Düstere Legenden - Mike Vogler - E-Book

Düstere Legenden E-Book

Mike Vogler

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Beschreibung

Ob es die Blutbäder der Blutgräfin Elisabeth Báthory sind, Rasputins teuflische Ausschweifungen oder die nächtlichen Umgänge der Vampirprinzessin von Krumau: In einer einzigartigen Geschichtensammlung präsentiert der Autor noch nie erzählte Legenden und neue Einblicke in bekannte Sagen. Grauenerregende Geschehnisse, verschwundene Dörfer, düstere Machenschaften, faszinierende Einblicke in die historischen Hintergründe und schauerliche Sagen - das und viel mehr lädt zum wohlig-gruselnden Weiterlesen ein.

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DÜSTERE LEGENDEN

VONMIKE VOGLER

IMPRESSUM

Math. Lempertz GmbH

Hauptstraße 354

53639 Königswinter

Tel.: 02223 / 90 00 36

Fax: 02223 / 90 00 38

[email protected]

www.edition-lempertz.de

Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus zu vervielfältigen oder auf Datenträger aufzuzeichnen.

1. Auflage – Dezember 2014

© 2014 Mathias Lempertz GmbH

Printed and bound in Germany

ISBN: 978-3-945152-93-5

Text: Mike Vogler

Umschlaggestaltung: Ralph Handmann

Satz: Sarah Kassem

Lektorat: Laura Liebeskind

Titelbild: fotolia

Bildnachweis: ©Privatbesitz des Autors 3, 32, 34, 36, 37, 53, 57, 97, 127, 142, 161, 163, 215, 228, 233, 237, 246, 259, 262.

© fotolia: Xavier29 17, LianeM 35, 39, PL.TH 63, Leslie-Fotografics 91, derGrafiker.de 92-93, Kitty 95, velazquez 131, Balázs Czitrovszky 133, Jareso 143, TTstudio 147, nmann77 183, pcalapre 185, Luftbildfotograf 191, Andy Ilmberger 195, laviniaparscuta 197, Martina Berg 223, 227, 247, 261, Udo Kruse 226, villorejo 253; Rahmen und Hintergründe: jan stopka, suzannmeer, vectorace, oly5, digieye; Cover: Tamas Zsebok.

©:Kormin (CC BY-SA 3.0) 9, Melutopia (CC BY-SA 3.0) 11, Fototeca online a comunismului românesc 48, 51, Xϱήστης:Bήσσμα (CC BY-SA 3.0) 70, Bundesarchiv, Bild 102-00824 / CC-BY-SA 73, Bundesarchiv, Bild 102-00884 / CC-BY-SA 77, Bundesarchiv, Bild 102-00883 / CC-BY-SA 83, Tim Schredder (CC BY-SA 2.0 DE) 89, Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) 229

Font: Rothenburg Decorative

© Typographer Mediengestaltung, 2000. All rights reserved.

Mike Vogler wurde 1970 in Dresden geboren und lebt dort heute noch mit seiner Frau. Schon seit früher Jugend beschäftigt er sich mit geschichtlichen und grenzwissenschaftlichen Themen. Neben dem Heiligen Gral sind die Geschichte und Mythologie unserer germanischen Vorfahren seine bevorzugten Forschungsgebiete. Zu seinen Forschungsergebnissen erschienen bislang zwei Bücher. Neben seiner Arbeit als Verlagsautor veröffentlicht Mike Vogler in Eigenregie auch E-Books, ist an verschiedenen Anthologien zu den Geheimnissen der Menschheitsgeschichte beteiligt und schreibt Artikel für Fachmagazine.

Besuchen Sie den Autor auf seiner Webseitewww.mike-vogler.bplaced.de

DANKSAGUNG

An erster Stelle möchte ich mich natürlich bei meiner Frau Peggy bedanken, welche mich bei der Entstehung des vorliegenden Buches mit Rat und Tat unterstützt hat.

Außerdem möchte ich Teresa-Maria Kristan und Frank Lammering für die Bereitstellung von Bildmaterial danken.

Des Weiteren gilt mein Dank den Herren Dieter Füssel, Kai Machon und Friedrich Wauer, welche mir wichtige Informationen zu den Pestdörfern in der Sächsischen Schweiz geliefert haben.

INHALTSVERZEICHNIS

GILLES DE RAIS – DAS UNGEHEUER DER BRETAGNE

DIE PESTDÖRFER AN DEN ZSCHIRNSTEINEN

DER BEAN CLAN – DIE KANNIBALENFAMILIE VON SCHOTTLAND

CEAUŞESCU – DER ROTE VAMPIR

DIE BESTIE VON GÉVAUDAN

FRITZ HAARMANN – DER VAMPIR VON HANNOVER

DAS MATZEL – SCHUTZGEIST ODER SCHRECKGESPENST?

RASPUTIN – DER DÄMON RUSSLANDS

ELISABETH BÁTHORY – DIE BLUTIGE GRÄFIN

DAS STRAFGERICHT GOTTES – DER UNTERGANG VON PLURS

DIE VAMPIRPRINZESSIN VON KRUMAU

LUDWIG II. – GENIE ODER WAHNSINN?

DER MORDFALL HINTERKAIFECK

PAN DIETRICH – DER WILDE JÄGER

DER LÜGENBARON MÜNCHHAUSEN

DER LIEBESZAUBER DER SIBYLLA VON NEITSCHÜTZ

DER RATTENFÄNGER VON HAMELN

ANMERKUNGEN & LITERATURNACHWEIS

GILLES DES RAIS – DAS UNGEHEUER DER BRETAGNE

Am Morgen des 30. Mai 1431 wurde auf dem Place du Vieux Marché in der französischen Stadt Rouen ein Scheiterhaufen entzündet. Delinquentin war eine gewisse Jeanne d‘Arc, jene junge Frau, welche für einige Jahre die Geschicke Frankreichs maßgeblich beeinflusst hatte. Allerdings soll es in diesem Kapitel nicht um die legendäre Jungfrau Frankreichs gehen, sondern vielmehr um einen Mann, welcher mit versteinerter Miene der Hinrichtung beiwohnte. Jeanne d‘Arcs Leben war jedoch so eng mit der Person jenes Mannes verknüpft, dass ich ihre Hinrichtung an den Beginn meiner Ausführungen gesetzt habe. Bei der bewussten Person handelt es sich um Gilles de Montmorency-Laval, besser bekannt als Gilles de Rais, hochrangiger Adliger, französischer Marschall und gleichzeitig einer der bestialischsten Massenmörder der europäischen Geschichte.

Gilles de Rais’ Verbrechen waren so ruchlos, dass seine Person heute als historische Vorlage für „Das Märchen vom Ritter Blaubart“ gilt. Auf den ersten Blick scheint es jedoch keine glaubwürdige Verbindung zwischen dem historischen Gilles de Rais und der Märchengestalt des Ritters Blaubart zu geben. Blaubart ermordete seine jeweiligen Ehefrauen, wogegen Gilles ein Knabenmörder war. Eine Verbindung von beiden Personen erschließt sich erst, wenn man sich näher mit der schon kurz nach Gilles’ Hinrichtung einsetzenden Legendenbildung beschäftigt. Zum besseren Verständnis möchte ich an dieser Stelle eine beliebte bretonische Legende wiedergeben:

Die Ermordung und Folterung von Kindern in den Schlossgewölben.

„Müde vom Krieg gegen die Engländer hatte sich Messire Gilles de Laval in sein Schloss Rais zwischen Elven und Questembert zurückgezogen. All seine Zeit verfloss in Schwelgerei, Festen und Vergnügungen. Eines Abends kam auf dem Wege nach Morlaix ein Ritter, der Comte Odon de Tréméac, Herr von Krevent und anderen Orten, am Schloss vorbei; neben ihm ritt ein schönes junges Mädchen, seine Verlobte Blanche de L’Herminière. Gilles de Rais lud die beiden zur Rast ein und leerte mit ihnen ein Glas Würzwein. Dabei zeigte Gilles de Rais sich so unwiderstehlich und liebenswert, dass der Abend kam, ohne dass man an Aufbruch dachte. Plötzlich bemächtigten sich auf ein Zeichen des Burgherrn hin Bogenschützen des Comte Odon de Tréméac und warfen ihn in einen tiefen Keller; dann sprach Gilles zu dem jungen Mädchen, dass er sie heiraten wolle. Blanche vergoss Ströme von Tränen, derweil man die Kapelle mit tausend Kerzen erhellte, die Glocke fröhlich läutete und alles zur Hochzeit vorbereitet wurde. Blanche wurde zum Altar geführt; sie war bleich wie eine schöne Lilie und zitterte am ganzen Körper. Köstlich gekleidet und mit seinem Bart von schönstem Rot stellte Monseigneur de Laval sich neben sie: „Rasch, Messire Kaplan, verheiratet uns.“

„Ich will den Herrn nicht zum Gemahl!“ schrie Blanche de L‘Herminière.

„Ich aber will, dass man uns traut.“

„Tut es nicht, Herr Priester“, wiederholte das Mädchen schluchzend.

„Gehorcht, ich befehle es Euch!“

Als nun Blanche zu fliehen versuchte, nahm Gilles de Rais sie fest in die Arme.

„Ich werde dir“, sagte er, „den schönsten Schmuck geben.“

„Lassen Sie mich!“

„Ich gebe dir meine Schlösser, meine Wälder, meine Felder, meine Wiesen!“

„Lassen Sie mich!“

„Mein Leib und meine Seele seien dein!“

„Ich nehme an! Ich nehme an! Hörst du es wohl, Gilles de Rais? Ich nehme an, und von Stund an gehörst du mir.“ Blanche hatte sich augenblicks in einen azurblauen Teufel verwandelt, der nun neben dem Baron stand.

„Verflucht!“, schrie dieser.

