Sechs Tage - Michael Hübner - E-Book
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Michael Hübner

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Beschreibung

Die Leiche eines seit Monaten vermissten Mannes taucht exakt an dem Ort wieder auf, an dem er zuletzt lebend gesehen worden ist. Am Fundort finden sich Hinweise auf ein weiteres Opfer, und der Täter stellt den Ermittlern eine Frist von sechs Tagen. Während Oberkommissar Chris Bertram darüber rätselt, was es mit diesem Ultimatum auf sich hat, tauchen täglich weitere Leichen von vermissten Personen auf, die immer aufwendiger in Szene gesetzt werden. Und stets hinterlässt der Täter versteckte Hinweise, die Bertram tiefer in das mörderische Spiel seines Kontrahenten hineinziehen. Gemeinsam mit einem alten Freund nimmt er die Fährte des Mörders auf, die sie an einen dunklen Punkt ihrer gemeinsamen Vergangenheit zurückführt. Während sich die Ereignisse überschlagen, scheint ihr Gegenspieler ihnen immer einen Schritt voraus zu sein, und seine Frist ist fast abgelaufen. Dann geschieht das Unvorstellbare.

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KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
DREIßIG JAHRE ZUVOR
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
DREIßIG JAHRE ZUVOR
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
DREIßIG JAHRE ZUVOR
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
KAPITEL 41
KAPITEL 42
KAPITEL 43
KAPITEL 44
KAPITEL 45
KAPITEL 46
KAPITEL 47
KAPITEL 48
KAPITEL 49
KAPITEL 50
KAPITEL 51
KAPITEL 52
KAPITEL 53
KAPITEL 54
KAPITEL 55
KAPITEL 56
KAPITEL 57
KAPITEL 58
KAPITEL 59
KAPITEL 60
KAPITEL 61
KAPITEL 62
DREIßIG JAHRE ZUVOR
KAPITEL 63
DANKSAGUNG

Michael Hübner

Sechs Tage

 

Thriller

 

Copyright © 2020 by Michael Hübner

[email protected]

Vertreten durch:

Dr. Harry Olechnowitz Autoren- & Verlagsagentur Grimmelhausenstr. 21 14089 Berlin E-Mail: [email protected]

www.michaelhuebner.de

 

Umschlagillustration:

© Julia Tochilina / shutterstock.com

 

Die folgende Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wahren Begebenheiten oder realen Personen wären rein zufällig.

 

 

 

 

 

Für das Finanzamt

KAPITEL 1

 

Tag eins

 

 

 

»Notrufzentrale, wie kann ich Ihnen helfen?«, nahm Luisa Becker den Anruf routiniert entgegen. Ihre Schicht in der Leitstelle hatte vor zwei Stunden begonnen, und bis jetzt war es ein vergleichsweise ruhiger Mittwochabend gewesen. Das sollte sich nun schlagartig ändern.

»Hilfe!«, ertönte eine aufgebrachte Frauenstimme durch die Hörer ihres Headsets. »Ich ... ich brauche Hilfe!«

»Wie lautet Ihr Name?«, fragte Luisa Becker und ging wie automatisiert die Liste der üblichen Fragen durch.

Die Frau schien zu überlegen, während ihr keuchender Atem zu hören war. Sie stand offensichtlich unter Schock. »Marlene«, keuchte sie schließlich. »Mein Name ist Marlene Winter.«

Luisa Becker tippte den Namen in das entsprechende Feld in der Eingabemaske auf ihrem Monitor. »Frau Winter, schildern Sie mir bitte so exakt wie möglich, was passiert ist.«

»Ich ... ich ... O Gott!«

»Ich weiß, Sie sind sehr aufgeregt«, redete Luisa Becker auf die Frau ein, »aber Sie müssen sich beruhigen und mir sagen, was vorgefallen ist.«

Wieder keuchender Atem. »In ... in meiner Küche sitzt ein Toter!«

Ein Ruck ging durch Luisa Becker. Sie saß kerzengerade auf ihrem Stuhl. »Wie meinen Sie das?«

»Auf dem Stuhl in meiner Küche sitzt eine Leiche«, wiederholte die Frau. »Ich ... ich glaube, es handelt sich um meinen Mann.«

»Sie sind sich nicht sicher?«

»Er ... er trägt seine Sachen.«

»Gibt es noch andere Merkmale, die auf ihren Mann hindeuten?«

»Ich ... ich weiß nicht.«

»Aber Sie sind sich sicher, dass die Person tot ist.«

»Ja ... ganz sicher. Großer Gott, dieser Gestank!«

»Wo genau befinden Sie sich?«

Die Frau nannte ihr eine Adresse im Koblenzer Stadtteil Arenberg, die Luisa Becker in ein weiteres Feld eingab. Daraufhin wurde auf einem zweiten Bildschirm eine geographische Karte der Gegend angezeigt, auf der das betreffende Haus mit einem roten Punkt markiert war. »Befinden Sie sich allein in dem Haus?«

»Ja.«

»Und Sie haben Ihren Mann so vorgefunden?«

»Ja ... Ich war bei einer Freundin zu Besuch und bin gerade nach Hause gekommen. Da ... da hat er dagesessen. Als hätte er auf mich gewartet.« Ein Schluchzen erklang. »Als wäre er nie weg gewesen. Wenn da nur nicht ... O Gott!«

Die Frau machte einen verwirrten Eindruck. Doch das konnte auch am Schock liegen. Dennoch begegnete Luisa Becker der Anruferin mit einem gesunden Misstrauen. Sie selbst hatte es schon mehrfach erlebt, dass irgendwelche kranken Idioten den Notruf für ihre makaberen Späße missbrauchten. In diesen Fällen waren die Anschlussnummern der Anrufer unterdrückt oder die Verbindung fand anonym über das Internet statt. Das war in diesem Fall nicht so.

»Sie rufen von Ihrem Handy an?«, fragte sie, als sie die angezeigte Mobilfunknummer betrachtete.

»Ja«, kam es weinerlich zurück.

»Frau Winter, ich habe Ihre Meldung an die zuständige Einsatzzentrale weitergeleitet. Bitte bleiben Sie vor Ort, in wenigen Minuten wird eine Polizeistreife bei Ihnen eintreffen. Die Kollegen werden dann alles Weitere ...«

Ein Aufschrei war zu hören.

»Frau Winter? Ist alles in Ordnung?«

»Ich ... ich habe einen Schatten gesehen«, erwiderte die Frau nun flüsternd.

»Sie meinen, es befindet sich außer Ihnen noch jemand in dem Haus?«

»Ich ... ich bin nicht sicher ... ich ...«

Ein weiterer Aufschrei.

»Ja!«, sagte die Frau nun hysterisch. »Ja, es ist noch jemand hier. Und er kommt auf mich zu. Großer Gott! ... Hilfe!«

Die Schreie der Frau entfernten sich. Kurz darauf war ein lautes Poltern zu hören, als das Mobiltelefon auf den Boden schlug. Danach setzte eine eisige Stille ein, die nur von Luisa Beckers eigenem Herzschlag durchbrochen wurde. Atemlos lauschte sie nach weiteren Geräuschen, doch es war nichts mehr zu hören.

»Frau Winter?« Ihre Stimme zitterte. »Sind Sie noch dran?«

Ein weiteres Poltern. Dann ein Rascheln. Schließlich hörte sie Atemgeräusche.

»Frau Winter?«

Keine Antwort. Nur schweres Atmen.

»Wer ... wer ist da?«

Eine furchtbar verzerrt klingende Stimme sagte: »Sechs Tage!«

Kurz darauf war die Verbindung unterbrochen.

KAPITEL 2

 

 

 

Polizeihauptmeister Armin Pelzer und sein Kollege Dietmar Grosse hatten sich gedanklich schon auf ihren Dienstschluss eingestellt und waren auf dem Weg zu einem späten Schnellimbiss, als die Meldung sie erreichte. Pelzer fluchte etwas Obszönes, bevor er den Funkspruch bestätigte. Nicht nur, dass er mal wieder Überstunden schieben durfte, er musste es auch noch mit leerem Magen tun.

Keine fünf Minuten später stoppte er den Streifenwagen vor besagter Adresse. Ein freistehendes Einfamilienhaus in einer Wohnsiedlung. Die Fenster zur Straßenseite hin waren hell erleuchtet, in den Räumen dahinter waren keinerlei Bewegungen auszumachen.

»Die Haustür steht offen«, bemerkte Grosse. »Was meinst du? Sollen wir auf die Kollegen warten?«

Pelzer sah zu dem Lichtspalt, der vom Inneren des Hauses durch die geöffnete Tür nach draußen drang. »Du hast doch den Kerl in der Zentrale gehört. Offenbar braucht da drin eine Frau unsere Hilfe. Also gehen wir rein.«

Sie näherten sich der Eingangstür, die Hände an den Dienstwaffen. Pelzer ging voraus und stieß die Tür auf. Sofort erblickte er die Frau, die reglos auf den Bodenfliesen des Flures lag. Eine kleine Blutlache hatte sich um ihren Kopf herum gebildet. Langsam näherte er sich der Frau, beugte sich zu ihr nach unten und fühlte ihren Puls, ohne dabei die Umgebung aus den Augen zu lassen. Schließlich gab er Grosse mit ausgestrecktem Daumen das Zeichen, dass die Frau noch am Leben war. Wie zur Bestätigung schlug sie die Augen auf. Als sie die beiden Männer erblickte, zuckte sie augenblicklich zusammen und schob sich panisch von ihnen weg.

