Dunkler Zorn - Michael Hübner - E-Book

Dunkler Zorn E-Book

Michael Hübner

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Beschreibung

Chris Bertram hat sich in sein Elternhaus auf dem Land zurückgezogen, um die tragischen Ereignisse seines letzten Falls zu verarbeiten. Dort bekommt er eines Tages Besuch von seinen beiden Kollegen Roland Koch und Corinna Hartfels. Die Freude über das Wiedersehen ist nicht von Dauer, denn mit ihnen hält auch das Grauen wieder Einzug in sein Leben. Die beiden konfrontieren ihn mit drei Morden, die in jüngster Zeit in der Region um Koblenz verübt wurden und die in ihrer Ausführung exakt den Taten eines bereits verurteilten Serienmörders gleichen. Der ist jedoch seit zwei Jahren in einem Hochsicherheitsgefängnis inhaftiert und schweigt sich weiterhin über die genauen Hintergründe seiner Taten aus. Hat er eventuell nicht allein gehandelt? Auch nachdem ein weiteres Opfer gefunden wird, scheitern sämtliche Versuche, den Mann zum Reden zu bringen. Der Einzige, dem er sich anvertrauen will, ist Chris Bertram. Der vierte Band aus Michael Hübners fesselnder Thriller-Reihe um den Koblenzer Ermittler Chris Bertram. Alle Bücher der Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.

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PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
KAPITEL 41
KAPITEL 42
KAPITEL 43
KAPITEL 44
KAPITEL 45
KAPITEL 46
KAPITEL 47
KAPITEL 48
KAPITEL 49
KAPITEL 50
KAPITEL 51
KAPITEL 52
KAPITEL 53
KAPITEL 54
KAPITEL 55
KAPITEL 56
KAPITEL 57
EPILOG
Anmerkung des Autors

Michael Hübner

Dunkler Zorn

 

Thriller

 

 

Copyright © 2019 Michael Hübner

[email protected]

Vertreten durch:

Dr. Harry Olechnowitz Autoren- & Verlagsagentur Fritschestraße 68 10585 Berlin E-Mail: [email protected]

www.michaelhuebner.de

 

Covergestaltung © Traumstoff Buchdesign traumstoff.atCovermotiv © schankz shutterstock.com

 

 

 

 

 

Für meinen Vater.

PROLOG

 

 

 

Das Licht der Scheinwerfer erhellte den tristen Asphalt der Landstraße, die sich eine Schneise durch den dichten Wald bahnte. Die Stämme der Bäume auf beiden Seiten funkelten im Frost der einsetzenden Nacht, was für Anfang April eher ungewöhnlich war. In diesem Jahr zeigte sich der Winter von seiner hartnäckigen Seite. Jonas Schäfer saß am Steuer seines Wagens und hatte Mühe, die Augen aufzuhalten, in denen das Licht der entgegenkommenden Fahrzeuge wie Feuer brannte. Es war ein langer Abend mit vielen zermürbenden Gesprächen gewesen. Wieder einmal war es bei ihrem wöchentlichen Stammtischtreffen hauptsächlich um politische Themen gegangen. Und wieder einmal war es zu hitzigen Diskussionen gekommen, an deren Ende dann doch jeder an seiner Ansicht festhielt. Schäfer überlegte, ob er in Zukunft diese Treffen meiden und stattdessen den Abend mit seiner Frau vor dem Fernseher verbringen sollte. Dieses ständige Debattieren wurde ihm mit seinen achtundfünfzig Jahren langsam zu mühselig.

Er rieb sich die Augen, deren Lider immer schwerer wurden. Die Heizung in seinem Auto und die zwei Bier, die er getrunken hatte, machten ihn schläfrig. Er konnte es kaum erwarten, endlich zu Hause anzukommen.

Aus einiger Entfernung nahm er ein Hupen wahr. Dann tauchten die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Fahrzeugs auf und blendeten ihn. Offenbar hielt der Fahrer es nicht für nötig, das Fernlicht auszuschalten. Idiot, ging es ihm durch den Kopf, während er die Lichthupe betätigte. Das Fahrzeug fuhr mit heulendem Motor an ihm vorbei und überließ ihn wieder der Dunkelheit der Landstraße, die an dieser Stelle in eine scharfe Linksbiegung überging. Er bog zu schnell in die Kurve ein, versuchte den gleißenden Schleier wegzublinzeln, der seinen Blick trübte wie eine beschlagene Brille, und hatte alle Mühe, den Wagen in der Spur zu halten. Obwohl der Asphalt an dieser Stelle rutschig war, und die Vorderräder kurz den Halt verloren, wäre er vermutlich mit dem Schrecken davongekommen, wenn in diesem Moment nicht die Gestalt im Licht der Scheinwerfer vor ihm aufgetaucht wäre. Instinktiv trat sein Fuß fester auf das Bremspedal. Die Reifen seines Saphiras blockierten, und er schlitterte geradewegs auf die glitzernden Stämme der Bäume zu, von denen ihn nur ein flacher Graben neben der Straße trennte. Hektisch kurbelte er am Lenkrad, steuerte verzweifelt gegen, doch der Wagen war nicht mehr von seiner Route abzubringen. Ein heftiger Ruck erfasste Jonas Schäfer und schleuderte ihn in seinen Gurt, der sich schmerzhaft in seine Brust grub. Durch den Unterboden drang ein lautes Ächzen in den Innenraum, dem ein noch lauteres Krachen folgte, als die vordere Radaufhängung auf der rechten Seite brach. Vor sich sah er den knorrigen Stamm eines Laubbaums, der sich breit und massiv vor ihm auftürmte. Dann schoss der Airbag aus dem Lenkrad, und er wurde erneut in den Gurt geschleudert – dieses Mal so heftig, dass es ihm die Luft aus der Lunge presste. Das dumpfe Krachen von nachgebendem Metall erklang und vermischte sich mit dem Klirren von splitterndem Glas. Ein letztes Ächzen, als würden die Schotten eines Schiffs nachgeben. Dann setzte schlagartige Stille ein, die nur durch das Zischen auslaufender Kühlflüssigkeit unterbrochen wurde.

