Seelenblut - Michael Hübner - E-Book

Seelenblut E-Book

Michael Hübner

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Beschreibung

Eine Reihe von bizarr inszenierten Morden offenbaren Oberkommissar Chris Bertram eine neue Dimension des Bösen. Denn der Täter scheint es auf die Seelen seiner Opfer abzusehen, indem er sie vor ihrem Tod bestimmten Emotionen aussetzt. An den Tatorten werden Blutrückstände gefunden, deren Analyse einen Treffer in der Datenbank ergibt. Demnach handelt es sich bei dem Täter um einen Mann, der seit zwei Jahren als vermisst gilt. Als Bertram dessen Namen liest, stockt ihm der Atem. Sofort verständigt er Corinna Hartfels vom BKA und begibt sich gemeinsam mit ihr auf die Jagd nach dem Mann, der sie immer wieder in die Irre führt. Ein schonungsloses Katz-und-Maus-Spiel beginnt, dessen Verlauf die beiden Ermittler geradewegs in ihre ganz persönliche Hölle führt. Der dritte Band aus Michael Hübners fesselnder Thriller-Reihe um den Koblenzer Ermittler Chris Bertram. Alle Bücher der Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Michael Hübner

Seelenblut

 

Thriller

 

 

Copyright © 2017 by Michael Hübner

[email protected]

Vertreten durch:

Dr. Harry OlechnowitzAutoren- & VerlagsagenturFritschestraße 6810585 BerlinE-Mail: [email protected]

www.michaelhuebner.de

 

Umschlagillustration

© Stillfx / Fotolia.com

© mrspopman / Fotolia.com

© Artem Mykhailichenko / Fotolia.com

PROLOG

 

 

 

Er richtete die Körper zueinander aus und umwickelte sie straff mit Klarsichtfolie. Dabei ging er äußerst sorgfältig vor, obwohl er sich beeilen musste. Anschließend kontrollierte er alles. Als er fertig war, trat er einige Schritte zurück und betrachtete sein Werk.

Alles war perfekt.

Zufrieden atmete er durch und dehnte sich. Er spürte, wie sich die Verspannungen in seinem Nacken und seinem Rücken lösten, wie die Anstrengungen der letzten Stunden von ihm abfielen. Es fühlte sich gut an. Befreiend. Endlich hatte er seine Bestimmung gefunden, den Prozess in Gang gesetzt. So lange hatte er darauf hingearbeitet, seine Fertigkeiten verfeinert. Nun konnte er es kaum erwarten, sie herauszufordern. Es war Schicksal, dass sie auf diese Weise aufeinandertrafen, davon war er überzeugt.

Eine Schweißperle lief sein Nasenbein hinunter und erzeugte dabei ein leichtes Kribbeln. Er zog das Tuch aus der Tasche seines Overalls und tupfte die Flüssigkeit weg, bevor sie zu Boden tropfte. Erst jetzt realisierte er, dass der Lappen mit Blut getränkt war.

Natürlich ist er das, dachte er. Du hast ihn benutzt, um die Schnittränder zu säubern.

Er war so konzentriert auf seine Arbeit gewesen, dass er das völlig verdrängt hatte. Erst jetzt spürte er die Erschöpfung, die sich wie ein bleiernes Band um seine Glieder legte. Er trat vor die Spiegelfront des Schlafzimmerschrankes und betrachtete sich prüfend. Der Mundschutz und ein Teil seiner Nase hatten sich rot verfärbt. Er atmete den kupferartigen Duft des Blutes ein, während er sein Spiegelbild begutachtete, das nur eine vage Vorstellung seines Äußeren wiedergab. Über seiner Kleidung trug er einen weißen Ganzkörperoverall, wie ihn Tatortermittler benutzen. Seine Hände waren in Latex gehüllt, und seine Schuhe steckten in blauen Überziehern. Überall auf der Schutzkleidung waren Spuren von Blut zu erkennen. Einen nicht unerheblichen Anteil daran hatte das Cuttermesser, das er in der Hand hielt. Prüfend glitt sein Blick an ihm hinab. Die Schutzkleidung war nirgends beschädigt. Er war äußerst sorgfältig vorgegangen. Wer keine Spuren hinterlassen wollte, der musste sich an Spurensuchern orientieren. Du musst deinen Feind kennen, um ihn besiegen zu können, kam ihm das bekannte Zitat eines chinesischen Generals in den Sinn. Obwohl diese Aussage auf ihn nicht ganz zutraf, da er die Polizei nicht direkt als seinen Feind betrachtete. Eher als eine Herausforderung des Schicksals. Aber in einem stimmte er mit dem General überein: Wenn man die Vorgehensweise seines Gegners kannte, konnte man ihn gezielt manipulieren.

Langsam streifte er den Mundschutz nach unten. Er konnte den Geruch des Blutes daran nicht länger ertragen, hatte ihn noch nie gemocht. Schmerzen, Blut, Verstümmelung ... Diese lästigen Begleitumstände waren es nicht, die ihn antrieben. Selbst der Tod seiner Opfer war für ihn nur Mittel zum Zweck. Er suchte nach Tiefgreifenderem: nach wahren Emotionen! Sie verliehen ihm den nötigen Kick, versorgten seinen Körper mit der Droge Adrenalin, die sein Herz zum Rasen brachte. Nur auf diese Weise konnte er selbst etwas fühlen.

In seinen kalten Augen spiegelte sich die Erschöpfung wider. Er brauchte dringend Ruhe, um wieder zu Kräften zu kommen. Und seine Medikamente. Doch zuvor musste er noch sicherstellen, dass seine Botschaft auch ankam, und zwar an der richtigen Adresse.

Er nahm die blutige Klinge aus dem Cuttermesser und tauschte sie gegen eine neue aus. Dann streifte er den Latexhandschuh von der freien Hand ab und schnitt sich eine tiefe Kerbe in den Daumen. Angewidert beobachtete er, wie das Blut aus der Wunde quoll, verfolgte, wie es bis zu seinem Handgelenk hinunterlief und von dort auf den Boden neben dem Bett tropfte. Er hasste den Anblick von Blut. Es war für ihn das Sinnbild seiner eigenen Vergänglichkeit. Doch in diesem Fall war es zwingend nötig – obwohl er die Schutzmaßnahmen, die er in den letzten Stunden penibel eingehalten hatte, damit ad absurdum führte.

Komm und erhöre mich!

Schwungvoll führte er den blutenden Daumen an die Wand und hinterließ dort seine Botschaft.

KAPITEL 1

 

 

 

Oberkommissar Chris Bertram hatte in seiner Laufbahn schon viele Tatorte und Mordopfer gesehen. Einige der Toten waren schrecklich zugerichtet gewesen. Eigentlich rechnete er nicht damit, dass ihn diesbezüglich noch etwas hätte erschüttern können. Doch er sollte schon bald eines Besseren belehrt werden. Denn als er an diesem Abend das Haus im Koblenzer Stadtteil Güls betrat, sollte das der Beginn von etwas werden, das ihm eine neue Dimension des Grauens offenbarte.

Er schritt durch den Flur und spähte in Küche und Wohnraum des Hauses hinein. Überall waren Mitarbeiter der Spurensicherung damit beschäftigt, Fingerabdrücke zu entnehmen und Proben in ihren Koffern zu verstauen. Ebenso wie Chris selbst trugen auch sie weiße Schutzanzüge über ihrer Kleidung.