»Bleiben Sie ruhig«, sprach Pelzer auf die Frau ein. »Wir tun Ihnen nichts.«

Der wirre Blick der Frau tastete sie ab wie ein Scanner. Sie erkannte die Uniformen und sah den Schriftzug »Polizei« auf den dunklen Westen, worauf sie sich ein wenig entspannte.

»Können Sie uns sagen, was genau passiert ist?«

Ihre Augen schwenkten hin und her, als suche sie nach Erinnerungen. »Da ... da war eine Gestalt ... ein Schatten. Dann hab ich einen Schlag gespürt.« Sie griff an ihren Kopf, etwas oberhalb ihrer linken Schläfe, und verzog schmerzhaft das Gesicht.

Pelzer erkannte eine Platzwunde an der Stelle, aus der noch immer Blut sickerte und ihre blonden schulterlangen Haare verklebte. Dann verfiel die Frau schlagartig in ein Schluchzen und fing an zu weinen, als sie eine weitere Erinnerung einholte. »In der Küche ... Mein Mann ... Er ist tot ... tot«, wiederholte sie und brach in Tränen aus. »Lassen Sie mich nicht allein, bitte!«

Pelzer wandte sich seinem Kollegen zu. »Also gut, du bleibst bei ihr, bis der Notarzt eingetroffen ist. Und behalte die Treppe im Auge, falls der Kerl sich noch oben im Haus aufhält. Ich sehe mich hier unten um.«

Grosse nickte und Pelzer verschwand mit gezogener Waffe in einem der angrenzenden Räume.

Wohn- und Essbereich waren hell erleuchtet. Die Wände waren größtenteils in einem dunklen Braunton gehalten, vor denen die hellen Möbel sich kontrastreich abhoben. Lediglich die Wand, vor der ein großflächiger Fernseher aufgebahrt stand, war mit Platten in Bruchsteinoptik verkleidet, was dem Raum einen höhlenartigen Charakter verlieh. Nichts deutete auf einen Einbruch hin. Alles schien an seinem dafür vorgesehenen Platz zu sein – was bei Pelzer unweigerlich den Eindruck eines Musterhauses erweckte. Ihm war aufgefallen, dass die Eingangstür keinerlei Einbruchsspuren aufwies. Auch die breite Tür zur Terrasse war verschlossen und unbeschädigt. Ebenso alle Fenster. Wer auch immer hier eingedrungen war, hatte es nicht gewaltsam getan.

Der Lauf der Waffe folgte seinem Blick, der jeden Winkel des Hauses in Augenschein nahm. Doch es war weder ein Geräusch zu hören noch eine Gestalt oder ein Schatten zu sehen. Vermutlich hatte der Eindringling längst das Weite gesucht und nur diesen Gestank zurückgelassen. Bereits im Flur war ihm der säuerliche Geruch aufgefallen. Als er sich dem Durchgang zur Küche näherte, gesellte sich eine faulige Note hinzu, die eine Intensität annahm, dass es ihm den Atem raubte. Dieser intensive, unverkennbare Geruch erinnerte ihn an einen Einsatz vor knapp zwei Jahren. Damals waren sie mit Hilfe eines Schlüsseldienstes in die Wohnung einer älteren Frau vorgedrungen. Besorgte Nachbarn hatten sie längere Zeit nicht mehr gesehen und daraufhin die Polizei verständigt. Es war genau dieser Geruch gewesen, der ihnen schon durch die geschlossene Wohnungstür entgegengeschlagen war. Wie sich später herausstellte, war die Frau bereits vor Wochen eines natürlichen Todes gestorben und niemand hatte es bemerkt. Es erschreckte Pelzer immer wieder aufs Neue, wie einsam man in einer überbevölkerten Welt sein konnte. Und obwohl ihm dieser bekannte Geruch signalisierte, was ihn in der Küche erwartete, traf ihn der Anblick wie ein Faustschlag.

»Heilige Scheiße«, entfuhr es ihm. Augenblicklich senkte er die Waffe und trat drei Schritte zurück. Denn was er dort am Tisch sitzen sah, war so verstörend, dass es ihm die Kraft aus den Beinen raubte.

KAPITEL 3

 

 

 

Oberkommissar Chris Bertram traf mit seinem Kollegen Roland Koch gegen 22 Uhr vor dem Haus ein, das bereits von Uwe Meißner und seinem Team der Spurensicherung in Beschlag genommen worden war. Zwei Transporter der Techniker standen in der Einfahrt, dahinter ein Kranken- und ein Notarztwagen. Demnach war Johann Thielmann, der zuständige Rechtsmediziner, ebenfalls vor Ort.

»Wie weit seid ihr?«, fragte Chris, als er mit Rokko – wie Koch von seinen Kollegen genannt wurde – bei Uwe Meißner eintraf.

Der lugte aus dem offenen Heck des oberen Transporters. »Um es mit den Worten von Konfuzius auszudrücken: ›Der Weg ist das Ziel.‹« Er kramte zwei eingeschweißte Einweg-Schutzanzüge aus einer der Ablagen und reichte sie den beiden.

Rokko stöhnte auf. »Könnt ihr nicht mal mit eurer Arbeit fertig sein, wenn wir kommen? Du weißt, ich hasse die Dinger.«

»Wir sind auch erst vor zehn Minuten angekommen und müssen das ganze Haus inklusive Anwesen auf Spuren untersuchen. Und ich habe nicht vor, auch nur eine davon zu übersehen, nur weil du zu eitel bist, deine Designerjeans zu verpacken.«

»Ich bin weder eitel noch trage ich Designerjeans«, konterte Rokko und kratzte sich an seinem akkurat gestutzten Kinnbart. »Dennoch verspüre ich nicht den Drang, mir meine Klamotten durchzuschwitzen. Hier draußen sind noch immer über zwanzig Grad. Und das Mitte September.«

»Im Haus dürften es noch ein paar Grad mehr sein.«

»Das meine ich ja.«

Meißner setzte eine mitleidige Miene auf. »Tut mir wirklich leid«, meinte er mit gespieltem Bedauern, »aber die Sommerkollektion ist mir gerade ausgegangen.« Er reichte ihm das eingeschweißte Päckchen. »Anziehen oder draußen bleiben!«

Rokko fluchte leise vor sich hin, als er die Folie aufriss und sich den darin befindlichen Overall überstreifte.

Chris grinste amüsiert, während er es ihm gleichtat. »Wer war als Erster vor Ort?«, fragte er an Meißner gerichtet.

»Pelzer und Grosse.« Er deutete auf die Straße vor der Auffahrt, die von Streifenwagen gesäumt war. Im Licht der Straßenlampen waren gut ein Dutzend Uniformierte damit beschäftigt, den Bereich abzuriegeln und Schaulustige fernzuhalten. Darunter erkannte Chris auch die beiden besagten Kollegen. »Ich nehme an, die Frau im Krankenwagen ist die Eigentümerin des Hauses.«

»Ja«, bestätigte Meißner. »Marlene Winter, 52 Jahre. Ihren Angaben zufolge hat sie eine Freundin besucht und ist gegen neun Uhr hier eingetroffen. Kurz darauf hat sie dann in der Küche die Leiche entdeckt.«

»Und bei dem Toten handelt es sich um ihren Mann?«, fragte Rokko und streifte sich widerwillig die Kapuze über.

»Das ist noch nicht eindeutig geklärt.«

Chris hielt inne, als er sich die Latexhandschuhe überzog. »Und wieso nicht? Steht die Frau so stark unter Schock, dass sie ihren eigenen Mann nicht wiedererkennt?«

»Es ist etwas komplizierter. Aber davon solltet ihr euch lieber selbst ein Bild machen. Ich habe wie ihr in den letzten Jahren wirklich an einigen obskuren Mordfällen mitgearbeitet, aber so etwas wie da drin ist mir noch nicht untergekommen.« Meißner kramte in einem Koffer herum, zog eine Tube daraus hervor und hielt sie den beiden hin.

»Was ist das?«, fragte Chris.

»Mentholhaltige Salbe. Solltet ihr euch unter die Nase reiben, bevor ihr den Mundschutz aufsetzt.«

Chris und Rokko warfen sich unheilvolle Blicke zu, während sie die Salbe auftrugen.

Kurz darauf betraten sie das Haus. Bereits im Flur entdeckten sie Blutspuren auf den Fliesen.

»Die sind von der Hauseigentümerin«, klärte Meißner sie auf. »Pelzer und sein Kollege haben die Frau mit einer Platzwunde am Kopf vorgefunden.«

»Sie wurde niedergeschlagen?«, fragte Chris.