Stöhnend sank Jonas Schäfer in den Sitz zurück. Dunkelheit umgab ihn, und es dauerte einige Sekunden, bis er wieder zu sich kam und realisierte, dass er das Ganze unbeschadet überstanden hatte. Lediglich in seiner rechten Hand, die beim Aufprall vom Lenkrad gerutscht und gegen die Armaturen geschlagen war, verspürte er einen pulsierenden Schmerz. Vorsichtig bewegte er die Finger und das Handgelenk. Es schien nichts gebrochen zu sein. Er tastete nach der Gurtschnalle und löste die Verriegelung. Surrend zog sich der Gurt, der ihn vor schlimmeren Verletzungen bewahrt hatte, zurück in seine Halterung. Die kalte Abendluft kroch durch die zerstörte Windschutzscheibe ins Innere und ließ ihn augenblicklich frösteln.

Sein Mantel. Wo hatte er seinen Mantel?

Im Kofferraum, gelang es ihm, eine Erinnerung zu fassen. Du hattest die Standheizung an und hast die Jacke in den Kofferraum gelegt, bevor du losgefahren bist.

Er tastete in der Dunkelheit nach dem Handschuhfach, entriegelte die Klappe und entnahm die Stablampe, die er darin aufbewahrte. Kurz darauf erhellte ein schmaler LED-Strahl das Innere. Seine Hand zitterte, was er nicht allein auf die Kälte zurückführte, die wie eindringendes Polarwasser in das Innere des Wagens strömte. Noch immer puschte das Adrenalin ihn auf, ließ sein Herz wild gegen die Prellung in seiner Brust hämmern. Gedanken schwirrten durch seinen Kopf wie zu Asche verbranntes Papier in einem Herbststurm. Er hatte Mühe, sie einzufangen, bevor sie vom Wind zerfleddert und davongetragen wurden.

Mit einem lauten Stöhnen gab die Tür nach, als er sie aufstieß. Der gefrorene Waldboden knirschte unter den Sohlen seiner Schuhe. Die Kälte hatte ihn gänzlich eingefangen und ließ seinen Körper erzittern. Schwerfällig öffnete er den Kofferraum und zog sich seinen Mantel über. Mit zitternden Händen ließ er den Strahl der Taschenlampe über das Fahrzeug gleiten. Im Gegensatz zu ihm war es ein Totalschaden. Der Stamm des Baumes hatte sich bis zur Hälfte in die Motorhaube gefräst. Alles im vorderen Bereich war verzogen und deformiert, was ihm verbildlichte, dass er verdammtes Glück gehabt hatte. Hätte der Graben seine Fahrt nicht abgebremst ...

Die Gestalt!

Seine Gedanken wurden klarer, trotzten dem Sturm in seinem Kopf. Und dann tauchte das Bild vor seinen Augen auf, das sich Sekundenbruchteile vor dem Unfall im Licht der Scheinwerfer in seine Wahrnehmung gebrannt hatte. Ein Bild, das ihn die kalte Luft noch kälter wahrnehmen ließ. Hatte ihm sein aufgewühlter Verstand einen Streich gespielt? Das Bild in seiner Erinnerung wirkte zu grotesk, zu unwirklich, als dass es real sein könnte. Vermutlich war er nur übermüdet. Außerdem hatte dieser Idiot in dem Auto ihn geblendet. Das und eine (wie er jetzt hoffte) legale Dosis Alkohol, gepaart mit dem Schock des Unfalls, musste seine Wahrnehmung getrübt haben.

Aber etwas hatte er gesehen. Er war etwas ausgewichen. Und es war definitiv kein Tier gewesen. Das Bild in seinem Kopf war nicht klar genug. Aber irgendetwas daran kam ihm nicht richtig vor. Nicht natürlich. Und wieso sollte sich jemand bei dieser Kälte und zu dieser Tageszeit halbnackt und zu Fuß auf einer einsamen Landstraße aufhalten? Dieser Frage nachzugehen war nicht seine Aufgabe. Aber was immer er dort draußen gesehen hatte, musste noch dort sein.

Er stieg über das aufgerissene Erdreich an der Stelle des Grabens und schritt in Richtung Straße. In diesem Moment passierten zwei Autos die Stelle. Doch keiner der Fahrer hielt es für nötig anzuhalten. In einiger Entfernung konnte er Hupen hören, bevor die Scheinwerfer sich entfernten und in der Dunkelheit verschwanden. Noch immer wirkte der Schock des Unfalls bei ihm nach, und seine Knie fühlten sich an, als wären sie aus Gummi. Nach wenigen Metern erreichte er die Stelle, an der sein Wagen ausgebrochen war. Dunkle Reifenspuren und Bremsschlieren tauchten im Kegel der Stablampe auf. Und etwas anderes. Es glänzte feucht und verlief in breiten, dunklen Fäden entlang der Straßenführung. Zunächst hielt er es für Motoröl, das sein ramponierter Wagen auf den Asphalt gespuckt hatte. Doch an dieser Stelle konnte das nicht sein, da die Beschädigungen erst weiter hinten am Graben eingesetzt hatten. Erst als er näher trat und in die Hocke ging, erkannte er das rötliche Schimmern der Flüssigkeit, von der aus schwache Dampfschwaden in die Kälte aufstiegen.

Blut!

Es war eine Spur aus frischem Blut!

Ein entsetzlicher Gedanke durchfuhr ihn. Hatte er die Gestalt womöglich angefahren und nun irrte sie verletzt durch die Dunkelheit?

Plötzlich vernahm er aus einiger Entfernung vor sich schlurfende Schritte.

»Hallo!« Er richtete sich auf und leuchtete in die Dunkelheit. »Ist da jemand?«

Keine Antwort. Nur dieses schlurfende Geräusch, als würde jemand ein Bein nachziehen.

Er richtete sich auf und folgte der Spur, die sich schlängelnd über den dunklen Asphalt zog. Bereits nach wenigen Metern tauchte vor ihm im Licht die Kontur einer Person auf. Sie bewegte sich torkelnd wie ein Betrunkener die Straße entlang.

»Hallo«, versuchte er es erneut. »Sind Sie verletzt?«

Noch immer keine Reaktion. Offenbar stand die Person unter Schock.

