Todesdrang - Michael Hübner - E-Book

Todesdrang E-Book

Michael Hübner

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Beschreibung

Ein skrupelloser Psychopath sucht seine Opfer im Internet und macht ihnen das Leben zur Hölle …

Ein blutiger Amoklauf erschüttert Koblenz: In blinder Wut richtet der Eigentümer einer Softwarefirma seine Angestellten mit mehreren Schüssen hin. Sein Motiv bleibt rätselhaft. Einige Tage später loggt sich Dirk Bukowski, erfolgreicher Filialleiter einer Bank und glücklicher Familienvater, in ein soziales Netzwerk ein, als in einem Fenster plötzlich die Worte „Wünsch dir was!“ aufblinken. Dirk glaubt an einen harmlosen Werbegag und tippt nichts ahnend „Ich habe bereits alles!“ in die darunterliegende Eingabezeile. Und schon bald darauf beginnt der schlimmste Albtraum seines Lebens …

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Seitenzahl: 378

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Buch

In einer Koblenzer Softwarefirma geschieht ein blutiger Amoklauf. In blinder Wut erschießt der Eigentümer seine Angestellten und tötet schließlich sich selbst. Auch Tage später liegen die Hintergründe der schrecklichen Tat noch im Dunkeln.

Zur gleichen Zeit in einem Vorort von Koblenz: Dirk Bukowski erhält die seltsame Nachricht »Wünsch dir was!«, als er sich in ein soziales Netzwerk einloggt. Der stellvertretende Leiter einer Bank glaubt an einen harmlosen Werbegag und zögert nicht lange: Sein Leben ist nahezu perfekt, er arbeitet erfolgreich in seinem Beruf und führt ein glückliches Familienleben mit seiner Frau Anke und dem gemeinsamen Sohn Kevin. Mit Genugtuung sendet Dirk also die Worte »Ich habe bereits alles!«. Doch die Nachricht lockt den nichts ahnenden Dirk in die Falle eines grausamen Psychopathen, der nicht nur im Netz ein perfides Spiel mit ihm treibt. Bald weiß Dirk nicht mehr, wem er noch trauen kann, denn sein Verfolger geht über Leichen und kennt nur ein Ziel – sein Leben zu zerstören …

Weitere Informationen zu Michael Hübner

sowie zu lieferbaren Titeln des Autors

finden Sie am Ende des Buches.

Michael Hübner

Todesdrang

Thriller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe Mai 2013

Copyright © 2013 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Copyright © FinePic ® , München

Redaktion: Alexander Müller

KS · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN 978-3-641-09951-0V002

www.goldmann-verlag.de

Für Melli und Dirk.

Ihr wisst, warum!

Das Übel kommt nicht von der Technik,

sondern von denen, die sie missbrauchen.

Jacques-Yves Cousteau

Vorheriges Spiel

Finales Level

AMOK

Letzter Tag14. Februar

Das Erste, was Bettina Gerk sah, als sie an diesem Morgen den Besprechungsraum betrat, war die verstümmelte Leiche ihrer Kollegin.

Aufgrund der starken Schneefälle war der Bus nicht pünktlich gekommen, weshalb sich Tina, wie Frau Gerk von Kollegen und Freunden genannt wurde, um gut zwanzig Minuten verspätet hatte. Sie war so sehr in Eile, dass sie vor dem imposanten, spiegelglasverkleideten Gebäude des Softwareentwicklers ICS beinahe ausgerutscht wäre. Leise fluchte sie in sich hinein und wünschte das verdammte Tiefdruckgebiet zum Teufel, welches ihr aller Voraussicht nach den Missmut ihres Chefs einbringen würde. Erst vor zwei Tagen hatte ein Sturmtief die kleine Stadt in Atem gehalten, hatte Bäume entwurzelt und Dächer abgedeckt, was der Heckscheibe ihres Wagens zum Verhängnis geworden war. Und nun dieses Schneechaos. Ausgerechnet heute war eine wichtige Besprechung anberaumt worden, bei der sie als Sekretärin der Geschäftsleitung anwesend sein musste. »Verdammter Mist«, murmelte sie, als sie feststellte, dass der Saum ihrer Anzughose voller Schneematsch war. Heute war einfach nicht ihr Tag.

Sie wollte gerade die Drehtür passieren, als sie im Augenwinkel den Hausmeister wahrnahm, der damit beschäftigt war, auf den vom Schnee befreiten Stufen Salz zu streuen. Er trug eine dunkle Wollmütze mit den Initialen der Firma.

»Guten Morgen, Frau Gerk«, rief er ihr zu. »Schöne Bescherung, dieses Wetter, was?«

»Ja, ja«, winkte sie hektisch ab, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. »Sind die anderen schon da?«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, ich war die ganze Zeit hinten mit Schneeräumen beschäftigt. Aber ich nehme es mal an.«

Danke, Kai, dachte sie abschätzig. Du warst wie immer eine große Hilfe. Kein Wunder, dass dieser einfältige Kerl hier nur Hausmeister war. »Tut mir leid«, sagte sie, als sie an ihm vorbeieilte, »ich bin spät dran.«

Der Mann machte noch Anstalten, ihr etwas hinterherzurufen, besann sich dann aber eines Besseren und wandte sich wieder den Eingangsstufen zu.

Bettina Gerk betrat das Gebäude und wunderte sich beiläufig über das Fehlen von Sabine, die normalerweise am Empfang saß. Sie eilte weiter zu den Aufgängen. Auch dort begegnete ihr niemand. Selbst am Kaffeeautomaten, vor dem sich um diese Tageszeit schon mal kleinere Schlangen bildeten, herrschte gähnende Leere. Zunächst hegte sie die Hoffnung, nicht die Einzige zu sein, die sich wegen des Wetters verspätet hatte. Dagegen sprach allerdings der wie üblich überfüllte Parkplatz vor dem Gebäude. Sie ging daher davon aus, dass die Besprechung bereits begonnen hatte und sie wieder einmal zu spät kam. Und das, wo sie bei den meisten Kollegen ohnehin nicht als besonders zuverlässig galt.

Bereits ein paarmal hatte sie mit dem Gedanken gespielt, sich nach einer anderen Stelle umzusehen. Zwar war ICS hoch angesehen in der Branche, doch war die Konkurrenz in den letzten Jahren stetig größer geworden. Dadurch wuchs der Druck auf die Angestellten, was unzählige Überstunden zur Folge hatte und schlecht für das Betriebsklima war. Dass sie heute wieder zu spät kam, würde ein willkommener Anlass sein, sie endgültig auf die Abschussliste zu setzen.

Sie eilte weiter den mit dunklen Marmorplatten ausgelegten Gang entlang, vorbei an geschlossenen Bürotüren, bis sie das Vorzimmer erreichte. Hastig warf sie ihren Mantel über den Stuhl und stellte ihre Handtasche auf dem dunklen Schreibtisch ab, der vor dem Büro ihres Chefs stand. Matthias Hartwick, Geschäftsleitung prangte es in hellen, serifenlosen Buchstaben von dem Schild an der halb offenen Tür. Sie klopfte an und lugte in das geräumige Büro. Es war niemand zu sehen. Nur der dunkle Wollmantel ihres Chefs hing über der Lehne des Besucherstuhls. Anscheinend ging es ihm wieder besser, nachdem er zwei Wochen lang nicht zur Arbeit erschienen war. Eine Grippe, wie er ihr am Telefon mitgeteilt hatte. Wenn es nach Bettina Gerk gegangen wäre, hätte dieser Zustand ruhig noch einige Tage anhalten können. Sie hatte die despotischen Launen ihres Chefs, die er in letzter Zeit immer öfter an den Tag legte, ziemlich satt.