„Gilles de Laval“, sagte der Dämon mit finsterem Gelächter, „Gott ist deiner Missetaten überdrüssig; du gehörst jetzt der Hölle, und von diesem Tag an wirst du ihre Livree tragen.“ Gleichzeitig machte er ein Zeichen und Gilles de Lavals Bart, der rot war, nahm eine tiefschwarze Färbung an. Das war nicht alles; der Dämon fuhr fort: „In Zukunft bist du nicht mehr Gilles de Laval; du wirst Blaubart sein, der schrecklichste der Menschen, ein Schreckbild für die kleinen Kinder. Dein Name wird in alle Ewigkeit verflucht und deine Asche nach deinem Tod in alle vier Winde gestreut werden, während deine garstige Seele in die Schlünde der Hölle hinabsteigen muss.“ Gilles schrie, dass er bereue. Der Teufel zählte ihm seine vielen Opfer auf, die sieben Ehefrauen, deren Leichname in den Grüften des Schlosses lagen. Er fügte hinzu: „Sir Odon de Tréméac, den ich in Gestalt von Blanche de L‘Herminière begleitete, reitet in diesem Augenblick auf der Straße von Elven in Begleitung aller Edelmänner aus Redon.“

„Und was wollen sie tun?“

„Den Tod derer rächen, die du getötet hast.“

„Also bin ich verloren?“

„Noch nicht, denn deine Stunde hat noch nicht geschlagen.“

„Wer wird die Edelleute aufhalten?“

„Ich, der ich deine Hilfe brauche, mein werter Ritter.“

„Du willst das tun?“

„Ja, ich werde das tun, denn lebendig wirst du mir tausendmal besser dienen als tot. Und jetzt auf Wiedersehen, Gilles de Rais; und denke immer daran, dass du mir mit Leib und Seele gehörst.“

Er hielt sein Wort, indem er das Einschreiten der Edelmänner aus Redon verhinderte; aber von diesem Augenblick an war Gilles nur noch unter dem Namen des Mannes mit dem blauen Bart bekannt.“1)

Auch wenn diese bretonische Geschichte noch so schön ist, müssen wir die Verbindung zwischen Ritter Blaubart und Gilles de Rais kritisch betrachten. Schon der französische Historiker Charles Petit-Dutaillis schrieb 1902: „Wir wollen nicht sagen, daß Gilles de Rais der Prototyp Blaubarts wäre. Das Märchen von Blaubart und seinen sieben Gattinnen scheint alten und volkstümlichen Ursprungs zu sein und hat an sich keine Analogie zu Gilles de Rais, der sich nur einmal verheiratet hat und von seiner Frau getrennt lebte; sicher aber ist, dass in der Bretagne und in der Vendée das Volk die Geschichte von Gilles de Rais und das Märchen von Blaubart miteinander verquickt hat.“2)

In der volkstümlichen Welt von Gilles’ ehemaligem Herrschaftsbereich sind die Geschichten von Ritter Blaubart aber seit jeher mit den Untaten des französischen Marschalls verbunden. Schon der Abbé Bossard, welcher sich Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Phänomen Gilles de Rais beschäftigte, schrieb: „Wir haben sehr viele alte Leute in der Gegend von Tiffauges, Machecoul oder Champtocé befragt. Der wirkliche Blaubart war oder ist für sie noch heute der Herr von Champtocé, darin stimmen ihre Erzählungen überein.“3)

So ist es auch noch heute. Voller Stolz zeigen die Bewohner von Tiffauges, Machecoul und Champtocé auf die Burgruinen in ihren Städten und erklären den staunenden Touristen, dass dort einst der gefürchtete Ritter Blaubart lebte.

Noch anzumerken sei, dass sich neben der Gleichsetzung von Gilles de Rais mit dem Ritter Blaubart des Märchens in der bretonischen Legende noch andere Aspekte der Legendenbildung verbergen. Gemeint ist die Gilles vorgeworfene Teufelsbeschwörung. In der von mir wiedergegebenen Legende gerät der Protagonist zwar eher zufällig in die Hände des Satans, doch ist anhand der Verhörprotokolle des Gerichtsprozesses gegen Gilles eindeutig nachgewiesen, dass jener auch Teufelsbeschwörung betrieb. Seinen unrühmlichen Bekanntheitsgrad „verdankt“ Gilles de Rais allerdings nicht seinen satanischen Beschwörungen, sondern vielmehr den Morden an einer Vielzahl von Knaben, welche er auf unvorstellbare Weise quälte, schändete und ermordete.

Was ließ aus einem angesehenen Marschall von Frankreich eine menschliche Bestie werden?

Verschiedene Historiker bescheinigen Gilles eine krankhafte Psyche. Dieser Sichtweise kann ich mich nur anschließen, möchte aber noch weitergehen und behaupten, dass der entscheidende Grundstein für Gilles pervertierten Charakter schon in dessen frühester Jugend gelegt wurde. Ich möchte an dieser Stelle jedoch in meinen Ausführungen nicht vorgreifen, sondern das Leben und die Untaten von Gilles de Rais chronologisch betrachten.

Das Schicksal schien es zunächst ziemlich gut mit Gilles zu meinen, denn unter ungewöhnlichen Umständen wurde ihm das Privileg zu Teil, in gewaltigem Reichtum und Machtfülle geboren zu werden. Jeanne de Chabot, die letzte Vertreterin des Geschlechts der de Rais, war kinderlos geblieben und sorgte sich um ihre immensen Reichtümer und Ländereien. Als einzigen Ausweg, ihre Familiendynastie zu erhalten, sah sie eine Adoption. Ihre Wahl fiel zunächst auf Guy de Laval aus dem traditionsreichen Adelsgeschlecht der Montmorency-Laval. Jenes Geschlecht führte seit dem frühen 14. Jahrhundert den Titel „Erste Barone von Frankreich“. Aus unbekannten Gründen löste Jeanne de Chabot die Verbindung zu Guy de Laval jedoch nach kurzer Zeit und setzte Catherine de Machecoul de Craon als Alleinerbin ein. Ich persönlich sehe Jean de Craon, den Sohn von Catherine de Machecoul, als Triebkraft hinter der verworrenen Erbschaftspolitik. Die Craons gehörten zu den bedeutendsten Adelsgeschlechtern der Provinz Anjou und Jean wollte den Einfluss seiner Familie auch auf die Bretagne ausweiten.

Gilles de Rais wurde 1404 auf Schloss Champtocé bei Angers geboren.

Der verschmähte Guy de Laval wollte aber keinesfalls auf die Güter der de Rais verzichten und strengte mehrere richterliche Prozesse gegen die de Craons an. Schließlich einigte man sich auf einen Vergleich. Guy heiratete Marie de Craon, Enkelin von Catherine de Machecoul und Tochter Jean de Craons. Der frischgebackene Ehemann nannte sich fortan Guy de Montmorency-Laval, Baron de Rais und brachte zudem seine Frau dazu, ihm vertraglich alle Rechte am Besitz der Familie de Rais abzutreten.

Im Jahr 1404 erblickte Gilles de Rais in Champtocé, dem Stammsitz der Craons, das Licht der Welt. Von dessen Geburt an war Jean de Craon regelrecht vernarrt in seinen Enkel. Craon musste Guy de Laval zähneknirschend als Schwiegersohn akzeptieren, mit seinem erstgeborenen Enkelsohn hatte er jedoch ganz eigene Pläne. Er wollte ihn in seinem Sinne erziehen und Gilles sollte einmal in der gewalttätigen Manier der Craons über deren Ländereien herrschen. Guy de Laval, ein eher feinsinniger und gebildeter Mensch, war vom Wesen seines Schwiegervaters von jeher abgestoßen. Um Gilles dem Einfluss von Jean de Craon zu entziehen, bezog die junge Familie 1407 die Festung Machecoul, wo im selben Jahr ihr zweiter Sohn René zur Welt kam. In Machecoul wurde der junge Gilles in die Obhut zweier geistlicher Lehrer gegeben, welche ihn auf Geheiß seines Vaters im Sinne des stolzen Geschlechts der Montmorency-Lavals erziehen sollten. Der Knabe machte gute Fortschritte und seinen Lehrern gelang es, in Gilles das Interesse an den „schönen Künsten“ zu wecken, was sich in dessen späterem Hang zur Musik und zur Literatur widerspiegelte.

Das Jahr 1415 sollte jedoch zur schicksalhaften Wende führen und Gilles’ Leben in eine Richtung lenken, die schlussendlich in seinem eigenen Untergang endete. In jenem Jahr starben Gilles’ Mutter und Vater im Abstand von nur wenigen Monaten. Testamentarisch war von Guy de Laval verfügt worden, dass sein Cousin Jean Tournemine de La Hunaudaye die Vormundschaft für Gilles übernehmen sollte. Außerdem war angedacht, dass die Priester Georges de La Bossac und Michel de Fontenay weiterhin die Erziehung des Knaben innehaben sollten. Jean de Craon scherte sich jedoch nicht um das Testament und nahm den Enkel in seine Obhut, wobei er gleichzeitig die Güter seines verstorbenen Schwiegersohns mit übernahm. Ebenfalls im Jahr 1415, genauer gesagt am 25. Oktober, fiel Jean de Craons einziger Sohn Amaury in der Schlacht von Azincourt. Dessen Tod sollte endgültig die Weichen für Gilles’ Zukunft stellen. Er war nun der Erbe eines gewaltigen Vermögens und gleichzeitig das Instrument der Interessen seines Großvaters. Als erwachsener Mann war Gilles später selbst davon überzeugt, dass die Erziehung durch Jean de Craon einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf seine späteren Missetaten gehabt hatte. Laut eigener Angaben, welche Gilles im Prozess machte, lag es „an der schlechten Führung in seiner Jugend, wo er sich zügellos seinen Gelüsten überlassen und sich in allen Schandtaten gefallen habe“, dass aus ihm später jener Mensch wurde, welcher ohne Moral und Gewissen unzählige Knaben missbrauchte, verstümmelte und ermordete.4)