Er beschleunigte seine Schritte und näherte sich der Gestalt von hinten. Soweit er es im Licht der Lampe erkennen konnte, handelte es sich um einen Mann mit dunklen Haaren. »Hey, Sie! Bleiben Sie stehen!« Als er ihn erreicht hatte, packte er den Mann an der Schulter und zog ihn herum.

Entsetzt zuckte Jonas Schäfer zurück, als hätte er einen Stromschlag erhalten. »Was zum ...? Großer Gott!«, entfuhr es ihm bei dem Anblick. Das gummiartige Gefühl in seinen Beinen kehrte schlagartig zurück, und er taumelte einige Schritte nach hinten. Es gelang ihm, sich aufrecht zu halten, während er den Lichtstrahl weiterhin auf den Mann gerichtet hielt. Was er offenbarte, war nur schwer zu begreifen und erzeugte ein solch intensives Gefühl von Panik, dass es ihm die Kehle zuschnürte. Mit aufgerissenen Augen starrte er in das verformte Gesicht des Mannes, in die dunklen, augenlosen Höhlen und auf das, was an Schnüren um seinen Hals hing wie groteske Trophäen. Der Mann trug eine offenstehende Jacke und darunter ein Hemd, dessen Knöpfe abgerissen waren und das ihm offen über der Hose hing. Der nackte Oberkörper darunter war blutverschmiert. Ein leises Plätschern untermalte diesen schaurigen Anblick, und Jonas Schäfer sah das Blut, das dem Mann aus den herunterhängenden Ärmeln seiner Jacke floss – dort, wo normalerweise seine Hände hätten sein sollen.

»Was ... was ist mit Ihnen passiert?«, keuchte er. »Wer hat Ihnen das angetan?«

Der Mann erwiderte etwas. Ein krächzender, kehliger Laut, der sich wieder und wieder zu einem Wort formte wie ein unheilvolles Mantra. Es war dasselbe Wort, das in blutigen Buchstaben in seine nackte Brust eingeritzt worden war.

»Respekt.«

Dann sackte der Mann auf die Knie und fiel leblos zu Boden.

KAPITEL 1

 

 

 

Drei Tage später

 

Der feine Kies des Zufahrtswegs knirschte unter den Rädern des Kinderwagens. Der Mann, der ihn schob, war Mitte vierzig. Die dunkelbraunen Haare verbarg er unter einer schwarzen Wollmütze, die er sich bis tief in die Stirn gezogen hatte. Ein dichter Vollbart rahmte sein Gesicht. Seine Augen – in deren Blick sich seit Monaten eine tiefe Verbitterung eingenistet hatte – waren auf das Kind in dem Wagen gerichtet. Patrick, sein einjähriger Sohn, schlief friedlich unter der Decke, in die er eingewickelt war. Seine winzigen Hände steckten in blauen Fäustlingen. Die Mütze war ihm etwas zu groß, sodass die Ohrenklappen sein halbes Gesicht verdeckten, dessen Züge dem Mann immer ähnlicher wurden. Ein tiefes Gefühl der Liebe durchströmte ihn beim Anblick seines Sohnes. Ein Kind, das ohne seine Mutter aufwachsen würde, weil er, Chris Bertram, ihren Tod nicht hatte verhindern können. Ein durchgeknallter Soziopath hatte seine Frau und seinen Sohn entführt und ihn vor eine grausame Wahl gestellt. Er hatte eine Entscheidung treffen müssen. Und er hatte sich für das Leben seines Sohnes entschieden. Dieses tiefe Gefühl der Verbundenheit, das er Patrick gegenüber empfand, half ihm über die schmerzhaften Konsequenzen hinweg, die seine Entscheidung nach sich zog und mit deren Auswirkungen er Tag für Tag leben musste. Nur knapp ein Jahr lang waren er und Rebecca verheiratet gewesen. Und nun war sie für immer fort. Ausgelöscht von einem Wahnsinnigen, aus Gründen, die er bis heute nicht nachvollziehen konnte, da sie so irrational waren, dass sie jeden halbwegs gesunden Verstand überforderten. Irgendwann hatte er aufgegeben, nach einem Sinn in alldem zu suchen und sich stattdessen auf die Aufgabe konzentriert, die seine Entscheidung mit sich brachte. Und die bestand in erster Linie darin, seinem Sohn ein Vater zu sein und ihn zukünftig vor Monstern wie Frank Arnold zu beschützen, selbst wenn er wusste, dass das ein nahezu aussichtsloses Unterfangen war. Aber er würde sein Bestes versuchen. Doch dafür musste er stark sein. Stärker als er es im Moment war. Der Schock und die Trauer saßen zu tief. Daran änderten auch die regelmäßigen Besuche nichts, die er auf der Krankenstation machte, in der Arnold seit seiner Verhaftung untergebracht war, um dabei zuzusehen, wie der Krebs ihn langsam zerfraß. Aber es gab ihm ein Gefühl von Ausgleich, von Gerechtigkeit, selbst wenn es seinen eigenen Verlust nicht aufwog.

Nachdem sie die Hälfte des Weges hinter sich gelassen hatten, richtete Chris seinen Blick nach vorn auf das abgelegene Haus, in dem er aufgewachsen war. Es war umgeben von Wiesen und Bäumen, deren kahle und von Frost umhüllte Äste in jedem Windzug knarrten wie das rostige Scharnier einer alten Tür. Die Sonne am wolkenlosen Himmel ließ die helle Fassade leuchten, sodass er geblendet die Augen zusammenkniff. Das Haus seiner Eltern war in den letzten Monaten sein Zufluchtsort gewesen. Hier hatte er sich verkrochen, um seine Wunden zu lecken und wieder zu sich selbst zu finden. Er hatte den Rest der Welt gemieden, so wie jemand, der beinahe ertrunken wäre, sich von offenen Gewässern fernhielt. Umso mehr beunruhigte ihn der dunkelfarbige Wagen, der in der Einfahrt stand. Er erkannte ihn sofort, hatte selbst schon oft an dessen Steuer gesessen, wenn er zu Tatorten oder Befragungen aufgebrochen war. Zu einer Zeit, in der seine Welt intakt gewesen war und er sich eingeredet hatte, in seinem Beruf etwas bewirken zu können. Eine Zeit, in der er in seiner Arbeit als Kriminaloberkommissar aufgegangen war, in der er sie als seine Berufung angesehen hatte. Nun war all das nur ein dunkler Teil seiner Vergangenheit, der auf dem schlammigen Grund des Gewässers ruhte, in dem er fast ertrunken wäre. Und beim Anblick dieses Wagens überkam ihn die Angst, erneut in dessen Tiefen hinabgezogen zu werden.

