Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein stilles und zugleich sprachmächtiges Buch, das vom Verlust der Heimat durch Krieg, von Schmerz und Sprachverlust erzählt. In diesem ergreifenden Debüt findet die Autorin eine großartige eigene Sprache. Der ungewöhnliche Titel »ë« steht für einen Buchstaben, der in der albanischen Sprache eine wichtige Funktion hat, obwohl er meist gar nicht ausgesprochen wird. Als Kind von Geflüchteten aus dem Kosovo ist die Erzählerin auf der Suche nach Sprache und Stimme. Sie wächst in Deutschland auf, geht in den Kindergarten, zur Schule und auf die Universität, sucht nach Verständnis, aber stößt immer wieder auf Zuschreibungen, Ahnungslosigkeit und Ignoranz. Als der Kosovokrieg Ende der 90er-Jahre wütet, erlebt sie ihn aus sicherer Entfernung. Doch auch in der Diaspora sind Krieg und Tod präsent – sie werden nur anders erlebt als vor Ort. Der Roman »ë« erzählt von dem in Deutschland kaum bekannten Kosovokrieg und erinnert an das Leid von Familien, die ihre Heimat verloren haben, deren ermordete Angehörige anonym verscharrt wurden und bis heute verschollen oder nicht identifiziert sind. Eine Vergangenheit, die nicht vergehen kann, weil sie buchstäblich in jeder Faser des Körpers steckt, wird von Jehona Kicaj im wahrsten Wortsinn zur Sprache gebracht.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 215
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Jehona Kicaj
ë
Roman
In diesen Zerrissenheiten bin ich ganz.
Ohne sie wäre ich verstümmelt.
Elias Canetti
Gjuha shkon aty ku dhem dhëmbi –
Die Zunge geht dahin, wo der Zahn schmerzt.
Albanisches Sprichwort
ë
Ausgewählte Quellen
Dank
Impressum
Nach dem Aufwachen habe ich einen Splitter im Mund. Er fühlt sich an wie ein kleiner Kieselstein. Ich spucke ihn ins Waschbecken und sehe: Es ist ein kleines Stück Zahn. Wenn ich mein Gebiss im Spiegel ansehe, gibt es kaum Zähne ohne einen Riss oder abgeriebene Kanten. Jeden Morgen wache ich mit Schmerzen in den Kiefergelenken und im Nacken auf; kann meinen Mund nicht öffnen, ohne dass es laut kracht. Es hört sich an, als würden Knochen brechen.
Als ich meinem Zahnarzt das Knacken vorführe und er seine Finger unter mein Jochbein hält, sieht er mich ernst an. »Sie leiden an Bruxismus«, sagt er. »Wenn Sie knirschen, zieht sich Ihre Muskulatur rhythmisch zusammen, die Zahnreihen pressen aufeinander, und die mahlenden Bewegungen des Unterkiefers führen zur Abrasion, also zur Schädigung und Abnutzung Ihrer Zähne. Noch einmal bitte.« Bei jedem lauten Knacken verzieht die junge Zahnarzthelferin das Gesicht. »Der Grund für das eigentümliche Geräusch ist eine starke Schädigung des Bandapparates der Gelenkkapsel. Die kleine Knorpelscheibe bewegt sich bei Mundbewegungen normalerweise mit dem Kiefergelenksköpfchen. Durch das Knirschen hat sich bei Ihnen aber die physiologische Position der Knorpelscheibe pathologisch verändert. Man spricht hier von einer Dislokation des Diskus.«
Doktor Ludwig macht eine Pause. »Im allerschlimmsten Fall können Sie in zehn Jahren nicht mehr kauen und sprechen, ohne dass Sie dabei Schmerzen haben, weil die Knorpelscheibe im Laufe der Zeit komplett zerstört ist. Dann liegt nichts mehr zwischen Gelenkkopf und Gelenkgrube, und die Knochen reiben aufeinander.« Er führt es auf Stress zurück, fragt mich, ob ich zurzeit viel zu tun hätte. Ich sage: »Kann schon sein«, und verspreche ihm, vor dem Schlafen Entspannungsübungen zu machen. Ich sehe hoch zur kahlen Decke und frage mich, ob ich Angst oder Erleichterung empfinden soll, wenn ich mir vorstelle, nicht mehr sprechen zu können. Er nimmt Abdrücke für eine Aufbissschiene und sagt, ich solle in zwei Wochen wiederkommen.
