise trat Tatjana an das Körbchen, welches Hansen noch gestern vom Dachboden geholt hatte, und in dem sie selbst einmal gelegen hatte. Das zarte feine Gesicht mit den langen schon etwas gelockten dunklen Haaren und das weise Lächeln, verliehen dem schlummernden Kind eine fast überirdische Schönheit. Tatjana war hingerissen und berührte ganz sacht das kleine geschwungene Näschen. „Erzähle Martha, wie ist sie, hat sie geschrien?“ Martha schüttelte den Kopf: „Ein so seltsames Kind habe ich mein Lebtag noch nicht gesehen. Keinen Mucks hat sie gemacht, aber angesehen hat sie mich mit ihren großen dunklen Augen und gelächelt hat sie.“ Der Köchin standen die Tränen in den Augen. „Nicht wahr, du willst auch, dass sie bleibt?“ „Der gnädige Herr wird es nicht erlauben, er müsste auch ein Kindermädchen einstellen, das sich richtig um das Baby kümmern kann.“ Martha suchte schnell nach einem Taschentuch. „So bald kann sie aber nicht fortgeschickt werden,“ rief Tatty auf einmal triumphierend, „Sieh aus dem Fenster, es regnet, die Wege sind aufgeweicht, überall stehen Pfützen. Hansen wird mit der Kutsche so niemals bis Templin kommen!“ Martha schnäuzte sich geräuschvoll: „Kind, du hast recht, heute wird es wohl nichts!“
Es war so, wie Tatjana vermutet hatte. Der Freiherr hatte nach einem ernsten Gespräch mit seinem Kutscher eingeräumt, die Fahrt so lange zu verschieben, bis das Wetter sich wieder verbesserte.
Nikolaus von Rathenow war schlechter Laune, hatte er doch gerade einen Korb von seiner geliebten Enkelin bekommen. Sie hatte tatsächlich den sonst so heiß begehrten Homer verschmäht, nur um diesen seltsamen Wechselbalg besuchen zu können. Das gefiel ihm gar nicht. Mit gefurchter Stirn wandte er sich Richtung Musikzimmer, wo er seine immer lebenslustige Tochter singen hörte, stümperhaft begleitet von dem Pianoforte. „Au, schon wieder ein F, das Stück steht in G - Dur, Crautwitz!“ Voller Unwillen trat er in den Salon, wo Conradchen sich sofort auf den Tasten verhedderte und nur noch ein „b“ zum Besten gab. Sein Pickel auf der Stirn glühte, als das Familienoberhaupt den Deckel zuschlug. „Ach Papa…“ Caroline eilte ihrem Vater entgegen, eine üppige Erscheinung in fliederfarbenem Gewande, und küsste ihren Vater ungeniert auf die Wange: „Conradchen übt noch, sei nicht so streng!“ Wie immer, würdigte der Freiherr den Erwähnten keines Blickes: „Caroline, ich muss sofort mit dir reden, über Tatjana.“ „Väterchen, lass gut sein. Es ist doch ganz normal, dass sich ein zehnjähriges Mädchen in einen Säugling vernarrt. Lass sie doch. In ein, zwei Tagen ist das Problem von selbst aus der Welt geschafft!“ Caroline drehte sich mit einem pikanten Hüftschwung zu ihrem verkrachten Musiker herum, zwinkerte ihm unwiderstehlich zu und bettelte süß: „Liebling, und jetzt bitte die „FORELLE“.
Der alte Freiherr war zutiefst erzürnt. Leider gestattete ihm das Wetter nicht mit Zeus einen Waldspaziergang zu unternehmen, so begab er sich auf die Suche nach seiner zweiten Enkelin.
Es war wie ein Sonnenstrahl in seinem Herzen, als er Cecilia am Cembalo üben hörte. Virtuos sprangen ihre kleinen Finger über die Tasten und mit einem Male wusste er, dass aus diesem Mädchen einmal etwas ganz Großes werden konnte. Er sah sie bereits auf der Musikakademie in Berlin… „Hoffentlich erlebe ich das noch“, dachte er wehmutsvoll und schlich leise davon, um sie nicht zu stören.
3. Kapitel
Freiherr Nikolaus von Rathenow stand hinter dem schweren Brokatvorhang seines Arbeitszimmers und blickte mit gerunzelter Stirn in den Garten hinunter. Dort rannten zwischen den hundertjährigen Eichen seine beiden Enkelinnen vergnügt umher, Tattys Puppenwagen schiebend. „Komm, wir zeigen ihr den Brunnen!“ hörte er Celly rufen, „den findet sie bestimmt lustig!“ Beide Kinder machten eine scharfe Kehrtwende und verschwanden im Innenhof des Herrenhauses, auf den der Freiherr keinen Blick mehr hatte.