Meißner nickte. »Von einer ›geisterhaften Gestalt‹, wie sie uns sagte.«

»Du klingst nicht sehr überzeugt.«

»Na ja, die Frau steht verständlicherweise unter Schock. Das kann die Wahrnehmung schon verfälschen. Es dürfte allerdings wenig Zweifel daran bestehen, dass es sich bei dem Geist um den Täter handeln dürfte.«

»Dann hat sie ihn also überrascht.«

»Das glaube ich weniger.« Meißner zeigte auf eine Stelle am Boden. »Hier haben wir das Handy der Frau gefunden, mit dem sie den Notruf getätigt hat. In der Aufzeichnung ist deutlich zu vernehmen, wie der Täter sie attackiert. Der Scheißkerl hat es sich anschließend nicht nehmen lassen, uns noch eine Botschaft zu hinterlassen.« Meißner kramte sein eigenes Handy unter dem Overall hervor und spielte die Aufzeichnung des Anrufs ab, die ihm von der Notrufzentrale übermittelt worden war.

Während Chris den Stimmen der Aufnahme lauschte, schloss er die Augen, um sich ein deutlicheres Bild machen zu können. Er hörte die Angst und die Verzweiflung in der Stimme der Frau und versetzte sich in ihre Lage. Eine Eigenschaft, die er aufgrund seiner eigenen emotionalen Ausgeprägtheit ziemlich gut beherrschte.

Schließlich gelangten sie an die Stelle des Angriffs. Chris konzentrierte sich, lauschte auf Geräusche im Hintergrund. Doch nachdem das Handy zu Boden gefallen war, herrschte sekundenlang gespenstische Stille, die nur durch die Stimme der Notrufmitarbeiterin unterbrochen wurde. Dann Atemgeräusche, die sich seltsam blechern anhörten. Schließlich verkündete eine grässlich schneidende Stimme: »Sechs Tage«. Dann war die Verbindung tot.

Chris schlug die Augen auf. »Ein Stimmenverzerrer.«

Meißner nickte bestätigend. »Wer so ausgerüstet ist, der bezweckt auch etwas damit.«

»Du meinst, der Täter hat es darauf angelegt, uns auf diese Weise seine Botschaft zu übermitteln?«

»Alles deutet darauf hin.« Er ging zielstrebig nach rechts in den angrenzenden Nebenraum, bei dem es sich um den Wohnbereich handelte, in dem zwei weitere Techniker, vermummt in ihre Schutzanzüge, den Boden absuchten. Meißner blieb vor einem beigefarbenen Langflorteppich stehen, der vor der hellen Ledercouch auf dem Laminatboden ausgebreitet lag. »Wir haben frische Erdklumpen auf dem Boden und dem Teppich gefunden«, erläuterte Meißner. »Sie entstammen den grobprofiligen Sohlen eines Schuhs oder Stiefels. Sie passen weder zu den Schuhen der Eigentümerin noch zu denen von Pelzer oder seinem Kollegen. Ebenso wie vom Flur aus, gibt es auch in diesem Raum einen direkten Zugang zur Küche. Der Täter hätte über diesen Weg also durchaus die Möglichkeit gehabt, unerkannt zu entkommen, selbst wenn die Frau ihn überrascht hätte. Eine direkte Konfrontation wäre nicht zwingend nötig gewesen. Die Spurenlage deutet aber daraufhin, dass er seelenruhig hier gesessen und auf ihre Rückkehr gewartet hat, zumal nichts darauf hinweist, dass er bei seiner Inszenierung unterbrochen worden ist.«

»Inszenierung?«

»Seht selbst.« Meißner deutete auf den Durchgang zur Küche. Trotz der Mentholsalbe war der Geruch nach Verwesung hier allgegenwärtig. Weitere Techniker bevölkerten den Raum, in dem sich auch ein Esstisch mit sechs Stühlen befand. An dessen hinterem Ende erkannte Chris Johann Thielmann. Er stand seitlich mit dem Rücken zu ihnen und sprach in ein Diktiergerät, während er die Leiche begutachtete. Sie war geschäftsmäßig gekleidet – weißes Hemd, Anzug, Krawatte – und aufrecht auf einem der Stühle positioniert worden, die Arme auf dem Tisch ausgebreitet, als würde sie nach einem langen und anstrengenden Arbeitstag darauf warten, dass ihr jemand das Essen serviert. Zwei Umstände, die dem Betrachter sofort ins Auge sprangen, führten diesen ersten Eindruck ad absurdum: Die Leiche befand sich in einem fortgeschrittenen Stadium der Zersetzung, war größtenteils bereits skelettiert. Nur an einigen Stellen um den Kopf herum klebten noch faulige Reste verrotteten Fleisches, aus denen vereinzelt noch Haare sprossen.

Das zweite Detail, das noch weniger ins Bild passte, war ein roter Luftballon. Er war mit einer weißen Kunststoffschnur am linken Handgelenk befestigt und schwebte starr kurz oberhalb des skelettierten Kopfes der Leiche. Durch die freigelegten Zähne wirkte dieser Anblick beim Betrachter, als würde das Opfer ihn auslachen und verhöhnen.

»Da hat wohl jemand eindeutig zu viele Bücher von Stephen King gelesen«, kommentierte Rokko den Anblick.

»Leiche befindet sich im Endstadium der Weichteilzersetzung«, sprach Johann Thielmann in sein Diktiergerät, bevor er die Anwesenheit der Ermittler bemerkte und die Pausetaste aktivierte. »Guten Abend die Herren«, begrüßte er Chris und Rokko mit einem Lächeln. »Willkommen bei einer neuen Folge von Geschichten aus der Gruft.«

»Wie ich feststelle, hast du deinen skurrilen Humor nicht verloren«, erwiderte Chris.

»Ohne den wäre dieser Job auch nicht zu ertragen.«

»Kannst du uns schon was über die Todesursache sagen?«, fragte Rokko und kratzte sich genervt unter der Haube des Overalls.

Thielmann hob die Augenbrauen an. »In dem Zustand der Leiche dürfte das schwierig werden. Auf den ersten Blick kann ich keinerlei Anzeichen von äußerer Gewalteinwirkung feststellen. Keine Frakturen am Kopf. Über den Rest kann man erst etwas sagen, wenn das Opfer entkleidet ist. Das müssen die Kollegen in Mainz abklären.«

Er meinte das dortige rechtsmedizinische Institut. Da Koblenz über keine eigene rechtsmedizinische Einrichtung verfügte, mussten sämtliche ungeklärten Todesfälle dort untersucht werden.

»Was ist mit dem Todeszeitpunkt?«, fragte Chris.

»Der dürfte ebenso schwierig zu bestimmen sein, da man kaum etwas über den Ablageort der Leiche sagen kann. Ich konnte bis jetzt allerdings keine Rückstände von Insekten entdecken, was darauf schließen lässt, dass der Körper isoliert gelagert wurde.«

»Du meinst, in einem Sarg?«

»Möglich«, meinte Thielmann. »Auf jeden Fall dürfte das die Verwesung verlangsamt haben. Wenn ich eine vorsichtige Schätzung abgeben müsste, würde ich sagen, mindestens acht bis zwölf Monate. Allerdings überschreitet das meine fachliche Kompetenz. Um Genaueres zu erfahren, braucht man die Meinung eines Experten auf diesem Gebiet.«

»Das wird nicht nötig sein«, schaltete sich Meißner dazwischen.

Alle drei betrachteten ihn fragend.

Meißner räusperte sich. »Wenn wir davon ausgehen, dass es sich bei dem Toten tatsächlich um Bernd Winter, den Eigentümer des Hauses handelt, dann liegst du mit deiner Schätzung des Todeszeitpunktes ziemlich gut. Denn wie mir die Kollegen der PI mitgeteilt haben, gilt Bernd Winter seit etwas über einem Jahr als vermisst.«

»Tja«, meinte Thielmann, »gesichert kann das nur ein zahnmedizinischer Abgleich oder eine DNA-Analyse ergeben. Sofern noch genügend verwertbares Erbgut vorhanden ist.«

»Seine Frau, Marlene Winter, ist sich jedenfalls sicher, dass es sich bei der Kleidung des Toten um den Anzug ihres Mannes handelt«, sagte Meißner. »Derselbe Anzug, in dem sie ihn zuletzt gesehen hat, in genau derselben Position.«

»Was soll das jetzt heißen?«

»Sie sagt, ihr Mann habe exakt so an diesem Tisch gesessen, als sie ihn das letzte Mal lebend gesehen hat.«

»Du machst Witze«, meinte Rokko.

Meißner schüttelte den Kopf. »Sie hat ihm noch einen schönen Tag gewünscht, bevor sie das Haus verlassen hat, um zur Arbeit zu fahren.«

»Wisst ihr schon was über den Toten«, fragte Chris.