Zu Hause drücke ich meine Zeigefinger in die Mulden unter den Ohren, bis der Schmerz in die Schläfen zieht. Ich hätte ihm gern erzählt: Neulich habe ich gelesen, man könne den Mund als Gefängnis begreifen. »Die Zähne sind die bewaffneten Hüter des Mundes«, hieß es dort, »in diesem Raum ist es wirklich eng, er ist das Urbild aller Gefängnisse.« Ich hätte sagen wollen, ich habe die Wörter zu lange gefangen gehalten, und jetzt ist es zu spät.
Elias sagte einmal zu mir: »Du denkst immer alles zu Ende, bevor du sprichst.«
Die Wahrheit scheint zu sein: Ich zermahle jedes einzelne Wort, bevor ich spreche.
»Dein Deutsch ist auffällig. Du klingst wie eine professionelle Sprecherin. Deine Tonlage, deine Pausen, deine präzise Artikulation, die Art, wie du manche Wörter betonst, das erinnert mich an die Synchronstimmen weiblicher Anime-Figuren«, sagte mir Elias auf einem unserer ersten Spaziergänge. Ich fragte ihn, was er damit meine. »Na ja, die eigene Sprechweise ist doch irgendwie einmalig und unverwechselbar. Sie hat ihre eigene Tonhöhe und Geschwindigkeit, sie hat ihren eigenen Rhythmus. Und bestimmte Worte und Wendungen kehren immer wieder. Bei dir aber«, er dachte nach, sagte dann, »klingt alles so perfektioniert.«
In seiner beiläufigen Aussage erkannte ich eine Wahrheit, die mir nie bewusst gewesen war. Ich erzählte ihm, dass ich Deutsch nicht mit Vokabellisten, sondern vor dem Fernseher gelernt hatte. Als Kind saß ich allein auf dem arabesk gemusterten, roten Teppich, das Gesicht nur wenige Zentimeter vom Bildschirm entfernt. Ich beobachtete konzentriert die Verzerrungen der Münder und versuchte sie mit den Klängen aus den Lautsprechern zu verknüpfen. Als ich einige Monate später in den Kindergarten kam, hörte ich die vage vertrauten Laute aus wirklichen Mündern. Ich staunte, und auf die Frage meiner Schwester, wie es mir hier gefalle, antwortete ich nur: Këta po folin si ata në televizor – »Die sprechen hier dieselbe Sprache wie die im Fernsehen.« Ich hielt weiter ihre Hand und wollte sie nicht loslassen.
Zuerst bin ich der deutschen Sprache in Zeichentrickfilmen und Anime-Serien begegnet. In dem Zusammenspiel aus bewegten Bildern und sich abwechselnden Stimmen habe ich meinen Zugang zum neuen Sprachraum gefunden. Durch das genaue Hinsehen und Hinhören.
»Gjuha huj«, sagte ich zu Elias, »kann auf Albanisch beides heißen: Fremde Sprache, aber auch fremde Zunge, und manchmal ist mir, als würde ich noch immer in fremden Zungen sprechen. Vielleicht kommt es dir deswegen so vor, als wäre ich eine Synchronsprecherin.« »So war das nicht gemeint«, sagte Elias und schüttelte den Kopf. »Ich meine es aber so«, sagte ich. Meine Aussprache ist bereits vor dem Aussprechen abgesteckt. Im Grunde bedeutet Sprechen für mich noch heute Nachahmung; es ist bloß eine neu angeordnete Klangabfolge von dem, was ich vorher gehört oder gelesen habe. Und manchmal frage ich mich, wie viel von mir selbst in meinen Worten liegt, wenn ich sie ursprünglich von gezeichneten Bildern auf dem Bildschirm erlernt habe.
Ich lernte früh, dass ich schweigen musste, sobald wir die serbische Grenze erreichten. Deine Muttersprache konnte dich in Gefahr bringen, wenn du sie am falschen Ort sprachst. Sobald das erste Schild auf die Grenze verwies, schalteten wir die Musik aus und versteckten alle albanischen Kassetten unter unseren Autositzen.