In jenem Innenhof stand, umsäumt von Blumenrabatten ein kleiner zierlicher Brunnen in Muschelform, in dessen Mitte ein rundlicher Armor einen Fisch im Arm trug. Aus dem Maul desselben plätscherte ein Wasserstrahl in die Brunnenschale. Die Kinder liebten diesen Brunnen heiß und innig, besonders wenn es so ein warmer Tag war wie heute. Vorsichtig hob nun Tatty das Findelkind aus dem Wagen und ging mit ihm zum Brunnenrand. Das Kind war ganz still und in seinen großen dunklen Augen spiegelten sich die glitzernden Wassertropfen. „Na siehst du, Clara gefällt das Wasserspiel,“ konstatierte Celly sachlich und hielt ihre Hand unter den Strahl. „Sie ist wunderbar,“ schwärmte Tatjana: „Ich wünschte, Großpapa würde das auch so sehen!“ Sie tauchte ihren Finger ins kühle Wasser und verkniff es sich gerade noch rechtzeitig, ihre Schwester nass zu spritzen.
Statt dessen blickte sie zu dem wolkenlosen Himmel auf: „Celly, komm, lass uns einen Regentanz aufführen, so wie die Indianer in Südamerika!“ Die kleine Schwester blickte sie verdutzt an: „Ich liebe aber das herrliche Wetter, ich liebe die Sonne, das Singen der Vögel und ich liebe es…,“ sie machte eine kurze Pause, dann griff sie in den Wasserstrahl und lachte: … dich nass zu spritzen!!“
Tatjana, sonst immer für allerlei Unsinn zu begeistern, schwieg betreten… „Du weißt genau, warum wir ab jetzt nur noch schlechtes Wetter haben dürfen!“
In diesem Augenblick rief Marthas Stimme sie zum Mittagessen, welches sie, dank des Sonnentages, auf der Rosenterrasse hatte anrichten lassen.
Während des Essens, es gab Hansens frisch gefangene Forellen, schwieg der Freiherr beharrlich, und so wagte auch kein anderer zu sprechen. Erst nach dem Dessert tupfte er sich mit der Serviette den Mund, wandte sich an die beiden Kinder und sprach: „Tatjana, Cecilia, ich dulde jetzt keinen Widerspruch! Hansen wird nachher die Kutsche anspannen, und ich werde mit ihm und dem Kind nach Templin fahren. Clara kommt in das dortige Waisenhaus, Punkt!“ Es zuckte verdächtig in Tatjanas Gesicht, und sie versuchte krampfhaft zu blinzeln, um ihre Tränen dem Großvater nicht zeigen zu müssen. „Warum nur?“ presste sie zitternd hervor und wusste bereits die Antwort, bevor sie kam: Natürlich, ein Zigeunerkind passte nun einmal nicht in dieses Haus. Nikolaus von Rathenow bemerkte den inneren Kampf seiner ältesten Enkelin sehr wohl, er ergriff ihre Hand und drückte sie väterlich. Da kam Tatty eine Idee: „Großvater, darf ich Clara eine Patin werden? Ich würde ihr gerne ein Geschenk mit auf den Weg geben!“ Der alte Herr war erstaunt, wie wichtig dem Mädchen dieses Anliegen war, und so beschloss er, ihr diese letzte Freude zu lassen. „Gut, mein Kind! Geh und pack ihr ein Geschenk ein, in einer Stunde brechen wir auf!“
Zutiefst erschüttert eilte Tatjana nun auf ihr Zimmer. Sie öffnete die eichene Truhe neben ihrem Bett, in welcher sie allerlei Schätze aufbewahrte. Sie wühlte ein wenig gedankenlos herum, bis sie schließlich eine Kette aus bunten Glasperlen in der Hand hielt. Sie hob dieses Schmuckstück gegen das Fenster, und die hereinscheinende Sonne ließ die Perlen in verschiedenen Farben erstrahlen. „Wunderschön,“ dachte sie, „ich glaube das ist ein passendes Geschenk für Clara.“ Dann zog sie ein kleines besticktes Stoffbeutelchen aus der Truhe und legte die Kette behutsam hinein.