»Er war Sachbearbeiter bei einer Krankenkasse in Montabaur. Dort ist er laut den Unterlagen auch eingetroffen, kam aber von seiner Mittagspause nicht zurück. Sein Wagen wurde später verschlossen auf dem Parkplatz eines Schnellrestaurants in der Nähe gefunden. Keine Zeugen, keine Hinweise auf seinen Verbleib.«

Chris trat näher an den Toten heran. »Seine Kleidung sieht sauber aus, als wäre sie gerade erst aus der Reinigung gekommen. Keinerlei Rückstände von Verwesung.«

»Ja«, bestätigte Thielmann. »Der Täter muss ihn gleich nach seinem Tod entkleidet haben.«

»Moment mal«, meldete sich Rokko zu Wort. »Wollt ihr damit etwa sagen, der Täter hat das Opfer entführt, getötet und es anschließend monatelang in einer Kiste verrotten lassen, um es anschließend wieder in seine Klamotten zu packen und hierherzubringen? Wozu dieser Aufwand und das Risiko?«

Chris deutete auf die Vorderseite des Ballons, wo mit dickem schwarzem Filzstift eine überdimensionale 6 aufgezeichnet worden war. »Um uns seine Botschaft mitzuteilen.«

»Ach ja?«, meinte Rokko. »Was genau soll denn in sechs Tagen passieren?«

»Das ist die große Quizfrage«, erwiderte Meißner.

»Gibt es denn noch weitere Hinweise?«

Meißner schüttelte den Kopf.

»Was soll das dann sein? Ein Rätsel?«

»Ja, aber eines, das wir nicht lösen können und sollen«, meinte Chris. »Er will uns damit nur darauf vorbereiten, dass das hier nicht das Ende ist.«

»Na toll«, meinte Rokko, »das hat uns gerade noch gefehlt. Ein weiterer Serienpsycho. Offenbar wachsen die hier auf den Bäumen.«

»Mir sind keine Einbruchsspuren aufgefallen«, überging Chris diesen Anflug von Sarkasmus.

»Es gibt auch keine«, sagte Meißner. »Vermutlich hat der Täter sich mit dem Hausschlüssel des Opfers Zutritt verschafft.«

»Wurden die Schlösser nicht ausgetauscht?«

»Laut Aussage von Frau Winter nicht. Sie hat wohl immer noch gehofft, dass ihr Mann zurückkommt, und wollte ihn nicht aussperren.«

Die Hoffnung stirbt zuletzt, ging es Chris durch den Kopf. »Gibt es sonst noch verwertbare Hinweise?«

»Die Spurensicherung ist noch nicht abgeschlossen«, erwiderte Meißner, »daher kann ich noch nichts versprechen. Einige Untersuchungen dauern ihre Zeit. Ihr werdet euch also noch ein wenig gedulden müssen. Wenn ihr nichts einzuwenden habt, würde ich die Überreste des Opfers gerne abtransportieren lassen. Je schneller sie in der Rechtsmedizin ankommen desto eher erfahren wir vielleicht etwas über die Todesursache.«

Chris nickte. Auch Thielmann gab sein Einverständnis.

»Ich werde meinen Bericht gleich morgen an die Kollegen in Mainz übermitteln«, meinte er und verstaute das Diktiergerät in seinem Koffer.

Meißner instruierte einen der Techniker, den Ballon zu entfernen und ihn für weitere Untersuchungen zu verstauen.

Kurz darauf erfüllte ein lauter Knall den Raum.

Chris, Rokko und Thielmann, die sich bereits am Durchgang zum Flur befanden, zuckten erschrocken herum.

»Was zum Henker haben Sie gemacht?«, fragte Meißner und sah den Techniker an, dessen Overall und Gesicht mit einem feinen roten Sprühnebel benetzt waren.

»Nichts«, beteuerte der Techniker. »Ich habe nur den Arm des Opfers angehoben. Dann ist das Ding einfach geplatzt.«

»Ein Ballon platzt nicht einfach so!« Meißner bückte sich und hob die Schnur auf, an der der Ballon befestigt gewesen war. Aufmerksam betrachtete er das obere Ende im Licht genauer. »Ein elektronischer Zündkopf.« Er verfolgte die Schnur bis zum Handgelenk des Toten, um die sie gewickelt war. Doch wie er nun feststellte, endete sie dort nicht. Meißner streifte den Ärmel des Jacketts zurück. Eine dünne Holzplatte von der Größe eines Handtellers wurde sichtbar. Sie war mit zwei Kabelbindern an den Unterarmknochen des Toten fixiert worden. Die Schur war mit einer kleinen, länglichen Stahlkapsel darauf verbunden, die wiederum an eine Batterie gekoppelt war. »Sieht nach einem einfachen Neigungssensor aus«, mutmaßte Meißner. »Als Sie den Arm angehoben haben, hat das den Kontakt ausgelöst.«

»Ist das Blut?«, fragte Rokko und betrachtete den Techniker, der noch immer stocksteif dastand.

»Farbe ist es jedenfalls nicht«, sagte Meißner, nachdem er die Spritzer im Gesicht des Mannes begutachtet hatte. Vorsichtig packte er die Überreste des Ballons in einen verschließbaren Plastikbeutel.

»Sie sollten sich das schleunigst abwaschen«, sagte Thielmann zu dem Techniker. »Man kann nie wissen.«

 

Nachdem Chris und Rokko sich vor dem Haus ihrer Overalls entledigt hatten, standen sie in der Einfahrt und beobachteten, wie Thielmann in sein Auto stieg und davonfuhr.

»Das da drin ist ziemlich kranker Scheiß, selbst für unsere Verhältnisse«, meinte Rokko.

Chris nickte. »Anscheinend sind wir mittlerweile abonniert auf solche Spinner. Offenbar sehen sie in uns eine Herausforderung.«

»Wenn das in dem Ballon wirklich Blut ist, könnte das ein Hinweis auf ein weiteres Opfer sein.«

»Warten wir erst mal Meißners Bericht und den der Rechtsmedizin ab. Alles andere wäre reine Spekulation.«

Rokko erblickte auf der Straße hinter der Absperrung einen Wagen des Rhein-Anzeigers, vor dem sich zwei Gestalten tummelten. Einen davon erkannte er sofort: Daniel Fischer, ein Reporter, mit dem sie in der Vergangenheit öfter aneinandergeraten waren. »Was sagen wir der Presse?«

»Das erledige ich«, meinte Chris. »Setz du dich mit Gerlach in Verbindung und kläre ihn über die Sachlage auf.« Peter Gerlach war der Pressesprecher des Koblenzer Präsidiums. »Er soll bis Morgen eine Erklärung aufsetzen. Keine Einzelheiten. Das mit dem Ballon und dem vermeintlichen Ultimatum behalten wir vorerst für uns.«

Rokko nickte und zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche. Während er telefonierte, näherte sich Chris den beiden Reportern an der Absperrung.

»Sie haben wohl nie Feierabend«, begrüßte er Daniel Fischer.

»Immer auf dem Sprung, genau wie Sie, Herr Oberkommissar«, erwiderte Fischer ohne die übliche Provokation in seiner Stimme. Überhaupt ließ sein Auftreten die von ihm gewohnte Arroganz vermissen. Selbst über den sonst so stechenden und herausfordernden Blick seiner wieselartigen Augen hatte sich eine gewisse Nüchternheit gelegt. Eine Entwicklung, die Chris sehr begrüßte und deren Ursache er in den Ereignissen der letzten Serienmorde vor fünf Monaten sah. Fischer war damals aufgrund seiner Berichterstattung in den Fokus des Täters geraten und hatte dadurch ungewollt zu dessen Motivation beigetragen. Seitdem hatte sich der Stil seiner Berichterstattung deutlich verändert. Seine sonst so reißerischen und auf Sensation getrimmten Artikel wirkten nun deutlich sachlicher und distanzierter. Eine Entwicklung, die ihre Zusammenarbeit, die meist auf ähnlichen tragischen Ereignissen beruhte, um einiges erleichtern dürfte.

»Handelt es sich um Mord?«, kam Fischer gleich zur Sache.

»Die Todesursache steht noch nicht fest, aber es deutet einiges darauf hin.«

»Können Sie etwas genauer werden?«

Chris atmete durch. »Die Umstände sind ziemlich ungewöhnlich«, gestand er ein. »Der Todeszeitpunkt des Opfers liegt schon einige Zeit zurück.«

Fischer betrachtete ihn argwöhnisch. »Was soll das heißen?«

»Der Körper des Toten weist starke Verwesungserscheinungen auf.«

»Dann wurde er längere Zeit in dem Haus gelagert?«

»Nein. Das Opfer galt seit einem Jahr als vermisst.«

Fischer runzelte die Stirn.

