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Michael Hübner

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Beschreibung

Dreizehn Jahre sind vergangen, seit Tom Kessler einem Kindermörder über Stunden hilflos ausgeliefert war, bevor er gerettet wurde. Noch immer leidet Tom unter Panikattacken, kann sich aber an nichts erinnern. Eines Tages steht die Polizei vor seiner Tür. Die Beamten zeigen ihm eine Nachricht, die bei der Leiche eines kleinen Mädchens unweit seines Hauses gefunden wurde. Sie stammt ganz offensichtlich von dem damaligen Täter, einem Mann, der seit dreizehn Jahren tot sein müsste, denn sie enthält Details, die nur er wissen kann. Und er droht damit, Toms Trauma zu wiederholen. Auf Anraten seiner Ärztin beginnt Tom schließlich eine Hypnosetherapie, die ihn in seine Kindheit zurückführt. Doch die Erinnerungen an jenen Tag vor dreizehn Jahren sind so grausam, dass die Rückführung außer Kontrolle gerät …

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Prolog
Zeit der Dunkelheit
Dreizehn Jahre später
Nächster Tag
Nächster Tag
Zwei Tage später
Zeit der Rückkehr
Nächster Tag
Zwei Tage später
Etwa eine Stunde später
Zeit des Erwachens
Am selben Tag
Am nächsten Morgen
Zeit des Lichts
Drei Tage später
Epilog

Michael Hübner

 

STIGMA

 

Psychothriller

 

 

 

 

 

Copyright © 2021 by Michael Hübner

[email protected]

Vertreten durch:

Dr. Harry Olechnowitz Autoren- & Verlagsagentur Grimmelhausenstr. 21 14089 Berlin E-Mail: [email protected]

www.michaelhuebner.de

 

Umschlagillustration:

© kebox / stock.adobe.com

© NikhomTreeVector / stock.adobe.com

 

Die folgende Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wahren Begebenheiten oder realen Personen wären rein zufällig.

 

 

 

 

Für meine Mutter,

in liebevoller Erinnerung.

 

Ich weiß,

du wärst sehr stolz auf mich gewesen.

Prolog

 

 

Es war ein Dienstag, der dreiundzwanzigste Juli, an dem Tom Kesslers Kindheit endete. Er war zu diesem Zeitpunkt dreizehn Jahre alt.

Eigentlich hieß er Thomas, doch solange er zurückdenken konnte, nannten die Leute ihn Tom. Aus Bequemlichkeit, wie er vermutete, obwohl sein Großvater einmal behauptet hatte, diese Kurzform würde besser zu der Leichtfüßigkeit passen, mit der er der Welt entgegentrat. Vielleicht lag es auch daran, dass er für sein Alter schon ziemlich erwachsen wirkte. Seine Körpergröße, mit der er Gleichaltrige um gut einen Kopf überragte, und ein früh einsetzender Bartwuchs ließen ihn schon in diesem Alter wie ein junger Mann aussehen. Zudem verlieh ihm sein dunkelbraunes Haar, das ihm stets ein wenig zerzaust in die Stirn hing, eine gewisse Verwegenheit, die seine Mitschülerinnen bereits zu dem einen oder anderen bewundernden Blick verleitet hatte.

Bis zu jenem Tag, an dem Gewalt und Wahnsinn so unverhofft in sein Leben einschlugen, war Tom ein glücklicher Junge gewesen. Er lebte mit seinen Eltern und seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Sandra in einer kleinen Hochhaussiedlung am Rand von Wiesbaden. Tom war ein guter Schüler und sehr beliebt. Neben seinen Freunden nahm seine Leidenschaft für Bücher den größten Teil seiner Freizeit in Anspruch, und bereits als Kind war seine Vorstellungskraft ausgereift genug, um erste Kurzgeschichten zu verfassen. Außerdem war er ein begeisterter Fußballspieler, liebte Schach und schwärmte für alte Hollywoodfilme.

Es gab viele Dinge, die ihm wichtig waren. Doch nichts von alldem konnte ihn auf das vorbereiten, was an diesem Sommertag geschehen sollte, als zwei kräftige Männerhände ihn in diesen Keller zerrten, hinein in eine Welt, die er bis dahin nur aus Büchern kannte. Hände, die nach Zigaretten und feuchter Erde gerochen hatten, nach Verwesung und Tod. Hände, die so unvorstellbare Grausamkeiten verübt hatten. Werkzeuge des Bösen.

Noch nie hatte er eine Leiche gesehen. Gelesen hatte er oft davon. Aber es waren nur Worte gewesen, erfundene Geschichten, die sich so schnell wieder verflüchtigten wie ein Albtraum, aus dem man erwachte und in dem man nichts Reales entdecken konnte. Nichts jedenfalls, was einen auf Dauer ängstigte oder verfolgte oder den Glauben an eine gute Welt zerstörte.

Tom liebte Geschichten. Oft hatte er seinem Vater zugehört, wenn der abends beim Essen von seiner Arbeit als Polizist erzählte, von Verkehrsdelikten, Einbrüchen und Verhaftungen. Es faszinierte ihn, in eine Welt einzutauchen, die außerhalb der fiktiven Bücher lag. Denn es war der unwiderstehliche Reiz des Wirklichen, der ihn anzog und der sich in seinen Geschichten niederschlug. Aber diese Wirklichkeit war es auch, die ihn zum ersten Mal erkennen ließ, dass manche Ereignisse einen Menschen verändern konnten.

Tom merkte sofort, dass etwas nicht stimmte, als sein Vater am Tag vor dem Ferienbeginn früher nach Hause kam. Frank Kessler saß stumm auf seinem Stuhl in der Küche, und starrte die ganze Zeit über verloren vor sich hin, als suche er in seinem Inneren verzweifelt nach etwas, das ihn befreien und ihm seinen Glauben an das Gute in der Welt zurückgeben konnte. Erst gegen Abend war sein Vater bereit, darüber zu reden, was ihn bedrückte. Noch immer tat er sich sehr schwer damit, musste hin und wieder Pausen einlegen. Wenn es um den Tod eines Menschen ging, war es eben nicht leicht, die richtigen Worte zu finden. Doch Tom vermutete, dass es für seinen Vater wichtig war, darüber zu sprechen, genauso wie es für ihn wichtig war, seine Geschichten zu erzählen. Eine Art Ventil, mit dessen Hilfe er angestauten Druck ablassen konnte, indem er ihn mit anderen teilte. Also hörte Tom aufmerksam zu, als sein Vater von dem Unfall auf der Autobahn berichtete. Von den ineinander verkeilten Autos und den Schreien der Insassen. Davon, wie sein Kollege versucht hatte, die Unfallstelle zu sichern und dabei von einem heranrasenden Auto erfasst und in zwei Stücke gerissen worden war. Und er sah die Tränen in den Augen seines Vaters, während er davon erzählte.

An diesem Abend fiel das Essen aus, und die Familie ging früh zu Bett. Doch Tom lag noch lange wach und grübelte. Die Bilder in seinem Kopf ließen ihn nicht los. Nie zuvor hatte er seinen Vater weinen sehen. Diesen groß gewachsenen Mann, der allein durch seine Anwesenheit Autorität ausstrahlte. Und er begriff, dass nicht alles im Leben nach einem festen Raster verlief, sondern dass Ereignisse eintreten konnten, die einen Menschen nachhaltig beeinflussten und die ihre Spuren hinterließen. Er verstand auch, dass es Zeit brauchte, um mit diesen Dingen fertig zu werden. Mit Dingen wie Tod und Verzweiflung. Dingen, denen man hilflos ausgeliefert war.

Damals war ihm nicht annähernd bewusst, wie sehr und wie nachhaltig ihn das schon bald selbst betreffen sollte.

Es war bereits früher Nachmittag, als er an diesem dreiundzwanzigsten Juli über den Lamellenzaun auf das abgelegene Grundstück kletterte. Die drückende Hitze dieses Sommers stellte sich ihm entgegen wie eine physische Barriere, die ihn an seinem Vorhaben hindern wollte. Nur wenige Meter entfernt standen seine Freunde und feuerten ihn an, bewunderten seinen Mut und seine Entschlossenheit.

Es sollte das letzte Mal sein, dass Tom sie sah.

Er hörte ihre Rufe noch, als er die frische Grube mit ihrem schrecklichen Inhalt in dem Garten entdeckte und sich kurz darauf die Hände des Mannes auf seinen Mund und um seinen Nacken legten.

Von da an schien die Zeit für ihn stillzustehen.

Vierzig Minuten dauerte es, bis Toms Freunde die Suche nach ihm aufgaben und seine Eltern verständigten. Weitere zwanzig Minuten, bis sein Vater in Begleitung zweier Kollegen vergeblich an der Tür des Hauses klingelte. Eine knappe halbe Stunde brauchte man, um die Adresse mit zwei Anzeigen und einer Suchmeldung in Verbindung zu bringen, und weitere eineinhalb Stunden für den richterlichen Durchsuchungsbefehl. Erst nach etwas mehr als drei Stunden drang die Polizei in das Haus ein. Drei qualvoll lange Stunden, die Tom im Keller des Mannes verbrachte, der sich selbst als »der Wächter« bezeichnete. Drei Stunden in Gegenwart des vollkommenen und menschenverachtenden Wahnsinns.

Was genau sich in dieser Zeit zugetragen hatte, konnte die Polizei nur anhand von Indizien rekonstruieren. Doch diese gaben nicht annähernd das wider, was Tom tatsächlich durchlebt hatte. Mehrere Gegenstände wurden sichergestellt und den zahlreichen Verletzungen und Misshandlungsspuren an Toms Körper zugeordnet. Des Weiteren fand man vier Leichen auf dem Grundstück, Kinder im Alter zwischen vier und zehn Jahren, die zum Teil schon seit Monaten als vermisst gemeldet waren.