Er beschleunigte seine Schritte, während sich in seinem Magen ein unangenehmer Druck aufbaute. An der Tür des Hauses angekommen, nahm ihn seine Mutter – eine hochgewachsene Frau mit kurzen ergrauten Haaren – in Empfang.

»Du hast Besuch«, sagte sie mit freudigem Unterton, der verlauten ließ, dass dies seit seinem Einzug hier nicht oft der Fall gewesen war. Lediglich mit Doktor Hoffmann – seiner psychologischen Betreuerin, die zugleich auch Beraterin ihrer Abteilung im Präsidium war – stand Chris noch in regelmäßigem Kontakt. Die wöchentlichen Besuche in ihrer Praxis waren in den vergangenen Monaten die einzige Verbindung zu seiner alten Welt gewesen. »Geh nur«, meinte Monika Bertram und machte eine durchwinkende Geste. »Ich kümmere mich um Patrick.«

 

Chris betrat den Wohnraum, wo er seinen Vater vorfand. Trotz seiner fast siebzig Jahre hatte er volles Haar, das lediglich an den Schläfen ergraut war. Mit den Händen hielt er ein Tablett, auf dem eine Thermoskanne und einige Tassen standen. Ihm gegenüber auf der Couch saß ein Mann mit dunklen krausen Haaren und einem Kinnbart. Er stand auf, als er Chris erblickte.

»Hey, Kumpel«, sagte Rokko mit einem zögerlichen Lächeln. »Ist schön, dich wiederzusehen.« Er streckte ihm die Hand entgegen.

Chris zögerte einen Moment. Insgeheim freute er sich, seinen Freund und Kollegen Roland Koch nach all der Zeit wiederzusehen. Zwischen ihnen bestand eine Verbindung, wie sie nur bei Gleichgesinnten bestehen konnte. Eine Art mentale Vernetzung, die nicht immer vieler Worte bedurfte.

Chris ergriff seine Hand und erwiderte das Lächeln. Obwohl es aufrichtig war, wirkte es gestellt an ihm, wie bei jemandem, dem es schwerfiel, seine Gefühle nach außen dringen zu lassen – oder der zu keinerlei positiven Emotionen mehr fähig war. »Hey, Rokko«, begrüßte er ihn mit seinem Spitznamen.

Rokko deutete auf Chris‘ Bart. »Steht dir gut«, meinte er. »Betont deine hinterwäldlerische Seite.«

Das Lächeln in Chris‘ Gesicht veränderte sich. Es wirkte weniger gestellt. »Immer noch der Alte, wie ich sehe.«

»Unkraut vergeht nicht.«

»Ja«, erwiderte Chris und sein Lächeln verebbte. Er wandte sich seinem Vater zu. »Ich nehme an, ihr habt euch schon bekanntgemacht?«

Karl Bertram nickte. »Deine Mutter hat Kaffee gekocht, während wir auf dich gewartet haben.« Er stellte das Tablett auf dem Tisch ab und betrachtete die beiden. »Dann werde ich euch mal alleine lassen«, meinte er. »Ich denke, ihr habt eine Menge zu bereden.« Er fasste seinem Sohn an die Schulter. Eine Geste des Zuspruchs und der Hoffnung.

»Danke, Vater«, sagte Chris, ohne den Blick von dem Tablett abzuwenden. Darauf stand auch eine Tasse mit heißem Wasser, aus der die Schnur eines Teebeutels heraushing. Roibusch, wie er dem Etikett entnahm.

»Ich habe jemanden mitgebracht«, kam Rokko einem Kommentar zuvor.

Im selben Moment erklang die Spülung der Gästetoilette im Flur. Eine Tür wurde geöffnet, und kurz darauf betrat eine Frau in mittlerem Alter den Raum. Ihre blonden Haare hatte sie wie immer streng zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihr starrer Gesichtsausdruck, der ihr eine fast roboterartige Aura verlieh, gab ein emotionales Unvermögen preis, das selbst Chris in seiner momentanen Verfassung wie eine Ausgeburt des Frohsinns erscheinen ließ.

»Herr Bertram«, sagte sie in der für sie üblichen monotonen Stimmlage. »Endlich sind Sie da. Wir warten schon eine halbe Stunde auf Sie.«

Chris‘ Lächeln kehrte zurück, als er Hauptkommissarin Corinna Hartfels erblickte.

KAPITEL 2

 

 

 

»Wie ist es Ihnen ergangen?«, fragte Chris, nachdem die beiden auf der Couch Platz genommen hatten. Er selbst bevorzugte den Sessel. Er verteilte die Tassen und goss sich und Rokko Kaffee ein.

Corinna Hartfels zog den Teebeutel aus ihrer Tasse und legte ihn auf dem kleinen Teller ab, der eigens dafür auf dem Tablett stand. »Ich habe gearbeitet«, erwiderte sie nüchtern. »Was sollte ich sonst tun?«

Ein erbarmungslos sachliches Statement von jemandem, der mit angesehen hatte, wie die eigene Mutter ermordet worden war. Bei jedem anderen hätte Chris diese Aussage als herzlos und eiskalt empfunden. Nicht so bei Corinna Hartfels. Im Gegenteil, er beneidete sie für diese Einstellung, die ihrer Persönlichkeitsstörung zuzuschreiben war. Alexithymie – auch als Gefühlsblindheit bezeichnet – äußert sich in der Unfähigkeit, Emotionen hinreichend wahrnehmen oder beschreiben zu können. Gefühle werden meist als körperliche Symptome gedeutet. Im Fall von Corinna Hartfels offenbarte sich ihr inneres Chaos überwiegend in Kopfschmerzen. Chris vermutete, dass sie in den letzten Monaten eine ganze Wagenladung Aspirin zu sich genommen hatte. Diese Art der pharmazeutischen Therapie war quasi ihre Form der Traumabewältigung. Chris beneidete sie ein wenig darum. Er hätte alles hergegeben für ein Medikament, das ihn von seinen inneren Qualen befreite. Aber ihm war auch bewusst, dass eine Persönlichkeit wie die von Corinna Hartfels es nicht zuließ, ihn aus rein sentimentalen Gründen aufzusuchen.