Jean de Craon gehörte zu jener Sorte Adliger, die sich auf Grund ihres sozialen Status über dem Gesetz stehen sahen. Er galt als gewalttätig, habgierig, bar jeglicher Moral und hatte den Ruf, seine Interessen rücksichtslos durchzusetzen. Das Adelshaus Craon war eines der ältesten Geschlechter Frankreichs und stellte mit Robert de Craon sogar den zweiten Großmeister des Tempelritterordens. Jean de Craon galt neben dem Herzog als reichster Lehnsherr von Anjou. Seine Methoden, diesen Reichtum immer weiter zu vergrößern, ließen sich jedoch eher mit Raubrittertum vergleichen und hatten keinerlei Ähnlichkeit mit unseren heutigen romantischen Vorstellungen vom edlen Ritter. Craon schreckte auch vor Verbrechen nicht zurück, wenn es galt, sich Vorteile für seine Herrschaft zu sichern. Sein Vater, Pierre de Craon, war ein enger Vertrauter des Herzogs von Orléans gewesen, was der Familie eine gewisse Autonomie verlieh, welche Jean schamlos ausnutzte. Nach dem Tod seiner Kinder und des verhassten Schwiegersohns Guy de Laval sah Jean de Craon in Gilles den zukünftigen Erben der Familie de Craon, welcher in seinem Sinne erzogen werden sollte. Von frühester Jugend an wurde Gilles suggeriert, dass er einmal uneingeschränkte Macht über seine Untertanen haben würde und sich an keine Regeln und Gesetze halten brauchte, welche sonst für das menschliche Zusammenleben galten. Kinder können aus Unwissenheit mitunter sehr grausam sein, so dass es von jeher die Pflicht der Erwachsenen war, die jungen Menschen auf den rechten Weg zu bringen. Bei Gilles und seinem Großvater war es jedoch völlig anders. Jean de Craon ließ seinen Enkel die kindlichen Grausamkeiten bewusst ausleben und spornte ihn sogar noch an.

Das Château de Machecoul. Hier verbrachte Gilles de Rais seine Kindheit.

Doch Gilles entwickelte sich anders als von seinem Großvater erwartet. Der Junge war störrisch und verlor schnell den Respekt vor dem Familienoberhaupt. Im Alter von zwanzig Jahren forderte Gilles gar von Jean de Craon, dass ihm jener die Verwaltung über die Güter der Familie übertrage. Zu jener Zeit war Gilles bereits seit zwei Jahren verheiratet. Wie so oft in adligen Kreisen war es keine Liebesheirat, sondern diente ausschließlich dazu, die Ländereien und den gesellschaftlichen Einfluss der Familie de Craon zu vergrößern. Gilles hatte zudem frühzeitig homosexuelle Neigungen entwickelt und kein sonderliches Interesse an Frauen. So überließ er es seinem Großvater, nach potentiellen Heiratskandidatinnen zu suchen. Jean de Craon startete mehrere Versuche, eine standesgemäße Braut für seinen Enkel zu finden, welche jedoch alle fehlschlugen. Gegen Ende des Jahres 1420 verfiel Jean de Craon auf die absurde Idee, dass Gilles seine Cousine Catherine de Thouars entführen sollte. Die Ländereien von Pouzauges und Tiffauges, welche Catherines Familie gehörten, machten die junge Dame in Jean de Craons Augen zur idealen Ehefrau für Gilles. Nach der Entführung beraumte man sofort die Hochzeit an, welche jedoch wegen der Blutsverwandtschaft auf richterlichen Erlass sofort wieder aufgelöst wurde. Nach einigen advokatischen Winkelzügen wurde jedoch am 24. April 1422 die offizielle Hochzeit von Catherine und Gilles gefeiert. Die junge Braut brachte neben den beträchtlichen Ländereien ein gewaltiges Vermögen mit in die Ehe, so dass sich Gilles nun in der Position sah, seinem Großvater die Stirn zu bieten und vorzeitig die Verwaltung des Familienbesitzes zu fordern.

Um seinen ungestümen Enkel von dessen ehrgeizigen Plänen abzubringen, führte Jean de Craon ihn im Jahre 1425 am königlichen Hof ein. Angesichts des freundschaftlichen Verhältnisses seiner Familie zum Herzog von Orléans wurde Gilles am Hofe von Karl VII. in Chinon freundlich aufgenommen. Dort lernte Gilles auch seinen Vetter Georges de La Trémoille kennen, welcher zu seinem Mentor wurde. Am Hof hatte La Trémoille eine exponierte Stellung inne. Aus den Kreisen des einflussreichsten französischen Adels stammend, war La Trémoille frühzeitig in den Dienst von Karl VI. getreten und hatte schnell das Vertrauen des Monarchen gewonnen. Ab 1410 gehörte er dem königlichen Rat an und wurde 1413 zum Großkämmerer von Frankreich ernannt. Nach dem Tod Karls VI. im Jahre 1422 hielt La Trémoille treu zu dessen Sohn Karl VII., obwohl jener durch den Vertrag von Troyes zunächst von der Thronfolge ausgeschlossen war. Diese Treue widerspricht der Behauptung zahlreicher Autoren, dass La Trémoille von zügellosem Machthunger getrieben wurde. Obwohl Karl VII. politisch zunächst „kaltgestellt“ war, blieb La Trémoille am französischen Hof. Seine Treue wurde belohnt und ließ ihn schnell zum engsten Berater des zukünftigen Königs werden. Gilles de Rais konnte sich also keinen besseren Mentor wünschen, als er am Hofe Karls VII. erschien. La Trémoille hegte große Pläne mit seinem Vetter. Sein Ziel war es, den französischen Thron wieder mit dem Dauphin zu besetzen. Da die Engländer die Krone Frankreichs jedoch niemals freiwillig zurückgegeben hätten, war die Fortsetzung des sogenannten Hundertjährigen Krieges unausweichlich. Obwohl auf dem politischen Parkett ein glänzender Taktierer, sah sich La Trémoille den militärischen Angelegenheiten nicht gewachsen. Vielmehr betrachtete er seinen Vetter Gilles als den idealen Mann, in gehobener militärischer Position für die Sache Frankreichs zu kämpfen.

Karl VII. selbst war noch unschlüssig, seinen angestammten Platz auf dem Throne Frankreichs konsequent einzufordern. Jedoch kam eine glückliche Fügung La Trémoille im Frühjahr 1429 zur Hilfe. Ein siebzehnjähriges Bauernmädchen namens Jeanne d’Arc erschien am Hof in Chinon und verkündete, dass Gott ihr aufgetragen habe, dem Dauphin zu seinem Thron zu verhelfen.

Ob der vielen Bücher, welche bereits über Jeanne d’Arc veröffentlicht wurden, wäre es müßig, hier näher auf ihre Person einzugehen. Erwähnt werden sollte allerdings die Wirkung, welche jenes einfache Bauernmädchen auf den gestandenen Edelmann Gilles de Rais ausübte. Auf Grund seiner sexuellen Orientierung zu beiden Geschlechtern erschien ihm die knabenhafte junge Frau ungemein begehrenswert. Die Angewohnheit, Männerkleider zu tragen, verstärkte noch ihre androgyne Erscheinung, was sie für Gilles noch unwiderstehlicher machte. Bei jeder sich ergebenden Gelegenheit betonte Jeanne d’Arc, dass sie eine Jungfrau sei und Gott ihr aufgetragen habe, dass sie ihre Mission nur erfüllen könne, wenn sie auch weiterhin unberührt bliebe. Dieser Umstand erhob sie in Gilles’ Vorstellungskraft auf eine Art Thron der Unerreichbarkeit, so dass seine Verehrung für Jeanne der Art Zuneigung glich, wie sie Minnesänger für ihre Herzensdame empfanden.

Nachdem durch eingehende Prüfung weltlicher wie geistlicher Institutionen die Glaubwürdigkeit Jeanne d’Arcs bezeugt worden war, glaubte nun endlich auch Karl VII., den Thron Frankreichs erringen zu können. Gilles de Rais wurde zum persönlichen Leibwächter jener jungen Frau bestellt, welche angeblich das Schicksal Frankreichs in ihren Händen hielt. Das ungleiche Paar stritt von nun an Seite an Seite an vorderster Front gegen die Engländer. Obwohl es ein offenes Geheimnis war, dass Gilles für Jeanne d’Arc schwärmerische Gefühle hegte, ist nichts davon bekannt, dass seine Gefühle erwidert wurden. Die wichtigsten Protagonisten im Kampfe um die Krone Frankreichs verband allerdings eine tiefe Freundschaft. Jeanne nannte Gilles „ihren schwarzen Ritter“ und jener rettete ihr im Schlachtgetümmel mehrfach das Leben.

Mit der von Gott berührten Jungfrau als Anführerin schien die französischen Truppen ein völlig neuer Kampfesmut zu beflügeln. Zweifelloser Höhepunkt war die Beendigung der Belagerung von Orléans, welche bis heute als Wendepunkt des Hundertjährigen Krieges gilt. Hierbei tat sich Gilles de Rais militärisch besonders hervor, was ihn auch noch Jahre später dazu veranlasste, am Jahrestag der Schlacht in Orléans verschiedene sogenannte Mysterienspiele aufführen zu lassen, welche die Beendigung der Belagerung nachstellten.

Nach den militärischen Erfolgen über die englischen Besatzer war nun der Thron Frankreichs frei für Karl VII. Am 17. Juli 1429 ließ er sich in Reims zum König krönen. Gilles de Rais spielte bei den Krönungsfeierlichkeiten eine exponierte Rolle. Er erhielt den Auftrag, gemeinsam mit drei weiteren Edelleuten die „Heilige Ampulle“ mit dem Salböl aus der Abtei von Saint-Rémy zu holen, welches traditionell zur Salbung der französischen Könige verwendet wurde.