»Ich weiß, Sie haben eine Menge Fragen«, wich Chris aus, »aber Sie werden verstehen, dass ich nicht ins Detail gehen kann, zumal ich die Antworten darauf selbst noch nicht kenne. Wir werden morgen früh eine Presseerklärung herausgeben. Möglicherweise wissen wir bis dahin schon mehr.«

»Rechnen Sie mit weiteren Morden?«

Aufgrund der vorangegangenen Mordserien kam diese Frage für Chris nicht unerwartet. Dennoch hielt er einige Sekunden nachdenklich inne. Aufgrund der laufenden Ermittlung und der fehlenden Erkenntnisse durfte er nicht zu viel preisgeben. Andererseits waren die Hinweise darauf ziemlich eindeutig. Er sah keinen Anlass, das Ganze herunterzuspielen, zumal die nächste Leiche vermutlich nicht lange auf sich warten lassen würde.

Sechs Tage!

»Wir schließen es zumindest nicht aus«, entschied er sich für die unverbindliche Variante.

»Danke für Ihre Offenheit«, sagte Fischer und machte Anstalten, sich zu entfernen. Ein weiterer Unterschied zum alten Daniel Fischer. Der hätte sich nicht ohne weiteres mit derartigen Floskeln abspeisen lassen.

»Wie ist es Ihnen in den letzten Monaten ergangen?« Chris schien erstaunter über seine eigene Frage zu sein als Fischer selbst. Dennoch drängte sie aufgrund der starken Persönlichkeitsveränderung des Reporters geradezu aus ihm heraus.

»Fragen Sie das aus Besorgnis oder aus simpler Verwunderung über meine Zurückhaltung?«

»Ein bisschen was von beidem, schätze ich.«

Fischer senkte kurz den Blick, bevor er ihn wieder auf Chris richtete. »Sagen wir, ich habe begriffen, dass die Pressefreiheit und das Recht auf Information sehr zweischneidige Schwerter sein können.«

Das traf so ziemlich auf die meisten demokratischen Errungenschaften zu. Letztendlich lag die Verantwortung dieser Freiheiten immer bei denen, die sie ausübten.

»Ich halte Sie auf dem Laufenden«, rief Chris ihm nach. Während er sich von den Reportern und Schaulustigen entfernte, grübelte er bereits wieder über ihr weiteres Vorgehen in dem Fall nach. Sie würden eine psychologische Einschätzung des Täters benötigen. Und er wusste auch schon, an wen er sich diesbezüglich zu wenden hatte.

KAPITEL 4

 

 

 

Doktor Marina Hoffmann saß mit ihrem Tablet auf der Couch im Wohnzimmer ihres Hauses und betrachtete die Tatortfotos, die Chris ihr auf einem Stick mitgebracht hatte. Hin und wieder vergrößerte sie einen Ausschnitt und machte sich Notizen dazu. Neben ihrer eigentlichen Tätigkeit als Psychoanalytikerin – der sie in einer eigenen Praxis im unteren Teil des Hauses nachging – arbeitete sie seit knapp zwei Jahren als psychologische Beraterin der Abteilung Tötungsdelikte des Koblenzer Präsidiums. In dieser Zeit hatte Chris nicht nur ihre fachliche Kompetenz zu schätzen gelernt. Nach dem gewaltsamen Tod seiner Frau Rebecca war er in ein tiefes Loch gefallen. Er war mit seinem einjährigen Sohn Patrick in das Haus seiner Eltern geflüchtet und hatte sich dort vom Rest der Welt abgekapselt. Eine Zeit, die von Selbstmitleid und Versagensängsten bestimmt gewesen war. Hauptsächlich Marina Hoffmanns Hartnäckigkeit hatte er es zu verdanken, dass er wieder in seinen Beruf zurückgekehrt war. Sie hatte ihn nicht nur von seinem Trauma und seinen Ängsten befreit, sondern nebenbei auch gleich sein Herz erobert – was ihm anfänglich in seiner Trauer schwere Gewissensbisse beschert hatte. Aber die vergangenen Monate hatten ihm verdeutlicht, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Eine Entscheidung, die ihn ins Leben zurückgeführt hatte.

»Was denkst du darüber?«, fragte Chris, nachdem er sich ein Bier aus dem Kühlschrank geholt und sich neben sie gesetzt hatte.

»Na ja«, meinte sie und sah von ihrem Tablet auf. »Du erwartest von mir hoffentlich auf die Schnelle kein detailliertes Profil anhand von ein paar Tatortfotos.«

»Nein, nur eine Einschätzung.«

Sie lehnte sich zurück und seufzte. »Ich denke, ich erzähle dir nichts Neues, wenn ich behaupte, ihr habt es hier mit einem äußerst ungewöhnlichen Tätertyp zu tun. Ich will es mal auf unprofessionelle Weise auf den Punkt bringen: Der Kerl ist völlig krank!« Sie rieb sich die Augen.

Chris legte ihr die Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung?«

»Ja«, wiegelte sie ab. »Es ist nur ... Du weißt ja, dass ich mit solchen Grausamkeiten so meine Probleme habe.«

Chris nickte ihr verständnisvoll zu. Er wusste, dass ihre Berührungsängste mit dieser Art von Gewaltverbrechen aus einem Vorfall herrührten, der sich einige Jahre zuvor zugetragen hatte. Zu dieser Zeit hatte einer ihrer Patienten bei einem Amoklauf in ihrer damaligen Praxis in Trier vier Menschen getötet und sie selbst schwer verletzt, bevor er sich das Leben genommen hatte. Seitdem kämpfte sie gegen die Ängste an, die sie normalerweise bei ihren Patienten therapierte. Ängste, die dieses Trauma noch immer in ihr verursachte. Vielleicht war auch das einer der Gründe, weshalb sie sich zueinander hingezogen fühlten. Das Leben hatte bei ihnen beiden tiefe Narben hinterlassen.

»Du musst das nicht tun, wenn du nicht willst«, sagte Chris.

»Nein, schon gut.« Sie sah ihn mit einem schiefen Lächeln an. »Wie würde ich wohl dir und meinen Patienten gegenüber dastehen, wenn ich es nicht mal schaffe, mich meinen eigenen Ängsten zu stellen.« Sie griff nach seiner Flasche und trank einen kräftigen Schluck Bier. Anschließend sah sie wieder auf den Bildschirm des Tablets. »Dieser Täter ist anders.« Ihre Stimme verfiel in einen monotonen Ausdruck, der ihre Verachtung wiedergab. »Es geht ihm nicht um die Grausamkeit seiner Taten oder darum, seine Opfer zu quälen. Jedenfalls nicht körperlich. Er ist ein Spieler.«

»Du meinst, er will uns herausfordern?«

»Sicher spielt das auch eine Rolle. Täter, die ihre Opfer so offensichtlich zur Schau stellen, fühlen sich anderen überlegen. Aber das dürfte in diesem Fall nicht sein Hauptantrieb sein. Es geht ihm nicht allein darum, euch zu beweisen, dass er cleverer ist.« Sie sah wieder auf das Tablet in ihren Händen herab und ihr Blick schien sich darin zu verlieren. »Ihm geht es offenbar nicht um die Qualen seines Opfers, sondern um die der Hinterbliebenen. Erst lässt er sie im Unklaren darüber, was mit ihrem Angehörigen geschehen ist, setzt sie monatelang höchsten emotionalen Qualen aus. Dann konfrontiert er sie mit der bitteren Wahrheit und nimmt ihnen so jegliche Hoffnung, lässt sie ihren Verlust ein zweites Mal durchleben.« Sie blickte zu ihm auf. »Ihr habt es mit einem emotionalen Sadisten schlimmster Sorte zu tun.«

»Du gehst also davon aus, dass es weitere Opfer geben wird.«

»Ich befürchte, es ist noch schlimmer«, meinte sie. »Ein solches Verhaltensmuster entwickelt sich nicht über Nacht. Es bedarf Jahre, mitunter sogar Jahrzehnte, bis sich solch ein ausgeprägter Trieb entwickelt. Der Täter geht sehr selbstbewusst und planvoll vor, ist gewissenhaft und detailverliebt. Das setzt eine gewisse Erfahrung voraus.«

Nun war es Chris, der seufzte. »Du meinst also ...«

Sie nickte. »Das hier ist nicht sein erstes Opfer.«

»Das habe ich befürchtet«, seufzte Chris.

»Du spielst auf das Blut in dem Ballon an.«

»Ja. Wäre durchaus möglich, dass es zu einem weiteren Opfer gehört. Er hat uns ja quasi angekündigt, dass in sechs Tagen etwas passieren wird.« Chris beobachtete, wie sie einen weiteren Schluck aus seiner Bierflasche trank. Was das betraf, war sie ihm eindeutig ähnlicher als Rebecca. Sie hatte Rotwein bevorzugt.