»Ich nehme an, Ihre Arbeit ist auch der Grund, weshalb Sie heute hier sind.«

Sie warf ihm einen starren Blick zu, während sie an ihrer Tasse nippte. »Weshalb sollte ich sonst den Weg von Wiesbaden hierher auf mich nehmen? Wollte ich mich nur nach Ihrem Befinden erkundigen, hätte ich Sie anrufen können.«

Nach allem, was sie beide durchlebt hatten, hätte Chris aufgrund dieser Aussage gekränkt sein müssen. Doch er hatte sich durch ihre vorherigen gemeinsamen Fälle an die unterkühlte, mitunter naiv anmutende Art, mit der Corinna Hartfels anderen Menschen begegnete, gewöhnt, sie sogar zu schätzen gelernt. Auf eine erfrischende Weise tat es ihm sogar gut, jemandem zu begegnen, der ihn nicht mitleidig betrachtete oder seinen Blick verstohlen von ihm abwendete, so wie einige der Leute in der Nachbarschaft es taten, wenn er ihnen beim Einkaufen oder bei seinen täglichen Spaziergängen mit Patrick begegnete. Dennoch bekräftigte der Gedanke, wieder in die Abgründe seines früheren Lebens einzutauchen, das flaue Gefühl in seinem Magen.

Sein Blick wechselte zwischen den beiden hin und her. »Euch ist klar, dass ich noch immer nicht diensttauglich bin?«

»Durchaus«, sagte Rokko. »Daran könnte sich aber schon bald etwas ändern.«

Das flaue Gefühl in seinem Magen verstärkte sich. »Wie meinst du das?«, fragte Chris.

»Na ja, Doktor Hoffmann meint, es wäre an der Zeit, dir wieder eine Aufgabe zu erteilen.«

»Ihr habt mit ihr gesprochen?«

Rokko nickte. »Wir wollten ihr Einverständnis einholen, bevor wir dich ... nun ja, mit dieser Sache konfrontieren.«

»Konfrontieren womit?«

Rokko atmete durch. »Offenbar ist mal wieder irgendein Spinner der Ansicht, der Welt seine Fantasien aufzwingen zu müssen. Vermutlich hast du schon aus den Medien davon erfahren.«

Chris sah auf seine Hände herab, die er ineinander verschränkt hielt. »Ich verfolge keine Nachrichten«, erwiderte er tonlos. »Ich habe festgestellt, dass ich mich besser fühle, wenn ich nichts über die Missstände dieser Welt weiß.«

Rokko räusperte sich. »Tja«, meinte er und kratze sich an seinem Kinnbart. »Sieht so aus, als würde sich zumindest einer dieser Missstände damit nicht abfinden wollen.«

Chris blickte auf. »Worauf willst du hinaus?«

Rokko warf einen Blick auf Hartfels, womit er ihr signalisierte, das Kommando zu übernehmen. Sie ließ sich nicht lange bitten.

»Innerhalb der letzten zweieinhalb Wochen wurden drei Morde in und um Koblenz herum registriert«, sagte sie. »Der erste Mord ereignete sich in Metternich, der zweite in Weitersburg und der letzte vor drei Tagen auf einer Landstraße zwischen Nentershausen und Eppenrod.«

Chris spürte eine innere Unruhe in sich aufkommen. Er wechselte die Sitzposition. »Und was hat das mit mir zu tun?«

»Darauf komme ich gleich zu sprechen«, hielt Hartfels ihn hin. »Es hat etwas damit zu tun, dass die Fälle in Zusammenhang stehen.« Hartfels griff nach ihrer Tasche am Boden. Sie zog einige Unterlagen daraus hervor, darunter drei topographische Ausdrucke, auf denen die Fundorte markiert waren, und mehrere Fotos, die sie vor Chris auf dem Tisch ausbreitete. Sie zeigten die drei Opfer auf den stählernen Obduktionstischen der Rechtsmedizin. Beim Anblick der Bilder zog sich Chris der Magen schmerzhaft zusammen. »Die Opfer wurden alle entführt und mindestens zwei bis drei Tage festgehalten und gefoltert«, fuhr sie unverhohlen fort. »Das belegen einige der zahlreichen Verletzungen, die zum Teil schon zu heilen begonnen hatten. Dem ersten Opfer wurden zudem beide Beine und ein Arm gebrochen. Das zweite Opfer wies Rippenbrüche und Kopfverletzungen auf. Opfer Nummer drei wurden Kiefer und rechter Wangenknochen zertrümmert. Außerdem wiesen alle Körper erste Anzeichen von Dehydration auf.« Sie deutete auf die Bilder. »Allen Opfern wurde mit einem scharfen Gegenstand das Wort Respekt im Bauch- oder Brustbereich in die Haut eingeschnitten. Außerdem wurden ihnen die Augen ausgestochen und beide Hände abgetrennt, vermutlich mit einer Säge.«

Chris betrachtete die Bilder. »Großer Gott«, entfuhr es ihm. »Er hat ihnen die Hände an Schnüren um den Hals gehängt.«

»Ja«, bestätigte Hartfels emotionslos. »Letzteres wurde erst vollzogen, kurz bevor die Opfer ausgesetzt wurden. Dies geschah immer spätabends an öffentlichen Plätzen, oder zuletzt auf einer stark befahrenen Landstraße. Alle Opfer haben zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung noch gelebt, sind aber vor Eintreffen des Notarztes verblutet.«

Chris betrachtete seine Besucher fassungslos. »Man hat ihnen all das bei vollem Bewusstsein angetan?«