Die erste Amtshandlung von Karl VII. als neuer König war es, Gilles de Rais zum Marschall von Frankreich zu ernennen. Gilles’ steile militärisch-politische Karriere hatte ihren Höhepunkt erreicht. Der Titel des Marschalls von Frankreich wurde jeweils nur von zwei Edelleuten getragen, welche die militärischen Vertreter des Connétable von Frankreich waren, dem mächtigsten Mann nach dem König. Karl VII. versank nach seiner Krönung wieder in die gewohnte militärische Tatenlosigkeit und suchte vielmehr diplomatische Beziehungen zu seinen englisch-burgundischen Gegnern. Erst nach wiederholtem Drängen von Jeanne d’Arc rüstete er seine Truppen zur Eroberung von Paris. Die schon damals bedeutende Stadt wurde von Ludwig von Luxemburg gehalten. Er befehligte eine englisch-burgundische Streitmacht, die aus etwa dreitausend Mann bestand. Ludwig von Luxemburg war im Jahr 1425 vom Pariser Parlament zum Kanzler von Frankreich bestellt worden und galt als wichtigste Stütze der englischen Herrschaft in Frankreich.

Die Belagerung von Paris begann am 8.September 1429, wobei die französischen Truppen keine nennenswerten Erfolge erzielen konnten. Als dann Jeanne d’Arc noch von einem Armbrustbolzen am Oberschenkel verletzt wurde, sank die Kampfmoral der Franzosen ins Bodenlose. Bereits am 13. September wurden die Kampfhandlungen von Karl VII. persönlich abgebrochen. Durch die missglückte Eroberung von Paris verlor Jeanne d’Arc das Vertrauen des französischen Königs. Einige der Hauptleute, darunter auch Gilles de Rais, hielten ihr jedoch die Treue und konnten den König zu weiteren militärischen Interventionen gegen die Besatzer bewegen. Allen Anstrengungen zum Trotze konnten die französischen Truppen keine entscheidenden Siege mehr erringen. In der Schlacht um Compiègne wurde Jeanne d’Arc schließlich von den Burgundern gefangen genommen und einige Monate später an die Engländer ausgeliefert. Da jene in Jeanne d’Arc das Grundübel des französischen Widerstandes sahen, wurde durch den Herzog von Bedford ein Schauprozess gegen die junge Frau angestrengt. Der gegen Jeanne erhobene Vorwurf der Ketzerei war in jener Zeit so gut wie ein Todesurteil. Am 21. November 1430 stellte die Universität von Frankreich, zur damaligen Zeit das kirchenrechtliche Zentrum Frankreichs, beim König von England den Antrag, Jeanne d’Arcs Verurteilung der kirchlichen Justiz zu überlassen. Dem wurde entsprochen, jedoch nur unter der Voraussetzung, dass eine Verurteilung wegen Ketzerei stattfände. Ansonsten würde eine Rückführung Jeanne d’Arcs an den englischen König erfolgen. Der eigentliche Prozess begann im Februar 1431 in Rouen. Auf die Einzelheiten möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen, es sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass Gilles de Rais an mehreren Verhandlungstagen anwesend war. In romantisch verklärten Überlieferungen wird behauptet, dass Gilles insgeheim Pläne schmiedete, seine Angebetete zu befreien. Historisch kann dies allerdings nicht belegt werden. Das Ergebnis des Inquisitionsprozesses von Rouen ist wohlbekannt: Jeanne d’Arc fand am 30.Mai 1431 auf dem Scheiterhaufen den Tod.

An jenem schicksalhaften Tag muss in Gilles etwas zerbrochen sein. Enttäuscht zog er sich vom französischen Königshof zurück, wobei er jedoch noch einige Zeit lang seine militärischen Pflichten als Marschall von Frankreich erfüllte. Am 15. November 1432 traf Gilles mit dem Tod seines Großvaters Jean de Craon der nächste persönliche Schicksalsschlag. Von jenem Zeitpunkt an vernachlässigte Gilles geflissentlich seine Verpflichtungen der Krone gegenüber und kümmerte sich nur noch um die Verwaltung seiner Ländereien. Mit dem politischen Sturz seines Mentors Georges de La Trémoille im Jahre 1433 verlor Gilles de Rais seine letzte mentale wie moralische Stütze. Zudem hatte ihn bereits ein Jahr zuvor seine Frau Catherine verlassen, welche ohne großes Aufsehen auf ihren Familienbesitz in Pouzauges gezogen war. In jenen Jahren scheint Gilles jeglichen Halt im Leben verloren zu haben, da aus jener Zeit auch das Verschwinden der ersten Kinder bezeugt ist. Gilles zog sich immer mehr vom gesellschaftlichen Leben zurück und umgab sich stattdessen mit einer Clique von dubiosen Männern, die wahrscheinlich alle homosexuell waren und einen Hang zur Gewalttätigkeit hatten. Im Einzelnen waren dies seine beiden Vettern Guillaume de Sillé und Roger de Briqueville sowie die Kammerdiener Henriet und Poitou. Sillé und Briqueville waren in der Regel damit beschäftigt, die Knaben für Gilles zu besorgen, die Kammerdiener waren dann für das Beseitigen der Leichen zuständig.

Während der immer öfter stattfindenden abendlichen Orgien kam es zu zügellosem Alkoholkonsum und homosexuellen Ausschweifungen. War dann an manchen Abenden die Stimmung besonders aufgeheizt, zog es Gilles in jenes spezielle Kabinett, welches in jeder seiner Burgen vorhanden war. Die dort stattfindenden Grausamkeiten sind durch die Prozessaussagen von Gilles de Rais und seinen Kammerdienern hinlänglich bekannt. Ich möchte an dieser Stelle die ekelerregenden Details nicht unnötig ausbreiten. Es sei nur so viel gesagt, dass Gilles die Knaben folterte, sich sexuell an ihnen verging und sie schließlich wie im Blutrausch ermordete. Immer waren es Knaben im Alter zwischen 6 bis 16 Jahren, wohl gestaltet, mit schönen, oft femininen Gesichtszügen. Sillé und Briqueville waren ständig damit beschäftigt, besonders schöne Knaben für ihren Herrn ausfindig zu machen. Oft waren es elternlose Bettelkinder, aber es wurden auch Knaben als Diener oder Wirtschaftshilfen auf den Anwesen von Gilles verpflichtet, welche dann dem unsäglichen Treiben ihres Herrn zum Opfer fielen. Das Verschwinden der Bettelkinder blieb in der Regel unbemerkt. Anders war es schon bei den jungen Bediensteten. Deren Eltern wurden mit Ausreden beruhigt oder die Nachricht vom angeblichen Unfalltod der Sprösslinge mit einer ansehnlichen Geldsumme überbracht, um den Schmerz der Angehörigen zu lindern. Anscheinend spielte Gilles die Rolle des großherzigen Landesvaters hervorragend, denn obgleich sich die „Todesfälle“ im Kreise seiner Bediensteten häuften, gaben Eltern immer wieder mit Freuden ihre Kinder in seine Obhut. Die Hoffnung auf ein besseres Leben für ihren Nachwuchs ließ wohl bei vielen in Armut lebenden Menschen mögliche Zweifel verschwinden. Obwohl Gilles’ Spießgesellen immer darauf bedacht waren, die Taten ihres Herren zu verschleiern, machten immer öfter Gerüchte über spurlos verschwundene Kinder die Runde. Auch Gilles de Rais kamen jene Gerüchte zu Ohren, jedoch fühlte er sich in den ersten Jahren seines unsäglichen Tuns unangreifbar. Auf Grund seiner adligen Abstammung und der unorthodoxen Erziehung durch seinen Großvater scheint es fast so, dass Gilles glaubte, die üblichen Gesetze würden für ihn nicht gelten. Seine einstmalig exponierte Stellung am Königshof und der Rang des Marschalls von Frankreich hatten Gilles zudem Privilegien beschert, welche weit über den Einfluss des Adels und der Geistlichkeit hinausgingen. Dies war auch der Grund, warum die Gerichtsbarkeit in seinem Falle so zaghaft vorging, auch als seine Taten längst ruchbar geworden waren.

Über die Zahl der Opfer des Gilles de Rais gehen die Meinungen weit auseinander. Bis zu achthundert Morde wurden ihm zugeschrieben, was aber weit übertrieben scheint. Die moderne Geschichtsschreibung geht von ungefähr 140 ermordeten Kindern aus. Das deckt sich in etwa mit den Prozessaussagen des Kammerdieners Poitou, der zu Protokoll gab, an der Beseitigung von 126 Leichen beteiligt gewesen zu sein. In der Mehrzahl waren es Knaben, aber auch an einigen Mädchen soll sich Gilles de Rais vergangen haben, wobei er bei jenen „das natürliche Gefäß“ verschmähte, wie es in den Prozessakten pikant ausgedrückt wurde. Die nach Gilles’ Hinrichtung schnell einsetzende Legendenbildung, welcher auch die übertriebenen Opferzahlen entsprangen, trieb derart Blüten, dass schließlich behauptet wurde, er habe sogar schwangere Frauen ermordet.