Tom selbst war nicht in der Lage gewesen, sich zu den Vorfällen zu äußern. Das Letzte, was er bei halbwegs klarem Verstand wahrgenommen hatte, war das Gefühl von warmem Sommerregen auf seiner Haut gewesen, und ein gurgelndes, abscheuliches Lachen. Danach hatte sein Bewusstsein abgeschaltet wie ein überlasteter Stromkreis, und er war in tiefe, schützende Finsternis versunken. Er wurde sofort in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht. Doch es gab Verletzungen, die man nicht einfach schienen oder verbinden konnte. Wunden, die weit tiefer in ihn eingedrungen waren als nur in sein Fleisch. Und er würde Zeit brauchen, bis diese Wunden sich schließen konnten. Sehr viel Zeit.

Es sollten Jahre vergehen, bis sie endlich zu heilen begannen.

 

 

 

 

 

TEIL EINS

Zeit der Dunkelheit

 

Dreizehn Jahre später

Montag, 15. Mai

 

 

Fast völlig entmutigt saß er am Schreibtisch seines Arbeitszimmers und starrte den blinkenden Cursor auf dem ansonsten leeren Bildschirm an. Seit geschlagenen vier Stunden tat er das. Und er hatte in dieser Zeit nicht einen vernünftigen Satz getippt. Es gab Tage, an denen er das Schreiben hasste, an denen ihm diese Gabe wie ein Fluch erschien. Heute war so ein Tag. Es gelang ihm einfach nicht, sich in seine Geschichte zu vertiefen, sich in seine eigens geschaffenen Charaktere hineinzuversetzen. Eigentlich war dies ein natürlicher Vorgang beim Schreiben, der ihm bei seinem ersten Buch vor vier Jahren wie von selbst von der Hand gegangen war.

Schatten der Seele hatte sich fünfzehn Monate in den Bestsellerlisten gehalten. Drei weitere Romane hatte er seitdem veröffentlicht, alle mit demselben Erfolg. Er konnte also getrost davon ausgehen, dass er sein Handwerk beherrschte. Und dennoch mehrten sich die Tage, an denen er eine völlige innere Leere verspürte. Ein tiefes schwarzes Loch, in dem er schwerelos zu schweben schien und das ihm jegliche Konzentration entzog. Dabei war ihm das Schreiben nie schwergefallen. Es war vielmehr ein eigenständiger Prozess, der ohne sein Zutun ablief. Beinahe so, als wäre da eine innere Stimme, die ihm diktierte, was er schreiben sollte. Und manchmal kam es ihm so vor, als ob diese Stimme tatsächlich existierte, als ob sie direkt aus seinem Kopf zu ihm sprach. Das Beunruhigende daran war, dass diese Stimme nicht wie seine eigene klang, ihm aber dennoch vertraut vorkam. Und noch viel beunruhigender war es, gelegentlich auch andere Stimmen zu hören, die sich dazugesellten. Dr. Westphal, seine Therapeutin, bei der er seit Jahren in Behandlung war, hatte sie als »Suggestivstimmen« bezeichnet. Als »Boten seiner Seele.« Und das Schreiben sei so etwas wie eine Therapie, ein »Ventil« für unverarbeitete Erlebnisse.

Übersetzt klang das für ihn so, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank. Doch seine Ärztin meinte, dieses Verhalten sei eine ganz natürliche Reaktion auf die traumatischen Erlebnisse in seiner Kindheit, die zwar noch immer in seinem Unterbewusstsein verankert waren, auf die er jedoch keinen Zugriff mehr hatte. Auch die Gedächtnislücken und die gelegentlichen Panikattacken führte sie darauf zurück. Er müsse sich seiner Vergangenheit stellen und seine Dämonen besiegen, hatte sie gesagt, sie ein für alle Mal auslöschen.

Sich der Vergangenheit stellen.

Zum Teufel, das würde er ja gern tun, wenn er sich verdammt noch mal an sie erinnern könnte!

»Tom!«, tönte es schwach von unten durch die geschlossene Tür seines Arbeitszimmers. »Das Essen ist fertig, kommst du bitte? Es gibt Gemüseauflauf, und der ist nur genießbar, wenn er warm ist!«

»Komme sofort!«, rief er zurück und konnte gerade noch etwas durch den Flur hallen hören, das sich anhörte wie »Das sagst du immer!« Normalerweise kam er selten in den Genuss, sein Mittagessen warm zu sich zu nehmen, zumindest nicht, wenn er in seine Arbeit vertieft war. Heute jedoch war er mehr als dankbar für diese Unterbrechung. Entweder hatte sein Unterbewusstsein die Schreibtherapie für beendet erklärt, oder sein »Ventil« war verstopft.

Er knipste den Monitor aus und zog die Jalousie vor dem Fenster hoch, die ihn vor den blendenden Sonnenstrahlen schützte. Und er fragte sich, ob ein leerer Bildschirm es tatsächlich rechtfertigte, einen so herrlichen Frühlingstag auszusperren, der ihm einen nahezu ungehinderten Blick auf den angrenzenden See und die umliegenden Wälder ermöglichte, deren Grün zu dieser Jahreszeit besonders zu leuchten schien.

Nur schwer löste er sich von diesem idyllischen Anblick und öffnete die Tür seines Arbeitszimmers. Unter dem gequälten Knarren der Dielen schritt er den Flur entlang, vorbei an Schlaf- und Kinderzimmer. Dabei beschloss er, nach dem Essen ein wenig im Garten zu arbeiten. Karin hatte am Morgen die bestellten Stauden in der Gärtnerei abgeholt. Wenn das Wetter es zuließ, und danach sah es aus, würde er sie am Nachmittag einpflanzen. Vielleicht brachte ihn das auf andere Gedanken, und hoffentlich auf einen rettenden Einfall.

Er stieg die geschwungene Holztreppe ins Erdgeschoss hinab, wo es bereits köstlich nach Essen roch. Karins erstaunter Gesichtsausdruck entging ihm nicht, als er die geräumige Landhausküche betrat und sich an den Tisch setzte, an dem bereits ihr dreijähriger Sohn Mark saß und sich emsig die eigens für ihn angerichteten Pommes frites in den Mund stopfte.

»So schnell?«, sagte sie erstaunt und stellte eine Schüssel mit Blattsalat in der Mitte des Tisches. »Lass mich raten: Du kommst nicht weiter, richtig?«

»Es ist wie verhext«, bestätigte er niedergeschlagen. »Seit Wochen sitze ich da und starre diesen verdammten Bildschirm an. Und mir fällt einfach keine brauchbare Strategie ein, wie ich das ändern könnte. Ich fühle mich vollkommen ausgebrannt.«

»Kein Wunder«, meinte Karin gelassen. »Du schläfst in letzter Zeit auch ziemlich unruhig. Manchmal redest du sogar im Schlaf.«

»Ach ja, worüber denn?«

»Über deine rassige achtzehnjährige Geliebte, die du jeden Samstag im Hotel triffst, und über deine Pläne, mich zu verlassen.«

Entgeistert starrte Tom seine Frau an, doch sie lachte nur und küsste ihn sanft auf die Wange. Dabei streifte ihn eine Strähne ihres blonden Haares, das wunderbar nach Früchten duftete.

»Keine Bange, ich konnte kein Wort von dem verstehen, was du in dein Kissen gemurmelt hast. Dazu war ich selbst viel zu erledigt.«

»Na wenigstens kommt einer von uns beiden zur Ruhe.«

»Ja, und wenn du damit aufhören würdest, mitten in der Nacht im Haus herumzugeistern, könnte ich vielleicht sogar durchschlafen«, gab sie schnippisch zurück.

Tom wandte sich Mark zu, der mit einem Pommes einen Klumpen Mayonnaise mit Ketchup zu einer weiß-roten Soße zusammenmantschte. »Na, Champion«, sagte er, während er ihm das dunkelblonde Haar strubbelte, das genauso störrisch war wie sein eigenes. »Wie war’s im Kindergarten?«

»Wie immer«, antwortete sein Sohn mit vollem Mund.

Das sollte wohl heißen »Nicht besonders aufregend.«

Sein Blick glitt wieder zu Karin hinüber. »Du sagst, ich bin letzte Nacht im Haus herumgelaufen? Daran kann ich mich gar nicht erinnern.«

»Wirst du jetzt auch noch zum Schlafwandler? Vielleicht sollte ich dich nachts an die Leine legen.«

»Na ja«, bemerkte er grinsend, »wahrscheinlich hab ich mir gedacht, wenn sie mir nicht zuhört, geh ich eben woanders hin.«

Sie lachte, so dass das kleine Muttermal kurz über ihrem rechten Mundwinkel auf- und abhüpfte. Doch gleich darauf wurde sie ernst. »Bedrückt dich irgendetwas?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein.« Bis auf die Tatsache, dass ich gelegentlich Todesängste ausstehe und keine Ahnung habe, weshalb. »Jedenfalls nichts, was mir bewusst wäre.« Seine Augen verengten sich und wurden starr. »Diese ganze Geschichte von damals … Es ist wie ausgelöscht. Meine Kindheit, meine Jugend … Ich kann mich kaum noch daran erinnern, einmal jung gewesen zu sein.«

»Vielleicht solltest du mal mit Dr. Westphal darüber reden. Glaubst du, das könnte etwas mit deinen Panikanfällen zu tun haben?«

»Möglich ist alles, wenn es um die menschliche Psyche geht. Das behauptet sie zumindest. Die Seele vergisst niemals, das ist einer von ihren Standardsätzen. Wenn ich nur wüsste, was diese Anfälle auslöst.«

»Ihr werdet schon noch dahinterkommen. Sie ist eine gute Ärztin.«

»Ich weiß«, stimmte er ihr zu. »Ich habe ja nicht ohne Grund über sie für mein erstes Buch recherchiert.«

Schatten der Seele, rief er sich den Titel ins Gedächtnis. Möglicherweise hatte er sich einfach zu lange mit dieser Materie beschäftigt, und nun holten ihn seine eigenen Fantasien ein.

