Eifelbande - Rudolf Jagusch - E-Book

Eifelbande E-Book

Rudolf Jagusch

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Beschreibung

Ein neuer Fall für den Kluftinger der Eifel. Hauptkommissar Hotte Fischbachs Freude darüber, endlich seine Tochter kennengelernt zu haben, währt nur kurz: Am Morgen nach ihrem ersten Treffen wird auf die junge Frau ein Mordanschlag verübt. Fischbach und sein Kollege Jan Welscher müssen in ein kompliziertes Beziehungsgeflecht eintauchen, in dem alle Beteiligten verdächtig sind. Wer lügt, und wer sagt die Wahrheit? Brisante Geheimnisse, Missgunst und Verzweiflung kommen ans Licht, und schnell wird klar: In der vermeintlichen Eifeler Idylle ist nichts so, wie es scheint ...

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Seitenzahl: 366

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Rudolf Jagusch, 1967 geboren, arbeitet als freier Schriftsteller in der Nähe von Köln. Mehr über ihn erfährt man hier:

www.rudijagusch.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang befinden sich Rezepte.

© 2025 Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

www.emons-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-250-5

Originalausgabe

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack GbR.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Friedrich »Fritz« Karl Gustav Jagusch1959–2024

1

Horst Fischbach, den die meisten nur »Hotte« nannten, blickte auf seine Hände. Kein Zittern, nicht einmal ein Zucken. Jetzt, wo er endlich die Entscheidung getroffen hatte, empfand er eine innere Ruhe wie selten zuvor in seinem Leben. Selbst der Dalai Lama hätte seiner Ansicht nach seelisch nicht ausgeglichener sein können. Fischbach gluckste amüsiert bei dem Gedanken, dass er jemanden ausstechen könnte, der mit Sicherheit täglich mehrstündig meditierte, warf einen letzten Blick in den Spiegel und ging dann die Treppe hinunter.

Seine Frau Sigrid erwartete ihn an der Haustür. Sie hielt ihm die Lederjacke und den Helm hin.

Fischbach streifte die Jacke über, schloss den Reißverschluss, legte aber den Helm zurück auf die Flurkommode. Er zog seine Frau in die Arme und hielt sie eine Weile schweigend. Dann gab er ihr einen Kuss auf die Stirn, löste sich und straffte die Schultern. »So soll es also sein.«

Sie lächelte zuversichtlich. »Du tust das Richtige.«

Er nickte und nahm seinen Helm. Sie hatten das Für und Wider ausführlich diskutiert und es sich wahrlich nicht leicht gemacht. Dass Sigrid jetzt bedingungslos hinter ihm stand, bedeutete ihm viel. »Danke«, sagte er daher und meinte es vollkommen ernst.

»Dafür nicht, Schnäuzelchen.«

Fischbach öffnete den Mund, wollte reflexartig dem Kosenamen widersprechen.

Doch Sigrid kam ihm zuvor. Sie lachte und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Jetzt sieh endlich zu, dass du Land gewinnst.«

Er wollte gerade los, da hielt Sigrid ihn auf.

»Schnäuzelchen, warte!« Sie nahm die in Papier eingepackte rosafarbene Rose von der Flurkommode und gab sie ihm. »Die Blume. Du wolltest doch zuerst dorthin.«

Fischbach lächelte dankbar. »Stimmt. Hätte ich fast vergessen.«

In der Zufahrt stand seine Harley. Der schwarze Lack der Maschine, eine Spezialanfertigung von Sohn Motorcycles aus Speyer, reflektierte das orange Licht der tief stehenden Herbstsonne. Fischbach hob ein Bein über den Sitz, verstaute die Rose behutsam unter seiner Jacke, stemmte die Harley vom Ständer und startete den Milwaukee-Eight-Motor. Selbst im Standgas meinte Fischbach, die zweihundertzweiundvierzig Newton Drehmoment unter sich zu spüren, die er bei Bedarf abrufen konnte. Er schloss den Riemen seines Stahlhelms, den er bei einer Entrümpelungsaktion in seinem Elternhaus entdeckt hatte, nickte Sigrid zum Abschied zu und kuppelte ein.

Am Ortsausgang von Kommern beschleunigte er, sang dabei vergnügt: »Für mich soll’s rote Rosen regnen.« Jetzt galt es! Die Würfel waren gefallen. Endlich würde er eine Antwort auf die Frage geben können, die ihm einst gestellt worden war.

2

Drei Jahre zuvor

Fischbach strampelte das Laken nach unten und sah auf die grün schimmernden Ziffern des Weckers. Es war kurz vor vier. Mit dem Ärmel seines Schlafanzuges wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Die tropisch warme Nacht war drückend, aber nicht der Grund, warum er schwitzte.

Eine Tochter!

Nein. Seine Tochter!

Am frühen Abend hatte sie auf einmal mit einer Reisetasche in der Hand vor dem Tor gestanden und behauptet, sein Kind zu sein.

Fischbach warf sich auf die linke Seite. Das Bett protestierte mit einem Knarzen. Nur gut, dass Sigrid einen festen Schlaf hatte. Er wollte sie nicht mit seiner Unruhe anstecken.