Wir sagten nichts. Wir schwiegen, schon lange bevor der Grenzbeamte sein Zeichen gab, das Fenster zu öffnen. Nur mein Vater sprach mit ihm. Er konnte fließend Serbisch, wie viele andere in seinem Alter hatte er es in der Schule und später beim Militär gelernt. Ich verstand kein einziges Wort, aber ich hörte die Unsicherheit in seinem Tonfall. Er zögerte nicht einen Augenblick, auf die Fragen des Polizisten zu antworten, und dennoch wählte er seine Worte vorsichtig. Dann schlug sein Ton plötzlich um, und ich hörte diese bestimmte Rauheit in seiner Stimme. Wann immer er seinen Ton auf diese Art schärfte, wann immer ich den veränderten Klang vernahm, wusste ich, dass etwas passieren würde.
Ich erinnere mich, dass die Hände meiner Mutter zitterten, als Baba sie aufforderte, ihm die Pässe zu geben, dass sie nicht in der Lage war, den Reißverschluss der roten Ledertasche mit all unseren Papieren zu öffnen. Sie gab ihm die ungeöffnete Tasche mit gesenktem Kopf. Ich erinnere mich an die kalten Blicke des Grenzpolizisten, mit denen er uns von oben herab durch die Scheiben der Autofenster anstarrte, daran, wie wir alle aussteigen und das Auto ausräumen mussten. Ich erinnere mich an das laute Geräusch des Stempels, den er erst in unsere Pässe setzte, nachdem wir mehrere Geldscheine hineingelegt hatten. Die Pässe reichte er uns nicht zurück, er schob sie nur von sich, als wären sie nichts wert.
Auf der Grenze zwischen Kosovo und Serbien habe ich zum ersten Mal gesehen, wie meine Eltern gedemütigt wurden. Diese Grenzerfahrung holt mich noch heute bei jeder Passkontrolle ein.
Wenn man mich als Jugendliche fragte, ob ich schon einmal in Berlin gewesen sei, verneinte ich immer. Ich war noch ein Kind, als wir zur serbischen Botschaft nach Berlin fuhren, um unsere Pässe verlängern zu lassen. Das war kurz nach dem Krieg. Wir verbrachten den ganzen Tag in der Botschaft. Ich wurde dafür von der Schule freigestellt. Ich erinnere mich: Vor Müdigkeit legte ich mich auf den Fußboden zwischen die Schuhe der Wartenden. Nach sechs Stunden rief man uns auf. Ich weiß noch, wie hart der serbische Beamte meinen Namen aussprach. Seine Uniform war schwarz. Die Pässe waren dunkelblau, und darauf stand in goldenen Lettern Republic of Serbia, auch noch Jahre später. Serbisch schrieb man dort meine Geburtsstadt. Serbisch steht sie heute in meinem deutschen Pass: Suva Reka statt Suharekë. Ich hatte den ganzen Tag gewartet, um mich am Abend als Serbin ausweisen zu können. Dieser Aufenthalt in Berlin zählte für mich nicht.
Wenn man mich fragt, woher ich ursprünglich komme, möchte ich antworten: Ich komme von einem Ort, der verwüstet worden ist. Ich wurde in einem Haus geboren, das niederbrannte. Ich hörte Schlaflieder in einer Sprache, die unterdrückt wurde. Ich möchte antworten: Ich komme aus der Sprachlosigkeit.
Ich habe früh gelernt, auf das Schweigen zu achten. Als wir nach dem Krieg zum ersten Mal das Elternhaus meiner Mutter besuchten, war ich acht, vielleicht schon neun. Ich hatte noch nicht begriffen, was in den Jahren seit unserem letzten Besuch geschehen war. Nur manchmal hatte ich Mama in dieser Zeit weinen gehört. Meist saß sie dabei vor dem Telefon, das im Flur stand, und wartete auf einen Anruf von dortgebliebenen Verwandten. Nur manchmal hatte ich die Bilder in den Nachrichten gesehen. Und nur einmal hatte meine Mutter mich ermahnt: »Komm, schau dir an, was bei uns mit Kindern und Säuglingen passiert.« Aber ich war ihr nicht ins Wohnzimmer gefolgt. Ich hatte weitergespielt, nur ihr Tonfall klang in mir nach, fassungslos, verzweifelt. Als hätte sie es nicht zusammenbekommen: Erst die Kinderleichen zu sehen und dann mich, wie ich im Nebenzimmer unbekümmert spielte. Als wäre es ihr nicht gelungen, uns als gerettet zu wissen, weil die, die wir zurückgelassen hatten – die anderen –, nicht gerettet waren.