»Wie es aussieht, haben sie dich auch von der Couch geholt«, erklang eine dumpfe Stimme hinter ihm.

Chris drehte sich um und erkannte seinen Kollegen Roland Koch. Er stand am Aufgang der Treppe. Dem Blick seiner dunklen Augen konnte Chris entnehmen, dass er ebenso wenig begeistert darüber war, seinen Feierabend an diesem Ort zu verbringen. Möglicherweise lag es aber auch nur an seiner Abneigung gegenüber den Schutzanzügen, in denen er schwitzte wie nach einem Marathonlauf. Er zog den Mundschutz nach unten, sodass sein dunkler Kinnbart zutage trat.

»Offenbar ist es uns nicht vergönnt, ein wenig Zeit mit unseren Frauen zu verbringen«, meinte Koch, den alle nur Rokko nannten.

»Scheint so«, seufzte Chris. »Der Kleine war gerade eingeschlafen, als der Anruf der Zentrale kam. Rebecca war nicht gerade erfreut darüber. Sie hat sich ziemliche Mühe mit dem Essen gemacht.«

»Sieh es positiv. Im Falle einer Tatortbesichtigung kann es nur von Vorteil sein, wenn man noch nichts gegessen hat.«

Chris sah sich um. »Wo ist die Leiche?«

»Leichen«, verbesserte ihn Rokko. »Es handelt sich um zwei Opfer. Sie befinden sich oben im Schlafzimmer.«

Sie gingen an weiteren Technikern vorbei die Treppe zum Obergeschoss hinauf bis ins Schlafzimmer. Die beiden Leichen lagen seitlich mit den Gesichtern zueinander ausgerichtet auf dem Bett. Ein Mann und eine Frau. Ihre nackten Körper waren um die Taillen herum mit Klarsichtfolie aneinander gewickelt, die Hände in Höhe der Hüften ineinander verschlungen, sodass es den Anschein erweckte, als würden sie zärtlich miteinander kuscheln wie zwei Liebende, deren Zuneigung über den Tod hinausreichte.

»Wer hat die Leichen gefunden?«

»Die Mutter des weiblichen Opfers«, entgegnete Rokko. »Sie besitzt einen Zweitschlüssel für das Haus. Als ihre Tochter nicht zu einem vereinbarten Treffen erschienen ist, und auch telefonisch nicht zu erreichen war, wollte sie nach dem Rechten sehen und hat dann das hier vorgefunden.«

Chris betrachtete die Wand über dem Bett. Dort befand sich ein mit Blut gemaltes Symbol, das aussah wie eine liegende Acht. An einer Stelle hatte sich ein Tropfen der roten Flüssigkeit gelöst. Er zog sich fast bis zum Bettpfosten hinunter, wo er schließlich erstarrt war. Ein Techniker schoss eifrig Fotos davon. Als er die Kamera senkte, erkannte Chris, dass es sich um Uwe Meißner handelte, den Leiter der Spurensicherung.

»Das mathematische Zeichen für Unendlichkeit«, sagte er durch seinen Mundschutz hindurch, ohne seinen Kollegen zu begrüßen.

Chris senkte seinen Blick. Seine Aufmerksamkeit galt in erster Linie den Gesichtern der beiden Opfer. Sie waren komplett von weißen Gipsmasken verhüllt, deren starre Mimik den Toten den bizarren Ausdruck von Fröhlichkeit verlieh, während sich die Lippen der Masken berührten.

»Ich sehe keinerlei Verletzungen«, sagte Chris. »Woher stammt das Blut an der Wand?«

»Im Badezimmer haben wir reichlich davon sichergestellt«, entgegnete Meißner. »Wir konnten die Leichen noch nicht ausreichend untersuchen. Vermutlich befinden sich die Verletzungen im Bauchbereich, den wir nicht einsehen können.«

Chris betrachtete die Klarsichtfolie, die im Licht der aufgestellten Scheinwerfer glänzte und die in mehreren Lagen stramm um Rücken und Taille der Opfer gewickelt war und die Körper zusammenhielt. »Warum trennt ihr sie dann nicht voneinander?«

»Wir wollten nichts verändern. Daher habe ich Thielmann gesagt, er muss sich nicht beeilen.«

Johann Thielmann war der für ihren Bezirk zugelassene Gerichtsmediziner.

»Und warum?«

»Ehrlich gesagt kann ich mir nicht recht erklären, was sich hier abgespielt hat«, sagte Meißner. »Daher dachte ich, du solltest dir das hier erst ansehen, da du dich in diese kranken Sachen besser hineindenken kannst.«

Chris nickte gedankenverloren. Ihm eilte der Ruf voraus, sich gut in die Psyche eines Täters und seiner Motive hineinversetzen zu können. Langsam schritt er um das Bett herum, seinen Fokus völlig auf die beiden Leichen gerichtet, sodass er die Umgebung weitestgehend ausblendete.

Die Masken strahlen Unbeschwertheit aus, erklang unweigerlich seine Stimme im Kopf. Vermutlich sollen sie uns so etwas wie Glück suggerieren. Das ungezwungene Gefühl von Zweisamkeit.

»Waren die Opfer liiert?«

»Ja«, sagte Rokko und schlug seinen Notizblock auf. »Markus und Sarah Rickol, sechsunddreißig und vierunddreißig Jahre. Laut Aussage der Mutter haben sie erst vor Kurzem geheiratet.«

Genau wie ich und Rebecca, schoss es Chris unweigerlich durch den Kopf, und er verdrängte den Gedanken sofort, konzentrierte sich wieder auf die Leichen. War das dein Motiv? Liebe? So jung und rein. Hast du deshalb so penibel darauf geachtet, hier kein Blut zu verteilen?

»Wurden die Körper gesäubert?«

»Ja«, bestätigte Meißner, »in der Badewanne. Vermutlich wurden ihnen dort auch die Verletzungen zugefügt.

Du wolltest diese Reinheit erhalten, sie nicht zerstören. Hast du sie deshalb getötet? Um zu verhindern, dass sich diese Reinheit irgendwann verflüchtigt? Liebe bis in den Tod?

»Wisst ihr etwas über die Todesursache?«, fragte Chris.

»Wie schon gesagt, hat sich Thielmann die Leichen noch nicht angesehen, und vermutlich ist eine Obduktion nötig, um das zu klären. Aber bei dem, was wir in den Nebenzimmern vorgefunden haben, dürfte es sich um eine Vergiftung handeln.«

Chris blickte zu Meißner. »Was habt ihr gefunden?«

Meißner führte Chris und Rokko in den Flur. Sie gingen am Badezimmer vorbei, in dem weitere von Meißners Leuten damit beschäftigt waren, Spuren zu dokumentieren. Chris konnte einen flüchtigen Blick auf die Badewanne werfen, deren weiße Ränder mit Blut verschmiert waren. Meißner steuerte auf die gegenüberliegende Seite zu. Dort befanden sich zwei weitere Räume. Einer davon diente augenscheinlich als Büro. Neben Aktenschränken und Regalen mit beschrifteten Boxen stand dort ein ausladender Eckschreibtisch, dessen rechter Flügel unter der Dachschräge verlief. Chris fielen Ordner mit Kennzeichnungen wie Jahresbilanz, Abschluss-Statistik und Schadensregulierung ins Auge. Neben dem Computermonitor stapelten sich in einer mehrstöckigen Briefablage Schreiben und Dokumente, allesamt mit dem Briefkopf einer großen Versicherungsgesellschaft versehen.