Je tiefer sich Gilles im Sumpf aus exzessivem Alkoholmissbrauch, sexueller Perversion und blutrünstiger Gewalttätigkeit verstrickte, umso stärker trat seine nach außen getragene Frömmigkeit zu Tage. Im Frühjahr 1435 ließ Gilles de Rais in Machecoul eine Kapelle errichten, welche den „Unschuldigen Kindern von Bethlehem“ geweiht wurde. Hierfür stellte er eigens einen Vikar, einen Dechanten, einen Erzdechanten, einen Schatzmeister, einen Kanoniker, ein Stiftskapitel sowie Kollegium ein. Eine Menge „religiöses Personal“ für eine Kapelle, wohl eher für eine Kathedrale angebracht. Zudem ordnete Gilles an, dass seine Kleriker angemessene Bezüge, Renten und Besitzungen zur Deckung ihres Lebensunterhaltes erhielten. Schon eine ungewöhnliche Sache, da kirchliche Würdenträger in der Regel von der Kirche bezahlt wurden.

Es ist heute schwer zu sagen, ob Gilles’ übertriebenes religiöses Engagement nur Tarnung für seine abscheulichen Taten war oder ob er in klaren Momenten, in denen er nicht von seinen „Dämonen“ getrieben wurde, so etwas wie Reue empfand. Möglicherweise war es beides. Allerdings erwähnte er Sillé und Briqueville gegenüber, dass er eine Pilgerreise nach Jerusalem plane, um sich von seinen Sünden reinzuwaschen. Es scheint also auch ein gewisses Maß an Reue im Spiel gewesen zu sein, denn vor seinen Spießgesellen brauchte er sich nicht zu verstellen. Gilles’ übertriebene Frömmigkeit scheint angesichts seiner fürchterlichen Taten nahezu grotesk, ist jedoch das beste Beispiel für das religiöse Bild des Mittelalters. Durch die ständige Panikmache vor dem ewigen Fegefeuer legten die Menschen eine Religiosität an den Tag, die aus Angst und nicht aus Glauben geboren war. Aus diesem Grund verstießen die Menschen des Mittelalters auch ständig gegen die Zehn Gebote der Kirche, gingen anschließend zur Beichte und fühlten sich von allen Sünden reingewaschen.

Neben seiner übertriebenen Frömmigkeit trat bei Gilles de Rais mit den Jahren auch eine immer stärker werdende Verschwendungssucht zu Tage. Obwohl er einer der reichsten Männer Frankreichs war, hatte sich Gilles einen Lebensstil angewöhnt, der eher einem König oder Kaiser anstand. Beispielsweise begleitete ihn das bereits angesprochene Kollegium auf allen offiziellen Reisen, mit Personal also eine Entourage von etwa fünfzig Leuten. Seine klerikale Begleitung war zudem aus Repräsentationsgründen mit Gewändern aus feinstem Stoff und Pelz bekleidet, zudem reiste man natürlich auf den edelsten und teuersten Pferden. Zu Gilles’ Reisestab gehörte neben der Geistlichkeit natürlich auch eine angemessene militärische Begleitung. Zweihundert bewaffnete Reiter begleiteten den Edelmann, denen ein Wappenherold und mehrere Trompeter vorausritten. Rechnen wir noch Köche, Kammerdiener und diverse andere Bedienstete mit ein, war es also ein Tross von annähernd dreihundert Personen, welcher Gilles de Rais auf seinen Reisen begleitete. Nicht selten war noch sein Sängerchor dabei, welcher ein besonderes Steckenpferd von Gilles war. Schon in früher Kindheit hatte sich bei Gilles ja der Hang zu den „schönen Künsten“ gezeigt, welchen er auch nie verlieren sollte. Der Chor bestand nur aus Knaben, die noch vor ihrem Stimmbruch standen. An deren glockenhellen Stimmen konnte sich der Edelmann stundenlang ergötzen. Besonders herausragende Sänger wurden über die Maßen belohnt. Einem gewissen Rossignol vermachte er beispielsweise das Gut La Rivière, was dem Knaben und seinen Eltern ein unbeschwertes Leben sicherte.

Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orléans. Gilles de Rais’ Idealvorstellung einer Frau.

Auch bei den Händlern, die die Hofhaltung von Gilles verschiedenen Niederlassungen belieferten, war der freigiebige Landesherr äußerst beliebt. Grund war die Angewohnheit von Gilles, nicht nach den Preisen zu fragen, sondern die Waren nach Gutdünken zu bezahlen. So erhielten die Händler oft den doppelten oder dreifachen Preis, mitunter soll Gilles sogar das Zehnfache des eigentlichen Wertes gezahlt haben. Unter den Händlern entwickelte sich mit der Zeit ein regelrechter Wettstreit, wer die besten Waren an Gilles’ Hof lieferte. Gilles’ zügellose Freigiebigkeit hatte sich schnell herumgesprochen, so dass sich bei seinen fast allabendlich stattfindenden Festmahlen immer öfter zahlreiche Gäste aus der Umgebung einfanden, welche aus fadenscheinigen Gründen die Anwesen des Landesherrn aufsuchten. Bei der Wahl seiner Tischgäste soll Gilles nicht sehr anspruchsvoll gewesen sein, ihm ging es in erster Linie darum, seinen Reichtum zu präsentieren. Wenn es auch den Anschein hat, dass hinter Gilles’ Verschwendungssucht ein fast krankhafter Geltungsdrang stand, könnte ich mir vorstellen, dass es noch andere Gründe dafür gab, dass der Edelmann sein gewaltiges Vermögen mit vollen Händen aus dem Fenster warf. Obwohl Gilles de Rais von unbändigem Standesdünkel durchdrungen war und glaubte, er müsse seine Untaten nur vor Gott rechtfertigen, spürte er womöglich, dass sein Leben sich in einer Abwärtsspirale befand und sich unvermeidlich auf einen Abgrund zubewegte. Seine innere Stimme flüsterte ihm wohl zu, dass kein Geld der Welt ihn von seinen Untaten reinwaschen konnte. Warum sollte er also nicht das Vermögen verprassen?

Obwohl Gilles de Rais Erbe eines gewaltigen Vermögens war, leerten sich bei seiner an den Tag gelegten Verschwendungssucht recht schnell die Kassen. Den endgültigen finanziellen Ruin sollten jedoch die sogenannten „Mysterienspiele vom Orléans“ im Jahre 1435 bringen. Wie jedes Jahr feierte die Stadt Orléans am 8. Mai ihre Befreiung von den Engländern. Für die Feierlichkeiten von 1435 hatte sich Gilles de Rais in den Kopf gesetzt, der Volksheldin Jeanne d’Arc ein künstlerisches Denkmal zu setzen. Die üblichen Prozessionen während der Feierlichkeiten ließ Gilles mit den erwähnten Mysterienspielen ausschmücken. In diesen religiös geprägten Aufführungen wurde das von Gott berührte Bauernmädchen zu einer göttlichen Sendbotin hochstilisiert und der Sieg der französischen Truppen als eine Art göttliche Fügung dargestellt. Da die allgemeinen Feierlichkeiten die Stadtkasse schon enorm belasteten, bestritt Gilles die Ausgaben für die Mysterienspiele komplett aus eigener Tasche. Er ließ für die Darsteller neue, kostbar ausgestattete Gewänder herstellen, welche allerdings niemals zweimal getragen werden durften. Während der Darbietungen wurden die Zuschauer mit erlesenen Speisen und den edelsten Weinen verköstigt. Zudem ließ Gilles über den Zeitraum der gesamten Feierlichkeiten Almosen an die Armen verteilen.

Wenn die von Gilles de Rais veranstalteten Schauspiele in erster Linie die Erinnerung an Jeanne d’Arc wachhalten sollten, waren sie jedoch auch von Eigennutz geprägt. Gilles’ Ansehen als Marschall von Frankreich und königlicher Berater war mit der Zeit verblichen. Die Feierlichkeiten von 1435 sollten an seine exponierte Stellung während der Befreiungskriege erinnern und seinen Ruf als engsten Vertrauten der Volksheldin Jeanne d’Arc im kollektiven Gedächtnis des französischen Volkes erneuern. Das gelang Gilles de Rais bravourös, allerdings waren nach den Feierlichkeiten von Orléans seine Kassen leer. Natürlich war es nicht so, dass Gilles jetzt völlig mittellos war. Allerdings hätte er seinen Lebensstil drastisch einschränken müssen, was für den prunksüchtigen Edelmann natürlich nicht in Frage kam. Schon seit längerem hatte Gilles sein ausschweifendes Leben mit Hypotheken, Landverkäufen, Schuldverschreibungen und ähnlichen Mitteln finanziert.

Gilles ’ verzweifelte Versuche, seinen finanziellen Ruin aufzuhalten, nahmen seit jener Zeit seltsame Formen an. Der Edelmann nahm verschiedene Alchemisten in seinen Dienst und richtete diesen bestens ausgerüstete Labore ein. In jener Zeit war man noch fest davon überzeugt, aus unedlen Metallen Gold herstellen zu können. Anders als heute war die Alchemie ein anerkannter Wissenschaftszweig. Doch so sehr sich die von Gilles verpflichteten Männer bemühten, es war ihnen kein Erfolg beschert.