Plötzlich durchfuhr sie ein eisiger Gedanke: Wenn Clara einmal älter war, dann würde sie sich vielleicht über das Schmuckstück freuen, aber sie würde keine Ahnung haben von woher es stammte, und dass es jemanden gab, der sie unendlich liebhatte. „Ich schreibe ihr einen Brief!“ entschloss sie sich, setzte sich rasch an ihren Sekretär und zog das blaue Briefpapier aus einer Lade…
„Tatjana, so komm, wir fahren!“ Zum zweiten Mal schon rief ihr Großvater nach ihr, als sie endlich ihren Schlusspunkt setzte und in feinen Schnörkeln ihren Namen darunter schrieb. Rasch steckte sie das Kuvert in das Stoffbeutelchen, flog die geschwungene Treppe der Eingangshalle hinunter und eilte hinaus, wo Hansen mit der Kutsche abfahrbereit wartete. Martha hielt Clara auf dem Arm. „So Kind, verabschiede dich von ihr, kurz und schmerzlos! Ich werde den gnädigen Herrn nach Templin begleiten!“ Traurig beugte sich Tatty über den Säugling, da, plötzlich fing dieser herzerschütternd an zu weinen. Tatjana zerriss es das Herz, sie… Der Freiherr packte sie scharf am Arm und befahl ihr: „Tatjana, du gehst ins Haus und liest deine französische Lektüre. Heute Abend sprechen wir darüber!“
Wortlos übergab das Mädchen Martha den Stoffbeutel, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand im Haus.
Die ganze Fahrt saß der Freiherr schweigsam und blickte aus dem Fenster. Sie durchfuhren blühende Wiesen und Felder und immer wieder blitzte blaues Wasser der tausend Seen in der Landschaft. Nikolaus von Rathenow liebte dieses Land, das Land seiner Väter, seiner Vorfahren. Und er hoffte diese Liebe an seine beiden Enkelinnen weiter geben zu können. Wenn dieses unselige Kind erst einmal aus ihrem Leben verschwunden war, dann würde auch seine Tatjana wieder zur Vernunft kommen, dessen war er sich sicher…
Schließlich holperte die Kutsche über das Templiner Kopfsteinpflaster und hielt vor einem alten Haus, dessen gelber Putz bröckelte, aber vor dessen Fassade wunderschöne bunte Stockrosen blühten.
Ihr Erscheinen wurde sogleich bemerkt, denn eine hochgewachsene hagere Frau in Schwesterntracht trat aus der Tür und wartete, bis der Freiherr, Martha und das Kind aus der Kutsche geklettert waren.
„Soeur Amandine, was verschafft mir die Ehre?“ Mit ihrem kantigen Gesicht blickte sie den Freiherren etwas abweisend an. „Eine alte Hugenottin,“ durchfuhr es diesen, er räusperte sich und erzählte kurz, was sich in seinem Hause ereignet hatte. „Zeigen sie mir das Kind!“ forderte die Heimleiterin Martha auf. In diesem Augenblick stürmten drei Kinder aus dem Garten, alle rotznasig, aber offensichtlich vergnügt beim Fangen spielen. Soeur Amandine klatschte zwei Mal knallend in ihre knochigen Hände und rief: „Luise, Tine, ihr solltet Carla in der Küche beim Bohnen schnippeln helfen, und du Jörg, wolltest du nicht die Räder des Wagens ölen?“ Der Freiherr nickte wohlwollend: „Madame, eure starke Hand formt diese Rangen zu guten brauchbaren Menschen, meine Hochachtung.“ Soeur Amandines Mund erweiterte sich zu einem Strich: „Wir bringen das Kind in der Säuglingsstube unter.“ Dann sprach sie leise, mehr zu sich selbst: „Ein so dunkles Ding, es wird ein Zigeunerkind sein!“ Sie betraten das Haus… die knarrenden Dielen, die alten Tapeten atmeten Vergangenheit. Vorbei am Esszimmer, zwei Schwestern deckten die Tische für das Mittagessen ein, gelangten sie in eine kleine Kammer, wo einige Gitterbettchen standen. Nur zwei waren belegt, und die alte Hugenottin dirigierte Martha zu dem am Fenster stehenden Bett. „Legen sie es dort ab, dann erledigen wir in meinem Büro die Formalitäten!“ Martha gehorchte und warf einen letzten wehmütigen Blick auf das Kind.
Später beim Verabschieden räusperte sich der alte Freiherr, einen Anflug von schlechtem Gewissen unterdrückend: „Soeur, ich wünsche, dass es diesem Kind hier wohl ergeht, und dass es zu gegebener Zeit die Dorfschule besuchen kann, und…,“ hier griff er nach einem Lederetui und zog einen großen Geldschein heraus, den die Alte etwas zu hastig ergriff: „Ich möchte, dass es ihr hier gut geht… meine Enkelin Tatjana ist ihre Patin,“ fügte er plötzlich noch, ohne nachgedacht zu haben, hinzu. „Unseren Kindern geht es hier den Umständen entsprechend gut, vielen von ihnen besser, als sie es in ihren kaputten Elternhäusern je gehabt haben, seien sie versichert Herr von Rathenow!“ Die hagere Frau machte eine Andeutung einer Verbeugung, die gleichzeitig hieß, dass diese Visite nun beendet sei.