»Eines der Opfer wurde hier auf dem Stuhl fixiert«, erläuterte Meißner und deutete auf einige durchtrennte Kabelbinder, die auf dem Laminatboden um den Bürostuhl herum verteilt lagen. Auf dem Schreibtisch davor stand ein leeres Glas neben zwei leeren Tabletten-Blistern. Chris studierte die durchstoßene Unterseite der Verpackung, auf der die Bezeichnung des Medikaments stand, das sich darin befunden hatte.

»Was ist das?«, fragte er an Meißner gerichtet, nachdem ihm der Name nichts sagte.

»Ein starkes Schlafmittel. Dasselbe haben wir im Gästezimmer nebenan gefunden. Dort wurde das zweite Opfer festgehalten.«

Du hast sie voneinander getrennt. Warum? Um sie im Tod wiederzuvereinen?

»Er hat sie gezwungen, sich selbst zu vergiften«, murmelte Chris.

»Wie kann man jemand zu so etwas zwingen?«

Chris starrte auf das Foto, das auf dem Schreibtisch lag. Es zeigte einen Mann und eine Frau, die lachend in die Kamera sahen. Ihre Gesichter waren vom Blitzlicht ausgebleicht.

Weiß wie die Masken, dachte Chris.

»Sind das die Opfer?«

»Laut ihren Ausweisen ja«, bestätigte Rokko. »Gesichert ist das erst festzustellen, wenn wir ihnen die Masken abnehmen.«

Chris blickte wieder auf das Foto. Der Hintergrund war fast schwarz, die Körper der beiden Personen nur dunkle Umrisse, sodass ihre hellen Gesichter sich deutlich vom Rest des Bildes hervorhoben. Nur am linken Rand war eine Art Garderobe zu erkennen, an der offensichtlich eine helle Jacke hing, die das Licht des Blitzes reflektiert hatte. »Der Flur im Eingangsbereich war dunkel, als ich gekommen bin.«

»Ja, der Täter hat dort offenbar die Leuchtmittel aus den Lampen entfernt«, sagte Rokko.

»Gibt es Einbruchspuren?«

»An der Terrassentür auf der Rückseite des Hauses«, erläuterte Meißner. »Wurde vermutlich mit einem Brecheisen aufgestemmt. Die klassische Vorgehensweise.«

»Er muss unten auf die Opfer gewartet haben«, übernahm nun wieder Rokko das Wort, »und hat sie überrascht, als sie nach Hause kamen.«

»Ja, und er hat sie dabei fotografiert und die Bilder hier anschließend ausgedruckt. Das Fotopapier im Druckerschacht stimmt überein. Aber was bezweckt er damit? Und wie ging es dann weiter?«

Du wolltest diesen Moment festhalten. Den Moment des Glücks, bevor das Grauen über sie hereinbrach. Das Grauen, das du ihnen gebracht hast.

»Chris?«

Er blickte zu seinem Kollegen. »Ich sehe hier nirgendwo einen Computer. Ziemlich ungewöhnlich für ein Büro, zumal es einen Drucker gibt.«

»Die Täter müssen ihn mitgenommen haben.«

»Die Täter?«

Rokko zuckte mit den Schultern. »Immerhin handelt es sich um zwei Opfer. Die sind alleine schwer zu überwältigen.«

Chris betrachtete die Aufnahme in seiner Hand genauer. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, wir haben es mit einem Einzeltäter zu tun«, sagte er und hielt den beiden die Aufnahme hin. Er deutete auf den schwarzen Hintergrund. Dort hoben sich schwach die Konturen eines dunkel gekleideten Oberkörpers ab. »Er hat hinter ihnen gestanden, als das Foto gemacht wurde. Vermutlich hat er einen Fernauslöser benutzt. Durch den Blitz waren die Opfer geblendet. Das hat ihm genügend Zeit verschafft, um den Mann zuerst auszuschalten. Habt ihr seinen Kopf auf Schlagspuren untersucht?«

Meißner atmete durch. »Wie gesagt, wollten wir mit der Untersuchung warten, bis ihr da seid.«

Sie gingen wieder ins Schlafzimmer zurück. Meißner untersuchte den Kopf der männlichen Leiche.

»Bingo«, sagte er schließlich. »Keine Platzwunde, aber ein erkennbares Hämatom am Hinterkopf.«

»Wieso hat er sie nicht sofort getötet?«, fragte Rokko. »Was genau hat sich hier abgespielt?«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Chris und griff nach seinem Handy. »Daher würde ich gerne noch eine weitere Meinung einholen.«

KAPITEL 2

 

 

 

Doktor Marina Hoffmann war gerade dabei ihre blonden Haare unter die Schutzhaube zu stopfen, als Chris sie am Eingang des Hauses in Empfang nahm. Sie war einer der wenigen Menschen, deren äußerem Erscheinungsbild selbst diese unvorteilhafte Verkleidung nichts anhaben konnte. Trotz des blassen Overalls, der ihr augenscheinlich eine Nummer zu groß war, besaß sie mit ihren dreiundvierzig Jahren noch immer eine Ausstrahlung, der man sich nur schwer entziehen konnte. Eine Mischung aus Eleganz und Vertrautheit, gepaart mit einer unaufdringlichen Attraktivität, die sie auf Anhieb sympathisch machte. Chris konnte gut nachvollziehen, dass die Leute ihr als Psychoanalytikerin ihre intimsten Geheimnisse anvertrauten. Er freute sich, sie wiederzusehen. Obwohl sie seit dem Kinderschänderskandal vor mehr als einem Jahr offiziell als psychologische Beraterin für ihre Behörde tätig war, hatten sie seither kaum Kontakt miteinander gehabt.

Er reichte ihr zur Begrüßung die Hand. »Guten Abend, Doktor Hoffmann. Vielen Dank, dass Sie um diese späte Zeit so schnell kommen konnten. Ich hoffe, ich habe Sie nicht von irgendetwas abgehalten.«

»Wie Sie ja wissen, bin ich geschieden und kinderlos«, erwiderte sie. »Daher haben Sie mich lediglich davon abgehalten, die Flasche Rosé zu öffnen, die ich mir fürs Abendessen reserviert hatte. Das allerdings könnte ich Ihnen ziemlich übel nehmen.« Ihr Lächeln vermittelte ihm, dass dieser Kommentar nicht ernst gemeint war.

»Bitte entschuldigen Sie die Umstände«, sagte er und deutete auf den Overall, »aber der Tatort ist noch nicht freigegeben.«

Sie richtete sich die Haube, nachdem sie die letzte Strähne ihres Haares darunter verstaut hatte. »Immerhin lenkt diese Aufmachung von der Tatsache ab, dass ich ungeschminkt bin. In meinem Alter gleicht das einer Kapitulation.«

»Sie sehen großartig aus.«

Sie lächelte geschmeichelt. »Ich habe gehört, Sie sind vor einigen Monaten stolzer Vater eines Jungen geworden. Gratuliere.«

Chris lächelte gequält. »Im Moment schießen die Zähne ein.«

Sie bemerkte die dunklen Ringe, die sich um seine Augen gelegt hatten. »Verstehe. Schwierige Zeit.«

»Normalerweise wäre ich dankbar für jede Art von Ablenkung, aber in dem Fall wäre das sehr unangemessen.«

»Sie erwähnten in Ihrem Anruf etwas von einem Doppelmord.«

Chris nickte. »Es handelt sich um ein Ehepaar, das erst seit einigen Monaten in diesem Haus gelebt hat. Ich benötige ein psychologisches Profil, um den Tathergang besser verstehen zu können.« Er erläuterte ihr die Sachlage, während sie die Treppe zum Obergeschoss hinaufgingen. Im Schlafzimmer warteten Meißner und Rokko bereits auf die beiden. Auch Johann Thielmann war mittlerweile eingetroffen. Chris erkannte ihn sofort an seiner Brille, deren dunkle Ränder sich auffallend vom Weiß des Overalls abhoben.