Nachdem der Versuch von Gilles’ Alchemisten, den „Stein der Weisen“ finden zu wollen, gründlich daneben gegangen war, verfiel der Edelmann auf die absurde Idee, mit den dunklen Mächten paktieren zu wollen, welche ihm zu neuen Reichtum verhelfen sollten. Sillé und Briqueville wurden beauftragt, einen Dämonenbeschwörer anzuheuern. Nach einigen Fehlschlägen mit solcherlei Leuten aus der näheren Umgebung, welche sich als Gaukler und Possenreißer herausstellten, schien im Frühjahr 1439 der ideale Mann gefunden zu sein. Der Priester Eustache Blanchet, welcher zu Gilles de Rais’ religiösem Stab gehörte, hatte auf seinen ausgedehnten Reisen in Florenz den ehemaligen Geistlichen Prelati getroffen, welcher sich vorgeblich bestens auf Dämonenbeschwörung verstand. Jener Prelati, von der Aussicht auf reiche Belohnung angestachelt, erklärte sich sofort bereit, Blanchet nach Frankreich zu begleiten. Prelati war eine undurchsichtige Persönlichkeit. Laut eigenen Angaben hatte er zunächst Theologie studiert, sich dann aber anderen Künsten und Wissenschaften wie Poesie, Geomantie und auch Alchemie zugewandt. In allen diesen Fachbereichen hatte er es selbstredend zur Meisterschaft gebracht, was uns allerdings maßlos übertrieben erscheinen muss. Prelati war etwa 21 Jahre alt, als er in den Dienst von Gilles de Rais trat, zu jung, um mehrere Studiengänge absolviert zu haben. Jedoch muss er in seiner Jugend eine gute Erziehung genossen haben, denn er sprach neben Latein mehrere Fremdsprachen. Prelati war ein Hochstapler, ein Scharlatan, wurde aber nichtsdestotrotz von Gilles de Rais mit Begeisterung aufgenommen. Der junge Italiener war von einnehmendem Wesen und zudem ein guter Schauspieler. Mit glühenden Worten schilderte er seinem neuen Herren seine bisherigen Kontakte zur dunklen Welt, so dass Gilles schnell felsenfest davon überzeugt war, nun endlich den richtigen Mann gefunden zu haben, welcher ihm sein verschleudertes Vermögen zurückbringen konnte. Gilles ließ für Prelati eine Art Arbeitszimmer einrichten, wo die Dämonenbeschwörung vonstatten gehen sollte. Prelati verwandelte jenes Zimmer mit Geschick in eine Art „Hexenküche“, bedeckte Wände und Boden mit rituellen Symbolen und veranstaltete täglich seine Beschwörungen, welche vorgeblich auch von schnellem Erfolggekrönt waren. Er berichtete seinem Herren von einem dämonischen Wesen, zu welchem er Kontakt aufgenommen hatte. Jenes Wesen sei jedoch sehr launisch und wollte sich auf keinen Fall dienstbar machen lassen. Gilles belohnte seinen „Hexenmeister“ mit immer größer werdenden Geldgeschenken, worauf dieser seinen Hokuspokus immer weiter auf die Spitze trieb. Gilles wurde jedoch langsam ungeduldig, da Prelati im Endeffekt keine wirklichen Ergebnisse lieferte. Jener vertröstete den Edelmann jedoch weiterhin auf seine bewährte Art und ließ es sich an Gilles’ Hofe gut gehen. Prelatis Scharlatanerie kam zugute, dass Gilles de Rais zwar verzweifelt versuchte, seine desaströsen finanziellen Verhältnisse mit schwarzer Magie zu verbessern, aber nie ernsthaft wagte, direkten Kontakt mit der dunklen Welt aufzunehmen. Bei den von Prelati veranstalteten Possen zur Dämonenbeschwörung war Gilles selten persönlich anwesend. Er zog es vor, vor verschlossener Türe zu warten. Ein Glücksfall für den selbsternannten Magier, welcher sich so lange Zeit an seinem Dienstherren bereichern konnte und in Gilles’ Anwesen ein sorgloses Leben führte. Es wurde zur Gewohnheit, dass der von Prelati als Barron bezeichnete Dämon durch Abwesenheit glänzte, sobald der Hausherr anwesend war. Stattdessen erschien er unverzüglich, sobald Prelati die Beschwörung allein vollzog. Damit sein Dienstherr ob der augenscheinlichen Scharlatanerie nicht misstrauisch wurde, bediente sich Prelati verschiedener Tricks. Er imitierte Stimmen, verursachte Lärm und warf Möbel um. Der vor Angst zitternde Gilles stand derweil vor dem verschlossenen Zimmer und lauschte dem vermeintlichen unheimlichen Tun. Alsbald erschien Prelati dann mit unordentlicher Kleidung und zerzausten Haaren, um von der Begegnung mit Barron zu berichten. Als das Treiben einmal besonders arg schien, nahm Gilles allen Mut zusammen und betrat das Zimmer. Er fand den verletzten Prelati am Boden, der ihm versicherte, dass Barron während dieser Beschwörung besonders bösartig gewesen sei und sich vehement geweigert habe, seine dämonische Macht in den Dienst von Gilles zu stellen. Der Scharlatan verfiel auf die Idee, dass möglicherweise ein Blutopfer den Dämon würde umstimmen können. Hühner und Tauben verschmähte dieser jedoch, worauf Prelati von Gilles ein Menschenopfer forderte. In seiner Verblendung ließ der Edelmann von seinen Spießgesellen einen Knaben ermorden und übergab Prelati Herz, Augen und Blut des unglücklichen Kindes. Da Prelati nun die Möglichkeiten erschöpft sah, seinen Dienstherren hinzuhalten, überreichte er Gilles einen Beutel mit schwarzem Pulver, welches von Barron stammen sollte. Gilles de Rais trug jenes Pulver wochenlang bei sich, wie es ihm der angebliche Dämon aufgetragen hatte. Da sich auch mit diesem Hokuspokus verständlicherweise nichts an Gilles’ finanzieller Misere änderte, wurde jener zunehmend ungeduldig und forderte Ergebnisse von Prelati. Dieser verfiel auf den Ausweg, dass Gilles einen Brief an Barron schreiben sollte, worin der Edelmann den Dämon nach seinen Wünschen fragte. Gilles schrieb diesen Brief, schloss aber vorsichtigerweise den Verkauf seiner Seele und die Verkürzung seines Lebens aus. Das schien dem Dämon wohl nicht akzeptabel, denn Gilles erhielt seinen Brief zurück und Barron erschien auch Prelati nicht mehr. Gilles de Rais verlor nun das Interesse an der Dämonenbeschwörung. Immerhin war es Prelati gelungen, den Edelmann an die anderthalb Jahre zu täuschen. Das mag uns sehr ungewöhnlich erscheinen, hatte allerdings noch andere Gründe. Prelati, ebenfalls homosexuell, hatte schnell die gleichgeschlechtliche Veranlagung seines Herrn erkannt und beide wurden ein Liebespaar. Gilles verfiel dem charmanten jungen Mann zusehends und ließ sich daher von dessen Tricks so lange täuschen.

Nachdem der Versuch, mit Hilfe von schwarzer Magie sein Vermögen zurückzugewinnen, gründlich gescheitert war, verlegte sich Gilles de Rais verstärkt darauf, Teile seiner immensen Ländereien zu verkaufen, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Er ging sogar noch einen Schritt weiter und begann, Grundbesitz zu veräußern, welcher sich von Rechts wegen im Besitz der Familie de Laval befand, ohne seine Verwandten um Zustimmung zu bitten. Jene wurden durch Gilles’ Verhalten natürlich umgehend auf den Plan gerufen und versuchten mit allen Mitteln, das Familienerbe zu retten. Hierbei taten sich vor allem Gilles’ Bruder René de La Suze sowie sein Vetter André de Laval-Lohéac hervor. Deren Versuche, Gilles zunächst mit diplomatischen Mitteln zur Vernunft zu bringen, scheiterten jedoch kläglich. Da es nicht möglich schien, den verschwenderischen Verwandten zur Vernunft zu bringen, reichte die gesamte Familie, einschließlich der getrennt lebenden Ehefrau Catherine, ein Gesuch beim französischen König ein. Jenem Gesuch wurde stattgegeben. Am 2. Juli 1435 erließ Karl VII. eine Verordnung, in welcher Gilles de Rais jegliche Veräußerung von Familienbesitz auf französischem Boden untersagt wurde. Immerhin ein Teilerfolg, allerdings lag ein großer Teil der Besitzungen im Hoheitsgebiet von Johann V., dem Herzog der Bretagne. Jener scherte sich wenig um die Belange von Gilles’ Familie. Vielmehr gehörte er zu den Nutznießern von Gilles’ finanziellen Problemen. Ein weiterer Nutznießer war Jean de Malestroit, der Bischof und Kanzler der Bretagne, welcher später zum Richter über Gilles de Rais werden sollte. Da Malestroit die Schlüsselfigur im Prozess gegen Gilles war, werde ich an späterer Stelle noch einmal genauer auf seine Person eingehen. Herzog und Kanzler brachten mit einer Mischung aus List, Schmeicheleien, falschen Versprechungen und Lügen Gilles de Rais dazu, ihnen weitere Besitzungen zu verkaufen. Johann V. ging sogar so weit, Gilles zum Generalleutnant der Bretagne zu ernennen. Jener fühlte sich geschmeichelt, ahnte jedoch nicht, dass seine vorgeblichen Freunde bereits an seinem Untergang arbeiteten.

Gilles’ Verwandte mussten fassungslos mit ansehen, wie immer größere Teile des Familienerbes den Besitzer wechselten. René de La Suze und André de Laval-Lohéac entschlossen sich schließlich zu drastischen Maßnahmen, um die Burgen und Ländereien der Familie zu retten. Sie besetzten mit ihren Soldaten zunächst die Burg Champtocé, um diese vor der Veräußerung zu bewahren. Die Bestrebungen der beiden Männer beeindruckten Gilles jedoch wenig: Im Januar 1438 verkaufte er die besetzte Burg an Johann V. Bevor der Herzog Champtocé in Besitz nahm, setzte Gilles de Rais alles daran, die Burg noch einmal kurzfristig in seine Hand zu bekommen. Er verhandelte im Geheimen sogar mit seinem Bruder. René de La Suze erhielt schließlich siebentausend Goldtaler sowie die Ortschaft La Mothe-Archard. Man inszenierte einen abgekarteten Handstreich, in dem Gilles’ Männer die Burgbesatzung überwältigten.