Rumpelnd verließ die Kutsche den Hof und ratterte nun wieder dem Rathenowschen Herrenhaus entgegen.
Am Abend zog sich der alte Freiherr in seine Bibliothek zurück, er hatte das unbedingte Bedürfnis allein zu sein, denn nicht ganz spurlos war der heutige Tag an ihm vorbeigegangen. Hansen hatte ihm eine Flasche „Pinot Noir“ auf den Schreibtisch gestellt, und Nikolaus von Rathenow goss den edlen Tropfen nun etwas gedankenverloren in ein Kristallglas. Dabei starrte er auf die kleine Miniatur in dem Edelholzrahmen, die zwischen einer griechischen Bronzestatue, einem geflügelten Hermes, und einem Briefbeschwerer ihren Platz gefunden hatte. Das Bild zeigte das Portrait eines jungen Mädchens. Ein Lächeln erleuchtete das zarte herzförmige Gesicht und die strahlenden blauen Augen blickten ihn vertrauensvoll an. „Emilia,“ flüsterte er, und der Rotwein brannte in seiner Kehle. „Verzeih mir!“
4. Kapitel
Unaufhörlich rollten die Wellen an den Strand von Hiddensee und laut aufjubelnd stürzten sich Cecilia und Tatjana immer wieder in die weiße Gischt. Sie hatten beide neue blau weiß gestreifte Badekleider an und sahen, wie ihre Mutter Caroline bemerkte, allerliebst aus. Caroline hatte sich mit Conrad in einen der Strandkörbe zurückgezogen und winkte ihren Töchtern hin und wieder mit ihrem cremefarbenen Sonnenschirmchen zu. „Sie mögen mich nicht!“ hörte sie auf einmal eine seufzende Stimme neben sich: „Ach Conradchen, gib ihnen Zeit. Bedenke, sie hatten einen strammen Vater, einen General, eine Respektsperson. Du, mein Lieber, entsprichst eben nicht so ganz der Vorstellung eines Vaters für sie!“ Der junge Mann verdrehte die Augen, „ich werde nie so sein wie er, selbst wenn ich es wollte!“ Freiherrin Caroline tätschelte ihrem Schriftsteller liebevoll die Wange: „Oh Schatz, du sollst auch nie so werden wie er!“ Eine Möwe schrie über ihren Köpfen, als Caroline sich ihm nahe zuwandte und Conrad wie im Rausche ihre erfahrenen Hände küsste. Caroline lächelte, sie wusste, sie war seine Muse und er war ihr mit Haut und Haaren verfallen.
Etwas weiter unten am Strand spazierte Freiherr Nikolaus von Rathenow, die bloßen Füße im Wasser, und bückte sich ab und an nach schönen Muscheln, die er Tatty und Celly schenken wollte.
Dann atmete er tief durch und schaute auf den unendlichen Horizont, eine gerade Linie, hinter der doch noch so Vieles verborgen lag. Hier, und nur hier auf Hiddensee fühlte er sich frei, so unglaublich gelöst, und deshalb hatte er hier vor einigen Jahren ein Ferienhaus gekauft. Seitdem verbrachte die Familie jedes Jahr im Sommer einige wundervolle Wochen an der Ostsee.
Er sah den beiden Kindern eine Weile zu, lachte, als Tatty einen Krebs fing, und damit einer laut quietschenden Cecilia hinterherrannte, die irgendwann stolperte und prustend in der Brandung unterging. Es freute ihn, dass die beiden so unbeschwert waren und nun kam auch so etwas wie ein wenig Stolz hinzu: Die beiden Mädchen waren wunderbar!