»Lass uns bitte über etwas anderes sprechen«, sagte sie und schaltete das Tablet aus. »Willst du heute hier übernachten?«

»Wenn es dir recht ist.«

»Sei nicht albern«, winkte sie ab. »Du weißt, dass ich dir erst letzte Woche angeboten habe, zusammen mit Patrick hier einzuziehen. Das Haus ist groß genug für uns drei.«

Chris hatte ausgiebig über dieses Angebot nachgedacht. Und im Grunde sprach nichts dagegen. Es würde ihre Beziehung festigen und Marina zugleich die Zweifel nehmen, die er in den letzten Monaten immer wieder bei ihr wahrgenommen hatte. Die schweigsamen Momente zwischen ihnen, wenn er sich verabschiedet hatte, um zu seinen Eltern zu fahren, wo er sich mit Patrick die obere Etage des Hauses teilte. Die unterdrückte Enttäuschung in ihrer Stimme, wenn er eine Verabredung mit ihr absagen musste, weil Patrick Bauchschmerzen hatte oder er dienstlich verhindert war. Offenbar plagte sie immer noch die Befürchtung, sie wäre für ihn nur eine Übergangslösung, die ihm dabei half, seinen schweren Verlust zu überwinden. Doch das war nie sein Motiv gewesen. Ja, er vermisste Rebecca, und die Liebe zu ihr würde vermutlich nie ganz erlöschen. Aber er hatte akzeptiert, dass er sie für immer verloren hatte, und die Bilder ihres gewaltsamen Todes – die ihn gelegentlich noch immer aus dem Schlaf rissen – fingen an zu verblassen. Er hatte mit Marina gelernt, wieder glücklich zu sein, hatte die Gefühle für sie wider seinem Gewissen zugelassen. Um keinen Preis würde er das jetzt als falsch erachten und sich erneut in seiner Verbitterung vergraben. Dennoch waren da gewisse Bedenken, was ihr Zusammenleben betraf.

Er griff nach ihrer Hand. »Ich hoffe, du glaubst mir, wenn ich sage, dass ich nichts lieber tun würde. Aber ich muss auch an Patrick denken. Die Mordermittlungen werden meine Zeit voll beanspruchen, und du hast deine Patienten, um die du dich kümmern musst.«

»Ich könnte kürzertreten«, warf sie ein. »Mir eine Auszeit nehmen.«

»Ich weiß, wie sehr du Patrick magst«, entgegnete er. »Ich weiß aber auch, wie sehr du deine Arbeit liebst.«

»Es wäre ja nicht von Dauer. Nur so lange, bis Patrick in die Kita geht. Dann könnte ich halbtags arbeiten.«

»Ich habe mich bereits nach einem Platz für ihn hier in der Nähe umgesehen.«

Ihre Augen strahlten. »Wirklich?«

Er nickte. »Das sollte dir beweisen, wie ernst ich es mit dir meine.«

Sie blickte beschämt zu Boden. »Gott, ich benehme mich wie eine Glucke, was? Ich muss zugeben, Geduld gehört nicht gerade zu meinen Tugenden. Vielleicht sollte ich mir selbst einen Therapeuten suchen. Glaub mir, ich will dich wirklich nicht bedrängen.«

»Hey, schon gut.« Er hob sanft ihren Kopf an und sah ihr in die Augen. »Ich will das hier genauso sehr wie du. Aber wir sollten damit noch warten, bis Patrick so weit ist. Ich will ihn nicht schon wieder aus seiner gewohnten Umgebung herausreißen.«

»Du hast recht.« Sie lächelte. »Sieht so aus, als müsste ich mich in dem Fall mal von dir therapieren lassen.«

»Was das betrifft, hast du noch einiges gut bei mir.« Er nahm sie in den Arm und küsste sie sanft.

KAPITEL 5

 

Tag zwei

 

 

 

»Liegen schon Ergebnisse vor, was das Blut aus dem Ballon betrifft?«, startete Chris gegen Mittag die Besprechung in seinem Büro, bei der Rokko und Meißner anwesend waren.

»Es ist menschliches Blut«, erwiderte der Leiter der Spurensicherung. »Und es ist nicht frisch. Vermutlich wurde es über einen längeren Zeitraum eingefroren. Aber es stammt definitiv nicht vom Opfer. Aus den medizinischen Unterlagen geht hervor, dass Bernd Winter die Blutgruppe A positiv hatte. Das Blut aus dem Ballon hat dagegen B negativ, was äußerst selten vorkommt.«

»Dennoch dürfte uns das nicht weiterbringen«, sagte Chris. »Wir brauchen die DNA-Analyse, wenn wir die Chance auf einen sicheren Treffer haben wollen.«

»Die Leute im Labor tun, was sie können«, versicherte Meißner.

»Wissen wir etwas über die Todesursache?«

»Da sieht es ähnlich aus. Die Ergebnisse der Autopsie werden uns nicht vor morgen Mittag vorliegen. Allerdings bezweifle ich aufgrund der starken Verwesung der Leiche, dass wir darüber gesicherte Rückschlüsse ziehen können.«

»Na schön«, seufzte Chris und wandte sich an Rokko. »Gibt es wenigstens Erkenntnisse über das Opfer selbst?«

Rokko blickte auf seine Unterlagen. »Bernd Winter, 54 Jahre, Sachbearbeiter bei einer Krankenkasse in Montabaur. Sein Wagen wurde einen Tag nach seinem Verschwinden verlassen auf dem Parkplatz eines Schnellrestaurants entdeckt. Den Angaben seiner Frau zufolge war er sehr häuslich. Hatte nur wenige Freunde, mit denen er sich einmal im Monat zum Essen getroffen hat. Keinerlei bekannte Konflikte.«

Chris lehnte sich zurück. »Was ist mit seiner Arbeit? Gab es dort Probleme?«

»Wie gesagt war er Sachbearbeiter bei einer Krankenkasse. Die sind nicht gerade für ihre Spendierhosen bekannt. Laut der damaligen Ermittlungsakte hatte Winter drei Tage vor seinem Verschwinden einen Antrag für eine elektrische Fahrhilfe abgelehnt. Bei dem Betroffenen handelt es sich um einen Karl Reuter, 59 Jahre, selbstständiger Unternehmer. Seit einer missglückten Rücken-OP ist er zum Teil gelähmt. Da er mehrmals in der Woche physiotherapeutische Maßnahmen in Anspruch nehmen muss, hätte eine solche Fahrhilfe seine Mobilität deutlich erleichtert. Seine Krankenkasse sah das wohl nicht so. Der Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, Reuter sei mit allem versorgt, was er benötige.«

»Allerdings schließt Reuters Zustand auch aus, dass er Winter entführt und getötet hat.«

»Der Antrag wurde über seinen Sohn Clemens eingereicht. Er hat sich die letzten Jahre zusammen mit seiner Mutter um Reuter gekümmert. Die Ablehnung hat er jedenfalls nicht so gut aufgenommen. Er ist noch am gleichen Tag in die Zweigstelle gestürmt und hat Winter dort vor allen Leuten wüst beschimpft.«

»Dem sind die Kollegen damals doch sicher nachgegangen.«

»Ja«, bestätigte Rokko. »Clemens Reuter hatte ein Alibi für die fragliche Zeit. Er hat seinen Vater zu einem Arzttermin begleitet, was in der betreffenden Praxis auch bestätigt wurde. Weitere Untersuchungen haben nichts ergeben, weshalb die Ermittlungen gegen ihn eingestellt wurden.«

»Dann dürften wir wohl kaum bessere Karten in der Hand haben. Und selbst wenn er etwas damit zu tun hätte«, warf Chris ein, »was sollte ihn nach all der Zeit dazu bewegen, sein Opfer wieder aus der Versenkung zu holen, um damit die Ermittlungen wieder auf sich zu lenken?«

»Möglicherweise war der Auslöser dafür, dass sein Vater vor vier Wochen an den Folgen eines Sturzes verstorben ist.«

Chris wurde hellhörig.

»Seit dem Ausscheiden seines Vaters leitet Clemens Reuter dessen Firma, bei der er zuvor stellvertretender Geschäftsführer war.« Rokko beugte sich nach vorn. »Und nun rate mal, um was für eine Art Unternehmen es sich dabei handelt? Ein Gärtnereibetrieb«, beantwortete er sich selbst seine Frage. »Vielleicht finden wir ja dort die passenden Schuhe zu den Erdrückständen, die wir im Haus des Opfers gefunden haben.«

Chris strich sich nachdenklich über das Kinn. »Aber aus welchem Grund sollte er dann weitermachen? Wozu das Ultimatum und das Blut in dem Ballon?«

Rokko zuckte mit den Schultern. »Vielleicht macht er ja noch andere für den Tod seines Vaters verantwortlich. Oder er hat Spaß daran gefunden, seine dunkle Seite auszuleben.«

»Na schön«, meinte Chris nach kurzer Bedenkzeit. »Nehmen wir Clemens Reuter mal genauer unter die Lupe. In der Zwischenzeit sollen die Kollegen die Datenbanken nach Vermisstenfällen aus der Region durchstöbern, sagen wir über einen Zeitraum von zwei Jahren. Mit etwas Glück befindet sich jemand mit der Blutgruppe B negativ darunter. Sollten wir es mit einem methodisch vorgehenden Täter zu tun haben, kommen wir so vielleicht dahinter, bei wem er sein nächstes Opfer zur Schau stellen wird.«

»Wie stellst du dir das vor?«, fragte Meißner skeptisch. »Selbst wenn wir einen Treffer landen, willst du den Angehörigen aufgrund eines vagen Verdachtes mitteilen, dass sie damit rechnen sollen, die vermisste Person alsbald als Gammelfleisch in ihrer Küche vorzufinden? Wir wissen nicht einmal gesichert, ob es ein weiteres Opfer gibt oder wenn ja, ob der Täter nach demselben Muster verfährt.«

»Laut Einschätzung von Marina Hoffmann wird er das tun.«

»Du hast mit ihr über den Fall gesprochen?«, fragte Rokko.