Seit dieser Begegnung grübelte er unablässig. Konnte es stimmen? Konnte diese junge Frau, die sich ihm als Sandra Schmittbach vorgestellt hatte, wirklich seine Tochter sein?

Geborene Böttgen, hatte sie erklärt und ihn dabei angesehen, als müsste der Groschen nun fallen. Doch der klemmte fest. Mit dem Namen konnte er einfach kein Gesicht verbinden.

Die Frucht eines One-Night-Stands, hatte Sandra ergänzt. Fischbach war die Röte ins Gesicht gestiegen. Er schämte sich vor Sigrid dafür, obwohl seine Frau wusste, dass er früher ein ganz schöner Wüstling gewesen war.

Fein ausgedrückt.

»Rücksichtsloses Arschloch« traf es besser.

Nach dem von ihm verschuldeten Unfalltod seiner ersten Frau und seiner Tochter – der wirklichen, echten, von der er im Stammbuch zwei Urkunden vorweisen konnte – war er lange Zeit ganz unten gewesen. Wäre Sigrid nicht in sein Leben getreten, er wäre vermutlich schon tot. Entweder an irgendeiner Überdosis verreckt. Oder von zwielichtigen Gestalten, denen er bei Einsätzen ohne jede Zurückhaltung brutal zusetzte, um seinen eigenen Frust abzubauen, aus Rache ermordet.

Damals hatte er keine Gelegenheit ausgelassen, war mit jeder gewillten Dame ins Bett gestiegen. Von einigen kannte er durchaus noch den Namen, erinnerte sich mitunter auch an ihr Aussehen. Beim Stichwort »Böttgen« klingelte jedoch nichts. Auch nichts beim Vornamen, den Sandra ihm gestern genannt hatte. Die Frau war wie ausgelöscht.

Angesichts seiner unrühmlichen Vergangenheit lag es ihm zwar fern, den Wahrheitsgehalt von Sandras Aussage anzuzweifeln. Trotzdem war er vorsichtig und fragte sich, ob es eine Abzocke sein könnte. Eine neue Form des Enkeltricks. Der Tochtertrick? Gehört hatte er davon noch nicht, aber man wusste ja nie, was Gauner sich alles einfallen ließen, um an das Geld unbescholtener Bürger zu gelangen. Wobei unbescholten auf ihn ja nicht wirklich zutraf.

Erhitzt warf er sich auf die rechte Seite, fühlte sich wie ein Brathähnchen am Spieß.

Fünfunddreißig Jahre war Sandra alt. Knapp ein Jahr davor musste es passiert sein. Also Ende der Achtziger. Doch sosehr er auch grübelte, er erinnerte sich nicht an die Begegnung mit ihrer Mutter.

Fast drei Stunden hatten sie zusammengesessen, und Sandra hatte ihnen ihre Geschichte erzählt, bevor sie schließlich nach Zülpich zu ihrer Familie aufgebrochen war. Fischbach hatte hauptsächlich zugehört, nur hier und da mal nachgehakt. Die Verblüffung über die ganze Angelegenheit hatte ihm die Sprache verschlagen. Er war froh gewesen, als Sandra endlich ins Taxi gestiegen war. Zuvor hatten sie sich für den übernächsten Tag zum Abendessen verabredet. Endlich hatte er nachdenken können, seitdem fuhren seine Gedanken Achterbahn.

Nur gut, dass Sigrid gelassen reagiert hatte. Auf seine Frage, was sie davon hielt, hatte sie geantwortet: »Solche Dinge passieren, da kannst du nichts machen. Lass es erst mal sacken, Schnäuzelchen. Und morgen schauen wir in aller Ruhe, wie wir damit umgehen.« Dann hatte sie sich mit einem Gute-Nacht-Kuss zum Schlafen zurückgezogen.

Fischbach beneidete Sigrids Fähigkeit, Probleme derart pragmatisch angehen zu können.

Andererseits … Gab es überhaupt ein Problem?

Sandra war eine erwachsene Frau, eine, die mitten im Leben stand. Sie wirkte auch nicht so, als würde sie am Hungertuch nagen. Gucci-Reisetasche, Armbanduhr von Hermès, ein Smartphone mit dem angebissenen Apfel auf der Rückseite. Geldsorgen schien sie nicht zu haben. Ohnehin konnte sie ihm nicht mit irgendwelchen Ansprüchen kommen. Laut ihrer Aussage war sie, nachdem ihre Mutter einen Hotelier geheiratet hatte, von ihrem Stiefvater adoptiert worden. Somit war er rechtlich betrachtet raus aus der Sache.

Für diese Überlegung schämte er sich sogleich. Als wäre das von Bedeutung, sollte Sandra tatsächlich seine Tochter …

Das Klingeln des Telefons unterbrach seine Grübelei.

Sigrid murmelte etwas im Halbschlaf.