Sie schloss die Tür, ging zurück zu ihrem Schreibtisch und schaltete den Monitor an. Während der Computer hochfuhr, setzte sie Kaffee auf und richtete einen Teller mit Gebäck an. Anschließend füllte sie den Kaffee in zwei Warmhaltekannen, stellte alles auf ein Tablett, klemmte sich eine Mappe mit den Unterlagen für die Besprechung unter den Arm und ging ungelenken Schrittes zum Konferenzraum. Solche Besprechungen konnten durchaus den ganzen Vormittag andauern, und sie fragte sich, ob sie noch mehr Kaffee hätte aufsetzen sollen. Doch angesichts ihrer Verspätung hielt sie dieses Versäumnis für verzeihlich. Vor der Tür zum Konferenzraum blieb sie stehen und lauschte. Merkwürdigerweise war es vollkommen still. Keine Stimmen, die wild durcheinanderredeten, keine endlosen Monologe, nichts drang an ihr Ohr. Vermutlich brüteten die da drinnen gerade über einem Bilanzbericht oder dergleichen, von dem zumindest ihre männlichen Kollegen ihre Augen nur abwenden würden, um ihr in den Ausschnitt zu starren, während sie das Tablett abstellte.

Sie atmete tief durch, um nicht zu gehetzt zu wirken, und klopfte kurz an, bevor sie die Tür öffnete.

Als Erstes fiel ihr der verbrannte Geruch auf, der schwer in der Luft hing. Als hätte jemand Silvesterböller in dem Raum gezündet. Dann bemerkte sie das Blut an den Wänden. Die Muskeln ihrer Arme erschlafften, und ein hohles Scheppern erklang, als die Warmhaltekannen auf dem Boden aufschlugen. Das Tablett und der Teller mit dem Gebäck fielen zusammen mit den Unterlagen neben den blutüberströmten Körper zu ihren Füßen. Schlagartig wurde ihr klar, weshalb der Empfang in der Halle nicht besetzt gewesen war.

Bettina Gerk hielt ihre Hände fest vor den Mund gepresst, um den Aufschrei zu ersticken, der ihrer Kehle entfahren wollte, und starrte wie paralysiert auf die Leiche, über die sie beinahe gestolpert wäre. Dass es sich um ihre Kollegin Sabine Henning handelte, erkannte sie lediglich an den brünetten Haaren und der weinroten Bluse, die Sabine öfter trug. Und an dem blauen Saphirring an der linken Hand, den sie von ihrem Freund zu ihrem ersten Jahrestag bekommen hatte. Von dem hübschen Gesicht hingegen war nicht viel übrig geblieben. Da war nur noch ein blutiger Stumpf, der aus ihrem Hals ragte, eine breiige Masse aus Fleisch und Knochen.

Bettina Gerk schrie. Und ihr Schreien schien nicht enden zu wollen, als ihr Blick durch den Raum glitt. Mindestens zehn weitere Körper lagen leblos über den Boden verteilt. Die in der Nähe der Tür wiesen tellergroße Wunden am Rücken auf. Programmierer und Layouter, aber auch Leute aus der Buchhaltung und dem Vertrieb. Bettina erkannte Klaus Hartmann unter den Opfern, einen der Programmdesigner, der schlaff auf einem der Stühle an dem großen Konferenztisch saß. Sein Gesicht war in dem Moment, als seine Brust explodiert war, in einem Ausdruck ewigen Entsetzens erstarrt. Überall war Blut. Es sickerte großflächig in den grauen Teppichboden, während die Wände mit fleischigen Fetzen und Blutspritzern übersät waren.

Und dann sah sie ihn. Wie ein bedrohlicher Schatten erhob sich am oberen Ende des Tisches vor der breiten Fensterfront die Gestalt ihres Chefs. Doch er war nicht mehr der Mann, der diese Firma in den vergangenen Jahren mit eiserner Hand nach oben gebracht hatte. Er hatte auch keine Ähnlichkeit mehr mit jenem Mann, der Maßanzüge trug und peinlich genau auf sein Äußeres bedacht war. Dieses Wesen, das dort stand, starrte sie mit wutverzerrter Fratze an. Ihr Schrei verstummte, als sie in Matthias Hartwicks verwirrt dreinblickende Augen sah, die Mühe hatten, sich auf einen bestimmten Punkt zu fixieren. Sie sah seine Haare, die fettig glänzten und ihm wirr in die Stirn hingen. Sie sah das nervöse Zucken an Hals und Wangen, als habe er sein Gesicht nicht mehr unter Kontrolle. Und dann sah sie den finsteren Schatten, der sich um seine Augen legte, als er sie abschätzig musterte wie ein lästiges Insekt.

»Du bist spät dran, Miststück«, flüsterte er grinsend. Dann hob er in einer schnellen Bewegung seine Arme.

In diesem Moment wurde Bettina Gerk bewusst, dass sie sich den ganzen Morgen über nur abgehetzt hatte, um zu ihrer eigenen Hinrichtung zu erscheinen. Das Letzte, was sie in ihrem Leben sah, war der Lauf einer Schrotflinte, der auf ihren Kopf gerichtet war.

Das Donnern des Schusses hinterließ eine intensive Stille in seinen Ohren. Er spürte den Rückstoß noch immer in seinen Armen, als er die Waffe senkte. Zufrieden sah er, wie der sterbende Körper seiner Sekretärin zu den anderen auf den Boden fiel. Er lachte laut auf und vollführte eine Art Freudentanz, wie ein Kind, das eine Schneeballschlacht gewonnen hat.

Zufrieden betrachtete er die Leichen am Boden, die einmal seine Angestellten gewesen waren. Menschen, denen er vertraut hatte. Er atmete tief durch und sog den metallischen Geruch des Blutes ein. Es war der Gestank des Verrates.

Das habt ihr nun davon, ihr elenden Ratten, dachte er. Sie hatten es nicht anders verdient, hatten sich gegen ihn verschworen, um ihn fertigzumachen. Und sie hatten es fast geschafft. Doch nun hatte er es ihnen heimgezahlt. Tiefe Ruhe breitete sich in ihm aus, ein Gefühl vollkommenen Friedens. Dennoch drang ein letzter rationaler Gedanke in seinen von Hass durchtränkten Verstand und streute Zweifel.

Konnte das wirklich sein? Hatten all diese Menschen tatsächlich einen solch perfiden Plan ausgeheckt und ihn damit bis zum Äußersten getrieben?

Nein, das war zu einfach. Es musste noch jemand dahinterstecken. Jemand mit Einfluss. Jemand, der ihn so sehr hasste, dass er bereit gewesen war, alles in Bewegung zu setzen, um ihn zu vernichten. Aber wer konnte das sein? Wen oder was hatte er übersehen?

Erneut ließ er seinen Blick über die Leichen schweifen, über entstellte und im Tod erstarrte Gesichter, die ihm über die Jahre hinweg so vertraut geworden waren. Menschen, die er beim Vornamen angesprochen, die er für kompetent und zuverlässig gehalten hatte. Er spürte, wie seine Beine zu zittern begannen.