Am Nachmittag kehrte man in das im skandinavischen Stil gebaute Ferienhaus zurück. Caroline und Conrad zogen sich gleich in ihr Gemach unter dem Dach zurück, Cecilia und der Freiherr begaben sich an das kleine Reiseklavier, auf dem Cellys flinke Finger alsbald rasante Übungen vollführten und Tatjana baute auf der Terrasse ihre Staffelei auf. Mit Blick auf die Dünen begann sie ihre Farben zu mischen, und während sie noch über ein Motiv nachdachte, stand ihr auf einmal Claras wunderschönes Köpfchen vor Augen. Ja natürlich, heute war ja der 5. Juli, heute vor einem Jahr hatte Hansen Clara auf den Treppenstufen gefunden. Schlagartig wurde sie wieder traurig, dann kam ihr eine Idee: „Ich werde sie malen, und ich werde ihr einen Brief nach Templin schreiben, jedes Jahr werde ich ihr nun im Juli einen Brief schreiben!!“
Mit ein paar schwungvollen Pinselstrichen hatte sie rasch die Umrisse des Köpfchens auf die Leinwand gebannt, um das sich bald kleine dunkle Locken ringelten. „Ihre Augen sind groß und klar,“ murmelte sie zu sich selbst, als sie plötzlich eine schwere Hand auf ihrer Schulter spürte, Großvaters Hand. „Tatjana, es ist nicht gut, du solltest sie endlich vergessen. Sie ist wie ein Schatten, der dein Herz verdunkelt!“ Das Mädchen fuhr energisch herum: „Clara ist kein Schatten, sie ist wie ein Sonnenstrahl für mich. Ich bin ihre Patin, und ich werde sie wiedersehen!“ Diese Worte waren mit einer solchen Heftigkeit gesprochen, dass es den Freiherren eisig durchfuhr und er in diesem Moment beschloss, solch ein Wiedersehen unter allen Umständen zu unterbinden. Doch erwiderte er nichts, sondern sagte nur: „Heute Nachmittag nehmen wir das Schiff nach Stralsund, diese herrliche Stadt wird dich auf andere Gedanken bringen!“
„Eine großartige Idee, Vater!“ flötete da Caroline aus einem der oberen Fenster, „Ich möchte mir einige neue Sommerkleider mit den passenden Hüten kaufen, da gibt es in Stralsund hervorragende Möglichkeiten,“ und nach hinten gewandt: „Conradchen, anziehen, das Schiff kommt bald!“
Freiherr Nikolaus von Rathenow verdrehte die Augen, anscheinend waren zurzeit alle ein wenig verrückt in seiner Familie. Er betete händeringend, dass nun auch bald der „Morbus Conradchen“ ausgeheilt war.
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Im Waisenhaus zu Templin ging es heute fröhlich zu. Der kleine Jörg feierte seinen fünften Geburtstag, und Soeur Amandine hatte veranlasst, die Geburtstagstafel im Garten zu decken und mit Sonnenblumen zu schmücken. Zwei Schwestern trugen Kuchen auf und einige der älteren Kinder schenkten Milch und Saft aus. „Zuerst singen wir ein Lied!“ Schwester Margaret trommelte ihre Schützlinge zusammen, die bald alle zusammen in verschiedenen Tonarten: „Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen“ sangen, der Versuch das Ganze als Kanon zu nehmen, endete im musikalischen Chaos. Der blonde Jörg lachte und alle Kinder stürzten sich auf das Gebäck.
„Es ist schon eine außergewöhnliche Geburtstagsfeier, die Menge an Kuchen und…“ begann Schwester Margaret, aber Soeur Amandine machte eine abwehrende Handbewegung: „Ihr wisst doch, sein Onkel schaut wie jedes Jahr vorbei, und dann, je schöner die Feier, desto mehr Geld. So ist das Leben, wir müssen sehen wo wir bleiben. Die Mittel für unsere Institution sind knapp bemessen!“
Laut kreischend und lachend stopften sich die lieben Kleinen mit all den leckeren Sachen voll und in dem knochigen Gesicht der alten Hugenottin deutete sich ein Lächeln an, bis ihr Blick auf ein kleines etwa einjähriges Mädchen fiel, welches abseits im sandigen Boden hockte und sich mit Steinen beschäftigte. „Clara ist ein sehr merkwürdiges Kind,“ räusperte sich Margaret, nachdem sie den Blicken ihrer Vorgesetzten gefolgt war. „Sie verschmäht den Kuchen und die Gesellschaft der anderen Kinder und sortiert Steinchen nach Farbe, Form und Gewicht…“ „… und ist dabei so schön wie ein Elfenkind!“ ergänzte Soeur Amandine. Als hätte Clara diese Worte vernommen, blickte sie auf einmal auf, und ein süßes Lächeln breitete sich über ihrem ovalen Gesichtchen mit der honigfarbenen Haut. Die Schwestern lächelten nun beide: „Sie hat einen besonders schönen Kieselstein gefunden,“ mutmaßte Margaret, dann aber ging sie zu dem Kind, fasste es an der Hand und sagte: „Komm Clärchen, auch du sollst ein Stück von dem Marmorkuchen bekommen!“ Da eilte das Kind mit seinen kurzen Beinchen an den Tisch und schob süße Krümel in den kirschroten Mund.
Später tauchte dann der reiche Onkel von dem blonden Jörg auf, freute sich, dass sein Neffe hier wohl aufgehoben war und hinterließ ein paar große Geldscheine, von denen Soeur Amandine einiges in neue sanitäre Anlagen stecken wollte.