»Vielleicht brauchst du nur mal Urlaub«, bemerkte Karin und begann den Auflauf zu verteilen. »Seit über vier Monaten schreibst du ununterbrochen an deinem neuen Buch. Du müsstest vielleicht nur mal abschalten und auf andere Gedanken kommen.«

Karin schloss die Klappe des Backofens und war gerade im Begriff, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen, als es an der Tür klingelte.

»Wer kann denn das sein, um die Mittagszeit?«, knurrte Tom.

»Ach, das ist bestimmt das Kleid, das ich mir bestellt habe. Du weißt schon, für Samstag.«

Tom sah sie verständnislos an.

»Samstag?«, wiederholte sie fragend. »Der zwanzigste Mai …« Entschieden fügte sie hinzu: »Mein Geburtstag!«

Toms Augen weiteten sich. »Dein Geburtstag … natürlich!« Er spielte verlegen mit dem Besteck. Über seinen verzweifelten Bemühungen, ein paar brauchbare Sätze zu Papier zu bringen, hatte er tatsächlich die Feier zu ihrem sechsundzwanzigsten Geburtstag vergessen. Vielleicht hatte er dieses Ereignis auch schlicht verdrängt; er war kein großer Anhänger solcher Feierlichkeiten. Zu viele Menschen in einem Raum machten ihn nervös, zumal die meisten davon für ihn Fremde waren, zu denen er kaum einen Bezugspunkt hatte. Karin war Elternsprecherin der Kindergartengruppe und half, Feste, Wanderungen und Ausflüge zu organisieren. Außerdem saß sie ihm Vorstand des Arbeiterwohlfahrtsvereins, der Freizeitaktivitäten für Senioren ausrichtete. All das machte ihren Freundeskreis für Tom sehr unübersichtlich, da er selbst so gut wie nie das Haus verließ. Lediglich einer einzigen Person hatte er es zu verdanken, dass seine Angst vor fremden Menschen ihn nicht zum sozialen Eremiten verkümmern ließ.

»Ich habe übrigens auch Fanta eingeladen«, rief Karin durch den Flur, während sie zur Haustür ging.

Stefan Tauber, sein kritischster Leser und bester Freund, den vermutlich alle außer Tom mit dem Kürzel »Fanta« ansprachen, das sich aus den letzten drei Buchstaben seines Vor- und den beiden ersten seines Nachnamens zusammensetzte. Tom dagegen fand diesen Spitznamen reichlich unpassend für einen Mann, der alles andere als ein frenetischer Anhänger schaler Brauselimonade war. Würden die Leute ihn »Hefe« nennen, so hätte Tom sich eher damit anfreunden können. Allerdings lag Stefans modisches Erscheinungsbild weit jenseits jeden konventionellen Geschmacks und machte ihn, gepaart mit seiner äußerst direkten Art, in Toms Augen zum wohl ausgeflipptesten Typen auf diesem Planeten. Weshalb das Kürzel zumindest in dieser Hinsicht seine Berechtigung hatte.

Durch den Flur hörte Tom, wie Karin die Tür öffnete. Kurz darauf vernahm er eine fremde Männerstimme, konnte aber keine Einzelheiten verstehen. Es dauerte nicht lange, bis Karin in die Küche zurückkehrte und ihn unsicher ansah.

»Was ist denn?«, fragte er. »Haben sie das falsche Kleid geliefert?«

»Mark, Schätzchen.« Karin hob ihren Sohn von seinem Kinderstuhl. »Bitte geh in dein Zimmer, ja?«

»Aber Mama«, protestierte der Kleine. »Ich will doch noch Nachtisch.«

»Den gibt es heute ausnahmsweise mal später.«

»Was ist denn los?«, wiederholte Tom hörbar besorgt, nachdem Mark den Raum verlassen hatte.

»Es ist die Kriminalpolizei«, berichtete Karin erschrocken. »Sie sagen, es geht um einen Mord.«

»Sind Sie Tom Kessler?«, erkundigte sich einer der beiden Männer, als Tom die Tür erreichte.

»Thomas Kessler – ja, der bin ich«, antwortete er verstört.

»Dürfen wir hereinkommen?«

»Um was genau geht es denn bitte?«

»Das würden wir Ihnen gerne drinnen erklären, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Tom zögernd und führte die Polizisten durch den Flur in das große Wohnzimmer, an das ein kleiner Wintergarten angrenzte. »Bitte setzen Sie sich.« Er deutete auf die dreiteilige Sitzgruppe, deren Mittelpunkt ein massiver Tisch aus Kiefernholz bildete. Tom und Karin nahmen den beiden gegenüber Platz. Der Schmächtigere der Männer stellte sich als Kommissar Michael Dorn von der Kripo Koblenz vor. Er mochte Mitte dreißig sein, hatte dunkles, leicht gelocktes Haar und war leger in Jeans gekleidet. In der Hand hielt er eine blaue Aktenmappe.

Tom fiel auf, dass er sehr schlanke und gepflegte Finger hatte. Es war ihm fast schon zu einer zwanghaften Gewohnheit geworden, den Leuten zuerst auf die Hände zu schauen. Der andere Mann sah etwas jünger und förmlicher aus; brauner Anzug, aber keine Krawatte. Seine Hände waren kräftiger.

»Das ist mein Kollege Markus Bender.« Dorn nickte kurz zu dem Mann im braunen Anzug hinüber, während er gleichzeitig das Interieur des Hauses betrachtete.

Küche und Wohnraum bildeten fast eine Einheit und waren nur durch eine kleine Theke und einen im Rundbogen gemauerten Zugang voneinander getrennt. Die Möbel waren rustikal im Landhausstil gehalten, jedoch nicht im Mindesten wuchtig oder altmodisch. Die Wände waren in einem frischen Orangeton gestrichen und um den geschlossenen Kamin herum mit Bruchsteinen verkleidet. Rötliche Vorhänge umrahmten die Fenster und die breiten Glastüren, hinter denen sich ein großzügiger Garten erstreckte. Alles wirkte sehr warm und durchdacht, aber keineswegs protzig.

»Schön haben Sie es hier«, bemerkte Bender beeindruckt. »Und mit streitlustigen Nachbarn haben Sie hier draußen sicher auch keine Probleme, nicht wahr?«

»Nein«, erwiderte Tom. »Ich bin kein besonders geselliger Mensch und brauche die Abgeschiedenheit, wenn ich schreibe. Das Haus und das Grundstück gehörten meinen Großeltern. Leider sind sie vor ein paar Jahren gestorben.«

»Das tut uns leid.«

»Schon gut, Herr Kommissar. Was ist denn nun der Grund ihres Besuchs?«, drängte Tom, der kein Freund von Floskeln war.

»Nun, wie wir Ihrer Frau bereits erklärt haben«, sagte Dorn, »ermitteln wir momentan in einem Mordfall, der uns einige Rätsel aufgibt.«

»Ich hoffe doch, es betrifft niemanden, den wir kennen?«, fragte Karin besorgt.

»Nein, ich denke, das können wir ausschließen. Trotzdem haben wir die begründete Hoffnung, dass Ihr Mann uns helfen kann, etwas Licht in diese Angelegenheit zu bringen.«

Tom blickte kurz zu Karin hinüber. Dann sah er die beiden Männer unschlüssig an. »Nun, ich werde natürlich tun, was in meiner Macht steht«, versicherte er bestürzt. »Was genau ist denn passiert?«

Dorn räusperte sich kurz. Fast hatte es den Anschein, als wolle er nur zögernd mit den Einzelheiten herausrücken. »Gestern Nachmittag wurde neben dem baufälligen Gebäude in der Nähe des hier angrenzenden Hotels die Leiche eines fünfjährigen Mädchens gefunden«, begann er. »Sie war in einer offenen Grube deponiert und wies Spuren zahlreicher Misshandlungen auf. Die genauen Einzelheiten wollen wir Ihnen ersparen.«

»Mein Gott!« Entsetzt schlug Karin die Hände vor den Mund.

»Das Mädchen konnte mittlerweile identifiziert werden«, fuhr Dorn fort. »Ihr Name ist Franziska Kern, und wie sich herausstellte, war sie seit etwa acht Tagen als vermisst gemeldet. Allerdings stammt das Opfer nicht von hier, sondern aus der Nähe von Wiesbaden. Bei den Kollegen dort wurde auch die Vermisstenanzeige erstattet. Bis jetzt haben wir nur wenige Anhaltspunkte, wie das Mädchen hierher gekommen ist und was den eigentlichen Todeszeitpunkt betrifft, denn unser Gerichtsmediziner hat festgestellt, dass der Leichnam über längere Zeit gekühlt worden ist.«

Aus Toms Gesicht schien jegliche Farbe gewichen zu sein. Beinahe apathisch sah er die Beamten an. »Sie … Sie sagen, das Mädchen wurde in einer Grube gefunden?« Es war, als höre er sich selbst aus weiter Ferne sprechen. Er kam sich vor wie in einem bösen, immer wiederkehrenden Traum, aus dem er jeden Moment zu erwachen hoffte.