»Was habe ich nur getan?«, fragte er in den Raum hinein, der nach Tod und Wahnsinn roch. Erschöpft ließ er sich am oberen Ende des Tisches auf seinen Stuhl sinken. Keine drei Wochen waren vergangen, seit er zuletzt hier gesessen hatte. Er, der erfolgreiche Geschäftsmann, der Familienvater, der es zu Wohlstand und Ansehen gebracht hatte. Ein Unternehmer mit Zukunft. Das alles war verloren. Unwiederbringlich. Zerstört von Missgunst und Neid. Vernichtet durch eine dunkle Macht, die plötzlich und unvorbereitet über ihn hereingebrochen war und nur Verwüstung in seinem Verstand hinterlassen hatte. Er schluchzte. Von draußen vernahm er das entfernte Heulen von Sirenen. Als sie näher kamen, hatte er eine letzte Entscheidung gefällt.

Noch während er sich ein weiteres Mal fragte, wie es so weit hatte kommen können, richtete er sich auf, führte den Lauf der Schrotflinte an den Mund und vervollständigte das blutige Gemälde an der Wand hinter sich.

Neues Spiel

Erstes Level

DER DRANG

Erster Tag22. Februar

Dirk Bukowski saß in seinem schwarzen Audi TT Roadster und fuhr mit Vollgas aus der Stadt hinaus. Es war bereits dunkel, und er wollte diesen Tag nur noch hinter sich lassen, der in der Hauptsache aus Terminen, Telefonaten, Konferenzen und lästigen Kundengesprächen bestanden hatte. Aus Beratungen und Kreditabsagen. Höchste Zeit, nach Hause zu kommen und abzuschalten. Eine angenehme Müdigkeit überfiel ihn, während aus den Lüftungsschlitzen der Armaturen warme Luft zu ihm drang. Die Schneefälle der letzten Tage hatten nachgelassen, nicht jedoch die Kälte, die nach wie vor verhinderte, dass sich die zu beiden Seiten der Straßen aufgetürmten Schneemassen verflüchtigten. Die Lichter der Straßenlampen spiegelten sich auf der nassen, mit Salz bestreuten Fahrbahn, sodass es ihm schwerfiel, die Fahrbahnbegrenzung zu erkennen. Um sich wachzuhalten, schaltete er das Radio ein. Die sonore Stimme eines Nachrichtensprechers erklang, und mit Bestürzung stellte Dirk fest, dass es bereits nach sieben war. Über einen Knopf am Lederlenkrad rief er eine Liste mit Namen auf der Bordanzeige auf; gleich den ersten wählte er an. Sofort stellte sein Handy in der Halterung die Verbindung her. Es dauerte einige Sekunden, bis sich am anderen Ende eine sanfte Frauenstimme meldete.

»Anke Bukowski.«

»Hallo, Schatz«, sagte er. »Ich wollte nur rasch Bescheid geben, dass ich auf dem Weg zu euch bin. Ist leider etwas spät geworden. Ich hoffe, ihr habt nicht mit dem Essen auf mich gewartet.«

»Nein«, lachte sie. »Ehrlich gesagt, sind wir selbst gerade erst nach Hause gekommen. Ich war mit Kevin in der Kindergruppe.«

»Stimmt, heute ist ja Freitag. Hatte ich ganz vergessen.« Erst jetzt begann er zu realisieren, dass er auf dem Weg in ein freies Wochenende war.

»Ich fange jetzt an zu kochen«, sagte sie. »Irgendwelche Wünsche?«

»Es sollte genießbar sein«, entgegnete er trocken.

»Sehr witzig! Wann bist du in etwa da?«

»Ich biege jetzt gerade auf die Autobahn ein. Wenn der Verkehr mitspielt, bin ich in etwa zwanzig Minuten bei euch.«

»Ich freu mich.«

»Ich mich auch. Bis gleich.«

Er beendete die Verbindung und stellte das Radio lauter. Noch immer Nachrichten. Und noch immer waren sie beherrscht von dem Amoklauf, der sich acht Tage zuvor in einer hiesigen Softwarefirma ereignet hatte. Wie der Sprecher mitteilte, lagen die Motive des Täters weiterhin im Dunkeln. Die Behörden gingen jedoch von einem »Akt der Verzweiflung« aus, da Matthias Hartwick, der Eigentümer und Geschäftsführer der Firma, vor dem geschäftlichen und privaten Ruin gestanden habe. Die Umstände, die dazu geführt hätten, seien jedoch immer noch ungeklärt. Auch auf die Frage, weshalb Hartwick nahezu seine gesamte Belegschaft mit in den Tod gerissen hatte, fehle bislang eine schlüssige Antwort. Erste Ermittlungen hätten ergeben, dass vermutlich Firmengelder veruntreut worden waren und Misswirtschaft betrieben wurde. Dass Mitarbeiter in die Geschehnisse verwickelt waren, schloss man dabei jedoch aus.

Dirk war nicht nach solchen Nachrichten zumute, zumal er selbst schon mehrfach mit ICS in beruflichem Kontakt gestanden hatte. Das letzte Mal lag gerade einmal sechs Wochen zurück, was die Sache umso schockierender für ihn machte. Er fragte sich, was einen Menschen so sehr verzweifeln ließ, dass ihm alle Sicherungen durchbrannten. Lag es allein am beruflichen Stress, an Misserfolg und drohendem sozialen Abstieg? Mit den hohen Anforderungen eines kapitalistisch orientierten Marktsystems kannte er sich bestens aus, auch mit dem Druck, der heutzutage auf der Gesellschaft lastete. Als stellvertretender Leiter einer Bankfiliale saß er quasi an der Quelle allen Übels. Tagtäglich befasste er sich mit den Wünschen und Problemen seiner Kunden. Erst vor ein paar Stunden hatte er dem verzweifelten Drängen eines Klienten nicht nachgeben können und eine weitere Kreditzusage ablehnen müssen. Bereits mehrfach war er dem Mann, der seinen Job verloren hatte, entgegengekommen, indem er Raten und Zinszahlungen ausgesetzt hatte. Aber inzwischen war die Lage aussichtslos. Nicht kreditwürdig, wie das in seinen Kreisen genannt wurde. Doch auch alles Rechnen und Erläutern hatte den Mann nicht zur Einsicht gebracht. Er war verzweifelt, bangte um sein Haus und seine Existenz. Er war bereit, sich weiter zu verschulden, um damit andere Schulden zu bezahlen. Eine Vorgehensweise, die nur im Bankrott enden konnte. So oder so würde die Bank wahrscheinlich nicht anders können, als ihm sein Haus zu pfänden. Es gab nun einmal ebenso viele Verlierer wie Gewinner in diesem System.

Sei’s drum, dachte sich Dirk. Schließlich arbeitete er für eine Bank und nicht für die Wohlfahrt. Er machte doch nur seinen Job, und der war für heute beendet. Also entschied er, diese Gedanken ebenso hinter sich zu lassen wie die Lichter der Stadt Koblenz, die sich nun zu seiner rechten Seite durch das Rheintal erstreckten. Jeden Abend, wenn er wie jetzt nach Hause fuhr, konnte er seine Arbeit dort unten in diesem Lichtermeer zurücklassen und eine gewisse Distanz zu ihr aufbauen, sich emotional von ihr lösen.