Am Ende des Tages, die Kinder waren nach den ausgelassenen Spielen müde in ihre Betten gesunken, saß Soeur Amandine im Schein der alten Öllampe an ihrem Schreibtisch und überschlug die Ausgaben des letzten Monats. Sie seufzte, ohne die großzügige Zuwendung von Jörgs Onkel, wären sie wohl kaum über die Runden gekommen. „Vielleicht veranstalteten wir dieses Jahr wieder einen Weihnachtsbasar…,“ überlegte sie gerade, als es an ihre Tür klopfte, und Margaret eintrat. „Was gibt es noch zu so später Stunde?“ wollte die Heimleiterin wissen, als ihre Angestellte ihr einen Brief unter die Nase hielt: „Was ist das für ein Schreiben?“ fragte sie und betrachtete interessiert das Siegel. „Tatjana von Rathenow hat Clara einen Brief geschrieben, ich weiß nicht, was…?“ „Lassen sie gut sein,“ Soeur Amandine nahm ihr den Brief kurzerhand ab: „Ich lege ihn ungeöffnet zu Claras Habseligkeiten, damit sie ihn später lesen kann. Das ist ihre Privatsache, und vielleicht hat dieses gottverlassene Kind ja in der Person Tatjanas von Rathenow seinen persönlichen Schutzengel. Weiß Gott, irgendwann wird sie ihn brauchen können!“ „Jawohl,“ Margaret deutete einen Knicks an, und wünschte ihrer Vorgesetzten eine gute Nacht.
5. Kapitel
Indes waren einige Jahre ins Land gegangen, doch Freiherr Nikolaus von Rathenow stand immer noch rüstig und klaren Kopfes dem Herrenhaus seiner Familie vor. Seine lebenslustige Tochter Caroline hatte sich zwischenzeitlich von ihrem Schriftsteller Conrad von Crautwitz getrennt und sich einem italienischen Kunstprofessor hingegeben, mit welchem sie ein unglaublich feuriges Jahr in Neapel verbracht hatte. Doch schließlich, sitzen gelassen, war sie wieder heimgekehrt und ließ sich erneut von ihrem alten jungen Schriftsteller verwöhnen. Wie in den Jahren zuvor, hielt sie ihre intellektuellen Circel ab, so auch heute, und so hatte sich die ganze alte Garde in ihrem Salon versammelt.
Gerade hatte die 17jährige Cecilia ein Nocturne auf dem Flügel zum Besten gegeben und verbeugte sich nun lächelnd gegen das Publikum, wobei ihre hübschen blonden Schillerlocken, nur durch eine blaue Samtschleife gebändigt, auf und nieder wippten. „Unglaublich, so ein Talent,“ schwärmte die alte Geheimrätin Kruse, „Sie muss bestmöglichst gefördert werden, wann geht sie auf die Akademie?“ „Alles schon in die Wege geleitet, Verehrteste!“ lächelte Caroline und reichte ihrem Gast ein Glas leuchtend roten Bordeaux. „Sie hat bereits die Aufnahmeprüfung bestanden, als einziges Mädchen!“ Die Kruse nickte: „Daran habe ich keinen Zweifel!“
In diesem Moment trat Tatjana, am Arm von Major Stendal in den Saal, sie hatte dem alten Militär ihre neuen Rosenzüchtungen im Park gezeigt und lächelte nun ihrem geliebten Großvater zu. Der nickte zurück, bevor er sich an seine Tochter wandte: „Caroline, wir müssen nachher dringend über Tatjana reden!“ Seine Tochter zog kokett eine Augenbraue nach oben, „Du meinst wohl eher Cecilia, bei ihr wird es doch in der nächsten Zeit äußerst interessant!“ Doch Nikolaus von Rathenow schüttelte den Kopf: „Ganz genau, liebe Tochter, und aus diesem Grunde müssen wir über Tatjana sprechen. Sei so gut und komme nachher in die Bibliothek, doch geleite vorher unsere Gäste zur Tür!“ „Sehr wohl Papa!“ Caroline salutierte militärsatirisch und küsste ihren Vater auf die Wange.