An diesem Abend im Elternhaus meiner Mutter saßen wir zusammen und tranken çaj – so wie man es dort auch schon vor dem Krieg immer getan hatte. Ich saß auf einem der gemusterten Sitzpolster auf dem Boden zwischen meinen Verwandten, einer Gruppe von Menschen in allen Altersstufen, und betrachtete ihre Gesichter. Ich hatte sie jahrelang nicht gesehen und versuchte, die Falten zu entziffern, die sich in Stirn und Wangen gegraben hatten. Welche Sorgen, welche Ängste hinterlassen solche Spuren? Ich fand keine Antwort, hatte keine Vorstellung. Ich war mir sicher, dass es eine Veränderung gab, dass etwas geschehen war, aber ich wusste nicht was. Gjyshe, meine Großmutter, saß als Einzige auf einem Stuhl in der Mitte des Zimmers. Sie nahm nicht am Gespräch teil, sondern ließ ihren Blick wie zur Vergewisserung wieder und wieder über die Anwesenden im Raum wandern.
Die ganze Zeit wartete ich auf noch ein Gesicht: Mein Großvater fehlte. Wieder und wieder sah ich zur Tür und hoffte, dass er hereinkommen würde, aber er kam nicht. Ich verließ den Raum und gab vor, ins Badezimmer zu gehen, schlich mich aber in die anderen Zimmer des Hauses. »Vielleicht schläft er«, dachte ich, »und die anderen haben einfach vergessen, ihn zu wecken«, aber alle Zimmer waren leer.
Als wir uns verabschiedeten, war es schon tiefe Nacht. Ich hoffte, Großvater würde uns verzeihen, dass wir aufbrachen, ohne ihn begrüßt zu haben. Ich weiß bis heute nicht, warum ich nicht nach ihm gefragt habe.
Auf der Fahrt zurück in das Dorf meines Vaters sagte niemand etwas. Nach wenigen Minuten bremste mein Bruder und hielt vor einer großen Gedenktafel, die noch heute vor der Schule des Dorfes steht. Ich erinnere mich an unzählige Namen und an ein paar eingravierte Gesichter im Scheinwerferlicht. Sie hoben sich hell vom grauen Stein ab. Mein Vater und mein Bruder stiegen aus, gingen ein paar Schritte vor und blieben dicht vor der Tafel stehen. Ich beobachtete ihre Hinterköpfe; ich sah, wie sie jede Zeile prüften.
Nach einer Weile kehrten sie zurück. Mein Bruder sagte: »Sein Name ist nicht dabei.« Auf dem Rückweg blieb es still. Ich hörte nur das Dröhnen des Motors. Ich öffnete den Mund, um zu fragen, wo Großvater war und ob wir ihn nochmal sehen würden, aber die Worte schafften es nicht hinaus. Etwas hielt mich ab, hielt die Worte zurück, von dem ich nicht weiß, was es war.
Jahre später gaben meine Tante und mein Onkel Blutproben für einen DNA-Vergleich ab, aber passende Knochenfragmente wurden nie gefunden.
Für die Bewerbung auf ein Referendariat suche ich nach meinem Abschlusszeugnis, das ich neben meiner Geburtsurkunde und einem Führungszeugnis als Kopie einreichen muss. Ich hole meinen Ordner aus dem Schrank, in den ich wichtige Dokumente, Unterlagen und Briefe abhefte. Ich suche eine ganze Weile und stoße irgendwann auf eine Klarsichthülle, die sich wölbt, weil ich so viele Seiten hineingeschoben habe. Ich ziehe die Blätter heraus und bin erstaunt, was ich alles finde: Ein Jugendverkehrsabzeichen für eine bestandene Fahrradprüfung in der vierten Klasse, eine Teilnahmeurkunde für die Bundesjugendspiele, meine Gymnasialempfehlung, einen kurzen Zeitungsartikel über meinen Abiturjahrgang. Ich habe alle Unterlagen akribisch aufgehoben, die meine Teilnahme oder eine erbrachte Leistung namentlich bezeugen; wie eine Mutter, die stolz auf ihr Kind ist. Als hätte ich mich seit Kindertagen selbst vergewissern müssen, was ich erreicht habe, als würde ich noch den kleinsten Erfolgen keinen Glauben schenken, solange sie nicht schriftlich belegt sind.