Er stellte das Radio aus und wechselte zum CD-Player. Die raue Stimme Eric Claptons erklang. Sie sang ein Lied über nicht erwiderte Liebe und Leidenschaft, und Dirk wurde einmal mehr bewusst, wie perfekt und glücklich sein Leben doch im Grunde verlief.

Der Verkehr hatte sich noch einmal verdichtet, weshalb es fast eine halbe Stunde dauerte, bis Dirk endlich die kleine Gemeinde Nauort erreichte und in die Auffahrt seines Grundstücks einbog. Es befand sich am Ende eines ruhig gelegenen Wohngebiets und bot eine nahezu unverbaute Sicht auf die weiten Felder und den angrenzenden Wald. Das Haus beeindruckte durch seinen mediterranen Stil, durch sandsteinfarbige Balustraden am oberen Balkon und zwei Betonsäulen vor dem Eingang. Die Reifen des Wagens rollten knirschend über die mit angefrorenem Schneematsch überdeckten Natursteinplatten auf die Garage zu, neben der sich in zwei Reihen Brennholz stapelte. Dirk betätigte die Fernbedienung, und das Tor öffnete sich. Beinahe geräuschlos glitt der Wagen in den geräumigen Unterstand, in dem bereits der Familienkombi auf seinem gewohnten Platz parkte. Kurz darauf schlenderte Dirk mit seinem dunklen Aktenkoffer in der Hand über den Hof, während sich hinter ihm das Tor leise wieder schloss.

»Hallo, Nachbar!«, ertönte eine tiefe Männerstimme neben ihm, und Dirk sah eine dick verhüllte Gestalt im dämmrigen Licht der Hofbeleuchtung stehen, direkt hinter der hüfthohen Bruchsteinmauer, die das Grundstück auf dieser Seite umgab. »Mal wieder spät geworden, was?«

»Hallo, Niklas«, sagte Dirk und ging frierend auf den Mann zu. »Ja, war ein langer Tag.«

»Tja, das liebe Geld«, meinte Niklas. »Ich hab schon genug mit meinen eigenen paar Kröten zu tun, aber wenn man sich auch noch um das Geld von anderen kümmern muss, das braucht seine Zeit.«

Dirk lächelte gequält und betrachtete seinen Nachbarn. Niklas Weber, Ende fünfzig und Frührentner, war ein kauziger Typ, der Dirk auf Anhieb sympathisch gewesen war. Er besaß jene selten gewordene Art von Stolz, die den Umgang mit ihm manchmal zum Geduldsspiel werden ließ. Seinen Beruf als Dachdecker hatte er aufgeben müssen, nachdem er sich durch einen Sturz vor zwei Jahren die Hüfte zertrümmert hatte. Dirk erinnerte sich noch gut daran, wie er ihn damals nach seiner Operation im Krankenhaus besucht hatte, nachdem sie ihm ein künstliches Hüftgelenk eingesetzt hatten. Der dortige Therapeut versuchte mit Engelsgeduld, Niklas von den Vorzügen eines Gehgestells zu überzeugen. Er könne sich auf diesem Wege in den ersten Wochen wieder an das Gehen gewöhnen und seine Muskeln reaktivieren, wodurch die Schmerzen rasch vergehen würden. Doch Niklas hatte das Gestell nur missbilligend betrachtet und gemeint, er könne sich auch ebenso gut »ein haariges Seil durch den Arsch ziehen«, womit er auf seine eigenwillige Weise auszudrücken versuchte, dass diese Art der Demütigung für ihn ebenso wenig infrage kam. Nur mithilfe von Dirk gelang es schließlich, ihn wenigstens zu ein paar Krücken zu überreden.

»Was machst du bei diesem Wetter noch hier draußen?«, fragte Dirk, der eigentlich schleunigst ins Warme wollte.

»Meine Frau hat mich nach dem Essen mal wieder dazu verdonnert, den Müll rauszubringen«, sagte Niklas. »Tja, und da habe ich mir gedacht, wenn ich schon bei dieser Saukälte nach draußen muss, kann ich die Gelegenheit wenigstens dazu nutzen, einem meiner Laster zu frönen.« Grinsend hob er den Arm und deutete auf den glühenden Zigarillo in seiner Hand.

»Na, dann pass lieber auf, dass deine Frau dich nicht dabei erwischt. Die macht dir sonst die Hölle heiß.«

»Und wenn schon«, sagte Niklas und zuckte mit den Schultern. »Die beruhigt sich schon wieder.« Er schob sich die dunkelblaue Franzosenmütze aus dem Gesicht, die er wohl nur zum Schlafen ablegte, wie Dirk vermutete.

»Du warst schon lange nicht mehr beim Stammtisch«, sagte Niklas mit einem Anflug von Tadel in der Stimme. »Ich mach mich gleich auf den Weg. Falls du Lust hast …«

»Na ja«, erwiderte Dirk, der nach diesem Tag dazu noch weniger Lust verspürte als dazu, hier draußen in der Kälte zu stehen, »eigentlich würde ich ja gerne mitkommen, aber ich hatte eine anstrengende Woche und brauche dringend ein wenig Ruhe. Sei mir nicht böse.«

»Schon klar«, sagte Niklas und zwinkerte. »Kleines Schäferstündchen, hab ich recht?« Er grinste und zog an seinem Zigarillo. Der Rauch verstärkte den Kälteschleier seines Atems. »Glaub mir, wenn meine Rosi noch solche Beine hätte wie deine bessere Hälfte, bekämen mich heute keine zehn Pferde mehr vor die Tür.« Er griff nach hinten. »Dieser verdammte Winter«, fluchte er, während er sich über der dicken Daunenjacke die Lenden rieb. »Bei dieser Kälte quietscht meine Hüfte wie ein altes rostiges Gartentor.«

»Dann solltest du jetzt besser reingehen.«

»Ja, vielleicht hast du recht«, stimmte er ihm mürrisch zu. »Und vielleicht überlege ich mir das ja noch mal mit meiner Frau. Als Wärmflasche ist sie noch gut zu gebrauchen.« Er zwinkerte ihm zu. »Du, wenn wir schon hier draußen stehen und frieren: Ich hab da einen kleinen Anschlag auf dich vor. Ich bräuchte nämlich mal deine motorisierte Hilfe.«

»Klar, worum geht’s?«, fragte Dirk, dessen Füße allmählich einfroren.

»Wie du weißt, hat der Sturm letzte Woche einen meiner Kirschbäume dahingerafft. Meine Hüfte und ich wären dir wirklich sehr dankbar, wenn du uns mit deiner Motorsäge bei der Beseitigung der Überreste behilflich sein könntest.«

Dirk hatte sich eigentlich vorgenommen, dieses Wochenende einfach mal auszuspannen und mit seiner Frau das Bett nur zum Essen zu verlassen. Aber Niklas konnte er einfach keinen Gefallen abschlagen, zumal Anke und er im Sommer stets reichlich von der Apfel- und Kirschernte des Nachbarn profitierten.