»Das ist richtig. Der Aushub war frisch, die Erde war zum Teil noch nicht getrocknet. Alles deutet darauf hin, dass der Täter beim Vergraben der Leiche überrascht worden ist.«

Tom sackte nach vorn, fing sich jedoch schnell wieder und ließ sich nach hinten in die Polster sinken. Seine Hände verkrampften sich. »Ich … ich glaube, ich brauche ein Glas Wasser«, stammelte er. Sein Puls raste und er spürte, wie er am ganzen Leib zu zittern begann.

Ganz ruhig, Junge, hallte die altbekannte Stimme wieder durch seinen Kopf, während der Raum um ihn herum immer enger wurde. Das ist nur wieder einer von deinen üblichen Anfällen. Gleich geht es dir besser.

»Hier, Tom, trink.« Karin reichte ihm das Wasser und er trank das Glas gierig in einem Zug leer. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie sie den Raum verlassen hatte, um es ihm zu holen.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Dorn.

»Bitte entschuldigen Sie«, sagte Tom mit noch immer zittriger Stimme, während er versuchte, die Panikattacke so gut es ging zu überspielen, »aber ich bin etwas anfällig, wenn es um solche Nachrichten geht. Wir haben selbst einen kleinen Sohn, und es ist ziemlich beängstigend, wenn so etwas Entsetzliches hier in unmittelbarer Nähe passiert.«

»Ehrlich gesagt wundert es uns, dass Sie noch nicht davon erfahren haben. Es stand heute Morgen bereits in allen Zeitungen.«

»Ich lese keine Zeitungen, Herr Kommissar, ich beziehe meine Informationen ausschließlich aus Büchern. So gelingt es mir, Abstand zu solchen Dingen zu bewahren.«

»Aber sind es nicht genau diese Dinge, über die Sie schreiben?«, wollte Bender erstaunt wissen.

»Das stimmt. Aber das sind nur erfundene Geschichten, kombiniert mit ein wenig Recherche über Polizeiarbeit und etwas Grundwissen in Psychologie. Nichts, was der Realität entspringt. Das macht es …«

»Distanzierter«, vervollständigte Bender den Satz.

»Ja.«

»Verstehe«, meinte der Polizeibeamte. »Die Realität ist etwas anderes, als nur darüber zu schreiben, nicht wahr?«

»Das muss ich leider zugeben. Meine Romanfiguren sind diesbezüglich etwas abgebrühter.« Er versuchte sich an einem Lächeln, was ihm jedoch nicht darüber hinweghalf, wie sehr ihn die Routine erschreckte, mit der die beiden Beamten solche Nachrichten überbrachten. Für sie schien dergleichen Alltag zu sein, so wie ein Kurzschluss für einen Elektriker. Nur eine weitere Akte, die ihnen Arbeit machte.

»Ich hoffe, wir haben Sie nicht zu sehr schockiert«, sagte Dorn, als könne er Toms Gedanken lesen. »Oder sollen wir die Befragung lieber später fortsetzen?«

»Es geht schon wieder«, beteuerte Tom und setzte sich auf. »Sie sagen, das Mädchen stammt aus Wiesbaden?«

»Aus der näheren Umgebung«, bestätigte Kommissar Dorn. »Soweit wir wissen, haben auch Sie einmal dort gelebt, nicht wahr?«

Normalerweise hätte es Tom beunruhigen sollen, dass zwei Kriminalpolizisten sich mit Details aus seiner Vergangenheit beschäftigten. Doch eine solche Information hätte jeder auf seiner offiziellen Internetseite abrufen können.

»Meine Schwester und ich sind dort aufgewachsen«, entgegnete er. »Das liegt aber schon viele Jahre zurück. Meine Familie ist hierher gezogen, nachdem …« Er stockte. »Nun, es gab in Wiesbaden einfach nichts mehr, was uns hielt. Ich kenne dort niemanden mehr.« Und ich kann mich auch an niemanden mehr erinnern, den ich dort einmal gekannt habe. Nervös spielte er mit dem leeren Glas in seiner Hand. »Und Sie haben keine Ahnung, wie das Mädchen hierher gekommen ist?«

»Nein. Unseren Erkenntnissen nach hat die Familie hier weder Verwandte noch Freunde.«

»Demnach haben Sie also auch noch keinen konkreten Verdacht, was den Täter betrifft?«

»Leider nein. Alles, was wir bis jetzt haben, ist die Leiche und einen Haufen offener Fragen.«

Tom betrachtete die beiden Männer verwundert. »Also, dann würde mich wirklich interessieren, wie Sie darauf kommen, dass ich ihnen helfen könnte?«

Der Kommissar legte eine kurze Pause ein, während er Tom eingehend musterte. »Weil wir bei der Leiche etwas gefunden haben, das Ihren Namen eindeutig mit dieser Sache in Verbindung bringt, Herr Kessler.«

Toms Gesichtsfarbe glich nun der von feinem Zementstaub. »Wie … wie meinen Sie das?«

»Darauf kommen wir gleich zu sprechen«, wehrte der Kommissar ab. »Zunächst einmal wüssten wir gerne, ob es in jüngster Zeit irgendwelche Vorfälle gegeben hat, die Sie beunruhigt haben.«

»Vorfälle?«, wiederholte Tom aufgebracht. »Sie meinen, außer den Panikattacken, den schlaflosen Nächten und der Schreibblockade, mit der ich mich gerade herumschlage? Oder meinen Sie etwa den Schreck, den man bekommt, wenn zwei Polizisten vor der Tür stehen und einen unversehens mit einem Mordfall in Verbindung bringen?«

»Nein, nein, verstehen Sie mich bitte nicht falsch«, beschwichtigte der Beamte. »Ich meine, jemandem, mit dem Sie vor kurzem Streit hatten oder der Sie bedroht hat. Ein anderer Schriftsteller vielleicht, der Ihnen den Erfolg missgönnt, oder ein fanatischer Fan, der auf sich aufmerksam machen will?«

»Nein, nichts dergleichen.« Toms Stimme klang jetzt beinahe wie die eines wütenden Kindes.

»Gibt es sonst irgendjemanden, dem Sie ein solches Verbrechen zutrauen würden, um Ihnen zu schaden?«

Empört sah Tom den Kommissar an. »Nein, um Gottes willen, ich kenne niemanden, der zu so etwas Schrecklichem in der Lage wäre. Mein Bekanntenkreis besteht in der Regel nicht aus pädophilen Wahnsinnigen.« Er schnaufte wütend. »Was sollen eigentlich all diese Fragen? Könnten Sie mir jetzt bitte erklären, was das alles zu bedeuten hat?«

Dorn warf seinem Kollegen einen ernsten Blick zu. »Herr Kessler, vielleicht sollten wir erst einmal mit Ihrer Frau sprechen«, meinte er zögernd. »Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob …«

»Es geht mir gut, keine Sorge«, unterbrach ihn Tom.

»Hören Sie, ich will ehrlich zu Ihnen sein.« Der Kommissar beugte sich zu ihm vor. »Der Grund, weshalb wir hier sind, ist, dass wir Nachforschungen über Sie angestellt haben. Aus Ihrer Polizeiakte wissen wir von den schrecklichen Dingen, die Ihnen in Ihrer Kindheit zugestoßen sind. Und glauben Sie mir, wenn ich Ihnen versichere, dass sich selbst den erfahrensten Kollegen der Magen umgedreht hat, als sie den Bericht gelesen und die Fotos von den Leichen gesehen haben.«

»Und was hat das alles hiermit zu tun?«, wollte Karin wissen, und Dorn sah die Beklommenheit in ihren Augen.

»Nun«, sagte er und atmete tief durch. »Wir haben den begründeten Verdacht, dass der Mord an dem Mädchen in direktem Zusammenhang mit den Ereignissen von damals steht, auch wenn wir uns das im Moment nicht recht erklären können.«

»Das kann nicht Ihr Ernst sein«, entfuhr es Karin. Schützend griff sie nach Toms Hand. »Sie meinen doch sicher, es gibt da gewisse Ähnlichkeiten.«

»Nein.« Der Kommissar öffnete die Mappe in seiner Hand. Er zog zwei Fotos daraus hervor und legte sie nebeneinander auf den Tisch. Auf den ersten Blick schienen beide identisch zu sein. »Ich meine, dass die Grube, in der wir das Mädchen gefunden haben, der von damals in Form und Ausmaß genau gleicht.« Er deutete auf das rechte der beiden Fotos. »Die Leiche des Mädchens weist genau die gleichen Misshandlungsspuren und Merkmale auf wie der Leichnam vor dreizehn Jahren. Die Position, in der sie gefunden wurde, ist ebenfalls identisch. Das Alter, die Haarfarbe … sogar die Kleidungsstücke des Opfers stimmen bis ins Detail überein. Ich spreche von einer exakten Kopie des Fundortes, den Ihr Mann als Kind im Garten dieses Grundstücks entdeckt hat.«

Toms Atem war zu einem schnellen Keuchen geworden und sein Herz raste so schnell, dass er glaubte, das Blut in seinen Augen pulsieren zu sehen, die starr auf die beiden Fotos gerichtet waren. »Aber … aber das ist unmöglich«, keuchte er und kämpfte verzweifelt gegen eine erneute Panikattacke an. »Was Sie da behaupten, kann nicht sein.«

»Glauben Sie uns, wir waren nicht minder überrascht, als wir die Fotos von damals gesehen haben.«

»Was haben Sie dort noch gefunden?« Tom hatte jetzt Mühe, sich verständlich auszudrücken. Seine Stimmbänder waren wie gelähmt. Er umklammerte Karins Hand so fest, dass sie vor Schmerz das Gesicht verzog. »Sie haben gesagt, da wäre noch etwas. Etwas, das mich damit in Verbindung bringt.«