Rokko nickte betroffen. »Ihnen wurde lediglich ein starkes Beruhigungsmittel injiziert, um sie ruhigzustellen. Und da wäre noch etwas«, ergänzte er. »Der Täter hat kurz zuvor Fotos seiner misshandelten Opfer über deren Accounts in sozialen Netzwerken gepostet, um all ihre Bekannten und Freunde daran teilhaben zu lassen. Er sucht mit allen Mitteln nach Öffentlichkeit.«

Chris folgte den nüchternen Ausführungen und betrachtete die Bilder. Dabei spürte er, wie sich sein Puls schlagartig beschleunigte. Eine der Aufnahmen zeigte die nackte Leiche eines Mannes. Neben dem Wort Respekt, das tief in die Haut und das Untergewebe des Brustraums eingeschnitten war, waren die restlichen Bereiche des Körpers mit etlichen Wunden und Hämatomen übersät, die verbildlichten, welche Qualen das Opfer vor seinem Tod durchlitten hatte. Angewidert wandte er den Blick ab. »Nehmen Sie die Aufnahmen weg, ich habe genug gesehen«, sagte er und kämpfte gegen den Drang an aufzustehen und sich in sein Zimmer zu verkriechen wie ein verängstigtes Kind. Der Gedanke daran, dass das Böse hier Einzug hielt – hier, in seiner Festung, in der er sich völlig von solchen Dingen abgeschottet hatte –, erzeugte einen Druck in seiner Brust, der ihn am Atmen hinderte. Er ließ sich in den Sessel zurückfallen und rang nach Luft.

»Alles in Ordnung, Kumpel?«, fragte Rokko, als er seinen bleichen Gesichtsausdruck wahrnahm.

Nein, nichts ist in Ordnung!, schrie ein Gedanke in Chris‘ Kopf, in dem sich das Bild seiner toten Frau manifestierte, die mit aufgedunsenem und bläulich angelaufenem Gesicht an einem Strick vom Ast eines Baumes hing. Ein Anblick, der ihn noch immer aus dem Schlaf riss. Gar nichts ist in Ordnung. Wie könnt ihr mir das antun? Schafft diesen ganzen Dreck aus diesem Haus und verschwindet! Lasst mich damit in Ruhe! Seht ihr denn nicht, dass ich dazu nicht mehr in der Lage bin? Seht ihr es nicht? Oder wollt ihr es nicht sehen?

»Es geht schon wieder«, sagte er stattdessen und atmete durch.

Rokko warf Hartfels einen skeptischen Blick zu, der auszudrücken schien, dass er diesen Besuch für keine gute Idee hielt. Er fasste ihr Schweigen als Zustimmung auf.

»Ich muss euch bitten, das Ganze hier abzubrechen«, sagte Chris, als könne er ihre Gedanken lesen. »Ich freue mich, euch wiederzusehen, ehrlich, aber ich muss mir eingestehen, dass ich mich zukünftig nicht mehr mit solchen Dingen beschäftigen kann.«

»Glaub mir«, meinte Rokko, »wir hätten dich nicht damit behelligt, wenn nicht ...« Er hielt inne und kratzte sich erneut am Kinn.

»Wenn was nicht?«, fragte Chris, der trotz seiner Abscheu nicht verleugnen konnte, von einer gewissen Neugier befallen zu sein.

»Zunächst einmal«, sagte Hartfels, »müssen wir sichergehen, ob Sie eines der Opfer gekannt haben.«

Sie legte ihm eine Liste vor. Zögernd überflog Chris die drei Namen darauf. Es handelte sich um eine Frau und zwei Männer.

»Nein, die Namen sagen mir nichts.«

»Sind Sie sicher?«, fragte Hartfels nach und tippte auf die Fotos der Opfer. »Sehen Sie genau hin.«

Chris betrachtete die beiden abwechselnd. Der Druck in seiner Brust stieg wieder an, als er erneut auf die Bilder sah. »Ich bin mir sicher, dass ich diesen Menschen noch nie begegnet bin. Zufrieden? Kann mich jetzt mal jemand darüber aufklären, was das Ganze soll?«

Hartfels räusperte sich kurz. »Die Morde erinnern in ihrer Ausführung stark an die Vorgehensweise eines anderen Serientäters, der vor etwa zweieinhalb Jahren in der Gegend um Wiesbaden seine Taten verübt hat.« Sie zog eine weitere Aktenmappe aus ihrer Tasche hervor und schlug sie auf. »Miroslav Kowiak«, las sie daraus vor, »neunundzwanzig Jahre, geboren in Biebrich, Eltern polnischer Abstammung. Sein Vater starb bei einem Autounfall, als Kowiak acht Jahre alt war. Er befand sich ebenfalls in dem Unfallwagen und trug schwere Gesichtsverletzungen davon, die ihn noch heute entstellen. Seine Mutter kam nicht mit der Situation klar und verfiel dem Alkohol. Ihr wurde das Sorgerecht entzogen, und sie starb einige Jahre später. Kowiak wuchs in einem Heim auf. Seine schulischen Leistungen waren tadellos, dennoch brach er die Schule ab, riss aus dem Heim aus und schlug sich später mit Gelegenheitsjobs durch. Im Laufe der Jahre fiel er immer wieder durch Gewaltausbrüche auf. Es folgten mehrere Vorstrafen wegen Körperverletzung. Später ermordete er innerhalb von neun Monaten zwei Frauen und zwei Männer. Am letzten Opfer fanden wir seine DNA und seine Fingerabdrücke. Zunächst vermuteten wir, er hätte sich ins Ausland abgesetzt, und haben ihn mit einem internationalen Haftbefehl gesucht.«

»Das erklärt, weshalb das BKA Interesse an der Sache hat.«

Hartfels nickte. »Doch dann erhielten wir einen anonymen Hinweis, der uns direkt zu ihm führte. Er saß seelenruhig in der Innenstadt in einem Restaurant beim Mittagessen, als er festgenommen wurde. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, die er im Hochsicherheitsgefängnis in Butzbach verbüßt.«

Sie breitete weitere Bilder von Kowiaks Opfern auf dem Tisch aus. Auch ihnen war das Wort Respekt in Brust- oder Bauchbereich eingeschnitten worden, und die Körper wiesen ähnliche Hämatome und Verletzungen auf.