In dieser Klarsichthülle finde ich auch meine Zeugnisse aus der Grundschule. Alle Halb- und Ganzjahreszeugnisse aus den vier Jahren sind ordentlich sortiert und mit einer Heftklammer zusammengehalten, die Rostspuren auf dem Papier hinterlassen hat. Ich ziehe die Klammer ab und breite die Blätter vor mir aus. Auf den Zeugnissen aus der vierten und der dritten Klasse sind in zwei Spalten die ausgeschriebenen Noten vermerkt, auf den früheren gibt es nur einen etwa einseitigen Text: »Dein erstes Schulhalbjahr ist zu Ende«, steht dort, »und Du kannst wirklich sehr stolz darauf sein, was Du alles gelernt und wie Du gearbeitet hast. Im Unterricht hast Du Dich nur selten gemeldet, aber wenn ich Dich gefragt habe, hast Du immer alles gewusst. In der großen Gruppe der ganzen Klasse warst Du noch sehr scheu. Du bist so ein liebes und kluges Mädchen, und Deine Mitschüler akzeptieren Dich. Du kannst und weißt so viel und brauchst Dich nicht zu verstecken. Du hast keinen Grund, ängstlich zu sein.«
Ich streiche über das leicht vergilbte Papier. Streiche über meinen Namen, der falsch geschrieben worden ist, und über die zittrigen Blockbuchstaben meines Vaters, die immer so anders aussahen als die Unterschriften meiner Lehrerinnen. Vier Jahre lang habe ich mich nicht gemeldet, obwohl ich fast immer die Antworten kannte. Ich habe mir gewünscht, mein Schweigen könnte mich unsichtbar machen.
Du hast keinen Grund, ängstlich zu sein, lese ich erneut und sehe wieder hoch auf meinen handschriftlich vermerkten Geburtsort und auf das Datum: Januar 1999. Beides hat meine Klassenlehrerin in einer Zeile eingetragen. Und dennoch konnte sie sich nicht vorstellen, wie viele Gründe es damals gab, Angst zu haben.
Es gab da ein Kinderlied, wir sangen es in der Grundschule. Ich erinnere mich nicht mehr vollständig an den Text, aber am Ende einer jeden Strophe sangen wir in einer jeweils anderen Sprache »guten Tag« und »auf Wiedersehen«. Es mögen sieben oder acht Sprachen gewesen sein und neben dem Liedtext waren die verschiedenen Nationalflaggen abgebildet, nur in Grautönen und kaum erkennbar. Türkisch folgte als zweites, nach der deutschen Sprache. »Merhaba, güle güle, guten Tag, auf Wiedersehen«, war der Refrain, ich erinnere mich an den Rhythmus. Ich erinnere mich, dass Leyla, meine beste Freundin, aufgerufen wurde. Sie hatte schwarzes Haar, aber gefiel sich besser mit blond gefärbten Strähnen. Wir saßen fast immer nebeneinander. Leyla sollte die drei türkischen Wörter für alle erst vorsprechen und dann vorsingen. Die Klasse sang nach, wie ein verstärktes Echo. Ich erinnere mich an ihr stolzes Lächeln, an ihre weißen, leicht abstehenden Schneidezähne. Ich bewunderte diese Zähne und verglich sie damals mit den Flügeln eines Schmetterlings. Die anderen Strophen folgten. Frau Wagner, unsere Klassenlehrerin, sprach die fremden Wörter vor und forderte einen Freiwilligen auf, die Strophe anzustimmen. Die nächste Sprache sei Jugoslawisch, sagte sie, und wir hätten hier doch jemanden, der sie spricht. Sie sah mich an, und erst als die anderen ihrem Blick gefolgt waren, verstand ich, dass sie mich meinte. Ich errötete und sah auf das Blatt. Unter den Noten, die ich nicht lesen konnte, stand eine Buchstabenabfolge, die ich zuvor noch nie gelesen hatte: Dober dan, doviđenja. Das sei meine Sprache, sagte sie. Ich las die Zeilen nochmal, verstand nicht, wie sie darauf kam. Ich öffnete den Mund, aber mir fehlten die Worte, um zu erklären, dass es nicht stimmte. Also versuchte ich die Buchstaben, die dort standen, zu Lauten zu formen. Ich sprach leise, kaum hörbar. Skeptisch musterte mich die Klasse und sprach meine unsicheren Worte nach.