Es war ein kühler Maiabend, aus diesem Grunde hatte Hansen das Kaminfeuer in der Bibliothek entzündet, vor dem sich Zeus behaglich ausstreckte, und der Freiherr hatte neben ihm seinen ledernen Lehnstuhl zurechtgerückt. Es klopfte, Zeus hob sein rechtes Ohr und Nikolaus rief seine Tochter herein: „Na endlich,“ brummte er, „hast du dir von der Kruse noch die neuesten Skandalgeschichten erzählen lassen?“ Caroline lachte silbern und zog sich den Fußschemel neben ihren Vater: „Du möchtest über Tatty sprechen, warum?“ Das würdige Familienoberhaupt räusperte sich: „Ich habe ein wenig nachgedacht und beobachtet, meine Liebe. Celly wird hier im Augenblick sehr hochgehandelt, sie wird gefeiert und bewundert, naja, und im Sommer verlässt sie uns. Sie zieht nach Berlin zu Tante Eugenie, studiert an der Musikakademie in ihren jungen Jahren und wird uns nur wenige Wochenenden im Jahr besuchen können.“ „Cecilia ist ein kleines Genie, Professor Kaltenberg hat sie als Wunderkind bezeichnet, wir können sehr stolz auf sie sein!“ „Natürlich,“ beschwichtigte ihr Vater, „Du weißt, dass ich unglaublich stolz auf meine Celly bin, und dass ich zu jedem ihrer Konzerte anreisen werde!“ Caroline kraulte Zeus hinter den Ohren, „aber was hat das mit Tatty zu tun?“ „Sehr viel, Caroline. Und wenn du genauer hinschauen würdest, dann wüsstest du auch warum. Sie wird bald allein hier sein, ihre kleine Schwester in der Großstadt Berlin wissen, es ist für sie…“ „Vater!“ unterbrach Caroline, „Du tust so, als wäre Tatjana nichts im Vergleich zu Cecilia. Tatty ist sehr gebildet, spricht drei Sprachen fließend, kennt sich aus in klassischer Literatur und malt zudem noch recht ordentlich. Und…“ Hier sah nun die Tochter ihrem Vater direkt in die Augen: „Sie ist eine angenehme Erscheinung mit ihrem langen glatten Haar und ihren warmen Augen und eine intelligente Gesprächspartnerin in jeder Gesellschaft. Mit anderen Worten, sie ist eine hervorragende Partie für junge Männer aus guten Häusern. Du wirst sehen, sie wird sich bald vor Bewerbern kaum noch retten können. Sie ist achtzehn und mausert sich zu einer attraktiven jungen Frau.“ Der Freiherr nickte: „Du hast in allem recht, meine Liebe, und doch… sieh einmal genau hin, es geht ihr nicht gut, sie misst sich an ihrer Schwester, der eine glänzende Karriere bevorsteht.“ Caroline runzelte die Stirn: „Das sollte sie nicht, ich werde mit ihr reden! Die erste Pflicht eines Fräuleins von adligem Stand ist es eine glänzende Partie zu machen!“
„Nein!“ Der Freiherr sagte dies lauter als notwendig, und Zeus hob verwundert seine Schnauze. „Ich habe etwas anderes vor! Wenn Cecilia im Sommer nach Berlin umsiedelt, werde ich mit Tatjana eine große italienische Reise antreten. Ich fahre mit ihr nach Venedig, Florenz, nach Rom und Amalfi, vielleicht noch weiter nach Sizilien. Tatjana hat große Freude an den historischen Plätzen. Ihr tut die Luftveränderung gut, und sie merkt nicht, dass an ihrer Seite jemand fehlt. Caroline, ich gedenke mit ihr etwa ein Jahr lang unterwegs zu sein!“ Caroline, zurzeit auf Italien nicht so gut zu sprechen, zuckte nur mit den Schultern, „nun, es ist sicher abwechslungsreich für Tatty, aber du, ist es dir nicht zu anstrengend?“ Da richtete sich Nikolaus von Rathenow in seinem Lehnstuhl zu voller Größe auf: „Mir ging es selten so gut wie jetzt, ich fühle mich voller Saft und Kraft, und ich freue mich darauf, das Land, wo die Zitronen blühen, noch einmal zu sehen.“ Caroline sah ihren Vater liebevoll an: „Ich gönne es dir Papa, und noch etwas, du bist meinen Kindern ein besserer Großvater, als ich eine Mutter bin.“ Mit diesen Worten stand sie leise auf und verließ die Bibliothek.
Nur wenige Minuten später hörte der Freiherr ein lautes knatterndes Geräusch von der Hofeinfahrt her. Verärgert zog er seine Augenbrauen zusammen und fluchte leise: „Da kommt wieder dieser crautwitzige Conrad mit diesem modernen Ding, diesem komischen Automobil, und versucht meine Tochter zu beeindrucken!“ Zeus bemerkte diesen schnellen Stimmungswandel und bellte laut!