An der Türschwelle angelangt, blieb Marina Hoffmann abrupt stehen. Chris bemerkte, wie sie kurz versteifte, als sie die beiden Toten auf dem Bett erblickte. Obwohl die Leichen auf den ersten Blick keinerlei Verletzungen offenbarten, musste ihr Anblick unweigerlich Assoziationen zu den schrecklichen Vorfällen in ihrer Vergangenheit wecken. Fast vier Jahre war es her, seit ein Patient in ihrer damaligen Praxis in Trier aufgetaucht war und vier Tote bei seinem Amoklauf hinterlassen hatte. Sie selbst war dabei schwer verletzt worden. Chris wusste, dass sie seitdem Silvesterfeiern mied, da ihr das Knallen der Böller nach wie vor Angst einflößte. Zu sehr ähnelten diese Geräusche den Schüssen in der Praxis, die bis tief in ihre Seele vorgedrungen waren. So tief, dass sie dort noch immer nachhallten.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

Sie nickte entrückt.

»Ich würde Ihnen das nicht zumuten, wenn ich es nicht müsste. Aber Sie sind die Einzige, mit deren Hilfe ich möglicherweise herausfinden kann, was hier geschehen ist.«

»Keine Sorge, es geht mir gut«, winkte sie ab. »Es ist nur ...« Sie schritt gemächlich auf das Bett zu. »Diese Inszenierung der Körper erinnert mich fern an ein Gemälde des belgischen Malers René Magritte.«

Chris betrachtete sie erstaunt. »Ich wusste gar nicht, dass Sie sich für Kunst interessieren.«

»Tue ich auch nicht. Jedenfalls nicht mehr als die meisten Menschen. Ich weiß das nur, weil ich während meines Studiums über dieses Bild eine Abhandlung geschrieben habe, bezüglich der möglichen Interpretationen. Das Bild heißt Die Liebenden. Es zeigt ein sich innig küssendes Paar, deren Gesichter komplett verhüllt sind.«

»Und Sie denken, dass der Täter diese Ähnlichkeit beabsichtigt hat?«

»Eher nicht. Auf dem Bild verhüllen weiße Tücher die Köpfe, und die Körper sind bekleidet. Aber es bietet durchaus dieselben Interpretationsmöglichkeiten.«

»Und die wären?«

»Entfremdung, Verlust von Freiheit, Willenseinschränkung, blindes Vertrauen, Anonymität, verbotene Liebe, Realitätsflucht ...« Sie stockte, als sie auf die beiden Leichen sah.

»Was noch?«, fragte Chris.

Die Analytikerin reagierte nicht, schien mit ihren Gedanken woanders zu sein. Ihr Blick wurde starr.

»Doktor Hoffmann?«

»Ja«, hauchte sie entrückt.

»Für was könnte es noch stehen?«

Sie schluckte, während sie weiterhin die maskierten Leichen betrachtete. »Gesichtsverlust.«

Chris blickte wie elektrisiert zu Meißner und Thielmann. »Nehmt ihnen die Masken ab.«

Die beiden zogen die Oberkörper der Opfer ein wenig auseinander, um die Masken voneinander zu trennen. Die Folie, die um die Körper herumgewickelt war, knisterte unter der Spannung. Vorsichtig streifte Meißner das Gummiband, mit der die Maske fixiert war, über die dunklen Haare des männlichen Opfers. Mit einem schlürfenden Geräusch löste sich die Gipsschale.

Alle erstarrten bei dem Anblick, der sich ihnen bot.

Dem Toten fehlte die Gesichtshaut. Sie war kurz unterhalb der Maskenränder durchschnitten und abgezogen worden. Meißner wiederholte den Vorgang bei der weiblichen Leiche mit demselben Ergebnis.

»Heilige Scheiße«, entfuhr es Rokko.

Marina Hoffmann wandte sich entsetzt ab. Chris legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Tut mir leid«, bedauerte er. »Ich hatte keine Ahnung.«

Sie holte tief Luft. »Genau das ist der Grund, weshalb ich mich anfänglich geweigert habe, als Beraterin für Ihre Behörde tätig zu sein«, keuchte sie. »Offenbar geschehen hier solche schrecklichen Dinge öfter.«

»Ja«, entgegnete Chris, »ist mir auch schon aufgefallen.«

»Was zum Teufel ...«

Es war Thielmanns Stimme, die Chris herumfahren ließ. Er sah, wie der Arzt sich hastig etwas vom Ärmel seines Overalls wischte.

»Was ist das?«

»Ameisen! Wo in aller Welt kommen die denn plötzlich her?«

»Hier«, rief Meißner und deutete auf die Mitte der toten Körper. »Sie krabbeln unter der Folie hervor.« Er kramte ein Cuttermesser aus einem der Alukoffer und durchtrennte die Folie. Augenblicklich fielen die Körper voneinander ab und rollten auf den Rücken.

Marina Hoffmann entfuhr ein Schrei. Erneut wandte sie sich ab und rannte aus dem Zimmer.

Chris reagierte nicht. Er und Rokko starrten wie paralysiert auf die Leichen, aus deren geöffneten Bäuchen Schwärme von Ameisen emporquollen.

»Raus!«, brüllte Meißner. »Alle raus hier, bis wir die Sache im Griff haben!«

Chris benötigte einige Sekunden, um seinen Blick von dieser grausigen Präsentation zu lösen. Als es ihm schließlich gelang, den Schock zu durchbrechen, fiel es ihm nicht schwer, Meißners Anweisung zu befolgen.

 

Vor der Tür des Hauses angekommen, traf Chris auf Armin Pelzer und zwei seiner Streifenkollegen, die für die Absicherung des Tatorts sorgten und die zunehmende Anzahl an Schaulustigen auf Abstand hielten. Pelzer löste sich von der kleinen Gruppe und trat auf ihn zu.

»Wie macht sich Rebecca als Mutter?«, fragte er und grinste.

Chris verspürte keine große Lust, an diesem Ort mit dem Kollegen über sein Familienleben zu sprechen. Pelzer war Anfang fünfzig und Rebeccas Vorgesetzter auf der PI 2. Eigentlich war er ein brauchbarer Polizist, aber auch ein sexistisches Arschloch, der sich mit weiblichen Kolleginnen schwertat. Daher empfand er die Frage nach Rebeccas Befinden eher als einen Vorwand.

»Sie hält sich sehr gut«, meinte er kurz angebunden und wollte weitergehen.