»Kowiak hat seine Opfer entführt und tagelang festgehalten. Er hat sie gefoltert, ihnen die Augen ausgestochen, die Hände abgetrennt und Bilder seiner Opfer im Internet gepostet. Die einzigen Abweichungen zu den aktuellen Morden bestehen darin, dass er seine Opfer nicht öffentlich zur Schau gestellt hat und dass sie bereits tot waren, als er mit ihnen fertig war.«

Chris wechselte die Sitzposition und rieb sich die Augen. »Sie gehen von einem Komplizen aus?«

»Das ist nicht auszuschließen«, entgegnete Hartfels. »Aber es passt nicht in das Persönlichkeitsprofil von Kowiak. Er ist als Einzelgänger bekannt, und es wurden keinerlei Hinweise auf einen Mittäter gefunden.«

»Dann kopiert ihn offensichtlich jemand«, schlussfolgerte Chris, dessen Blick darum bemüht war, den Bildern auf dem Tisch auszuweichen.

»Wir vermuten eher, dass der Täter Kowiaks Motive übernommen und für seine Zwecke angepasst hat.«

»Und was sind seine Motive?«

»Darüber können wir nur spekulieren. Kowiak schweigt bis heute über die genauen Gründe seiner Taten. Wir gehen davon aus, dass der Täter mit Kowiak in Kontakt steht. Er gilt als hochintelligent und manipulativ.«

»Dann überwachen sie seine Kommunikation nach draußen.«

»Das haben wir bereits veranlasst«, erwiderte Hartfels. »Wir haben ihn ebenfalls aufgesucht und ihn dazu befragt. Die Staatsanwaltschaft war sogar bereit, ihm gewisse Privilegien zuzugestehen, sollte er sich kooperativ zeigen. Er hat nur eine Bedingung gestellt.«

»Und die wäre?«

Rokko beugte sich zu ihm nach vorn. »Er will mit dir sprechen.«

KAPITEL 3

 

 

 

Chris saß einen Moment reglos da, während sein Herz wie wild gegen seine Brust hämmerte. Warum hatten es alle Verrückten dieser Welt auf ihn abgesehen? Er hatte ihnen bereits Rebecca geopfert. Was wollten sie als Nächstes? Seinen Verstand? Mit einem Mal kam es ihm vor, als würde sich seine Arbeit als Kriminalbeamter, die er in all den Jahren erfolgreich geleistet hatte, mit einem Male gegen ihn wenden. Als würde all das Gute, das er bewirkt hatte, sich ins Gegenteil kehren, um sich an ihm zu rächen. Langsam löste er sich aus seiner Starre und rutschte nervös auf dem Sessel hin und her. »Mit ... mit mir?«, fragte er mit belegter Stimme. »Dabei kann es sich nur um einen Irrtum handeln.«

»Nein, kann es nicht«, stellte Hartfels mit ihrer konsequenten Art fest. »Kowiak will uns nur dann sagen, was er weiß, wenn er Sie persönlich treffen darf.«

Chris schluckte. »Aber ich kenne diesen Kowiak nicht. Was will er von mir? Es muss sich hierbei um eine Verwechslung handeln.«

Rokko seufzte. »Du hast mir gegenüber mal behauptet, du glaubst nicht mehr an Zufälle.«

»Ich glaube an vieles nicht mehr.« Chris rieb sich nervös die Hände. »Kowiak könnte meinen Namen in den Medien aufgeschnappt haben. Wie du ja weißt, hat unser letzter Fall etliche Zeitungen dazu veranlasst, mein Schicksal bundesweit publik zu machen.« Ein Umstand, der seine Meinung über die Medien nicht verbessert hatte. Tagelang hatte sein Telefon nicht stillgestanden. Selbst nachdem er die gemeinsame Wohnung aufgegeben und zu seinen Eltern aufs Land gezogen war, hörten die Belästigungen nicht auf. Noch immer riefen gelegentlich Pressevertreter an. Man hatte ihn sogar in eine Talkshow eingeladen, wo er seinen tragischen Verlust der Öffentlichkeit hätte unterbreiten sollen. Chris hatte ihnen mit rechtlichen Konsequenzen gedroht, sollten sie ihn deswegen erneut behelligen.

»Hat Kowiak einen Grund dafür genannt, dass er ausgerechnet mich sehen will?«

»Nein«, übernahm Hartfels wieder das Wort. »Aber ich will ehrlich zu Ihnen sein«, sagte sie und stellte ihre Tasse ab. »Wie Sie schon sagten, war Ihr Fall eine Zeitlang in den Medien präsent. Das dürfte Kowiak nicht entgangen sein, da auch ihm ein Zugang zu bestimmten Medien gestattet ist. Sein psychologisches Profil weist ihn als hochgradigen Psychopathen mit sadistischen Neigungen aus. Meiner Erfahrung nach sind Menschen wie er nicht zu einer Kooperation bereit. Vermutlich hat er nicht einmal vor, irgendetwas Brauchbares preiszugeben, sofern er überhaupt etwas über die Morde sagen kann, sondern ist einzig und allein darauf aus, sich an Ihrem Leid aufzugeilen.«