»Klar doch«, erwiderte Dirk. »Wie wäre es morgen, nach dem Mittagessen?«

»Dank dir, hast was gut bei mir.« Er inhalierte genüsslich den Rauch seines Zigarillos. »Glaub mir, ich würde es ja selber machen, aber leider ist die momentane Rechtslage wohl so, dass es einem Mann in meinem Alter ohne einen entsprechenden Nachweis nicht gestattet ist, ein paar Äste abzusägen. Und das, obwohl ich schon mit Motorsägen hantiert habe, als diese Paragraphenhengste noch nicht mal in der Lage waren, einen Löffel richtig zu halten.« Er spuckte verächtlich auf den gefrorenen Boden. »Glauben diese Politiker ernsthaft, wir würden sie wählen, damit sie uns bevormunden können? Von denen sollte man mal eine Tauglichkeitsprüfung verlangen, dann hätte dieses Land einige Schwätzer weniger zu verkraften!«

Damit hatte er nicht ganz unrecht, dachte Dirk.

In diesem Moment wurde über ihnen ein Fenster geöffnet. »Niklas?«, rief eine weibliche Stimme nach draußen. »Ist alles in Ordnung? Wo bleibst du denn so lange? Oh, hallo, Dirk.« Ihre Stimme wurde sofort weicher, als sie ihn erblickte.

»Guten Abend, Rosi«, rief Dirk zurück. »Tut mir leid, ich wollte deinen Mann nicht aufhalten.«

»Aufhalten?«, sagte sie schnippisch. »Es ist wohl eher umgekehrt. Vermutlich raucht er wieder heimlich diese stinkenden Dinger. Dabei weiß er genau, was sein Arzt davon hält.«

»Ach, was weiß der schon«, winkte Niklas ab. »Dieser studierte Besserwisser hat doch tatsächlich behauptet, ich müsse mehr auf mein Herz achten, sonst wäre es bald so ramponiert wie meine Hüfte«, erklärte er Dirk.

»Du solltest besser auf ihn hören«, rief seine Frau zu ihm herunter, »sonst liegst du irgendwann tot zwischen den ganzen Kippen im Garten.«

»Und wenn schon«, grollte Niklas zurück. »Dann muss ich mir wenigstens nicht länger dein Gekeife anhören.«

Sie seufzte übertrieben laut auf. Dann wandte sie sich wieder an Dirk, der diesen kleinen Schlagabtausch amüsiert verfolgt hatte. »Rede du mit ihm«, meinte sie niedergeschlagen. »Vielleicht gelingt es dir ja, diesen alten Dickschädel zur Vernunft zu bringen. Mir kann er jedenfalls den Buckel runterrutschen.« Sie wünschte Dirk eine gute Nacht und verriegelte das Fenster.

Niklas verdrehte die Augen. »Nicht mal die Beine von Cindy Crawford wären dieses Gezeter wert. Kälte hin oder her, da schlag ich mich doch lieber bis zur nächsten Kneipe durch, bevor man mir auch noch das Trinken verbietet.« Er trat den halb aufgerauchten Stängel auf dem gefrorenen Boden aus und wandte sich zum Gehen. »Bis morgen, Dirk. Und lass dich mal wieder bei unserem Stammtisch blicken.«

»Mach ich«, rief Dirk ihm hinterher. »Grüß die anderen von mir!« Dann drehte auch er sich um und ging schnellen Schrittes zur Haustür. Und während seine eisigen Finger in den Taschen des Mantels nach dem Schlüssel suchten, fragte er sich, ob seine Frau und er in zwanzig Jahren wohl ebenfalls in diesen liebevollen Zynismus verfallen würden.

Kaum hatte er den Flur des Hauses betreten, kam etwas Haariges auf ihn zugerast und sprang freudig an ihm hoch.

»Hallo, Cookie«, begrüßte Dirk die Promenadenmischung, die sich laut Vorbesitzer aus einem Kleinspitz und einem Terrier zusammensetzte und sich nun erregt an seinem Bein zu reiben begann. »Ich freu mich auch, dich zu sehen.« Nachdem Dirk die Tasche abgestellt und seinen Mantel an der Garderobe aufgehängt hatte, beugte er sich hinab und streichelte den Hund, der ihm daraufhin die Hand und das Gesicht ableckte. »Ist ja gut, mein Kleiner«, sagte er und rollte sich mit ihm auf dem Boden.

»Vielleicht sollte ich dich auch mal so begrüßen«, sagte Anke Bukowski, während sie die beiden amüsiert von der Küchentür aus beobachtete. Sie hatte dunkles, fast schwarzes, dichtes Haar, das ihr glatt bis über die Schultern fiel. »Wälzt du dich dann auch mit mir auf dem Boden?«

»Ehrlich gesagt«, entgegnete Dirk, wobei er Mühe damit hatte, Cookie auf Distanz zu halten, »die Vorstellung ist ziemlich verlockend. Einen Versuch wäre es wert.« Er schob lachend den Hund beiseite und stand auf. Dann ging er auf seine Frau zu, umarmte sie und gab ihr einen Kuss. »Ich hab dich vermisst.«

»Stress in der Bank?«

»Nicht mehr als üblich. Lass uns lieber von was anderem reden«, hauchte er ihr ins Ohr.

»Und was genau schwebt dir da so vor?« Erwartungsvoll legte sie den Kopf in den Nacken, während Dirk ihr den Hals küsste.

»Mir fiele da schon was ein«, sagte er, hielt plötzlich inne und sah nach unten, wo der Hund wieder damit begonnen hatte, sich hechelnd an seinem Bein zu reiben. »Schätze, Cookie und ich haben dieselbe Idee.«

Sie wand sich aus der Umklammerung ihres Mannes. »Dann wird sein Herrchen sich – zumindest, was mich angeht – noch ein wenig gedulden müssen.«

»Und weshalb?«, fragte er, während er ihren prallen Ausschnitt küsste.

»Hallo, Paps«, erklang die Stimme seines fünfjährigen Sohnes.

»Hallo, Herr Bukowski.«

Blitzartig hob er den Kopf aus Ankes Ausschnitt und sah über ihre Schulter hinweg in die Küche hinein. »Hallo, Kevin, hallo, Tim«, sagte er verlegen und kam dabei nicht umhin, eine gewisse Enttäuschung in seinen Worten mitschwingen zu lassen.

Anke deutete eine Geste der Entschuldigung an. »Ich habe seiner Mutter versprochen, dass Tim heute hier schlafen darf. Tut mir leid.«

Dirk seufzte. »Wer ist es diesmal?«

»Nun tu bitte nicht so, als hätte Kerstin jede Woche einen anderen.«

»Ich meine ja auch nur, dass sie wahrlich kein Kostverächter ist, seit sie sich von ihrem Mann getrennt hat.«

»Erstens«, sagte Anke, »hat ihr Mann sich von ihr getrennt, und zweitens versucht sie bloß, wieder Anschluss zu finden.«

»Sprich: Sie ist auf der Suche nach einem Versorger.«

»Und wenn schon.« Ihre Stimme hatte einen gereizten Unterton angenommen. »Hast du eine Ahnung, wie schwer man es heute als alleinerziehende Mutter hat?«

»Sie bekommt doch sicher Unterhalt.«

»Und du denkst ernsthaft, das reicht für zwei?«

»Sie scheint mir nicht zu kurz zu kommen«, entgegnete er.