»Muss ein ziemlich schlimmer Anblick da drin sein«, hielt Pelzer ihn zurück. »Wenn ich mich nicht täusche, dann war das gerade Ihre Beraterin, die Psychotante, die völlig aufgelöst nach draußen gerannt kam.«

Chris entdeckte Marina Hoffmann etwas Abseits in der Auffahrt des Hauses. »Ich kann im Moment auch nicht mehr sagen, als dass wir es mit einem Doppelmord zu tun haben«, erwiderte er, ohne ins Detail zu gehen. Ihm stand nicht der Sinn danach, Pelzers morbide Neugier zu befriedigen.

Der hob seine Dienstmütze an und kratzte sich am Kopf. »Ich frage mich nur, ob hier mal wieder ein Irrer in der Stadt sein Unwesen treibt. Ich will nicht noch einmal in eine Sprengfalle laufen, wenn wir zu einem Einsatz ausrücken.«

»Die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas noch einmal passiert, dürfte nahezu bei null liegen«, erwiderte Chris. »Im Übrigen weiß ich im Moment nicht viel mehr als Sie. Wir werden die Untersuchungen abwarten müssen. Und jetzt entschuldigen Sie mich.«

Er ließ Pelzer stehen und schritt die Auffahrt entlang.

»Geht es wieder?«, fragte Chris, als er Marina Hoffmann erreicht hatte. Sie hielt den Blick auf die Straße gerichtet, die von Fahrzeugen der Polizei und der Kriminaltechnik gesäumt wurde. Das Rauschen und Knacken von Funkgeräten war zu hören. Blaulicht tanzte über die dunklen Fassaden der angrenzenden Häuser und Vorgärten, als wolle man damit diese spießbürgerliche Idylle brandmarken.

»Ich brauchte frische Luft«, entgegnete sie, ohne ihn anzusehen. »Tun Sie mir einen Gefallen, wenn Sie mich das nächste Mal sehen wollen, laden Sie mich zum Essen ein.«

»Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?«

»Nein, danke« lehnte sie ab. »Ich möchte nichts zu mir nehmen, das aus diesem Haus stammt.« Sie drehte sich um und blickte zum Eingangsbereich, in den zwei Leichentragen geschoben wurden. »Wie können Sie so etwas nur jeden Tag ertragen?«

»Das da drin ist auch für mich nicht alltäglich.«

»Wirken Sie deshalb so angeschlagen auf mich?«

»Ich sagte doch, ich habe in letzter Zeit nicht genügend geschlafen.«

»Und daran waren nur die Zähne Ihres Sohnes schuld?«

Chris seufzte. »Ihnen kann man nichts vormachen.«

»Das ist eine Folge meines Berufs.«

»Eine Folge meines Berufs ist das Gefühl der Machtlosigkeit.« Er atmete tief durch, bevor er fortfuhr. »Letzte Woche hat jemand einen Stein von einer Autobahnbrücke geworfen. Eine junge Mutter und ihr Kind starben, als er bei voller Fahrt in die Windschutzscheibe ihres Autos einschlug. Nur drei Tage später schoss jemand aus dem Hinterhalt mit einem Kleinkalibergewehr wahllos auf Passanten. Vier Menschen wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Und erst gestern wurde ein Jugendlicher auf dem Nachhauseweg auf offener Straße fast zu Tode geprügelt. Er liegt im Koma und wird voraussichtlich nie wieder daraus erwachen. Das alles hat sich in der Nähe zugetragen. Und vermutlich werden wir die Verantwortlichen nie zu fassen kriegen, da es zu wenige verwertbare Hinweise und keine direkten Verbindungen zu den Opfern gibt.« Er sah zu dem Haus. »Und nun das hier. Sozusagen als krönender Abschluss dieser Woche.«

»Und diese Ohnmacht darüber verbittert Sie«, schlussfolgerte Doktor Hoffmann.

Chris blickte zu Boden. »Irgendwie kommt es mir vor, als würde die Menschheit ihren Verstand verlieren.«

Sie ging auf ihn zu und blickte ihm in die Augen. »Wir wissen beide, wie sehr Sie solche Dinge an sich heranlassen. Damit sollten Sie aufhören, wenn Sie nicht irgendwann in meiner Praxis sitzen wollen.«

»Wer weiß«, meinte Chris, »dann hätte ich endlich die Gelegenheit, Ihnen mein Herz auszuschütten.«

Sie lächelte zaghaft. »Mein Interesse gilt eher dem Blick in die Seele eines Menschen.«

»Und vermutlich sind Sie der Ansicht, Sie würden dort bei mir auf einige Abgründe stoßen.«

»Die findet man dort bei den meisten Menschen«, erwiderte sie in sich gekehrt.

»Und damit müssen Sie sich jeden Tag auseinandersetzen, nicht wahr? Offenbar neigen wir beide dazu, uns selbst zu stigmatisieren, um anderen zu helfen.«

»Mag sein. Vielleicht halten wir uns auch nur das Leid anderer vor Augen, um uns besser zu fühlen. Allerdings kann diese Form der Therapie auch nach hinten losgehen, wenn man dieses Leid zu sehr verinnerlicht.«

»Spricht da jetzt die Therapeutin aus Ihnen?«

»Das war nur ein gutgemeinter Rat unter Freunden.«

Chris vernahm Schritte hinter sich. Es war Rokko, der auf sie zukam. Selbst die karge Außenbeleuchtung konnte nicht verbergen, dass sein Gesicht die Farbe des weißen Overalls angenommen hatte.

»Hast du was erfahren können?«, fragte Chris.

»Da drin geht es ziemlich hektisch zu, wie du dir denken kannst«, entgegnete Rokko, strich sich die Haube vom Kopf und fuhr sich durch das verschwitzte Haar. »Dennoch konnte Thielmann einen Blick auf die Leichen werfen. Er hat den Todeszeitpunkt auf zwanzig bis achtundzwanzig Stunden eingegrenzt. Beide Opfer wurden vom Brustbein bis zum Schambereich aufgeschnitten. Anschließend hat der Täter ihnen die Ameisen im Bauch platziert. Meißner vermutet, er hat die Tiere dafür unterkühlt, um sie träge zu machen. Das hat ihm den nötigen Spielraum verschafft, um sie einzusetzen.«

Chris atmete durch. »Waren die Opfer zu dem Zeitpunkt schon tot?«

Rokko zuckte mit den Schultern. »Zumindest dürften sie aufgrund der Schlaftabletten bereits das Bewusstsein verloren haben.« Es war mehr eine stille Hoffnung als eine Vermutung.

»Schlaftabletten?«, fragte Marina Hoffmann neugierig.

»Ja. Wir fanden zwei leere Packungen davon. Auf mich macht es den Anschein, als hätte der Täter die Opfer gezwungen, die Tabletten zu schlucken, bevor ... Höchstwahrscheinlich wollte er sie den Qualen nicht aussetzen.«

»Demnach beruht die Tat nicht auf einem sadistischen Motiv.« Sie trat einen Schritt auf die beiden zu, wirkte jetzt neugieriger. »Die Verletzungen wurden nicht zur Schau gestellt. Sie dienten demnach nur dem Zweck, die Insekten dort zu platzieren.«

»Und wozu?«, fragte Rokko.

Sie wandte sich an Chris. »Sie sagten vorhin, die Opfer wurden räumlich voneinander getrennt, bevor man sie getötet hat.«

Chris nickte.

»Und Sie erwähnten eine Aufnahme, die den Opfern gezeigt wurde. Was war darauf zu sehen?«

»Nur die Opfer selbst.«

Für einige Sekunden wirkte sie nachdenklich.