Was zunächst unsinnig erscheint, hatte für Gilles einen triftigen Grund. In einem Turm der Burg waren die Überreste von etwa 40 ermordeten Kindern versteckt. Obwohl sich Gilles als Adliger für so gut wie unangreifbar hielt, konnte er sich doch lebhaft ausmalen, was geschehen würde, wenn die Männer des Landesherren die Kinderleichen entdecken würden. Nur wenige Tage vor der Übernahme Champtocés durch Johann V. schickte Gilles seine treuen Spießgesellen zu der Burg und ließ im Schutze der Dunkelheit die Skelette nach Machecoul bringen. Da Gilles auf dieses Anwesen ebenfalls einen Angriff seiner Verwandtschaft fürchtete, wurden die dort versteckten Kinderleichen zusammen mit denen aus Champtocé verbrannt. Aus den Verhörprotokollen des Dieners Poitou geht hervor, dass aus Champtocé 46 Skelette fortgebracht wurden, welche gemeinsam mit den etwa 80 Skeletten aus Machecoul vernichtet wurden. Das macht insgesamt 126, was der allgemein gültigen Opferzahl von 140 bedauernswerten Kindern schon recht nahekommt. Gilles’ Vorsicht war nicht unbegründet, sein Bruder nahm tatsächlich die Festung Machecoul ein. Allerdings waren Gilles’ Helfer nicht gründlich genug gewesen. La Suzes Männer entdeckten noch die sterblichen Überreste von zwei Knaben, eine Tatsache, welche die Gerüchte über Gilles’ Untaten weiter anheizten. Obwohl sich Gilles de Rais vor der weltlichen Gerechtigkeit wenig fürchtete, hatten doch die Mühlen des Gesetzes schon vor längerer Zeit begonnen zu mahlen. Das sich häufende Verschwinden von Kindern, in der Mehrheit Knaben, war in der Bevölkerung nicht unbemerkt geblieben. Um Bettel- und Waisenkinder wurde kein großes Gewese gemacht, es waren aber vermehrt auch Kinder aus intakten Familien, welche spurlos verschwanden. Sicherlich kam es vor, dass Kinder von zu Hause ausrissen, welche sich Vagabunden oder Gauklern anschlossen. Die sich mehrenden Fälle hatten jedoch Bevölkerung und Obrigkeit sensibilisiert. Schon seit längerem war Gilles des Rais in den Verdacht geraten, mit dem Verschwinden der Kinder in Verbindung zu stehen. Grund dafür war das unerwartete Ableben vieler seiner jungen Diener. Gilles’ Schergen, Sillé und Briqueville, waren immer auf der Suche nach neuen Opfern für ihren Herrn. Sie gaukelten den Eltern die schillernde Zukunft ihrer Sprösslinge am Hofe Gilles de Rais’ vor. Jene Eltern gaben ihre Kinder dann bereitwillig in die Hände dieser gewissenlosen Männer. Die Knaben wurden zunächst auf Gilles’ Anwesen verwöhnt, bekamen schöne Kleider und durften sogar mit den Herren am Tisch speisen. So mancher Knabe, welcher sich zunächst im Himmel wähnte, sah sich kurz darauf mit der Hölle konfrontiert. Wenn dann die Eltern der bereits ermordeten Knaben zu Gilles’ Anwesen kamen, um ihre Kinder zu besuchen, wurde ihnen weisgemacht, dass sich jene gerade auf einer der anderen Burgen von Gilles befanden. Nach mehrmaligem Hinhalten wurde den Eltern dann mitgeteilt, dass ihre Kinder unerwartet verstorben oder einem tödlichen Unfall zum Opfer gefallen waren. Die unglücklichen Eltern wurden mit einer großzügigen finanziellen Entschädigung bedacht, was die meisten ruhigstellte. Doch die plötzlichen Todesfälle und Unfälle häuften sich derart, dass Gerüchte über das unheimliche Treiben auf Gilles’ Burgen die Runde machten.

Da sich die Beschwerden über das Verschwinden von Kindern mit den Jahren gehäuft hatten, war der Kanzler Jean de Malestroit von Johann V. beauftragt worden, dem Verdacht nachzugehen. Beide Männer agierten mit Sicherheit nicht uneigennützig, da bei einer Verurteilung von Gilles dessen persönliche Besitzungen an die Obrigkeit fallen würden. Wir wissen heute, dass Malestroit schon des Längeren über Gilles’ Untaten im Bilde war. So lange der Edelmann noch über attraktive Besitzungen verfügte, für die sich Malestroit interessierte, ließ er Gilles gewähren. Was kümmerten den Kanzler schon einige weitere ermordete Knaben, wenn wertvolle, günstig zu erwerbende Ländereien winkten? Denn obwohl Kanzler der Bretagne und zudem Bischof von Nantes war Jean de Malestroit ein skrupelloser Mensch, der nur an seinen Vorteil dachte. Aus gutem Hause stammend, war es für den zielstrebigen Malestroit leicht, in eine Schlüsselposition am Hofe von Johann V. zu gelangen. Obwohl wenig religiös, schlug Malestroit aus taktischen Gründen frühzeitig die geistliche Laufbahn ein. Im Jahr 1405 wurde er zum Bischof von Saint-Brieuc ernannt. Aus dieser Position heraus häufte er in der Folgezeit eine Vielzahl von geistlichen wie weltlichen Ämtern an. Er wurde in den „Großen und Geheimen Rat“ des Herzogs berufen und auf Grund seines Rufes als Finanzexperte mit weiteren wichtigen Ämtern betraut, welche die finanziellen Belange des Herzogtums regelten. Seit 1406 war er Generalgouverneur der Finanzen und ab 1408 gar Präsident des Rechnungshofes. Seinen kometenhaften Aufstieg verdankte Malestroit nicht zuletzt der Tatsache, dass Johann V. noch sehr jung war, als er zum Herzog berufen wurde. Der junge Herzog vertraute seinem Ratgeber fast blind, ohne zu ahnen, dass jener nur aus selbstsüchtigen Gründen agierte. Verschiedene Historiker sind sogar der Ansicht, dass Malestroit der eigentliche Herrscher der Bretagne war und den Herzog wie eine Marionette dirigierte.

Ab Juli 1440 begann sich die Schlinge des Gesetzes enger um Gilles de Rais zu schließen. Anscheinend hatten sich der Herzog und sein Kanzler alle ihnen wichtig erscheinenden Besitzungen des Edelmannes angeeignet, denn am 28. Juli 1440 veröffentlichte Malestroit offiziell die Resultate der bis dahin verdeckt geführten Untersuchungen gegen Gilles de Rais. Ein Vorfall in der Kirche von Saint-Étienne hatte das Maß von Gilles’ Verfehlungen endgültig voll gemacht. Gilles war mit sechzig bewaffneten Männern in die Kirche eingedrungen, um den Geistlichen Jean Le Ferron zur Rede zu stellen, welcher ihn angeblich geschäftlich übervorteilt hatte. Es kam dabei auch zu Handgreiflichkeiten. Pech für Gilles war nur, dass der Geistliche zudem der Bruder eines hohen Beamten am Hof Johanns V. war. Der Herzog fühlte sich persönlich beleidigt und beauftragte Kanzler Malestroit, Gilles de Rais nun endgültig das Handwerk zu legen. Am 15. September 1440 wurde Gilles verhaftet. Zeitgleich kamen Prelati, Eustache Blanchet sowie die Kammerdiener Henriet und Poitou in Haft. Guillaume de Sillé und Roger de Briqueville hatten irgendwie von der bevorstehenden Verhaftung erfahren und sich vorher abgesetzt. Beide wurden für ihre Beihilfe bei Gilles’ Untaten nie rechtlich belangt. Briqueville wurde im Jahre 1446 sogar vom französischen König von jeglicher Mitschuld an Gilles de Rais’ Taten freigesprochen.

Gilles musste am 19. September 1440 zum ersten Mal vor seinen Richtern erscheinen. Er wurde in einer Art kombiniertem weltlichen wie kirchlichen Prozess angeklagt, eine übliche Vorgehensweise der damaligen Zeit. Malestroit hatte es so arrangiert, dass Gilles zunächst nur wegen Ketzerei und Verletzung der kirchlichen Immunität angeklagt wurde. Ein schlauer Schachzug: Da Gilles schon viel für die Kirche getan hatte, glaubte er zunächst, dass der Prozess ein günstiges Ende für ihn nehmen würde. Während der inhaftierte Gilles voller Hoffnung war und sich keinerlei Strategie überlegte, wie er auf mögliche Mordvorwürfe reagieren sollte, vernahmen die weltlichen Ankläger eine Vielzahl von Zeugen zu den Kindermorden. Am 8. Oktober musste Gilles erneut vor Gericht erscheinen. Die nun vorgebrachten Anklagepunkte wie Mord, Kindesmissbrauch, Dämonenbeschwörung, Ketzerei und Verletzung der kirchlichen Immunität trafen ihn wie ein Schlag. Gilles war geschockt, da ihm dass Gericht zudem mit Exkommunizierung drohte. Der Angeklagte bestritt zunächst alle ihm vorgeworfenen Taten, was ihm allerdings nicht viel nützte. Während des nächsten Verhandlungstages, am 13. Oktober, wurde die komplette Anklage verlesen, welche sich in 49 einzelne Abschnitte gliederte. Da zwischen den einzelnen Verhandlungstagen immer eine gewisse Zeitspanne lag, hatte sich die Unmut des Angeklagten anstauen können, welcher erst spät das ganze Ausmaß des Prozesses erkannte. Es war zweifelsohne Malestroit, der den Prozess so lenkte, dass es am dritten Verhandlungstag zu einem gewaltigen Wutausbruch von Gilles de Rais kam. Er beschimpfte Richter wie Geistliche als Hurenjäger und Ablassverkäufer, was dem kirchlichen Teil des Tribunals das Recht gab, ihn sofort zu exkommunizieren. Bisher hatte Gilles seine Untaten wohl immer noch als Privileg des Adels empfunden; angesichts der Bedrohung seines Seelenheils brach er aber nun völlig zusammen. Zwei Tage später musste Gilles erneut vor seinen Richtern erscheinen. Jenen bot sich nun ein gänzlich anderes Bild des Angeklagten. Dieser war reumütig und entschuldigte sich für die Beleidigungen gegenüber dem Gericht. Die Angst vor der göttlichen Strafe hatte Gilles wohl zur Besinnung kommen lassen. Ihm war klar geworden, dass der Prozess kein gutes Ende für ihn nehmen würde. Mit einem umfangreichen Geständnis hoffte Gilles, seine Richter milde zu stimmen. Unter Tränen gestand er die ihm vorgeworfenen Taten und flehte um ein gnädiges Urteil. Nur im Anklagepunkt der Dämonenbeschwörung widersprach Gilles der Anklage und erklärte, gemeinsam mit Prelati nur herkömmliche Alchemie betrieben zu haben. Das Gericht war zunächst zufrieden und hob die Exkommunizierung wieder auf.