»Sie ist in solchen Fällen Beraterin dieser Abteilung«, rechtfertigte sich Chris.

»Und du glaubst, sie kann die Situation anhand von ein paar Fotos einschätzen? Sie war nicht mal vor Ort.«

»In der Vergangenheit waren Ihre Prognosen sehr zuverlässig. Oder bist du da anderer Meinung?«

»Nein«, zog sich Rokko zurück. Die strenge Tonlage in der Frage ließ ihn kleinbeigeben. »Ich werde die Kollegen informieren. Wann willst du Reuter aufsuchen?«

»Sobald du damit fertig bist.«

KAPITEL 6

 

 

 

Sie betraten den Gärtnereibetrieb durch das Eingangstor einer im Außenbereich befindlichen Verkaufsfläche, auf der Grünpflanzen und Herbstblumen aller Art und Größe ausgestellt waren. Chris und Rokko konnten etwa ein halbes Dutzend Kunden ausmachen, die sich auf dem Gelände aufhielten. Sie näherten sich einem Mitarbeiter in grün-grauer Arbeitskleidung, der damit beschäftigt war, neu eingetroffene Thuja-Pflanzen von einer Palette auf die entsprechende Ausstellungsfläche zu räumen.

»Guten Tag«, begrüßte Chris den Mann. »Wir suchen den Betreiber dieses Unternehmens, Herrn Clemens Reuter.«

Der Mann ließ von den Pflanzen ab und musterte die beiden. Er war schätzungsweise Mitte vierzig, von korpulenter Statur und sein Gesicht war von alten Aknenarben gezeichnet. »Der müsste in seinem Büro sein«, meinte er und deutete mit seinem Arbeitshandschuh auf das Hauptgebäude im hinteren Teil des Geländes. Über der gläsernen Eingangsfront prangte der Name Reuter auf einem überdimensionalen Firmenschild: Gärtnerei und Landschaftsbau.»Durch den Eingang und dann rechts.«

Chris bedankte sich und schritt mit Rokko durch die automatisch aufschwingenden Eingangstüren in den Innenraum der Halle, wo neben einer Vielzahl an Zimmerpflanzen auch Samen, Düngemittel und Gartenwerkzeuge aller Art bis hin zu Rasenmähern auf ihre Kundschaft warteten. Auf der rechten Seite befand sich ein mit Lamellen verhangener Durchgang, der laut einem Schild zum Lager und Wareneingangsbereich führte. Daneben erstreckte sich ein abgegrenzter Raum mit Sichtscheiben in den Hallenbereich, bei dem es sich um besagtes Büro handelte. Ein gedämpftes »Ja« drang zu ihnen durch die Tür, nachdem sie angeklopft hatten.

Clemens Reuter befand sich allein in dem Raum. Er war damit beschäftigt, die zahlreichen Unterlagen auf seinem Schreibtisch einzusehen und schien die beiden Ermittler nicht zu registrieren.

»Herr Reuter? Mein Name ist Chris Bertram. Das hier ist mein Kollege Roland Koch. Wir sind von der Kriminalpolizei Koblenz und hätten ein paar Fragen an Sie.«

Reuter sah von den Rechnungen und Lieferscheinen auf, die sich über seinen Schreibtisch verteilten, und blickte auf die Ausweise, die ihm entgegengestreckt wurden. Laut dem damaligen Vernehmungsprotokoll war er 25 Jahre alt und verheiratet. Er wirkte etwas zu blass für jemand, der den Großteil seiner Arbeit im Freien verbrachte und hatte leicht eingefallene Wangen. Überhaupt sah er ausgemergelter aus als auf dem Foto in der damaligen Ermittlungsakte.

»Worum geht es?«, fragte er.

»Um Bernd Winter.«

Reuter ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken. »Geht es immer noch um diese Vermisstensache? Ich habe Ihren Kollegen bereits vor Monaten gesagt, was ich darüber weiß.«

»Nun, die Gegebenheiten haben sich verändert«, entgegnete Rokko. »Bernd Winter wird nicht mehr vermisst. Er ist tot. Und es spricht alles dafür, dass er ermordet worden ist.«

Für einen kurzen Moment versteinerten Reuters Gesichtszüge. Dann löste er sich ebenso schnell aus seiner Starre und beugte sich wieder über seine Unterlagen. »Verstehe«, murmelte er. »Und die Polizei geht nach wie vor davon aus, dass ich etwas damit zu tun habe.«

»Sie hatten allen Grund wütend auf das Opfer zu sein, nachdem er den Antrag auf eine Fahrhilfe für Ihren Vater abgelehnt hatte.«

Er blickte wieder zu den beiden auf. »Das hatte ich durchaus, und ich habe auch kein Geheimnis daraus gemacht, wie Sie sicher wissen. Aber mein Vater ist vor einigen Wochen verstorben.«

»Er starb an den Folgen eines Sturzes, ist das richtig?«

Reuter nickte. »Er hat sich immer schwer mit den Krücken getan, weil er sein rechtes Bein nicht mehr richtig bewegen konnte.«

»Das wäre mit einer Fahrhilfe sicher nicht passiert.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Nun ja«, meinte Chris, »man könnte durchaus behaupten, dass Ihr Vater womöglich noch am Leben wäre, hätte Bernd Winter den Antrag damals genehmigt.«

Reuter betrachtete sie abwechselnd. »Mein Vater war ein sehr stolzer Mann«, erwiderte er. »Er hat es gehasst, auf Hilfe angewiesen zu sein. Er ist bei dem leichtsinnigen Versuch, alleine eine Treppe hinunterzugehen, gestürzt. Das hätte auch keine Fahrhilfe verhindern können.«

»Aber ein Treppenlift. Hatten Sie diesbezüglich auch einen Antrag bei Ihrer Krankenkasse eingereicht?«

»Nein. Den Auftrag dafür habe ich privat erteilt. Es war nur leider zu spät.«

»Weshalb war Ihr Vater eigentlich bei einer gesetzlichen Kasse versichert?«, fragte Chris. »Als Unternehmer wäre er mit einer privaten Versicherung sicher besser bedient gewesen.«

»Wie gesagt, mein Vater hatte seine antiquierten Ansichten. Er war der Meinung, es würde sich irgendwann auszahlen, einer Institution treu zu bleiben. Aber anscheinend zählen solche Werte heutzutage nichts mehr.«

»Womit sich ein weiteres Motiv offenbart.«

Reuter seufzte. »Hören Sie«, meinte er ein wenig genervt. »Ihr Verdacht gegen mich ist mir nicht ganz schlüssig. Soviel ich weiß, wurde Winter bereits vor Monaten als vermisst gemeldet. Was glauben Sie denn? Dass ich ihn die ganze Zeit in meinem Keller gefangen gehalten habe, um ihn jetzt umzubringen? Dafür hätte ich gar nicht die Zeit gehabt, denn ich hatte genug mit der Firma und mit der Pflege meines Vaters zu tun.«

Chris vermied es, zu erwähnen, dass Winter bereits kurz nach seiner Entführung getötet worden war. Entweder war Reuter diese Tatsache nicht bekannt oder er war ein begnadeter Schauspieler. »Immerhin gab es mehrere Zeugen, die ausgesagt haben, dass Sie das Opfer in der Geschäftsstelle der Krankenkasse ziemlich heftig verbal attackiert haben.«

»Ich war verständlicherweise ziemlich aufgebracht. Aber es war nichts Persönliches. Meine Wut richtet sich eher gegen das System. Dieses Land versinkt allmählich in einem Sumpf aus Zuständigkeiten und sturer Bürokratie, und Prioritäten werden völlig falsch gesetzt. Mein Vater hat sein Leben lang geschuftet, hat diese Firma aus dem Nichts aufgebaut. In all der Zeit hat er nie Leistungen beansprucht und immer in das System eingezahlt. Und als er unverschuldet arbeitsunfähig geworden ist, und zum ersten Mal wirklich auf Hilfe angewiesen war, da wurde sie ihm an entscheidender Stelle verwehrt. Und das, obwohl genügend Mittel zur Verfügung stehen. Die Kassen sitzen auf Überschüssen im zweistelligen Milliardenbereich herum, die sie durch ihren Sparzwang erwirtschaftet haben. Vielleicht sollte den Verantwortlichen dort mal jemand erklären, dass sie nicht für ein börsennotiertes Unternehmen tätig sind, sondern im Idealfall lediglich kostendeckend arbeiten müssen. Damit wäre allen Versicherten eher geholfen. Stattdessen werden die Beiträge lieber dazu verschwendet, Drogenabhängigen, die im Grunde nicht einmal dazu bereit sind, sich diesem Leben zu stellen, auch die dritte Entzugstherapie zu bezahlen, obwohl man sich an zwei Fingern ausrechnen kann, dass die dauerhaften Erfolgsaussichten wohl eher als gering einzustufen sind. Und genau das ist es, was ich Herrn Winter damals vorgeworfen habe, dass Alter und Lebensleistung offenbar keinerlei Wert mehr haben. Wie gesagt, es war nichts Persönliches. Ich musste einfach mal Dampf ablassen.«

»Und dem System eins auswischen«, fügte Rokko an.