»Glauben Sie, wir haben es mit einem beziehungsgestörten Täter zu tun?«, fragte Chris. »Jemand, der das Glück anderer Leute zerstören will?«

Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. »Oberflächlich gesehen könnte man es so interpretieren ...«

»Aber?«

»Die Art und Weise, wie die Leichen hergerichtet wurden, passt nicht zu dieser These. Jemand, der mutwillig etwas zerstören will, unternimmt anschließend nicht den Versuch, es wiederherzustellen.«

»Möglicherweise hat er seine Tat bereut und wollte sie ungeschehen machen.«

»Ein solches Verhaltensmuster passt auf Täter, die im Affekt handeln. Hier wurde sehr planvoll und zielgerichtet vorgegangen. Das Ganze macht auf mich eher den Eindruck, als ...«

»Als was?«, fragte Chris ungeduldig, nachdem sie erneut in Gedanken versank.

Sie sah ihn mit festem Blick an. »Wie Sie schon feststellten, wollte er den Opfern keine körperlichen Schmerzen zufügen. Er war auf etwas anderes aus. Daher hat er sie gezwungen, eine Überdosis Schlafmittel zu schlucken, indem er sie erpresst hat.«

»Und mit was?«, fragte Rokko.

»Mit ihrer Liebe füreinander.«

Rokko streifte sich durch den Kinnbart. »Sie meinen, er hat sie dazu getrieben, sich füreinander zu opfern?«

»Das würde die räumliche Trennung erklären«, meinte Chris, dem ein kalter Schauer über den Rücken lief, als er sich vorstellte, jemand hätte seine Familie in seiner Gewalt. Er würde nicht eine Sekunde zögern, sich für seine Frau und sein Kind zu opfern, in dem Glauben, dass sie dadurch überleben würden. »So konnte er sie gegeneinander ausspielen, die Stärke ihre Zuneigung testen. Aber wozu? Aus persönlichen Gründen? Eine unerwiderte Liebe vielleicht?«

Marina Hoffmann schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein, zumindest nicht in direktem Bezug zu den Opfern. Dann hätte er sich mehr auf eine der beiden Toten konzentriert. Ich denke, es geht ihm um das Gefühl der Liebe an sich. Eine solch starke Emotion wird hauptsächlich über den Bauchraum empfunden. Ein Kribbeln, als hätte man ...«

»... als hätte man Ameisen im Bauch«, vervollständigte Chris.

»Ja. Er wollte das Gefühl der Verbundenheit konservieren, es auf diese Weise verinnerlichen.«

Rokko entfuhr ein zischender Laut. »Wollen Sie uns weismachen, er studiert auf diese Art, was es heißt, verliebt zu sein?«

Marina Hoffmann nickte. »Ich denke, Sie suchen nach einem Täter, der nicht in der Lage ist, ein solches Gefühl zu empfinden.«

KAPITEL 3

 

 

 

Drei Tage später

 

Chris und Rokko saßen vor Meißners Schreibtisch, vor sich jeweils eine Kopie der kriminaltechnischen Analyse und des Obduktionsberichts.

»Thielmanns geschätzter Todeszeitpunkt hat sich bestätigt«, sagte Chris und blickte von dem Bericht auf, in den er vertieft gewesen war. »Und er deckt sich mit der zeitlichen Abfolge dieses Abends, die wir bis jetzt rekonstruieren konnten. Demnach waren die Opfer bis etwa dreiundzwanzig Uhr auf einer Geburtstagsfeier bei Freunden zu Gast. Diese Zeit wurde uns auch von dem Taxifahrer bestätigt, der die beiden vor ihrem Haus abgesetzt hat. Dort hat der Täter bereits auf sie gewartet.«

»Er muss von der Feier gewusst haben«, sagte Meißner, der auf seinem Stuhl saß und die Hände im Schoß verschränkt hielt, »da er einige Zeit für die Vorbereitung gebraucht hat.«

Chris nickte zustimmend. »Er muss sich mindestens eine Stunde früher dort aufgehalten haben. Und er muss mit Bedacht vorgegangen sein. In der Nachbarschaft ist jedenfalls niemandem etwas Verdächtiges aufgefallen. Die Tat war sorgfältig geplant.«

»Das beweisen die Insekten, die er in den Leichen platziert hat«, meinte Meißner. »Dabei handelt es sich um die Rote Waldameise. Ich muss euch sicher nicht sagen, dass diese Spezies hier in der Gegend weit verbreitet ist. Ihre Nester sind meist in der Nähe von Fichtenwäldern zu finden, da die Nadeln der Bäume den Tieren als Baumaterial dienen. Einige solcher Nadeln haben wir in den Leichen gefunden. Der Täter könnte also durchaus von hier stammen oder sich zumindest gut in dieser Gegend auskennen.«

»Das grenzt es nicht gerade ein«, murmelte Rokko, ohne von dem Bericht aufzuschauen.

»Ansonsten wäre da noch das Tatwerkzeug zu erwähnen. Eine scharfe Klinge, mit der man präzise Schnitte ausführen kann.«

»Ein Skalpell?«, fragte Chris.

»Durchaus möglich. Der Täter könnte aber ebenso gut ein Cuttermesser benutzt haben.«

»Und ihr habt nichts Vergleichbares in dem Haus gefunden?«

Meißner schüttelte den Kopf. »Da wäre noch etwas«, sagte er und kratzte sich am Kinn. »Die Schnitte sind nicht chirurgisch exakt, aber dennoch gekonnt ausgeführt worden. Auch die Art, wie der Täter vorgegangen ist, lässt auf eine gewisse Routine schließen.«

»Worauf willst du hinaus?«, fragte Chris, obwohl er die Antwort bereits ahnte.

»Wer immer das getan hat, hat vermutlich nicht zum ersten Mal gemordet.«

»Gibt es denn vergleichbare Fälle?«

»Dem LKA sind jedenfalls keine bekannt. Aber das muss nicht zwingend etwas bedeuten. Vielleicht hat der Täter eine Weile gebraucht, um seine Fantasien zu perfektionieren. Oder er hat sie zuvor an Tieren ausgelebt.«

Chris atmete durch. Das fehlte gerade noch.

»Moment mal«, meinte Rokko und setzte sich auf. »In dem Bericht steht, das Blut an der Wand stammt nicht von den Opfern.«

»Das ist richtig«, sagte Meißner.

Es trat eine kurze Pause ein. »Und?«, fragte Rokko und zuckte mit den Schultern. »Zu wem gehört es dann, und wieso steht hier nichts weiter dazu?«

Meißner atmete durch. »Das ist nur ein vorläufiger Bericht. Ich habe darin mit Absicht nichts Genaueres darüber erwähnt, weil ich es erst mit euch besprechen wollte.«

Nun beugte sich auch Chris nach vorn. »Tja, ich würde sagen, wir sitzen hier vor dir. Also lass dich nicht lange bitten.«

»Nun ja«, begann Meißner zaghaft, »ich habe hier im Labor einige Tests durchgeführt und herausgefunden, dass das Blut, mit dem das Symbol an die Wand gemalt worden ist, nicht mit den Blutgruppen der Opfer übereinstimmt. Daraufhin habe ich die Kollegen beim LKA informiert und denen ein wenig Druck gemacht. Das Ergebnis der DNA-Analyse liegt mir seit heute vor. Das ist auch der Grund, weshalb ich euch hierher bestellt habe.«

»Dann war die DNA registriert?«

»Ja«, sagte Meißner. Er zog ein Foto aus einer weiteren Akte und legte es vor Chris und Rokko auf den Tisch. Es zeigte das Konterfei eines Mannes mit kurzen, blonden Haaren vor einem grauen Hintergrund. Seine Augen waren klar, und sein Blick zeugte von Entschlossenheit.