Dorn sah ihm eindringlich in die angsterfüllten Augen. »Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass Sie momentan in der Verfassung sind, das zu verarbeiten.« Er wandte sich an Karin. »Vielleicht sollten wir das Weitere im Beisein eines Arztes besprechen. Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass Ihr Mann einen Rückfall erleidet oder ernste psychische Komplikationen auftreten.«

»Ich sitze hier vor Ihnen!«, schrie Tom außer sich. »Also reden Sie nicht über mich, als wäre ich nicht in diesem Zimmer. Ich will jetzt wissen, was Sie dort gefunden haben!«

»Tom, beruhige dich!« Karin fasste seine Hand fester. »Der Kommissar hat recht. Ich finde diese ganze Unterhaltung schon beängstigend genug, ich möchte mir nicht auch noch Sorgen um dich machen müssen.«

»Sie sollten auf Ihre Frau hören«, meinte Dorn. »Ich bezweifle, dass es gut für Sie wäre, wenn wir das Ganze hier fortsetzen. Ich hatte von Anfang an Bedenken, was dieses Gespräch betrifft. Aber mein Chef ist der Meinung, wir sollten Sie warnen, bevor die Presse von den Einzelheiten Wind bekommt. Und natürlich hatten wir auch gehofft, Sie könnte uns erklären, was wir dort vorgefunden haben. Aber ich halte es für unverantwortlich, Ihnen das zuzumuten. Wahrscheinlich haben wir schon zu viele alte Wunden wieder aufgerissen. Wir sollten es vorerst dabei belassen.«

Tom, der sich mittlerweile wieder gefasst hatte, sah zu, wie die beiden Beamten sich erhoben, und stellte das leere Glas auf dem Tisch ab, das er die ganze Zeit wie einen rettenden Anker umklammert hatte. »Können Sie sich an Ihre Jugend erinnern, Herr Kommissar?«, fragte er unvermittelt, und seine Stimme klang fester, als er es erwartet hätte. »Ich meine, an Dinge wie Ihren ersten Kuss oder die Abiturfeier? Oder an den Moment, als Ihre Eltern das erste Mal stolz auf Sie gewesen sind?«

Dorn hielt inne und blickte ein paar Sekunden lang mitfühlend auf ihn herab. »Ja«, sagte er schließlich, »ich denke schon.«

»Sehen Sie«, meinte Tom, »ich kann das nicht, weil ich meines Wissens nach nie eine derartige Jugend erlebt habe. Und obwohl ich Alkohol verabscheue, würde ich mich wahnsinnig gerne erinnern können, wann ich mein erstes Bier getrunken habe. Vermutlich in irgendeiner Klinik, zwischen zwei Therapiesitzungen. Das ist nämlich alles, woran ich mich aus all den Jahren erinnern kann. An unzählige Untersuchungen, an Analysen, Diagnosen und Therapien. Aber all das Gerede und die Medikamente haben mir mein Leben und meine Erinnerung bis heute nicht wiedergegeben. Sicher, ich habe trotzdem eine Menge erreicht, und es geht uns gut hier. Aber glauben Sie allen Ernstes, ich lebe gerne in dieser Abgeschiedenheit? Ich würde mich liebend gerne mit Nachbarn streiten, Herr Kommissar, aber ich bekomme schon Schweißausbrüche, wenn ich nur einen Zaun sehe. Ich habe nicht viele Freunde, denn ich verlasse dieses Haus nur selten, und meistens auch nur, wenn es aus beruflichen Gründen sein muss oder ich meinen Arzt aufsuche. Und selbst dann fällt es mir schwer. Ich lebe nur in meiner Fantasie, Herr Kommissar. Sie ist mein gesamtes Kapital. Nicht gerade das, was man sich unter einem Prominenten vorstellt, nicht wahr?«

Er saß jetzt aufrecht da, und das Zittern in seiner Stimme war Entschlossenheit gewichen.

»Sie sagen, Sie haben den Bericht gelesen. Soviel ich weiß, beschreibt dieser Bericht fast ausschließlich Dinge, die sich während und nach meiner Befreiung abgespielt haben. Was genau in den drei Stunden geschehen ist, die ich diesem Monster hilflos ausgeliefert war, konnte nie genau geklärt werden. Trotzdem hat es mein Leben zerstört, Herr Kommissar. Nur ganze drei Stunden waren dazu nötig.«

Wieder rang Tom mit seinen Gefühlen, und es fiel ihm schwer, die Fassung zu wahren.

»Sie glauben tatsächlich zu wissen, was ich damals durchgemacht habe?« Vorwurfsvoll sah er zu den beiden Beamten auf. »Dann wissen Sie offensichtlich mehr als ich, denn alles, was an diesem verfluchten Tag geschehen ist, entzieht sich vollständig meiner Erinnerung. Es ist nicht gelöscht, aber ich habe einfach keinen Zugriff mehr darauf. Die Ärzte haben gesagt, das sei eine Art Schutzfunktion meines Unterbewusstseins. Quasi eine körpereigene Gehirnwäsche, mit der mein Verstand mich daran hindern will, das Ganze immer wieder zu durchleben. Ich frage mich nur, was auf Dauer schlimmer ist? Sich an etwas so Schreckliches zu erinnern und es so zu verarbeiten, oder ständig vor etwas Angst haben zu müssen, das man sich nicht erklären kann und das einen letztendlich am Leben hindert? Ich für meinen Teil ziehe Ersteres vor, auch wenn es vielleicht gewisse Risiken birgt. Die bin ich gerne bereit einzugehen, ich bin es nämlich langsam leid, davonzulaufen und mich zu verkriechen. Und ich möchte meinem Sohn auch nicht irgendwann einmal erklären müssen, dass sein Vater nicht mit ihm zum Fußball gehen kann, weil er sich nicht unter Menschen traut. Aber ich kann mein Ängste nur bekämpfen, wenn ich mich ihnen stelle, Herr Kommissar. Und wenn das, was Sie mir sagen wollen, schon nicht Ihnen helfen kann, dann hilft es vielleicht doch mir, mich an die Dinge von damals zu erinnern und diese Blockade zu durchbrechen.«

In den nächsten Sekunden sagte niemand etwas. Dorn schien Tom mit allen Sinnen zu fixieren, als wolle er ihn durchleuchten, um zu sehen, wie weit es für ihn vertretbar war, mit der Wahrheit herauszurücken. Schließlich schwenkte sein Blick zu Karin hinüber, in der Hoffnung auf so etwas wie eine Bestätigung.

»Bitte, Herr Kommissar«, flehte Tom. »Es ist schon schlimm genug, ständig diesen Ängsten ausgesetzt zu sein. Aber noch viel schlimmer ist es, wenn man nicht weiß, wovor man eigentlich solche Angst hat. Vielleicht muss ich das einfach alles noch einmal durchleben, damit ich damit abschließen kann.«

Wieder ein langes Zögern. »Also gut«, gab der Kommissar schließlich nach, und die beiden Männer setzten sich wieder. »Aber auf Ihre Verantwortung.«

Er nickte seinem Kollegen zu, der daraufhin in die Innentasche seines Jacketts griff und ein gefaltetes Blatt Papier zutage förderte.

»Das hier ist die Abschrift einer Nachricht, die wir bei der Leiche gefunden haben«, erklärte Bender. »Sie steckte in der Mundhöhle des Mädchens, als hätte der Täter Ihnen durch sie diese Worte mitteilen wollen.«

Zögernd nahm Tom das Papier entgegen; seine Augen suchten unsicher nach Karin, die erneut seine Hand ergriff. Sie hatte Tränen in den Augen, nickte ihm jedoch aufmunternd zu. Mit zitternden Händen faltete er das Blatt auseinander und las die gedruckten Zeilen:

Es beginnt erneut. Sie verlassen mich wieder. Und Du weißt, wie sehr ich es hasse, verlassen zu werden. Deinetwegen haben sie mir meine Schätze genommen, über die ich so fürsorglich gewacht habe. Ich habe es nicht vergessen, im Gegensatz zu Dir. Deshalb habe ich beschlossen, dass es an der Zeit ist, Dein Gedächtnis etwas aufzufrischen. Das Spiel ist noch nicht vorbei, Tom Kessler, egal, was sie Dir in all den Jahren eingetrichtert haben. Es beginnt erneut. Und diesmal werde ich vollenden, was ich an Dir begonnen habe. Ich werde dafür sorgen, dass Du dich daran erinnerst, wer der Wächter ist!

Tom fuhr zusammen. Eine Panikwelle flutete durch ihn hindurch wie Wasser durch einen geborstenen Schiffsrumpf. Die Wände des Wohnzimmers schienen zu schwanken, und das Sonnenlicht in den Fenstern und der Terrassentür wurde immer heller, bis es so grell war, dass es ihn blendete. Bilder tauchten plötzlich vor seinen Augen auf, zuckten wie grelle Blitze durch seine Wahrnehmung, als hätten sie nur darauf gewartet, eine Lücke in seinem Unterbewusstsein zu finden, um daraus zu entfliehen. Bruchstücke seiner Vergangenheit hasteten an ihm vorbei, so greifbar und nah, dass sie ihm beinahe real erschienen. Er sah eine breite Werkbank vor den nackten Mauersteinen einer Kellerwand. Er sah unzählige Gerätschaften, die an der Wand befestigt waren und zum Teil Spuren von getrocknetem Blut aufwiesen. Sägen, Schraubzwingen, Metallbohrer. Eine Kühltruhe, über deren Rand ein kleiner Fuß herausragte. Die Luft war feucht und stickig und mit einem entsetzlichen Geruch nach Verwesung getränkt. Und er hörte diese unnatürlich hohe Stimme, die ihn an Kreide erinnerte, die über eine Tafel quietschte.