Anke schüttelte den Kopf und stemmte die Hände in die Hüften. »Manchmal bist du ein ziemlicher Macho.«

»Quatsch, aber ich erlebe jeden Tag, wie Leute zu mir in die Bank kommen, in der selbstverständlichen Erwartung, wir würden ihnen jede Art von Kredit gewähren und somit ihre Sorgen tilgen, weil sie selbst ihre Finanzen nicht auf die Reihe kriegen. Nur weil wir in einem Sozialstaat leben, sollten wir nicht ständig die Lösung unserer Probleme anderen überlassen.«

»Ist das nicht die Aufgabe eines Sozialstaats? Sozial Schwachen zu helfen?«

»Schon gut«, wehrte er ab, »es war eine anstrengende Woche.« Er ging in die Küche, in der es anregend nach Essen roch. Die beiden Kinder standen vor dem geöffneten Kühlschrank und durchstöberten ihn nach etwas Süßem.

»Dürfen wir ein Eis?«, fragte Kevin.

»Nicht vor dem Essen. Los, hilf deiner Mutter, den Tisch zu decken.«

»Na gut«, kam es enttäuscht zurück.

Dirk wandte sich wieder seiner Frau zu. »Tut mir leid. Ich wollte keinen Streit anfangen, ich bin einfach nur erschöpft. Und kurz vorm Verhungern.«

»Gibt ja gleich was.« Sie küsste ihn sanft auf die Wange.

»Ist er wenigstens nett?«, fragte Dirk.

»Wer?«

»Na, der Kerl, mit dem sich deine Freundin trifft.«

»Keine Ahnung. Kerstin hat ihn erst heute Mittag kennengelernt.«

»Die lässt wirklich nichts anbrennen. Wenigstens hat sie noch ein Sexleben.«

Anke räumte einen Stapel Teller aus einem der Schränke und stellte ihn auf der Arbeitsplatte ab. »Was du immer gleich denkst. Ich glaube kaum, dass sie direkt am ersten Abend mit ihm ins Bett steigen wird. Und außerdem«, sagte sie und warf ihm einen verführerischen Blick zu, »habe ich mit Kerstin eine Abmachung getroffen: Tim darf heute hier schlafen, dafür schläft Kevin morgen bei Tim.«

Dirks Augen wurden größer. »Soll das heißen, wir haben das ganze Wochenende für uns?«

»Bis Sonntagnachmittag gehöre ich allein dir.« Sie blickte lasziv über ihre Schulter, während sie einen der Töpfe vom Herd nahm, um ihn ins Wohnzimmer zu tragen, in dem der Holzofen bereits seine angenehme Wärme verbreitete.

Dirk sah ihr bewundernd hinterher. Die neuen Stiefel standen ihr fantastisch und betonten ihre langen Beine. Seine Laune besserte sich augenblicklich bei der Vorstellung, einen ganzen Tag und einen kompletten Abend allein mit ihr verbringen zu können. Das letzte Mal lag schon eine Weile zurück. Er liebte seinen Sohn über alles, aber seine Frau eben auch, und es war einfach an der Zeit, ihr das mal wieder zu zeigen.

»Papa«, ertönte es neben ihm, und Dirk erspähte Kevin, der zwei Becher in der Hand hielt und lächelnd zu ihm aufsah. »Du hast Mama auf den Busen geküsst, igitt!«, rief er und lief kichernd seiner Mutter hinterher.

Dirk musste lachen. In zehn Jahren würde der kleine Kerl vermutlich mit seiner Freundin dasselbe tun. Dann würde er es sein, der es kaum erwarten konnte, dass seine Eltern das Haus verließen und er allein mit seiner Angebeteten war. So war der Lauf der Dinge, dachte er. Und in diesem Moment machte Dirk Bukowski den Fehler, dies als selbstverständlich zu betrachten.

Nach dem Essen ging Dirk in sein Arbeitszimmer, das diesen Namen zu Unrecht trug. Denn zu Hause arbeitete er eigentlich nie. Es war für ihn eher eine Art Schlupfwinkel, ein Versteck, in das er sich flüchten konnte. Eine Zone der Einsamkeit, die er brauchte, um die nimmermüden Gedanken loszuwerden, die nach einem solchen Tag wie ein Mückenschwarm durch seinen Kopf summten und dabei ein leises Brummen erzeugten. Nur hier fand er die Ablenkung, um diesen inneren Dämon zu vertreiben, der ihn ständig dazu zwang, es allen recht machen zu wollen, was ihn fortwährend in Konflikt mit sich selbst brachte.

Die Wände des Zimmers waren in einem dunklen Braunton gestrichen und übersät mit Fotos und Bildern verschiedenster Größen und Rahmen, die trotz ihrer willkürlichen Anordnung seltsamerweise harmonisch wirkten. Ebenso beliebig wie ihre Gliederung waren auch die Motive der Bilder. Landschaftsaufnahmen hingen neben Porträts, Makroaufnahmen von Insekten und Pflanzen neben privaten Urlaubsbildern, auf denen immer wieder Kevin und Anke zu sehen waren. Im hinteren Bereich des Raums war eine gemütliche Sitzecke, auf die ein Fünfzig-Zoll-Flachbildfernseher ausgerichtet war, der seinen Platz auf einem ahornfarbenen Sideboard einnahm. Rechts unterhalb des Fensters, unmittelbar neben der Tür, die zum angrenzenden Balkon führte, stand ein wuchtiger Schreibtisch mit einem Computer.

Dirk saß vor dem Monitor, der ihm stumm signalisierte, dass sein Betriebssystem geladen wurde. Er lehnte sich zurück und sah entspannt durch das Fenster in die dunkle Landschaft, die durch den Schnee in ein silbrig schimmerndes Licht getaucht wurde. Eine sanfte Melodie verkündete ihm, dass sein Rechner betriebsbereit war. Derweil machte Cookie es sich zu seinen Füßen bequem. Dirk registrierte es wohlwollend und startete den Browser, der daraufhin automatisch die Seite von Netfriends, einem sozialen Netzwerk, öffnete. Er gab sein Passwort ein und rief sein persönliches Profil auf.

Die nächste Stunde verbrachte er damit, eingegangene Mails zu beantworten, Statusmeldungen zu verfassen und längst vergessen geglaubte Kontakte zu pflegen. Konturlose Profile von Menschen, die behaupteten, ihn zu kennen. Manche von ihnen hatte er seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, genauer gesagt, seit seiner Schulzeit. Und bei den meisten von ihnen hätte er es am liebsten auch dabei belassen, denn er dachte nicht gern an seine Schulzeit zurück. Als Sohn des Konrektors und einer der Klassenbesten war er etlichen Demütigungen und Hänseleien ausgesetzt gewesen. Infolgedessen wunderte er sich, weshalb nun ausgerechnet diejenigen, denen er diesen pubertären Alptraum zu verdanken hatte, Wert auf seine Onlinebekanntschaft legten. Vermutlich ging es ihnen nur darum, ihr eigenes Freundschaftskonto aufzustocken. Manche schienen gar eine Lebensaufgabe daraus zu machen, so viele Leute wie möglich ihrer Liste hinzuzufügen. Doch Dirk tat ihnen den Gefallen, nicht zuletzt deshalb, weil er sich vor niemandem zu verstecken brauchte. Immerhin hatte er es mit 37 Jahren in die Geschäftsleitung einer Bankfiliale geschafft. Er hatte eine tolle Frau, um die ihn jeder beneidete, besaß einen flotten Wagen und ein großes Haus. In den meisten Profilen seiner ehemaligen Mitschüler hingegen war nicht einmal ein konkreter Beruf angegeben.