Als wir zur nächsten Strophe übergingen, suchte ich in den darauffolgenden Zeilen nach albanischen Wörtern. Ich wollte sie finden, wollte laut sagen: »Hier, das hier ist meine Sprache.« Aber die albanische Sprache tauchte in dem Lied nicht auf.
Wir haben dieses Lied oft gesungen, und jedes Mal sang ich den anderen die serbische Strophe vor. Jedes Mal sangen sie mir nach. Diese Strophe sollte meine Sache sein, diese Worte meine Sprache; und mir fehlten die Worte, um zu sagen, dass meine Zunge mit diesen Lauten nicht vertraut war.
Meine Mutter spricht wenig. Wenn ich sie nach alten Zeiten frage, sagt sie: Nuk po më kujtohet – »Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.« Und doch sehe ich, dass sie an etwas denkt, etwas vor ihren Augen erscheint, nur spricht sie es nicht aus. Sie widerstrebt den äußeren Anlässen zur Rede, auf meine Nachfragen gibt sie keine Antworten. Nur selten und unerwartet scheint etwas aus ihr hervor, wie aus einem Spalt, als würde sie eine Wahl treffen zwischen dem, was sich sagen lässt, und dem, was sie verschweigt.
»Dein Großvater hat mir und deiner Tante Sevdije immer vorgesungen, wenn wir nicht einschlafen konnten. Er legte sich dann neben uns, und wir hörten ihm zu«, sagte sie mir einmal am Esstisch.
Ich fragte ungläubig nach: »Er hat euch vorgesungen?«
»Ja«, sagte sie, dachte angestrengt nach, summte dann, kaum hörbar, eine Melodie. Sie erzählte es mir einmal und dann nie wieder, als dürfte ich nur einmal teilhaben an dem von ihr Verschwiegenen, bevor sie es wieder in sich vergräbt.
Ich habe keine zusammenhängende Erinnerung an meinen Großvater, wir haben keine gemeinsame Geschichte. Schon als Teenager habe ich in den Sommerferien viel Zeit mit meiner Cousine Shpresa verbracht. Sie lebt auch heute noch im Kosovo. Als ich einmal mit ihr und meiner Mutter einen Ausflug nach Prizren machte, gingen wir kurz vor der Rückfahrt in unser Dorf noch in einen Supermarkt, um ein paar Lebensmittel einzukaufen.
Während wir durch die grell beleuchteten Gänge schlenderten, blieb Shpresa plötzlich vor einer Auslagefläche stehen. Es lagen durchsichtige Bonbontüten darauf. Die Bonbons darin waren viereckig und rot-weiß gestreift. An dem Metallgitter war ein gelbes Schild angebracht: Ofertë, vetëm 60 cent – »Im Angebot, nur 60 Cent.« Sie drehte sich zu uns: O Zot! Paska bombona me lara, babgjyshi qjithë qesi na ka pru sa here ka ardhë kur ishim të vogël. A po t’kujtohet? – »Oh mein Gott! Es gibt hier die gestreiften Bonbons, Opa hat uns immer diese hier mitgebracht, als wir noch klein waren«, rief sie, »weißt du noch?« Aber sie achtete nicht auf meine Reaktion, merkte nicht, dass ich nichts sagte. Shpresa ist zwei Jahre jünger als ich. Vielleicht erinnerte sie sich nicht mehr daran, dass ich noch sehr klein war, als wir nach Deutschland gingen. Dass ich Großvater nur während der wenigen Besuche in den Sommerferien gesehen hatte. Sie strahlte, nahm sich eine Packung und umarmte sie, als wäre es ein Kuscheltier. Für einen kurzen Augenblick sah ich in ihr das Kind, das sie einmal gewesen war. Meine Mutter lächelte sie an, blickte ungläubig auf die Bonbonpackung in ihren Armen. »Tatsächlich!«, sagte sie verwundert, »dass es diese Bonbons immer noch gibt!«
A po e blejna një paqetë? – »Wollen wir eine Packung kaufen?«, fragte Shpresa, und meine Mutter nickte: »Ja, nimm die Packung mit.«
Als wir später in den Bus Richtung Suhareka stiegen, saßen Shpresa und ich nebeneinander, meine Mutter saß vor uns. Nachdem ein junger Mann durch die Reihen gegangen war, um das Geld für die Tickets einzusammeln, drehte sie sich zu uns. »Hier«, sagte sie und reichte uns die geöffnete Bonbonpackung. Erst als wir uns einen herausgenommen hatten, griff auch sie hinein.