Das Tribunal von Gilles de Rais.

Am 16. bzw. 17. Oktober wurden die Mitangeklagten Prelati, Blanchet sowie die Kammerdiener Henriet und Poitou im Beisein ihres früheren Herren verhört. Alle belasteten Gilles de Rais mit ihren Aussagen schwer. Es waren neben Gilles’ eigenen Geständnissen die Aussagen von Henriet und Poitou, welche Licht in die verbrecherischen Machenschaften des Edelmannes brachten. Allerdings müssen die Aussagen der beiden Kammerdiener objektiv betrachtet werden. Gilles war zwar ein zutiefst verderbter Mensch, jedoch haben Henriet und Poitou bei den Schilderungen der Kindermorde mit Sicherheit stark übertrieben. So wollten sie von der Rolle ablenken, die sie selbst bei den Blutorgien ihres Herrn gespielt hatten. In den nächsten Tagen wurden immer weitere Zeugen vor Gericht geladen, wobei nun das ganze Ausmaß von Gilles’ Untaten zu Tage trat. Jene Zeugen, meist einfache Leute, widersprachen sich jedoch zum Teil in ihren Aussagen, worauf am 20. Oktober vom Gericht die hochnotpeinliche Befragung, sprich Folter, des Angeklagten angeordnet wurde. In den Gerichtsakten hieß es, dass damit „die Wahrheit vollkommen zu erhellen und auszuforschen“ sei. Die hochnotpeinliche Befragung wurde für den 21.Oktober angesetzt. Angesichts der Folterwerkzeuge brach der einst so stolze Gilles de Rais endgültig zusammen. Er bettelte, ihm die Folter zu ersparen und bat flehentlich um eine Anhörung außerhalb des Folterzimmers. Dies wurde ihm auch gewährt, worauf Gilles ein umfangreiches Geständnis ablegte. Er erklärte sich in allen Anklagepunkten schuldig und legte so sein Schicksal in die Hände des Gerichtes. Das Schuldeingeständnis war der Obrigkeit allerdings nicht genug, zu groß war das öffentliche Interesse am Prozess gegen Gilles de Rais. So wurde jener am 22. Oktober in Nantes der Öffentlichkeit präsentiert. Unter den Schaulustigen waren viele Eltern seiner Opfer, welche eine Erklärung oder wenigstens eine Entschuldigung erwarteten. Tränenüberströmt und von Schluchzen unterbrochen schilderte Gilles seine Verbrechen. Allerdings redete er sich um Kopf um Kragen, er ließ kein Detail seiner perversen Machenschaften aus. Die geschockten Eltern wandten sich angewidert ab. Doch Gilles wusste zu diesem Zeitpunkt schon, dass er keine Milde von Seiten der menschlichen Gerechtigkeit erfahren konnte. Wohl aus diesem Grunde begann Gilles seine schrecklichen Taten zu glorifizieren. Er beschrieb die Einzelheiten seiner Verbrechen detailliert und schien sie für sich selbst noch einmal ausleben zu wollen. Hier zeigte sich ganz deutlich seine gestörte Psyche. Er empfand keine wirkliche Reue. Die von Gilles vor Gericht zur Schau gestellte Demut entsprang nur seiner Angst vor der göttlichen Bestrafung, moralisch gesehen vermochte er zu keiner Zeit Verantwortung für seine Taten zu übernehmen.

Am 25. Oktober fällte der geistliche Teil des Gerichtes sein Urteil. Gilles de Rais wurde in allen Anklagepunkten für schuldig befunden und erneut exkommuniziert. Auf Knien flehend bat der Angeklagte darum, dass die Exkommunizierung aufgehoben werde. Nach reiflicher Überlegung gaben die Kleriker seinem Flehen nach und legten sein weiteres Schicksal in die Hände des weltlichen Gerichtes, welches ihn umgehend zum Tode verurteilte. Die Kammerdiener Henriet und Poitou wurden ebenfalls zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung der Verurteilten fand am 26. Oktober 1440 statt. Die letzte Bitte Gilles’ an seine Richter war es, vor seinen Dienern gehenkt zu werden, damit jene nicht glaubten, er werde auf Grund seiner adligen Abstammung letztendlich doch noch verschont. Diese Bitte wurde ihm gewährt. Gefasst trat Gilles vor den Henker. Sekunden später war die Bestie der Bretagne tot.

Schon kurz nach Gilles de Rais’ Tod begann die Legendenbildung einzusetzen. Obwohl die Gerichtsakten in großer Zahl kopiert und veröffentlicht wurden, waren es eher die mündlichen Überlieferungen im Volke, welche immer weiter ausgeschmückt wurden. So wurden immer größere Opferzahlen genannt und auch die Opfergruppen mehrten sich. Obwohl das Gericht festgestellt hatte, dass Gilles in einigen Fällen auch junge Mädchen ermordet hatte, wurde nun behauptet, dass zudem schwangere Frauen seine Opfer waren. Außerdem soll er das Blut seiner Opfer als Tinte verwendet haben, um damit satanische Bücher zu schreiben. Als ob Gilles de Rais nicht schon genügend Unheil verursacht hatte, wurden ihm immer neue Schandtaten angehängt. Aus diesem Grund wurden im Zeitalter der Aufklärung Stimmen laut, die behaupteten, dass Gilles womöglich unschuldig gewesen und einer Intrige zum Opfer gefallen sei. Bekanntester Verfechter dieser Ansichten war der bekannte französische Autor Voltaire, welcher in einem seiner Werke schrieb: „Den Marschall de Retz hat man umgebracht.“5)

Des Weiteren erging sich Voltaire ausführlich darin, dass Gilles wohl ein Opfer politischer Intrigen wurde. Zweifelsohne waren im Verfahren gegen Gilles Fehler gemacht worden und den Eigennutz von Herzog Johann V. sowie seines Kanzlers Malestroit haben wir schon ausführlich erörtert. Ab dem 19. Jahrhundert betrieben Historiker dann ernsthafte Forschungen über den Fall von Gilles des Rais. Lange verschollen geglaubte Schriftstücke wurden wiederentdeckt und die erhalten gebliebenen Prozessakten nach modernen Gesichtspunkten neu begutachtet. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang besonders Abbé Eugène Bossard und der Archivar René de Maulde, welche ihre umfangreichen Forschungen zum Themenkomplex Gilles de Rais im Jahre 1885 unter dem Titel „Gilles de Rais, Maréchal de France, dit Barbe bleue“ veröffentlichten. Darin wurden auch die entscheidenden Ermittlungs- und Prozessakten erstmals einem breiteren Publikum zugängig gemacht. Weiterhin wurden in den folgenden Jahren vermehrt medizinische und psychiatrische Dissertationen zum Fall Gilles de Rais veröffentlicht. So versuchte Frédéric Henri Bernelle 1910 in seiner Arbeit „La psychose de Gilles de Rais, sire de Laval, maréchal de France“ eine medizinische Erklärung für Gilles’ Taten zu finden und eine möglicherweise eingeschränkte Schuldfähigkeit des Edelmannes zu beweisen. Auf die von Bernelle vermutete Alkoholsucht oder eine etwaige unbehandelte Syphilis werde ich an späterer Stelle noch einmal eingehen, wenn ich selbst versuchen werde, Antworten auf Gilles unbegreifliche Taten zu finden.

Die heutige Geschichtsschreibung ist sich sicher, dass Gilles de Rais die ihm vorgeworfenen Taten auch begangen hat. Doch was war der Grund für sein unvorstellbares Handeln?

Gilles gab in den Verhören mehrfach zu Protokoll, dass er seine Taten aus reinem Vergnügen zur fleischlichen Ergötzung und aus keinem anderen Grund begangen habe. Seine Aussagen lassen auf eine sadistische Veranlagung mit ausgeprägter narzisstischer Persönlichkeitsstörung schließen. Ich will Gilles’ Taten mit Sicherheit nicht entschuldigen, wir müssen ihm jedoch zu Gute halten, dass er neben seiner Persönlichkeitsstörung ein typisches Kind seines Standes war. Der ausgeprägte Standesdünkel des Adels suggerierte Gilles, über den „normalen“ Menschen zu stehen. Er entstammte einer der bedeutendsten Adelslinien Europas und fühlte sich rechtlich wie moralisch unangreifbar. Insgesamt kann man sagen, dass Gilles de Rais eine zutiefst psychologisch gestörte Persönlichkeit war. Das ging auch aus einem juristischen Gutachten hervor, welches Gilles’ Familie nach seinem Tod veröffentlichen ließ. Darin hieß es unter anderem: „Jeder wusste, dass er ein notorischer Verschwender war und weder Sinn noch Verstand hatte, da sein Geist oft gestört war, und oft brach er in aller Frühe auf und ging ganz allein durch die Straßen, und wenn man ihm vorhielt, das sei nicht gut, gab er noch verrücktere und unsinnigere Antworten als sonst.“6)