Während Dirk damit beschäftigt war, die wenigen Kontakte zu pflegen, die ihm wichtig waren, war Cookie dazu übergegangen, ihm die Füße abzulecken. »Hey, lass das«, beschwerte sich Dirk amüsiert und gab dem Hund einen zärtlichen Stoß mit den Zehen. Doch diese Geste schien Cookie nur noch mehr zu animieren, da er kurz darauf einen erneuten Versuch startete, sich mit Dirks Schienbein zu paaren.

»Armer kleiner Kerl«, sagte Dirk und betrachtete seinen Hund mitleidig. »Hast Sehnsucht nach einem Weibchen, was?« Er zerrte ihn behutsam von seinem Bein weg, hob ihn auf den Schoß und streichelte sein weiches Fell. »Glaub mir, ich weiß genau, wie du dich fühlst«, seufzte Dirk, und sein Blick glitt zu der Tür, die das Schlafzimmer mit dem Arbeitszimmer verband. Aus dem Erdgeschoss drangen kindliches Geschrei und Ankes mahnende Stimme an sein Ohr. Er sah auf die Uhr. Es war bereits nach halb zehn.

Missmutig wandte Dirk sich wieder dem Bildschirm zu. Er las gelangweilt die banalen Posts seiner Kontakte, als sich plötzlich in der oberen Hälfte des Bildschirms ein Fenster mit einer Art Banner öffnete. Zwei große Hände, die eine durchsichtige Kugel hielten, in deren Innerem zwei unheimliche, durchdringende Augen leuchteten. Darunter stand in großen, geschwungenen Buchstaben:

WÜNSCH DIR WAS …

Unterhalb dieser Aufforderung befand sich eine Eingabemaske, daneben ein dreidimensional gestalteter »Senden«-Knopf, der in einem sanften Intervall rot aufleuchtete.

Dirk war es zwar mittlerweile gewohnt, dass sich im Internet bei jeder Gelegenheit nervige Werbebanner öffneten, die mit blinkenden und animierten Botschaften die Leute auf zweifelhafte Seiten lockten, doch war er bislang auf diesem Portal weitgehend davon verschont geblieben.

Wünsch dir was.

Vom Flur war erneut das Geschrei der Kinder zu hören.

Dirk atmete tief durch und rieb sich die Augen. Den Verlauf des Abends hatte er sich ein wenig anders vorgestellt. Vielleicht sollten er und Anke einfach mal ein paar Tage in Urlaub fahren, weit weg vom Alltag, um wieder Zeit füreinander zu finden.

Mit trübem Blick sah er auf Cookie hinab, der es sich sichtlich gefallen ließ, von seinem Herrchen gekrault zu werden. Dann beugte er sich nach vorn und klickte das Fenster auf dem Bildschirm weg.

Fast in derselben Sekunde öffnete sich ein weiteres. Es glich exakt dem ersten, bis auf die Botschaft darin, die einen winzigen Zusatz enthielt:

WÜNSCH DIR WAS, SCHNELL!

Dirk hätte in diesem Moment am liebsten die gesamte Werbeindustrie zur Hölle gewünscht. Doch zugleich fühlte er sich auf eigenartige Weise herausgefordert.

Na schön, dachte er sich. Wie wäre es damit?

Flink flogen seine Finger über die Tastatur:

ICH HABE BEREITS ALLES!

Zornig betätigte er den »Senden«-Knopf, und das Fenster verschwand. Er rechnete beinahe damit, dass sich ein neues Fenster auftat und ihn auf eine entsprechende Homepage weiterleitete. Doch nichts dergleichen geschah.

Damit habt ihr nicht gerechnet, was?, dachte er zufrieden, aber auch ein wenig verunsichert. Was sollte das alles, wenn keine Reaktion darauf erfolgte? Sogleich bereute er, sich auf diesen Blödsinn eingelassen zu haben. Was, wenn sich sein Computer durch diese unüberlegte Handlung einen Virus eingefangen hatte? Einige Sekunden lang starrte er weiter auf den Bildschirm, auf dem sich jedoch nichts Ungewöhnliches tat. Trotzdem startete er vorsichtshalber sein Antivirenprogramm und durchsuchte seine Festplatte. Es dauerte eine ganze Weile, bis das Ergebnis kam: nichts!

Seltsam, ging es ihm durch den Kopf. Möglicherweise war das Ganze nur eine versteckte Umfrage, die zur Auswertung von Konsumverhalten diente.

Dirk schaltete den Computer aus, streckte sich und gähnte. Noch immer lag Cookie auf seinem Schoß, und Dirk nahm seinen Kopf zwischen die Hände und sah dem kleinen Kerl direkt in die Augen. »Tja, sieht so aus, als gingen wir heute Abend beide leer aus«, meinte er und seufzte. Dann nahm er Cookie auf den Arm und ging in das noch immer leere Schlafzimmer hinüber. Er brauchte dringend Ruhe. Morgen früh würde die Welt schon wieder ganz anders aussehen, dachte er.

Völlig paralysiert starrte der Mann auf den rechten der beiden Bildschirme, die vor ihm auf dem Arbeitstisch standen, und studierte die einkommenden Antwortprotokolle seiner Probanden. Einige von ihnen kannte er flüchtig, andere hatte er aufgrund ihres Profils ausgewählt. Menschen, deren finanzieller Spielraum weit größer war als der von anderen. Und dennoch wünschten sich die meisten offenbar dasselbe: noch mehr Geld!

Diese elenden Parasiten! Am liebsten hätte er mit jedem Einzelnen gespielt. Aber er musste sich notgedrungen für einen entscheiden. Seit seinem letzten Spiel war gerade einmal etwas mehr als eine Woche vergangen. Zu wenig Zeit, um bereits ein neues zu beginnen. Er durfte nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen. Das Risiko, dass eine Verbindung zwischen den Vorfällen hergestellt wurde, war einfach zu groß. Doch er hatte die vergangenen freien Tage dazu genutzt, seinen neuen Feldzug vorzubereiten, um die Suche effektiver zu gestalten. Und nun konnte er nicht länger warten. Beim letzten Mal hatte er allerdings die Kontrolle über sein Opfer verloren. Er hatte nicht damit gerechnet, dass dieser Scheißkerl vollkommen durchdrehen und seine gesamte Belegschaft abknallen würde. Aber im Nachhinein fand er diese Entwicklung gar nicht so schlecht, denn die meisten dieser Bastarde hatten es verdient! Vor allem hatte es ihm gezeigt, dass er tatsächlich die Macht dazu hatte, jemanden in den Wahnsinn zu treiben. Und dieses Gefühl war so erhaben, dass es seinen ganzen Körper elektrisierte. Es war zu seiner Bestimmung geworden, diese unbarmherzige Gesellschaft für ihre Unmenschlichkeit und ihre Gier bezahlen zu lassen und sie dort zu treffen, wo sie ihr hässliches Gesicht zeigte. In den Führungsetagen. In Firmen, Banken, Behörden … Dort, wo die Entscheidungen getroffen wurden, wo über Schicksale und Existenzen bestimmt wurde. Wo Menschen nur Nummern waren, die man bequem austauschen konnte, wenn sie den Anforderungen nicht mehr gewachsen waren. Genau dort suchte er nach seinen Opfern, um es ihnen heimzuzahlen. Um ihnen zu zeigen, dass auch sie verletzbar waren. Er nahm ihnen ihre Macht, ihre Sicherheit und ihr Glück und ließ sie daran verzweifeln.