»Willst du mit mir spielen?«

»NEIN!«, schrie er, jetzt völlig außer sich. Die Angst war unerträglich. Sie schien physische Ausmaße anzunehmen, lastete auf ihm wie ein tonnenschwerer Granitblock.

»Niemand widersetzt sich dem Wächter«, hallte es bedrohlich durch seinen Kopf. »Hörst du, NIEMAND!«

Ein entsetzlicher, brennender Schmerz durchzuckte Toms Bein. Er konnte warmes Blut auf seiner Haut spüren, das sich wie ein Schleier über sein Gesicht legte. Dann vernahm er dieses unmenschliche Lachen.

»Ich werde dich spüren lassen, was Verlust ist!« Die Stimme klang so klar und deutlich, als stünde der Wächter vor ihm. Er fühlte kräftige Hände, die ihn packten und an ihm zerrten.

»Willst du mit mir spielen?«

»NEIN! OH GOTT!«

»Tom!« Die Stimme seiner Frau drang zu ihm durch und traf ihn wie eine Ohrfeige. Langsam lösten sich die Bilder auf, zerliefen wie das Blut, dessen Schleier sich verflüchtigte und Tom die Sicht wieder freigab. Nur verschwommen erkannte er drei Gesichter über sich, sah seine Arme, die wild fuchtelten und sich zu befreien versuchten.

»Nein, lasst mich!«, schrie er in panischer Furcht und sprang auf. Er prallte mit Bender zusammen, der das Gleichgewicht verlor und an den Tisch stieß. Das leere Glas fiel zu Boden und zersprang auf den braunen Keramikfliesen.

Schluchzend sackte Tom auf die Knie und wischte sich wild mit den Händen übers Gesicht. Dann starrte er sie an, war sich sicher, dass sie voller Blut waren. Doch er fand nichts, außer glitzerndem Schweiß auf seinen zitternden Fingern. Sein Puls raste so schnell, dass er befürchtete, sein Herz könnte jeden Moment explodieren. »Oh Gott«, keuchte er wie ein verängstigtes Kind, während er noch immer seine Finger anstarrte. »Er ist wieder da. Es beginnt erneut!«

»Wir sollten einen Arzt rufen«, meinte Dorn, der Mühe hatte, die Fassung wiederzugewinnen.

»Ich rufe Dr. Westphal an!« Karin wischte sich die Tränen aus den Augen und stürzte zum Telefon. Bevor sie den Hörer aufnehmen und die ersten Tasten drücken konnte, hielt Tom sie zurück.

»Warte!«, rief er, während er noch immer keuchend auf dem Boden kniete. »Nicht … Es geht schon wieder.«

»Reden Sie doch keinen Unsinn, Mann«, widersprach Dorn. »Sie brauchen Hilfe.«

»Die hätte ich vor dreizehn Jahren gebraucht«, stöhnte Tom außer Atem. »Jetzt brauche ich nur etwas zu trinken.«

»Ich denke, das könnten wir jetzt alle vertragen«, bemerkte Bender. Er streifte mit beiden Händen sein dunkelblondes Haar nach hinten, das ihm wirr in die Stirn hing. Die Scherben knirschten unter den Sohlen seiner braunen Lederschuhe.

»Ich hole Besen und Schaufel«, sagte Karin, die noch immer völlig aufgelöst war und mit den Tränen kämpfte. »Bevor sich noch jemand verletzt.«

»Lass nur«, sagte Tom und stand langsam auf. Seine Glieder schmerzten und waren schwer wie nach einem Marathonlauf. »Ich mach das schon. Geh du bitte zu Mark und sorg dafür, dass er nicht runterkommt. Ich möchte nicht, dass er das hier sieht.«

Karin stand da und betrachtete ihren Mann unschlüssig. Seine Augen waren blutunterlaufen, und noch immer spiegelte sich das Entsetzten darin, das er gerade durchlebt hatte.

»Bitte«, fügte Tom mit Nachdruck hinzu. Er sah, wie sie mit sich kämpfte. »Es ist in Ordnung. Geh und kümmere dich um Mark.«

Mit einem dumpfen Scheppern kippte Tom die Glasscherben in den Abfallbehälter und verstaute das Kehrblech wieder in dem Schrank unter der Spüle. Der Anblick von Scherben löste in ihm stets ein beklemmendes Gefühl aus, das er ebenso wenig zu erklären wusste wie seine Angst vor fleischigen, behaarten Händen. Er schenkte sich ein weiteres Glas Wasser ein und spülte hastig eine Tablette damit herunter. Noch immer fiel es ihm schwer, das Zittern seiner Finger unter Kontrolle zu bekommen, doch es gelang ihm, es vor den beiden Beamten zu verbergen, indem er die Hände in den Taschen seiner Jeans vergrub. »Kann ich ihnen auch etwas anbieten? Einen Kaffee vielleicht? Oder etwas Stärkeres?«

»Nein, danke«, lehnte Dorn ab, der sich dafür einen missmutigen Blick seines Kollegen einfing. Die beiden waren Tom in die Küche gefolgt, in der es noch immer nach dem Essen roch, das mittlerweile auf den Tellern kalt geworden war. »Und Sie sind wirklich wieder in Ordnung?«

»Ja«, entgegnete Tom. »Ich fühle mich nur noch etwas aufgedreht. So ähnlich wie nach einem Stromschlag.«

»Dann erzählen Sie uns doch mal, was genau da eben mit Ihnen passiert ist. Ich kann natürlich nicht für meinen Kollegen sprechen, aber ich habe so etwas noch nie erlebt.«

»Tja«, sagte Tom, »dem kann ich mich nur anschließen. Das Ganze ist auch für mich eine neue Erfahrung.«

Er senkte seinen Blick und starrte verlegen auf seine Füße, die nervös auf und ab wippten. Und einen kurzen Moment lang kam es ihm fast so vor, als sei er immer noch dreizehn und müsste sich vor seinen Eltern für einen peinlichen Schulstreich rechtfertigen. Auch nach all den Jahren psychologischer Behandlung tat er sich noch immer sehr schwer damit, seine Seele vor anderen zu entblößen. Noch dazu vor zwei wildfremden Menschen, die gerade mit angesehen hatten, wie er völlig die Fassung verloren hatte.

»Was da eben passiert ist«, begann er leise, »ist auch für mich schwer zu erklären, und Erklären gehört normalerweise zu meinem Beruf. Es war nicht nur einer der üblichen Anfälle, von denen ich nicht immer genau sagen kann, was sie auslöst. Das hier war wesentlich intensiver. Eine emotionale Flutwelle, könnte man sagen, die mich in die Vergangenheit gespült hat. Als hätte sich eine Schleuse in einem mir unbekannten Teil meines Gehirns geöffnet, die normalerweise fest geschlossen ist.«

Dorn sah in mit ausdrucksloser Miene an. »Dann war das also eine Art Rohrbruch, den wir da erlebt haben?«

Tom lächelte. »Wohl eher eine undichte Stelle, würde ich sagen.« Sein Lächeln wurde breiter. Das dürfte der Umschreibung nicht ganz dicht eine völlig neue Bedeutung geben, fügte er in Gedanken hinzu.

»Was genau haben Sie denn gesehen?«

»Nur winzige Teile. Aber es waren nicht nur visuelle Eindrücke. Da waren auch dieser entsetzliche Gestank, und diese …« Er fing an, nervös auf seiner Unterlippe zu kauen »Ich war wieder in dem Keller. Mit ihm. Ich konnte ihn nicht sehen, aber ich habe seine Stimme gehört.«

»Was hat er gesagt?«

»Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm spielen will. Ich glaube, ich muss Ihnen nicht erklären, was er damit gemeint hat.«

»Nein.« Der Kommissar räusperte sich. »Wie gesagt, wir sind mit den Fakten vertraut.«

»Dann wissen Sie ja sicher auch von der Leiche in der Kühltruhe. Ich konnte sie sehen. Ihr … ihr Fuß hing über den Rand hinaus. Er war ganz blau und … aufgedunsen.« Tom atmete tief durch. »Sie sagten, der Leichnam des Mädchens, den Sie gefunden haben, wäre ebenfalls gekühlt worden. Sehen Sie da auch einen Zusammenhang?«

»Schon möglich. Dem damaligen Täter ging es in erster Linie darum, die Verwesung aufzuhalten. Vielleicht wurde die Leiche des Mädchens in diesem Fall nur gekühlt, um sie über einen gewissen Zeitraum hinweg exakt in dem Zustand der damaligen zu erhalten, bis sie gefunden werden sollte.«

»Sie denken also, der Täter wurde gar nicht überrascht, sondern wollte, dass die Tote so entdeckt wird.«

»Davon gehen wir aus. Weshalb sollte er sich sonst solche Mühe mit den Details geben?«

»Wer hat die Leiche gefunden?«

»Ein paar spielende Kinder.«

Eine weitere Parallele.Und noch ein paar Kinderseelen, die vernichtet wurden.

»Dort ist zwar der Zutritt verboten«, erklärte Bender, »aber das Gebäude dient Kindern und Jugendlichen oft als Treffpunkt. Ist wohl so eine Art Abenteuerspielplatz für sie.«

»Das Haus steht schon seit Jahren leer, nicht wahr?«, fragte Tom.