»Als Unternehmer werde ich jeden Tag mit der Realität konfrontiert. Ich kann es mir nicht erlauben, noch an den Weihnachtsmann zu glauben. Sie halten mich hoffentlich nicht für so naiv, mir einzubilden, ich könnte an diesem System etwas verändern, indem ich einen unbedeutenden Sachbearbeiter aus dem Weg räume.«

»Wut, Hass und Verzweiflung können einen gesunden Menschenverstand zeitweilig außer Kraft setzen.«

»Das mag vielleicht auf jemanden zutreffen, der nicht viel zu verlieren hat. Ich bin verantwortlich für acht Mitarbeiter. Außerdem bin ich glücklich verheiratet und selbst vor kurzem Vater geworden.« Er machte eine ausladende Geste über den Unterlagen, die seinen Schreibtisch bevölkerten. »Wie Sie sehen, floriert das Geschäft, sodass ich vermutlich noch mindestens zwei weitere Mitarbeiter einstellen werde. Denken Sie wirklich, ich würde das alles einfach aufs Spiel setzen, nur um meine Wut abzureagieren? Wenn ich mich so wenig unter Kontrolle hätte, wäre ich vermutlich nie so weit gekommen.«

Allmählich gingen Rokko die Gegenargumente aus. »Wo waren Sie gestern Abend zwischen 18 und 21 Uhr?«, fragte er stattdessen.

Reuter musste nicht lange überlegen. »Bis kurz nach sechs war ich mit zwei meiner Leute bei einem Kunden in Neuendorf. Wir haben dort zwei Bäume heruntergeschnitten. Anschließend habe ich bis zirka halb neun hier im Büro noch einige Rechnungen geschrieben.«

»Kann das jemand bezeugen?«

»Nein, meine Mitarbeiter hatten zu dieser Zeit bereits Feierabend. Normalerweise kümmert sich meine Frau um den Papierkram, aber seit der Geburt unserer Tochter bleibt das weitestgehend an mir hängen.« Sein Gesichtsausdruck ließ erahnen, dass ihm diese Art von Arbeit nicht sonderlich behagte. »Allerdings habe ich von diesem Anschluss aus drei Telefonate geführt. Bei zweien davon ging es um Terminbestätigungen bei Kunden. Das dritte habe ich mit einem Freund geführt, mit dem ich mich anschließend auf ein Bier getroffen habe. Das müsste ja zu überprüfen sein.«

»Natürlich«, meinte Chris. »Wir benötigen dann nur noch die Kontaktdaten der betreffenden Personen und Ihrer Mitarbeiter.«

»Sicher«, seufzte Reuter.

Kurz darauf summte der Drucker auf Reuters Schreibtisch und spuckte die entsprechenden Ausdrucke aus.

KAPITEL 7

 

 

 

»Glaubst du Reuter?«, fragte Rokko vom Beifahrersitz aus.

»Ja, ich denke, er sagt die Wahrheit«, erwiderte Chris, während er den Wagen durch die verkehrsreichen Straßen der Stadt in Richtung Präsidium steuerte.

Rokko nickte und betrachtete die Ausdrucke in seiner Hand, auf denen die Daten der Mitarbeiter und des besagten Freundes von Reuter vermerkt waren. »Wäre ja auch zu einfach gewesen.«

»Es hat von Anfang an nicht gepasst.«

»Was meinst du?«

»Eine nicht genehmigte Fahrhilfe?« Er warf einen kurzen argwöhnischen Blick in Rokkos Richtung. »Ein ziemlich dürftiges Motiv für einen Mord.«

»Unsere Gefängnisse sind voll von Leuten, die sich aus nichtigeren Gründen an die Kehle gesprungen sind.«

»Aus dem Affekt heraus, ja. Die Vorgehensweise des Täters erfordert jedoch eine Menge Planung und somit ein deutlich höheres Maß an krimineller Energie. Einen solchen Aufwand betreibt niemand, nur um sich an jemandem zu rächen. Dafür hätte der Tod des Opfers ausgereicht, nicht dessen Wiederauferstehung. Das ergibt keinen Sinn. Der Ballon, das Ultimatum, diese ganze abartige Inszenierung ... wozu das alles, wenn es nur um Rache ginge? Aus welchem Grund sollte er uns dann einen Hinweis auf ein weiteres Opfer geben?«

»Erstens«, meinte Rokko, »könnte er uns damit absichtlich auf eine falsche Fährte locken wollen, und zweitens wissen wir nicht einmal gesichert, ob es überhaupt ein zweites Opfer gibt.«

»Das ergibt in Bezug auf Reuter noch weniger Sinn, findest du nicht? Wozu sein Opfer wieder hervorholen? Er hätte ihn dort lassen können, wo er ihn verscharrt hatte, und er wäre vermutlich nie wieder aufgetaucht.«

Sein Handy vermeldete einen Anruf. Chris betätigte die Freisprecheinrichtung.

»Hey, Leute«, erklang die Stimme von Meißner aus den Lautsprechern. »Wir haben bezüglich der Blutgruppe einen Treffer in der Vermisstendatenbank. Eine Frau aus Bassenheim. Ist seit knapp fünf Monaten als vermisst gemeldet.«

»Okay«, bestätigte Chris. »Trag alle relevanten Daten zusammen, wir sind bereits auf dem Weg ins Präsidium.« Er beendete die Verbindung. »Tja«, meinte er an Rokko gerichtet. »Sieht ganz danach aus, als wüssten wir jetzt, wer das nächste Opfer ist.«

KAPITEL 8

 

 

 

Meißners Büro erweckte wie immer den Eindruck eines Ausstellungszimmers in einem Möbelhaus. Alles war penibel geordnet und sein Schreibtisch so aufgeräumt, dass man hätte meinen können, es würde niemand daran arbeiten. Lediglich zwei Tassen mit verlockend duftendem Kaffee, die er für Chris und Rokko darauf bereitgestellt hatte, störten das Bild.

»Wie sicher können wir sein, dass es sich bei der Vermissten um das nächste Opfer des Täters handelt?«, fragte Chris und nippte dankbar an seiner Tasse.

»Tja«, meinte Meißner, »die Blutgruppe B negativ ist äußerst selten. Sie kommt gerade mal bei zwei Prozent der Bevölkerung vor. Die Wahrscheinlichkeit, in dieser Region auf jemanden mit dieser Blutgruppe in der Vermisstendatenbank zu stoßen, ist demnach mehr als gering. Ich denke, ihr müsst nicht zwingend auf die DNA-Analyse warten.«

»Also gut, um wen handelt es sich?«

»Valerie Leclerc, 44 Jahre, verheiratet, keine Kinder. Betreibt in der Innenstadt ein eigenes Tattoo-Studio. Ist vor gut fünf Monaten zum Joggen in den Wald aufgebrochen. Seitdem gilt sie als vermisst. Es gab damals eine groß angelegte Suchaktion, aber man hat nur ihr verlassenes Auto an einem Waldgebiet im Nettetal bei Ochtendung gefunden. Von dort verliert sich ihre Spur.«

»Leclerc?«, fragte Chris grübelnd.

»Ja. Klingelt da was bei dir?«

Gedankenverloren stellte er die Tasse auf dem Tisch ab. »Mit wem ist sie verheiratet?«

Meißner warf einen Blick in die elektronische Akte auf seinem Monitor. »Mit einem Benedikt Leclerc.«

Ben, kam es Chris unweigerlich in den Sinn. Sofort tauchte das Bild eines jungen Mannes vor seinem geistigen Auge auf. Wild, roh, ungezähmt. Und von einem unbändigen Freiheitsdrang getrieben, der keinerlei Kompromisse zuließ. Konnte das wirklich sein? Es erschien ihm fast unmöglich.

»Chris?«, riss ihn Rokkos Stimme aus seinen Gedanken. »Was ist los? Kennst du den Typ?«

»Gibt es ein Foto von dem Mann?«, überging Chris die Frage.

»Es gibt sogar eine ganze Akte von dem Kerl«, meinte Meißner und klickte sich durch das Archiv. »Er war Mitglied einer Rockergruppe namens Black Nomads, bis die vor einigen Jahren von den Kollegen bei einem großangelegten Drogenhandel hochgenommen worden sind.

---ENDE DER LESEPROBE---