»Ich verbinde diese Bonbons immer mit Großvater«, sagte Shpresa, »wir haben uns jedes Mal so gefreut, wenn er kam.«
Ich hielt den Bonbon zwischen meinen Fingern, spürte, dass er langsam zu schmelzen begann. »Waren es immer diese Bonbons?«, fragte ich.
»Ja, immer diese hier«, sagte Shpresa.
»Das waren die günstigsten«, sagte meine Mutter, »aber trotzdem waren Süßigkeiten damals etwas Besonderes, das man nur zu bestimmten Anlässen bekommen hat. In vielen Familien gab es sie nur zu Bajram oder bei Hochzeiten. Und obwohl Vater so wenig besaß, ist er nie ohne Bonbons zu Besuch gekommen, wenn er wusste, dass Kinder im Haus waren.«
Shpresa hatte sich den Bonbon direkt in den Mund geschoben und schloss genussvoll die Augen.
Meine Mutter drehte sich wieder nach vorn. Ich sah, dass auch sie den Bonbon in ihrem Mund verschwinden ließ, den alten roten Vorhang beiseiteschob und schweigend aus dem Fenster sah.
Ich legte den Bonbon auf meine Zunge und ließ ihn langsam im Mund hin- und herwandern. Wartete darauf, dass ich etwas empfand. Aber ich empfand nichts, war nur verwundert, weil er weniger süß schmeckte, als ich angenommen hatte, und weil die Oberfläche nicht glatt, sondern stumpf war. Und während der Bonbon nach kurzer Zeit in mehrere Teile zerbröselte, mehlig wurde und sich bald ganz auflöste, begriff ich, dass ich diese Bonbons noch nie bewusst gegessen hatte. Ich hatte mir den Geschmack bei ihrem Anblick nur vorgestellt, mir eingebildet, sie würden wie die gestreiften Zuckerstangen schmecken, die es auf deutschen Weihnachtsmärkten gab. Ich sah zu Shpresa und spürte neben meiner Traurigkeit auch einen leisen Neid.
Wann immer ich im Kosovo auf diese Bonbons stoße, halte ich an und kaufe sie. Ich habe mir durch sie fremde Erinnerungen einverleibt, weil ich keine eigenen habe.
Als Lehramtsstudentin besuchte ich ein Seminar, das uns auf Gesprächsführung im Unterricht vorbereiten sollte. In einer Sitzung hielt die Dozentin einen kleinen bunten Stoffball in ihrer Hand und sagte: »Vielen Kindern fällt es leichter, etwas zu erzählen, wenn sie dabei einen Gegenstand in der Hand halten.« Sie fragte, wie wir bisher die Schülerinnen und Schüler im Unterricht zum Sprechen bewegt hätten, und warf den Ball dann einem Studenten zu, der sich zuvor gemeldet hatte – »Wir setzen ihn heute selbst einmal ein, wenn Sie damit einverstanden sind.«
Ich sah den Kommilitonen dabei zu, wie sie den Ball einander zuwarfen. Erinnerte mich daran, dass Frau Wagner in der Grundschule jeden Montag in der ersten Stunde einen Sitzkreis mit uns bildete. Sie wollte von uns wissen, was wir am Wochenende gemacht hatten oder – nach einer längeren Schulunterbrechung – wie unsere Ferien gewesen waren. Sie ließ dazu einen großen, bunt bemalten Stein herumreichen, er war schwer und unförmig. Sie nannte ihn »den Erzählstein«. Er ging von Kinderhand zu Kinderhand, manche hielten ihn mit beiden Händen fest, manche nur mit einer und strichen mit der anderen Hand über die glatte Oberfläche. Manche ließen ihn von der einen in die andere Hand wandern, dabei fiel er manchmal herunter. Sobald sie den Stein in der Hand hielten, erzählten sie von Ausflügen mit ihren Eltern, von neuen Haustieren oder von einem neuen Hörspiel, das sie gerade geschenkt bekommen hatten. Manchmal waren sie so vertieft, dass sie jede Nebensächlichkeit erwähnten und vergaßen, wie lange sie schon gesprochen hatten. Frau Wagner unterbrach sie dann – »Andere wollen auch noch.«
Mir kam dieser Stein vor wie ein magischer Gegenstand. Am Anfang glaubte ich noch, er würde auch mich von selbst zum Sprechen bringen, und freute mich, ihn zu berühren. Aber immer wenn ich ihn auf mich zuwandern sah, hörte ich den anderen nicht mehr richtig zu, konzentrierte mich auf das eigene bevorstehende Sprechen, und als ich an der Reihe war, bekam ich kein Wort heraus, konnte meine Zunge nicht bewegen. Ich habe den Stein weitergereicht, ohne je etwas zu sagen, Woche für Woche, Jahr für Jahr.