»Das stimmt«, bestätigte Dorn und blätterte in den Papieren, die er in der Hand hielt. »Genaueres können wir leider nicht sagen, da es seltsamerweise keinerlei Unterlagen darüber gibt. Selbst die zuständige Behörde konnte uns das nicht erklären; sie vermuten einen Computerfehler. Merkwürdig ist nur, dass auch kein notarieller Eintrag zu finden ist. Offiziell existiert dieses Gebäude also nicht, deshalb fühlt sich auch niemand dafür zuständig und es gibt gerichtliche Streitigkeiten wegen der Entsorgungskosten. Allerdings wurde uns mitgeteilt, dass es früher wohl so etwas wie ein Depot gewesen ist. Wie auch immer, die Stadt würde das Objekt jedenfalls am liebsten dem Erdboden gleichmachen, weil es von vielen Anwohnern als Schandfleck bezeichnet wird und außerdem einsturzgefährdet ist. Das Grundstück ist zwar weitläufig eingezäunt, und überall stehen Verbotsschilder, aber dass scheint die Kids nicht abzuhalten.«

Zäune, dachte Tom, und ihm wurde speiübel. »Dieser Mann, der mich damals… dieser Wächter … Man hat mir gesagt, er habe sich das Leben genommen.«

»Das stimmt. Er wurde mit durchgeschnittener Kehle gefunden, nachdem die Kollegen die Kellertür aufgebrochen hatten. Das Messer hielt er noch in der Hand.«

Das Blut, das viele Blut. Es war seins. »Mein Gott«, keuchte Tom. »Wie krank muss jemand sein, um so etwas zu tun?«

»Ich denke, seine Taten sprechen da für sich«, bemerkte der Kommissar trocken.

»Wer war der Mann?«

Dorn sah Tom unschlüssig an. »Hat man Ihnen das nie gesagt?«

»Ich … ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr genau.« Tom fuhr sich mit der Hand über die Stirn und rieb sich die müden Augen. »Es gibt so vieles, an das ich mich nicht mehr erinnern kann. Am Anfang meiner Therapie haben die Ärzte es wohl nicht für ratsam gehalten, mich aufzuklären. Vielleicht hat man es mir später einmal gesagt, in der Hoffnung, ich würde mich erinnern. Aber ich habe das alles in den letzten Jahren so sehr verdrängt, dass es vermutlich irgendwann verloren gegangen ist. Ich wollte mich einfach nicht mehr erinnern. Ich wollte nur noch vergessen und nach vorn schauen. Aber Sie sehen ja, wie schwer mir das fällt. Und irgendwann ist dann der Punkt erreicht, wo selbst das nicht mehr möglich ist, weil es mich daran hindert, Dinge zu tun, die für andere Menschen ganz normal sind. Und wenn es mir nicht gelingt, mich endgültig davon zu befreien, dann werde ich wohl niemals ein normales Leben führen können.«

»Was ist denn mit Ihrem Vater? Wie ich dem Bericht entnehmen konnte, ist er Polizeibeamter und war an Ihrer Befreiung beteiligt. Er hätte Ihnen jederzeit eine Kopie …«

Tom unterbrach ihn. »Ich habe keinen Kontakt mehr zu meinem Vater. Er hat uns kurz danach verlassen. Ich schätze, er ist mit den Dingen, die mir damals passiert sind, nie fertig geworden. Ebenso wenig wie ich. Muss wohl in der Familie liegen«, stellte er verbittert fest. »Jedenfalls habe ich seitdem nichts mehr von ihm gehört. Und ich will auch gar nichts von ihm hören«, fügte er mit Nachdruck hinzu. »Aber wenn mich meine Vergangenheit schon wieder einholt, dann will ich doch wenigstens wissen, wem ich es zu verdanken habe, dass ich bloß noch ein verängstigtes Wrack bin.«

Dorn legte die Aktenmappe, die er noch immer in der Hand hielt, aufgeschlagen auf den Tisch. Sie enthielt die Berichte und Notizen zu den beiden Fällen. »Der Name des Mannes war Ralf Homberg. Er war Angestellter eines Sicherheitsunternehmens, bis er wegen Handgreiflichkeiten entlassen wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt ist er nie straffällig geworden und hat eigentlich unauffällig mit seiner Familie in dem besagten Haus gelebt. Die Leute, mit denen er Umgang hatte, haben ihn eher als schüchtern und zurückhaltend beschrieben, manche auch als sonderbar. Er war nicht sonderlich beliebt, galt aber als fürsorglicher Familienvater. Etwa sechs Monate vor seinem Tod hat seine Frau die Scheidung eingereicht und ist mit dem zehnjährigen Sohn zu ihrer Mutter gezogen. Vermutlich war das der Auslöser für seine Taten, er hat den Verlust wohl nicht verkraftet.«

Sie verlassen mich wieder, spukte es Tom durch den Kopf.

»Etwa drei Monate nach der Trennung hat er dann seine Frau und seinen Sohn als vermisst gemeldet, angeblich, weil sie nach einem gemeinsamen Einkaufsbummel nicht in das Haus seiner Schwiegermutter zurückgekehrt waren. Diese Vermisstenanzeige war später einer der Gründe, weshalb die Polizei in sein Haus eingedrungen ist, zu diesem Zeitpunkt ist man bereits davon ausgegangen, dass er selber etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hatte. Seine Frau hatte ihn bereits zweimal wegen Belästigung angezeigt. Wie sich dann herausgestellt hat, hatten die Kollegen recht. Bei der einzigen Jungenleiche, die man in dem Keller entdeckte, handelte es sich um seinen Sohn. Die sterblichen Überreste seiner Frau konnten bis heute nicht gefunden werden. Sie gilt noch immer als vermisst.«

Tom blätterte in den Aufzeichnungen, während er Dorns Ausführungen folgte. Er stieß auf die beiden Bilder der Opfer, die beinahe identisch waren, und sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. »Eine Sicherheitsfirma«, ging er laut seinen Gedanken nach. »Deshalb also der Wächter.«

»Keine Ahnung. Dieser Begriff taucht in keinem Bericht auf, er scheint also nur Ihnen bekannt zu sein.«

»Er hat sich mir gegenüber selbst so genannt.«

»Nun, der Verlust seines Arbeitsplatzes und seiner Familie hat ihn wohl den Verstand gekostet. So was kann einen Menschen schon fertigmachen.«

Der eigene Sohn. Kein Verlust auf dieser Welt könnte Tom zu so etwas treiben. »Eines verstehe ich nicht.« Er sah wieder zu den beiden Beamten auf. »Wenn ich der einzige Überlebende bin, wie kann dann jemand nach all den Jahren eine Botschaft verfassen, die Details enthält, die nur ich wissen kann?«

»Tja«, sagte Bender, »genau das ist es ja, was wir uns auch nicht erklären können.« Er setzte sich zu Tom an den Tisch. »Zunächst sind wir davon ausgegangen, dass es ein Trittbrettfahrer ist. Jemand, der Ihre Vergangenheit kennt und Ihnen schaden will. Aber die Botschaft, die wir gefunden haben, schließt das aus, weil darin, wie Sie schon sagten, Details beschrieben werden, die nur Ihnen bekannt sind.«

»Nun, da ich mich bis vor etwa zwanzig Minuten selbst nicht mehr daran erinnern konnte, und der eigentliche Täter seit dreizehn Jahren tot ist, wer kommt dann infrage?«

Bender lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Im Augenblick sind das natürlich alles nur Spekulationen, aber wir vermuten, dass Homberg vielleicht nicht allein gehandelt hat.«

»Sie meinen, er hatte einen Komplizen?«

»Das wäre zum jetzigen Zeitpunkt die einzig vernünftige Erklärung. Und deshalb hatten wir gehofft, Sie könnten sich vielleicht an eine weitere Person in dem Haus erinnern. Sind Sie sich ganz sicher, dass es Hombergs Stimme war, die Sie vorhin gehört haben?«

»Ja.« Tom rief sich die schrille Tonlage noch einmal ins Gedächtnis zurück. Es war ihm unbegreiflich, wie er sie je hatte vergessen können. Willst du mit mir spielen? »Ganz sicher.«

»War da noch eine andere Stimme? Vielleicht nicht direkt in dem Keller, aber in den oberen Etagen?«

»Nein … Ich weiß nicht.« Unsicher fuhr Tom sich mit den Fingern durch sein braunes Haar. »Wenn ich mich recht erinnere, hat er seine Stimme gelegentlich verstellt, wenn er mit mir gesprochen hat, so als wäre er jemand anderes. Aber da war sonst niemand. Und selbst wenn, die Polizei hätte ihn doch gefunden.«

»Sie waren drei Stunden in seiner Gewalt. In dieser Zeit kann die betreffende Person das Haus unbemerkt verlassen haben. Zumal dem Täter bewusst gewesen sein muss, dass die Polizei bald auftauchen würde, da Ihr Verschwinden nicht unbemerkt geblieben war.«

Tom dachte nach, und die Anstrengung zog Falten in seine hohe Stirn. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann mich nur an Bruchstücke erinnern, nichts Zusammenhängendes. Aber ehrlich gesagt, der Gedanke, dass da noch jemand sein soll, der zu so etwas fähig wäre, ist ziemlich erschreckend.«

»Aber durchaus nicht abwegig«, schaltete sich Dorn wieder zu. »In vielen Fällen stecken organisierte Banden dahinter, die Pädophile in der ganzen Welt bedienen, einschließlich Kindesentführung und Missbrauch. Allerdings sind uns keine Kontakte bekannt, die Homberg mit diesem Milieu in Verbindung bringen. Er besaß weder einen Computer, noch wurde in seinem Haus pornografisches Material gefunden, das seine Neigungen diesbezüglich bestätigt hätte. Es scheint, als hätte er vorher ein ganz normales Leben geführt. Aus den Unterlagen geht hervor, dass er einen Bruder hat, der bereits damals zu den Vorfällen vernommen wurde. Da jedoch keine weiteren Verdachtsmomente gegen ihn oder andere vorlagen, ging man bisher von einem Einzeltäter aus. Deshalb konzentrieren sich unsere Ermittlungen augenblicklich auf seinen Bekanntenkreis. So viel wir wissen, hatte er zwar nicht viele Freunde, aber da das Ganze nun schon dreizehn Jahre zurückliegt, dürfte es eine Weile dauern, diese wenigen ausfindig zu machen. Bis dahin raten wir Ihnen, Vorkehrungen zu treffen.«