»Das ist kein Polizeifoto«, meinte Rokko, als er die Aufnahme betrachtete.

»Der Mann ist nicht vorbestraft. Es handelt sich hier um ein privates Passbild.«

»Weswegen ist seine DNA dann registriert?«, fragte Chris.

»Aus ermittlungstechnischen Gründen. Der Mann wird seit etwas mehr als zwei Jahren vermisst. Seine DNA wurde aufgenommen, um sie mit einem eventuellen Leichenfund abzugleichen.«

»Wie es aussieht, ist er nicht tot. Um wen genau handelt es sich?«

»Um einen Mann aus Mayen.«

Chris betrachtete Meißner argwöhnisch. »Ist das alles, was ihr über ihn wisst?«

Meißner seufzte erneut. »Natürlich nicht. Deshalb wollte ich ja auch zuerst mit euch sprechen.« Er reichte Chris die Vermisstenakte.

Als der sie aufschlug und den Namen des Mannes las, stockte ihm der Atem.

KAPITEL 4

 

 

 

Am nächsten Tag

 

Auf dem Schreibtisch von Corinna Hartfels in ihrem Büro in der Thaerstraße in Wiesbaden stapelten sich die Akten, und in ihrem Postfach befanden sich etwa fünfzig Mails, die sie noch durcharbeiten musste. Polizeiarbeit bestand zu über neunzig Prozent aus Bürokratie. In besonderem Maße dann, wenn man als Bundesbehörde den zentralen Knotenpunkt länderübergreifender Kriminalistik darstellte. Nicht umsonst stand bei vielen ihrer Kollegen das Kürzel BKA insgeheim für Bürokratische Anstalt. Sie war gerade damit fertig geworden, eine Anfrage des Landeskriminalamtes Brandenburg zu beantworten, als das Telefon klingelte. Interne Leitung.

»Hier ist ein Anruf vom Polizeipräsidium Koblenz, ein gewisser Oberkommissar Bertram. Er meinte, es wäre dringend und nannte Ihren Namen.«

Sie hielt einen Moment inne. Etwas über ein Jahr war es her, seit sie Chris Bertram das letzte Mal gesehen hatte. Während ihrer damaligen Zusammenarbeit hatte sie ihn als kompetenten Kollegen schätzen gelernt, obwohl er viel zu emotional gestrickt war. Eine Eigenschaft, mit der sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsstörung – die allgemein als Gefühlsblindheit bezeichnet wurde – nur sehr schwer umgehen konnte. Dennoch respektierte sie ihn auf eine Weise, wie es unter Kollegen üblich war, die am selben Strang zogen, wenn auch mit unterschiedlichen Methoden.

»Stellen Sie durch.« Es knackte in der Leitung. »Hartfels«, meldete sie sich mit ihrer monotonen Stimme, in der wie üblich keinerlei Gefühlregung mitschwang.

»Hier spricht Chris Bertram.«

»Ich weiß, das sagte mir bereits die Mitarbeiterin in der Zentrale.«

Sie vernahm ein Schnaufen durch den Hörer, das sie als Lachen interpretierte.

»Was ist so komisch daran?«, fragte sie verunsichert.

»Nichts«, drang es in ihr Ohr. »Es ist nur ... ich muss mich wohl erst wieder an Ihre Art, mit Menschen umzugehen, gewöhnen. Wie ist es Ihnen in den letzten Monaten ergangen?«

Corinna Hartfels senkte die Augenbrauen. »Sie rufen mich an, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen?«

»Macht man das nicht üblicherweise unter Freunden?«

»Freunde?« Sie strich sich über die stramm nach hinten gebundenen Haare. »Wie Sie wissen, bin ich nicht besonders gut in solchen Dingen.«

»Sind Sie deshalb nicht zu meiner Hochzeit gekommen?«

Unverhofft sah sie die Einladung, die vor etwa zehn Monaten in ihrem Briefkasten gelegen hatte, vor ihrem geistigen Auge auftauchen. Eine weiße Klappkarte mit zwei goldenen Trauringen auf der Vorderseite. »Ich ... ich hatte viel zu tun.«

»Ja, ich verstehe schon. Und Sie haben recht, das ist auch nicht der Grund, weshalb ich Sie anrufe.«

»Geht es um einen Fall, an dem Sie arbeiten?«

»So könnte man es ausdrücken.«

»Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Indem Sie schnellstens hierher nach Koblenz kommen.«

Sie setzte sich aufrecht. »Wie stellen Sie sich das vor? Ich kann nicht einfach ...«

»Wir bearbeiten seit einigen Tagen einen zweifachen Mordfall, und im Laufe unserer Ermittlungen sind wir auf etwas gestoßen, das Ihre Anwesenheit hier erfordert.«

»Ich ... ich verstehe nicht. Um was genau handelt es sich?«

»Es geht um Ihren Bruder.«

KAPITEL 5

 

 

 

Keine vier Stunden nach dem Anruf stellte Corinna Hartfels ihren Mini auf dem Besucherparkplatz neben dem Präsidium in Koblenz ab. Die dortigen Räumlichkeiten waren ihr von ihrem letzten Besuch her noch geläufig, sodass sie geradewegs auf Bertrams Büro zuhielt. Die Tür stand offen. Bereits vom Flur aus erkannte sie Bertram und seinen Kollegen Roland Koch, die vor einer Pinnwand voller Tatortfotos standen. Neben den beiden befand sich noch ein weiterer Mann in dem Raum, der ihr unbekannt war. Sie schätzte ihn auf Mitte dreißig. Er trug ein blaues Hemd und Jeans. Seine kurzgeschorenen, dunkelblonden Haare wiesen bereits kahle Stellen über der Stirn auf.

»Hauptkommissarin Hartfels«, stellte Chris überrascht fest, als es an der offenen Tür klopfte. »So schnell hatte ich Sie nicht erwartet.«

Sie trat ein und reichte Chris steif die Hand. »Mein Vorgesetzter war sehr entgegenkommend, als ich ihm die Umstände erklärt habe«, meinte sie. »Er hat mich fürs Erste freigestellt.«

Chris erwiderte ihren Händedruck. »Das freut mich.«

»Ist eine Weile her«, sagte Rokko und grinste sie kauend an.

»Ja. Und wie ich sehe, frönen Sie immer noch dieser schlechten Angewohnheit.«

Rokkos Grinsen verebbte und er schluckte sein Kaugummi herunter.

»Wir kennen uns noch nicht«, sagte der Mann in dem blauen Hemd und reichte ihr ebenfalls die Hand. »Kriminalkommissar Peter Gerlach. Ich fungiere unter anderem als Koordinator zwischen den verschiedenen Abteilungen dieser Dienststelle.«

Sie ließ ihn unbeachtet stehen und näherte sich der Pinnwand. »Ist das der Mordfall, von dem Sie am Telefon gesprochen haben?«, fragte sie und deutete auf die Abbildungen der Opfer.

»Ja«, bestätigte Chris.