Als ich die fremde Sprache irgendwann so gut sprach, dass ich etwas hätte erzählen können, überlegte ich manchmal angestrengt, was ich sagen könnte. Aber das, was ich außerhalb der Schule erlebt hatte, unterschied sich stets von den Erlebnissen der anderen. Wir machten keine gemeinsamen Ausflüge in den Zoo, ich besaß keine Hörbücher, keine Bücher und auch kein Haustier. Ich hätte sagen können: Wir waren auf dem Flohmarkt, und ich durfte mir ein neues Kuscheltier aussuchen. Ich hätte beschreiben können, dass ich manchmal im Garten unserer Mietswohnung gespielt hatte, bis meine Mutter mir aus dem Fenster zurief, ich solle hochkommen, weil es unsere Vermieter stören könnte, obwohl sie nie etwas sagten. Ich hätte meinen Onkel Fadil erwähnen können, der allein in Stuttgart wohnte und den wir manchmal besuchten. Er holte dann immer Spielsachen aus seinem Kleiderschrank hervor, die er für meine Cousinen Flaka und Blerta gekauft hatte, die noch im Kosovo waren und die er in diesen Jahren unbedingt nach Deutschland holen wollte. Wenn mir eines dieser Spielzeuge besonders gut gefiel, schenkte er es mir. Er sagte: »Bald werden sie ihre Papiere haben, und dann kannst du zusammen mit ihnen spielen.« Ich wusste nicht, was das für Papiere waren, von denen er sprach, und fragte mich, wie sie wohl aussahen. Ob sie wie das Zeugnispapier am Ende des Schuljahres waren, glatt und fest. Oder ob sie ein kleines, farbiges Büchlein waren, wie der Impfpass, nach dem der Arzt immer fragte. Ob sie wie manche dieser Briefe waren, die mit der Post kamen und die Baba immer angestrengt las und über die er zum Schluss zu meiner Mutter sagte: »Leg diesen hier beiseite, der ist wichtig.« All das hätte ich sagen können, aber diese Geschichten waren anders als die der anderen, also sagte ich nichts.
Ich war neidisch, wenn manche sorglos und ausführlich von sich erzählten, weil sie den Stein dann so lange halten und befühlen durften.
Ich liege auf dem Behandlungsstuhl in der Zahnarztpraxis und starre in das grelle Licht, bis meine Augen schmerzen. Ich muss sie schließen und sehe lange danach noch gelbe Flecken.
»So, heute setzen wir Ihre Schiene ein«, sagt Doktor Ludwig, als er den Behandlungsraum betritt. Ich bin nicht mehr überrascht, dass er nicht richtig grüßt; er wirkt immer etwas gehetzt. »Ich hoffe, es wird besser dadurch«, sage ich, »es gibt Tage, da schmerzt der Kiefer durchgehend.«
Er dreht die Behandlungsleuchte herunter, damit sie mich nicht mehr blendet. »Haben Sie vor dem Schlafengehen Entspannungsübungen gemacht oder es einmal mit Meditation versucht?«
»Ja«, sage ich, »aber das ändert nichts an dieser, wie soll ich sagen, Auto-Destruktion.«