Chris atmete tief durch. »Wie immer danke ich Ihnen für Ihre Offenheit«, sagte er, »und vermutlich haben Sie recht.« Am liebsten hätte er es bei dieser Aussage belassen und die Sache damit beendet. Sie hätten noch ein wenig über alte Zeiten geplaudert und sich dann verabschiedet. Anschließend hätte er sich wieder in seine schützende Festung verkrochen und sich dieser Welt und ihren Monstern entzogen. Aber in diesem Moment spürte er, dass diese Entscheidung die falsche wäre. In all den Wochen und Monaten, in denen er sich zurückgezogen hatte, in dem Glauben, dadurch besser mit seinem Schmerz klarzukommen, hatte er genau das Gegenteil erreicht. Durch seinen Rückzug war er mehr und mehr verbittert, hatte sich in seinem Exil sein eigenes verzerrtes Bild von der Welt und ihren Menschen entworfen. Das hatte ihn zu jemandem gemacht, der er nie hatte sein wollen: Ein oberflächlich denkender Griesgram, der alles in Schwarz oder Weiß einteilte, wobei die Farbe der Schatten zunehmend die Oberhand gewann. Und daran waren nicht allein die schrecklichen Dinge schuld, die er in letzter Zeit hatte verarbeiten müssen. Sie waren nur der entscheidende Auslöser gewesen. Doch in diesem Moment realisierte er die eigentliche Wahrheit: Er hatte Angst. Angst davor, wieder ein Teil dieser Welt und ihrer Menschen zu sein und sich dadurch der eigenen Schwächen bewusst zu werden, die hauptsächlich seiner ausgeprägten Emotionalität entsprangen. Eine Wesensart, die er seit Rebeccas Tod weitestgehend zu unterdrücken versuchte, weil sie ihn angreifbar machte. Mehr als einmal hatte er sich gewünscht, die emotionale Kälte einer Corinna Hartfels zu besitzen, an der scheinbar alles abprallte. Eine Art mentale kugelsichere Weste. In einer Gesellschaft, in der Menschlichkeit und Mitgefühl zunehmend an Stellenwert verloren, schien ihm das die geeignete Schutzmaßnahme zu sein.

Aber da war auch der Teil in seinem Inneren, der sich dagegen sträubte, der sich dieser Entwicklung verweigerte. Der Teil, der beschlossen hatte zu kämpfen, anstatt zu kapitulieren. Und dieser Teil war es, der sich nun zu Wort meldete.

»Aber es wäre einen Versuch wert«, sagte er mit einer Stimme, in der man eher Skepsis als Überzeugung vermutete. Dennoch spürte er eine Veränderung in dem Moment, in dem er diese Worte aussprach. Ein Kribbeln in seinen Eingeweiden, das wie ein Fieber in ihm hochstieg. Er kannte dieses Gefühl, selbst wenn es längere Zeit zurücklag, dass er es verspürt hatte. Ein Instinkt, von dem er sicher gewesen war, ihn verloren zu haben.

»Klar wäre es das«, erwiderte Rokko ein wenig überrascht. »Obwohl die Erfolgsaussichten eher als gering einzustufen sind. Aber es ist im Moment unser einziger brauchbarer Ansatzpunkt. Zwar ist einigen Zeugen ein dunkler Kastenwagen in der Nähe der Fundorte aufgefallen, aber keiner von ihnen konnte Angaben zu Modell oder Kennzeichen des Fahrzeugs machen.« Er deutete auf einen der Ausdrucke. »An dieser Stelle haben wir am Straßenrand Reifenspuren ausmachen können. Sie waren auf dem gefrorenen Boden aber nicht ausgeprägt genug, um die Marke zu ermitteln. Dort hat der Täter das letzte Opfer ausgesetzt.«

Chris betrachtete die Stelle. Sie lag an der Landstraße, ein Stück weit über dem eigentlichen Fundort. Er sah auf den Maßstab des Ausdrucks. »Dazwischen muss mindestens ein halber Kilometer liegen.«

»Sechhundertdreiundsiebzig Meter, um genau zu sein«, korrigierte Hartfels. »Das hat die Messung der Blutspur auf der Fahrbahn ergeben.«

»Mit solchen Verletzungen und in dem geschwächten Zustand muss das Opfer eine Zeitlang für diese Strecke benötigt haben. Sagten Sie nicht, die Landstraße wäre stark frequentiert?«

»Ja. In dieser Zeit müssen etliche Fahrzeuge den Mann passiert haben. Vermutlich hat in der Dunkelheit niemand die Verletzungen des Mannes wahrgenommen.«

»Wahrscheinlicher ist«, meinte Rokko, »dass man ihn für betrunken oder gar für einen Landstreicher gehalten hat. Wie gesagt stand der Mann unter starkem Medikamenteneinfluss.«

Chris betrachtete die beiden lange. »Waren die Opfer verheiratet?«

Hartfels deutete auf das letzte Foto in der Reihe. »Jan Gerke war Vater eines dreijährigen Sohnes.«

Chris schluckte. Ein weiteres Kind, das ohne ein Elternteil aufwuchs. Und ein weiterer Hinterbliebener, der aufgrund sinnloser Gewalt damit fertigwerden musste. Er spürte den Zorn in sich aufsteigen, so wuchtig wie ein Sturmtief. Es war dieselbe Art von Wut, die er empfunden hatte, als er dem Mörder seiner Frau gegenübergestanden hatte. Und er fegte jeden Rest von Zweifel und Angst beiseite.

»Na schön«, sagte Chris nach einigen Sekunden Bedenkzeit. »Aber ich will, dass Doktor Hoffmann mit anwesend ist. Besorgt die nötigen Genehmigungen und leitet alles in die Wege.«

Rokko betrachtete ihn skeptisch. »Bist du sicher?«

Chris nickte entschlossen. »Kowiak will reden. Dann hören wir uns an, was dieses Arschloch zu sagen hat.«

KAPITEL 4

 

 

 

Zwei Tage später

 

Nachdem sie zwei Sicherheitsschleusen in der Haftanstalt durchlaufen hatten, betraten Doktor Hoffmann und Chris den Besucherraum, in dem Miroslav Kowiak in Begleitung eines Justizvollzugsbeamten bereits auf sie wartete. Kowiak trug blaue Häftlingskleidung, die sich über seinem muskulösen Oberkörper spannte, und saß an dem einzigen Tisch in dem kleinen Raum. Seine klobigen Hände waren mit Handschellen gefesselt, die mit einer Verlängerung an eine Stahlöse in dem fest verankerten Tisch gekettet waren, was Kowiaks Bewegungsfreiheit auf ein Minimum beschränkte. Seine dunklen Haare waren kurzgeschoren und das längliche Gesicht rahmte ein Drei-Tage-Bart. Chris fiel sofort die Entstellung auf. Kowiaks Nase war ungewöhnlich deformiert und verknorpelt und von tiefen Narben durchzogen, die bis zu seinem Mundwinkel reichten.

---ENDE DER LESEPROBE---