Verstört blickte Tom in die ernsten Gesichter der beiden Beamten. »Was denn für Vorkehrungen?«

»Nun, diese Botschaft ist eindeutig eine Drohung gegen Sie«, meinte Dorn. »Das schließt Ihre Familie mit ein. Und solange wir nicht sicher sind, wer dahinter steckt, sollten Sie ein paar Sicherheitsmaßnahmen ergreifen.«

Erneut wich die Farbe aus Toms Gesicht. Zum ersten Mal seit er diese Zeilen gelesen hatte, wurde ihm deren reale Bedrohung klar. »Und was genau schwebt Ihnen da so vor, Herr Kommissar. Soll ich mich dem Leben etwa noch mehr entziehen, als ich es ohnehin schon tue?«

»Hat dieses Haus eine Alarmanlage?«

»Nein. Es gab nie einen Grund dafür.«

»Ich schätze, das wäre die Standardausrede von jedem Mordopfer.« Dorns Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, doch der Ausdruck in seinen dunklen Augen blieb todernst. »Ich würde Ihnen dringend raten, eine anzuschaffen. Außerdem würde ich Ihnen empfehlen, Kameras auf dem Grundstück zu installieren, insbesondere auf der Zufahrt zum Haus und im Garten.«

Großartig, dachte Tom. Jetzt wird aus diesem Gefängnis auch noch eine Festung. »Finden Sie das nicht ein wenig übertrieben?«

»Eine tote Fünfjährige empfinde ich keineswegs als Übertreibung, Herr Kessler.« Aus Michael Dorns Stimme war jede Kompromissbereitschaft gewichen. Nur noch die energische Autorität eines Kriminalpolizisten lag darin. »Gerade Sie sollten das nachvollziehen können.«

Tom blickte auf das Foto des Opfers, das wie ein infames Lesezeichen in die Innenseite der Aktenmappe gesteckt war. »Sie haben recht«, räumte er ein und schlug wütend den Deckel der Mappe zu. »Warum hat dieser Dreckskerl mir seinen Drohbrief nicht einfach mit der Post geschickt? Dann wäre dieses Mädchen noch am Leben.«

»Weil er wollte, dass Sie diese Drohung ernst nehmen«, antwortete Dorn. »Und genau das sollten Sie auch tun, denn das hier ist keineswegs die Tat eines Verrückten, der nur auf sich aufmerksam machen will. Der Täter muss sich ausführlich mit Ihrem Fall beschäftigt haben, er kennt Dinge aus Ihrer Vergangenheit, von denen nur Sie wissen können, und die Detailverliebtheit, mit der er das Ganze inszeniert hat, lässt auf eine ziemliche Besessenheit schließen. Sogar den Fundort der Leiche hat er nicht dem Zufall überlassen. Er wusste, dass dort ein beliebter Treffpunkt von Kindern und Jugendlichen ist, wo das, was er uns präsentieren wollte, auch zum richtigen Zeitpunkt gefunden wird. Und er war auch bereit, ein gewisses Risiko einzugehen, dort bei seinen Vorbereitungen beobachtet zu werden. All das erfordert einen abgebrühten Verstand und exakte Vorbereitung. Der Täter verfolgt ein klares Ziel. Und dieses Ziel sind augenscheinlich Sie, Herr Kessler.«

»Aber warum gerade jetzt, nach all den Jahren?«

»Das kann viele Gründe haben. Seiner Botschaft nach zu urteilen wusste er, dass Sie jahrelang therapiert worden sind. Es könnte sein, dass er einfach abwarten wollte, bis Sie für seine Spielchen bereit waren. Schließlich will er ja auch seinen Spaß daran haben. Möglicherweise ist er aber auch erst jetzt in der Lage, seine Pläne umzusetzen. Wie schon erwähnt nimmt die Vorbereitung für eine solche Tat sehr viel Zeit in Anspruch, und Zeit bedeutet bekanntlich auch Geld. Vielleicht musste er sich erst einmal die nötigen finanziellen Freiräume sichern. Denkbar wären auch eine längere Krankheit, geschäftliche Verpflichtungen, möglicherweise sogar ein Gefängnisaufenthalt. Unsere Ermittlungen sind sehr weitläufig. Sie können sich aber sicher vorstellen, wie viel Zeit uns das alles kostet. Deshalb wird bereits die Gründung einer Sonderkommission vorbereitet, die sich ausschließlich mit diesem Fall beschäftigen soll. Sämtliche Spuren und alles Beweismaterial, das wir am Fundort sichergestellt haben, sind schon beim LKA in Mainz und werden dort untersucht. Wir hoffen, mehr über die Kleidung des Mädchens und die Originalbotschaft zu erfahren. Außerdem werden wir die Kinder und Jugendlichen aus der Gegend befragen, ob ihnen auf dem Grundstück irgendetwas aufgefallen ist. Mehr können wir im Augenblick nicht tun.«

Durch das Küchenfenster hindurch beobachtete Tom Karin und Mark, die ausgelassen im Garten herumtollten. Sie mussten durch die Haustür nach draußen gegangen sein, ohne dass er es gemerkt hatte. Und obwohl er wusste, dass seine Frau voller Sorge um ihn war, wirkte ihr Spiel völlig unbeschwert. Das tut sie Mark zuliebe, dachte Tom, während er ihrem Lachen lauschte, das nicht im Mindesten gezwungen wirkte.

»Ich veranlasse gleich morgen früh all das, was Sie mir empfohlen haben«, sagte er mit gerade eben genügend Kraft, dass es nicht verzweifelt klang. »Und ich nehme meinen Sohn eine Zeit lang aus dem Kindergarten.«

Kommissar Dorn nickte zufrieden. Dann trat er neben ihn und sie sahen gemeinsam zu, wie Mark sich strampelnd aus dem Griff seiner Mutter zu befreien versuchte. »Wie alt ist der Kleine?«, erkundigte er sich.

»Er wird in zwei Monaten vier.«

»Dann müssen Sie ja sehr früh geheiratet haben.«

»Tja, ich schätze, ich hatte es wohl ziemlich eilig damit, erwachsen zu werden, nachdem ich schon keine Jugend hatte.«

»Ich will bestimmt nicht indiskret sein, aber wie haben Sie und Ihre Frau sich kennengelernt?«

Tom sah zu dem Beamten auf. Vermutlich wunderte dieser sich darüber, wie jemand, der so gut wie nie das Haus verließ, an eine so bezaubernde Frau geraten konnte. »Sie hat in der Praxis meiner Ärztin gearbeitet. Wahrscheinlich hat sie nicht nur beruflich ein Faible für verkorkste Seelen.«

Ein Lächeln huschte über Dorns Gesicht. Und diesmal lächelten auch seine Augen. »Sie haben eine tolle Familie, Herr Kessler«, stellte er fest, ohne dass es sich anhörte, als wolle er Tom trösten. »So etwas kann man gar nicht genug beschützen.«

Tom sah, wie Mark strahlend in den Armen seiner Mutter versank. »Ja«, sagte er, »da haben Sie wohl recht.«

Der Kommissar nahm die Mappe wieder an sich. »Ach, da wäre noch etwas«, meinte er beinahe beiläufig. »Sagt Ihnen die Zahl sechsundvierzig irgendetwas?«

Tom überlegte kurz. »Nicht, dass ich wüsste. Warum?«

»Diese Zahl stand auf der Originalbotschaft, die wir bei der Leiche gefunden haben. Es hat fast den Anschein, als ob sie eine Art Unterschrift darstellen soll.«

Tom schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid, das sagt mir gar nichts.«

»Hatten wir auch nicht erwartet«, sagte Dorn und legte eine Visitenkarte neben Tom auf den Tisch. »Wir unterrichten Sie sofort, wenn sich etwas Neues ergibt. Hier ist auch meine private Handynummer vermerkt. So können Sie mich jederzeit erreichen, falls Sie sich noch an weitere Einzelheiten erinnern.«

Tom erhob sich und begleitete die Beamten in den Flur. »Vielleicht will ich das ja nach dem heutigen Tag gar nicht mehr. Mich erinnern, meine ich.«

Dorn blieb in der Tür stehen und drehte sich noch einmal zu ihm um. »Es dürfte jetzt keine Rolle mehr spielen, ob Sie das noch wollen, Herr Kessler. An dem Motiv des Täters gibt es keine Zweifel. Er will, dass Sie sich erinnern! Und er wird nicht aufhören, bis er erreicht hat, was er bezweckt.«

Tom sah zu, wie die Beamten in ihren Wagen stiegen und die geschwungene Auffahrt hinunterfuhren, bis sie in dem angrenzenden Wald verschwunden waren. Dann hastete er ins Wohnzimmer zum Telefon und tippte die Nummer ein, die ihm so vertraut war. Kurz darauf meldete sich die Sprechstundenhilfe.

»Tom Kessler hier. Ist Dr. Westphal zu sprechen?«

»Hallo, Herr Kessler«, antwortete die Frauenstimme. »Sie haben Glück. Im Moment hat sie keinen Patienten. Ich stelle Sie durch.«