Hartfels ließ den Blick über die zwei Reihen aus Fotos gleiten, auf denen die Toten in verschiedenen Positionen und aus unterschiedlichen Winkeln abgebildet waren. Dabei verzog sie keine Miene. Erst als sie das Bild mit dem blutigen Symbol betrachtete, schlich sich eine leichte Unruhe in ihren Blick ein. Langsam entfernte sie den Magnetknopf, mit dem das Bild befestigt war, und nahm es an sich. Ihre Hand zitterte leicht.

Chris trat neben sie und wiederholte, was er ihr am Telefon bereits erläutert hatte. »Wir haben das Symbol an der Wand über dem Bett gefunden, in dem die beiden Opfer gelegen haben. Das Blut, mit dem es gezeichnet worden ist, stammt zweifelsfrei von Ihrem Bruder.«

»Zusammenhalt«, flüsterte sie mehr zu sich selbst, während sie weiterhin auf das Bild in ihrer Hand starrte. »Das ... das ist unmöglich.«

»Der DNA-Test wurde zweimal durchgeführt, beide Male mit demselben Ergebnis.«

»Dann muss das Ausgangsmaterial verunreinigt sein.«

»Das ist Blödsinn, und das wissen Sie.«

»Es ist natürlich plausibler, dass eine seit über zwei Jahren vermisste Person plötzlich wieder auftaucht und ohne erklärbaren Grund grausame Morde begeht.«

»Vielleicht ist ja genau das der Grund dafür.«

»Mein Bruder ist tot!«

Chris sah auf seinen Monitor, auf dem die elektronische Akte von Alexander Hartfels angezeigt wurde. »Offiziell gilt Ihr Bruder als vermisst. Bis heute wurde seine Leiche nicht ...«

»Es wurden Blutspuren in seinem Auto gefunden«, fiel ihm Hartfels ins Wort. »Blut, das eindeutig ihm zugeordnet werden konnte.«

»Und das jetzt an einem Tatort in Form dieses Symbols aufgetaucht ist.«

»Dann muss es jemand dort platziert haben.«

»Sie meinen also, jemand hat Ihren Bruder ermordet und sein Blut über zwei Jahre konserviert, um es jetzt bei einem weiteren Mord an eine Wand zu verteilen? Aus welchem Grund sollte jemand so etwas tun?«

Hartfels zögerte einige Sekunden. Ihr ausdrucksloser Blick schwenkte hektisch hin und her, als würde sie die Gedanken aller Anwesenden scannen. »Gegenfrage«, sagte sie. »Warum sollte er sich freiwillig zu erkennen geben, wenn er zwei Jahre lang untergetaucht war? Das ergibt für mich noch weniger Sinn. Ich habe den Bericht gelesen, den Sie mir gemailt haben. Der Täter hat keine anderen verwertbaren Spuren hinterlassen. Keine Haare, Fasern oder Hautschuppen. Und dann hinterlässt er so auffällig seine DNA? Da will Sie jemand gehörig verarschen. Und mich gleich mit.«

Chris deutete auf das Foto in ihrer Hand. »Und was hat es mit diesem Symbol auf sich, dass Sie offensichtlich so fasziniert?«

»Es ist eine Nachricht.«

»Und für wen?«

»Für mich«, sagte Hartfels, zog ihr Jackett aus und legte ihre Schulter frei. Darauf war eine winzige Tätowierung zu erkennen.

»Ich werd verrückt«, entfuhr es Rokko, als er auf das Tattoo blickte.

Es war das Symbol für Unendlichkeit.

KAPITEL 6

 

 

 

»Ich denke, es ist an der Zeit, dass Sie uns etwas mehr über Ihren Bruder erzählen«, sagte Chris. »Bis gestern wusste ich nicht einmal von seiner Existenz.«

»Ich sah aufgrund unserer damaligen Zusammenarbeit keinerlei Relevanz, Ihnen von meinen Familienverhältnissen zu erzählen.«

Chris seufzte. Derlei Verhalten war typisch für Corinna Hartfels. Ihre zwischenmenschlichen Fähigkeiten waren aufgrund ihrer Persönlichkeitsstörung nicht sonderlich ausgeprägt, und sie besaß die Feinfühligkeit eines Granitblocks. Für sie zählte nur ihre Arbeit. Obwohl Chris sie seit einem Jahr kannte, war ihr Privatleben ein unbeschriebenes Blatt für ihn.

»Nun, die Umstände haben sich geändert«, sagte er. »Aus seiner Akte geht hervor, dass er zum Zeitpunkt seines Verschwindens sechsunddreißig Jahre war. Er hat als Grundschullehrer in Mayen gearbeitet, wo er auch gewohnt hat.«

»Er hat gerne mit Kindern gearbeitet. Er konnte sich gut in ihre Psyche hineindenken. Nicht gerade die hervorstechendste Eigenschaft eines psychopathischen Killers.«

»Sie wissen so gut wie ich, dass die berufliche Orientierung oder das Auftreten eines Menschen nichts über dessen Gewaltpotential aussagt. Einige der schlimmsten Serienmörder wurden als äußerst intelligent und einnehmend beschrieben.«

»Mein Bruder war ein guter Mensch, der für andere einstand.«

»Im Besonderen für Sie, nicht wahr?«, sagte Gerlach.

Hartfels musterte ihn streng. »Wieso kenne ich Sie nicht? Sind Sie neu hier?«

»Nein, ich hatte letztes Jahr nur einige gesundheitliche Probleme.« Er deutete auf seinen Lendenbereich. »Bandscheibenvorfall.«

»Und woher glauben Sie dann, so viel über mich zu wissen?«

»Weil ich ebenso wie Sie ein Freund von Fakten bin. Und diese setzen sich zu einem gewissen Bild zusammen.«

Hartfels blickte abwechselnd in die Gesichter von Chris und Rokko. »Wovon redet er?«

Es war Rokko, der das Wort ergriff. »Die Kollegen haben damals sehr intensiv im Umfeld Ihres Bruders ermittelt.«

»Natürlich haben sie das«, meinte Hartfels stoisch. »Auch ich wurde damals befragt.«

»Und Sie haben ausgesagt, dass Sie ein sehr ausgeprägtes Verhältnis zu Ihrem Bruder hatten.«

Hartfels zögerte einen Moment. »Zumindest früher«, meinte sie. »Seit ich in Wiesbaden lebe und arbeite, habe ich kaum noch Zeit, und wir hatten uns aus den Augen verloren. Aber was hat das ...?«

»Sie haben auch angedeutet, Ihre Kindheit wäre nicht einfach gewesen«, fiel ihr Gerlach ins Wort. »Ein Punkt, den Sie damals nicht weiter ausführen wollten.«

Erneut betrachtete sie ihn ausdruckslos. Dabei zogen sich ihre Lider leicht zusammen. »Weil ich damals darin keine Verbindung zum Verschwinden meines Bruders gesehen habe«, antwortete sie. »Und das tue ich auch heute nicht.«

»Vielleicht täuschen Sie sich, was das betrifft.«

Ihre Augen wurden zu Schlitzen. »Wie war doch gleich Ihr Name?«

»Gerlach. Peter Gerlach.«

»Und er ist ein sehr kompetenter Kollege«, versuchte Chris den kleinen Disput zu schlichten. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass Corinna Hartfels jedem Ermittler, der nicht zu ihrem eigenen Umfeld gehörte, erst einmal mit Skepsis gegenübertrat, erst recht, wenn derjenige sie infrage stellte.

---ENDE DER LESEPROBE---