Er tötete ihre Seelen.

Bald würde es wieder so weit sein, dachte er voller Vorfreude, während er weiter gespannt die einkommenden Protokolle studierte. Bald würde er sein nächstes Opfer gefunden haben. Der Drang war stärker geworden. Der Drang, ein neues Spiel zu beginnen. Und was bot sich für die gezielte Suche nach einem Gegner besser an als das Internet? Millionen von Menschen waren mittlerweile in sozialen Netzwerken vertreten. Ein nahezu unerschöpfliches Reservoir. Zumal die Sicherheitsvorkehrungen in diesen Netzen ein Witz waren. Für jeden halbwegs fähigen Hacker war es ein Leichtes, dort einzudringen, persönliche Informationen einzuholen, sich als Bekannter auszugeben, E-Mails abzufangen oder sogar ganze Profile zu übernehmen. Aber vor allem boten sie die Möglichkeit der Filterung. Die kleine Wunschaktion, die er bei knapp fünfzig seiner Probanden gestartet hatte, brachte ihm schnell die nötigen Informationen, anhand derer er sein Ziel auswählen konnte. Seine potenziellen Mitspieler waren machtbesessen, größenwahnsinnig und tyrannisch. Sie hielten sich für unbesiegbar. Dabei ahnten sie nicht einmal, dass jedes der Banner mit einer elektronischen Signatur versehen war, ihrem jeweiligen Namen zugeordnet.

Und auf einem dieser Namen verharrten seine Augen nun. Ein eigenartiger Glanz schien sich darüberzulegen, als er die dazugehörige Botschaft las:

Ich habe bereits alles!

Sofort stoppte er die Übertragung. Aufgeregt blätterte er in den ausgedruckten Profilen, bis er auf besagten Namen stieß.

Bukowski. Er erinnerte sich an den Namen und an die dazugehörige Person. Ein Banker, und noch dazu ein aufgeblasenes Arschloch, was allein schon ausgereicht hätte, um ihn für das Spiel zu qualifizieren. So gesehen konnte man diese Antwort beinahe als bescheiden erachten, denn immerhin hatte dieser Berufsstand für eine der weltweit größten Wirtschaftskrisen gesorgt. Aber vielleicht war es gerade das, was diesen Hass in ihm heraufbeschwor.

Ich habe bereits alles!

Diese Aussage schrie förmlich nach Bestrafung.

Nach Verlust.

Was, wenn ich dir alles wegnehme, Dirk Bukowski?, dachte er.

Er würde heute Nacht kein Auge zubekommen. Dafür war er viel zu aufgewühlt. Außerdem galt es, schnellstmöglich eine Strategie zu erarbeiten und Vorbereitungen zu treffen.

Es galt, ein Leben zu zerstören.

Zweiter Tag23. Februar

Gut gelaunt schenkte sich Dirk eine zweite Tasse Kaffee ein. Der Tag hätte nicht besser beginnen können. Gleich nach dem Aufwachen waren Anke und er übereinander hergefallen wie ausgehungerte Teenager, hatten sich geliebt, als wäre es das erste Mal. Und die Aussicht auf einen ungestörten Abend zu zweit ließ ihn hoffen, dass das noch längst nicht alles war.

Er ging zurück an den Frühstückstisch, wo die Tageszeitung ausgebreitet auf ihn wartete. Neben den üblichen düsteren Prognosen über steigende Energiepreise hatte er das Kinoprogramm von Koblenz studiert. Nach einem gemütlichen Essen beim Italiener wollte er den Abend mit einem guten Film ausklingen lassen. Wobei aus Sicht von Anke ein »guter« Film aus einer seichten Liebeskomödie bestand, während Dirk derartigen Filmen nicht viel abgewinnen konnte. Dennoch hatte er sich ihr zuliebe genau solch einen sentimentalen Streifen ausgesucht, da er wusste, dass Anke nach einem rührseligen Happy End immer sehr anschmiegsam war, was ihm bei seinem Vorhaben, sie anschließend zu verführen, sehr entgegenkam. Allein der Gedanke daran ließ ihn so euphorisch werden, dass er die Türklingel beinahe überhört hätte, während er lautstark Sinatras My Way mitsang, das aus dem Küchenradio erklang.

Vermutlich der Postbote, dachte er, wobei er beschämt feststellte, dass er noch immer seinen Pyjama trug. Es war bereits nach zehn. Anke war nach dem gemeinsamen Frühstück zu ihrem üblichen Samstagmorgen-Einkaufsmarathon aufgebrochen, und anschließend wollte sie die Kinder bei ihrer Freundin abliefern. Es war also an ihm, die Tür zu öffnen. Erst vor einigen Wochen war er unverhofft dem Postboten in seiner ganz eigenen Variante eines Freizeitanzugs entgegengetreten, der aus einem verwaschenen braunen Sweatshirt mit dem Aufdruck »Hausarbeit gefährdet meine Gesundheit« und einer alten dunkelblauen Trainingshose bestanden hatte, woraufhin Dirk befürchtet hatte, er müsse sich seine Post demnächst selbst in der Filiale im Ort abholen. Aber anscheinend waren Kurierfahrer diesbezüglich einiges gewohnt.

Er stellte die Tasse auf dem Tisch ab und versuchte vergeblich, Cookie zu beruhigen, der an der Haustür hochsprang und kläffte. Als Dirk sie öffnete, war er überrascht. Der Mann vor ihm war noch unpassender gekleidet als Dirk selbst. Er trug einen zerlumpten, olivgrünen Parka und eine braune Hose, die vor Dreck stand. Etliche Flecken unterschiedlicher Konsistenz durchzogen den Stoff. Die Ränder seiner braunen Stiefel waren an den Nähten eingerissen, und die Ohrenklappen seiner Fellmütze hingen lose herunter. Auch sein Gesicht, das größtenteils unter einem wild sprießenden Bart verborgen lag, machte einen ungepflegten Eindruck. Einzig seine Augen schienen klar und wachsam zu sein und wirkten um einiges jünger als der Rest seiner Erscheinung.

»Was wollen Sie?«, fragte Dirk barsch, während er Cookie mit seinem rechten Bein den Durchgang versperrte. Der kalte Februarwind schlug Dirk durch die geöffnete Tür unangenehm entgegen.

Der Mann musterte ihn eingehend, sagte aber kein Wort.

»Hören Sie«, meinte Dirk ungehalten und schlang frierend die Arme um seinen Oberkörper, »wenn Sie betteln wollen, sind Sie bei mir an der falschen Adresse.«

Der Mann sah ihm direkt in die Augen. »Keine Sorge«, sagte er mit heiserer Stimme, die sich seltsam verstellt anhörte, als läge sie aufgrund jahrelangen Alkoholmissbrauchs einige Oktaven tiefer als gewöhnlich. »Ich bin nur hier, weil mir ein Typ ’nen Hunderter dafür gezahlt hat, dass ich Ihnen das hier überbringe.« Er hielt Dirk einen verschlossenen Umschlag hin.

Verwundert betrachtete Dirk das weiße Kuvert und nahm es schließlich zögernd entgegen. Seine Hand zitterte vor Kälte, während Cookie anfing zu knurren. »Hat … hat dieser Typ auch gesagt, worum es sich dabei handelt?«, fragte Dirk.