Kaum jedoch hatten die negativen Gedanken von ihm Besitz ergriffen, da spürte er einen vorwurfsvollen Blick im Rücken. Er fuhr herum, zwei blaue Augen blickten aus einem geschnitzen Holzrahmen zu ihm herüber. Der alte Freiherr schluckte: „Danke Emilia, dass du mich lehrst tolerant zu sein!“ Er setzte sich in seinen Ledersessel und nahm die Miniatur in beide Hände, Zeus ließ sich schwanzwedelnd neben ihm nieder. Seine kleine Schwester Emilia… Sie hatte den großen Fehler gemacht sich in Florian, den Sohn des Gärtners zu verlieben, und diese Liebe war stärker gewesen, als alle Verbote ihres gestrengen Vaters. Nikolaus von Rathenow dachte schaudernd an den Tag, da man Emilias Zimmer leer und nur noch den Abschiedsbrief vorgefunden hatte. Seit jenem Tage war ihr Name nie mehr im Hause erwähnt worden, Emilia war ausradiert worden, hatte niemals existiert! Nur diese kleine Miniatur hatte er vor seinem zornigen Vater retten und in einer Schublade unter den gebügelten Hemden verstecken können. Ein einziges Mal noch war ihr Name gefallen, als man der Familie die Nachricht von ihrem Tode überbracht hatte. Sie war im Elend an Hunger und Kälte gestorben. „Und ich habe nicht geholfen!“ flüsterte der alte Mann gequält, obwohl sich seine Schwester mehr als einmal vertrauensvoll und hilfesuchend an ihn gewandt hatte…
Vom Salon her hörte er das fröhliche Lachen seiner Tochter, wahrscheinlich hatte ihr der zweitrangige Dichter wieder eine etwas fragwürdige Geschichte aus seinem Repertoire erzählt.
Der Freiherr betrachtete das Portrait seiner Schwester und sagte dann zu sich selbst: „Aber Caroline ist glücklich und dabei soll es bleiben!“
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Herr Kimpel, seines Zeichens Dorfschullehrer in der einklassigen Schule in Templin, wischte sich den immerwährenden Schweiß von der Stirn, während er den Feldweg hinaus zum Waisenhaus lief. Kornblumen und Klatschmohn blühten zu beiden Seiten, doch dies bemerkte der kleine korpulente Mann nicht, auf dessen schütteres Haupthaar unbarmherzig die heiße Junisonne brannte. Schwester Margaret sah ihn kommen und holte gleich ein Glas frisches kühles Wasser aus der Küche. „Danke Schwester,“ keuchte wenig später der Lehrer und tat einen kräftigen Zug aus dem Glas. „Ist Soeur Amandine zu sprechen?“ „Wie immer im Büro,“ nickte Margaret, Kimpel kannte den Weg.
Bald saß er der alten Hugenottin gegenüber, deren Gesicht gelb und abgespannt wirkte. „Was gibt es, hat Carl wieder mit Steinen geworfen?“ Kimpel wischte sich die Stirn: „Nein, nein es geht um das neue Kind, um Clara. So etwas wie dieses Mädchen ist mir mein Lebtag nicht untergekommen.“ Die Heimleiterin sah ihr Gegenüber ruhig an, sie hatte geahnt, dass es früher oder später zu einem Gespräch kommen musste. „Was ist geschehen?“ fragte sie daher betont arglos. „Sie benimmt sich seltsam, ist immer für sich. Die anderen Kinder ärgern sie, beschimpfen sie, aber sie lächelt nur. Gestern hat Maria sie getreten, ich habe es durchs Fenster beobachtet. Daraufhin hat Clara sie nur angesehen, lange, zu lange, daraufhin ist Maria in Tränen ausgebrochen, und hat behauptet, Clara hätte sie verzaubert.“ Soeur Amandine fröstelte: „Was wollt ihr damit sagen, Herr Lehrer?“ Kimpel schüttelte ratlos den runden Kopf: „Wer ist sie, wo kommt sie her? Sie ist so dunkel und fremd!“
Soeur Amandine, eine sehr erfahrene Schwester mit feinem Gespür, sagte nur leise: „Wir wissen es nicht!“ Und ganz bewusst vermied sie das Wort „Zigeuner“. Dann stand sie auf, um ihren Gast zu verabschieden, aber der Lehrer blieb hartnäckig sitzen, „da ist noch etwas!“ „So…?“ Die Heimleiterin sah ihn fragend an. Kimpel fuhr fort: „Dieses Mädchen ist seit einem Monat in meiner Klasse. Wie erklären sie es sich, dass sie fließend liest und im dreistelligen Zahlenbereich rechnen kann. Sie stellt alle Kinder der vierten Klasse in den Schatten. Haben sie mit ihr geübt?“ Jetzt sprang die Hugenottin doch erstaunt auf: „Keineswegs, für so etwas haben wir hier keine Zeit. Das kann und will ich nicht glauben. Clara hat noch nie ein einziges Buch in der Hand gehabt.“ „Zeigen sie mir ihre Sachen, schnell!“ forderte nun Kimpel höchst erregt.
Wenig später traten die beiden in den großen Schlafsaal mit den zehn Betten, deren jedes einen kleinen Nachttisch besaß, die einzige Unterbringungsmöglichkeit für die wenigen Habseligkeiten der Kinder.