»Schlaf weiter, ich gehe. Ist vermutlich die Dienststelle«, sagte er, schwang die Beine aus dem Bett und schlüpfte in seine Pantoffeln. Warum die Wache nicht auf seinem Smartphone anrief, das er mittlerweile immer auf dem Nachttischschränkchen liegen hatte, um bei einem Anruf nicht sofort aus den Federn zu müssen, war ihm ein Rätsel. Andererseits war er froh, einen Grund zu haben, endlich aufstehen zu können. An Schlaf war ohnehin nicht mehr zu denken. Das hätte er sich schon vor drei Stunden eingestehen können.

Unten nahm er den Hörer von der Station und stutzte, als er die ihm unbekannte Nummer im Display sah. Doch nicht die Dienststelle? Oder war es jemand von der Streife, der ihn mit einem privaten Handy anrief?

Er räusperte sich und nahm das Gespräch an. »Fischbach.«

Jemand weinte, sprach dann stockend.

Fischbach hörte schweigend zu.

3

Das Brummen eines Motors weckte Hermann Zingsheim. Er schreckte hoch und horchte. Das Geräusch wurde lauter.

Er rappelte sich von der Bank auf, raffte seinen dünnen Schlafsack und das Kopfkissen zusammen, trat dann eilig vor die Holzhütte. Im Osten graute bereits der Morgen. Der Himmel war wolkenlos und versprach erneut einen heißen Sommertag.

Er wollte keine Unannehmlichkeiten.

Seit er nachts hier in der Küchelerhecker Schutzhütte inmitten des Waldes südlich von Marmagen Unterschlupf suchte, fürchtete er, erwischt zu werden. Gut, er hätte auch in seinem alten R4 nächtigen können, den er einige Meter entfernt im Schatten des Waldrandes am Forstweg abgestellt hatte. Doch zog er die Bank in der Hütte vor. Als »Mythen-Jäger« war er oftmals tagelang bei Wind und Wetter unterwegs. Da tat es mitunter gut, sich in einem Bauwagen oder eben in einer Hütte aufzuwärmen. Hier konnte er sich ausstrecken, und es kam bei ihm zumindest ein klein wenig der Eindruck auf, ein Zuhause mit vier Wänden zu haben. Außerdem gab es hinter der Hütte einen Erdkühlschrank, in dem irgendein Verein Getränke lagerte. Hin und wieder gönnte er sich ein Wässerchen, und der Vorrat an Eifeler Landbier hatte sich seit seinem »Einzug« ebenso stetig verringert. Die Zeche blieb er zwar schuldig, da er etwas knapp bei Kasse war. Doch notierte er jede Flasche und würde alles bezahlen, sobald die Sterne für ihn wieder günstiger standen. Das war Ehrensache!

Die Vorhängeschlösser, die Hütte und Kühlschrank vor Leuten wie ihm schützen sollten, hatten für Zingsheim kein Problem dargestellt. Im Knacken besaß er inzwischen eine derartige Fingerfertigkeit, dass ihm eine Einbrecherkarriere offenstehen würde. Ein großer Seitenschneider hätte mit den Vorhängeschlössern ebenfalls kurzen Prozess gemacht. Doch Zingsheim zog es vor, unbemerkt ein- und auch wieder »auszuchecken«. Das bot ihm die Möglichkeit, den Vorwurf des Einbruchs abzuschmettern, sollte er ertappt werden.

Besser war es, gar nicht erst in diese Verlegenheit zu geraten. Daher drückte er das Schloss zu, ging zu seinem Renault R4 und warf sein Schlafzeug in den Kofferraum.

Er horchte erneut.

Das Geräusch war verstummt.

War es nur falscher Alarm gewesen?

Er sah zur Rückseite der Hütte, wo sich der Erdkühlschrank befand. Einige Flaschen Bier standen noch darin. So ein Konterbierchen gegen seine Kopfschmerzen … die er eigentlich überhaupt nicht verspürte … Egal, es wäre aus seiner Sicht trotzdem ein angenehmer und vor allem sättigender Start in den Tag.

Aber Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste. Besser, er verschaffte sich unauffällig Gewissheit, dass er dabei unentdeckt blieb. Das war seine grundsätzliche Maxime. Unter dem Radar bleiben. Dann musste er auch nicht Rechenschaft über irgendwas ablegen! Eine Herausforderung war das für ihn nicht. Er konnte sich so leise und unbemerkt anschleichen wie ein amerikanischer Ureinwohner auf Büffeljagd oder beim Auskundschaften der nordamerikanischen Kavallerie. Er war in der Eifel stets auf der Suche nach Sensationen. Wie zum Beispiel Landungen von Ufos oder Sichtungen von Wesen, die als ausgestorben galten. Die Fähigkeit des Heranpirschens war dabei für einen Erfolg essenziell. Schließlich konnte niemand erwarten, dass die Objekte, denen man mit der Kamera auf den Leib rückte, an Ort und Stelle verharrten, wenn man sich ihnen mit der Geräuschkulisse eines Spielmannszugs näherte.

Nur so hatte es ihm vor einigen Jahren gelingen können, den legendären Eifel-Puma abzulichten. Was für ein Knaller! Im Internet war die Story viral gegangen; eine derartige Reichweite hatte er mit keiner anderen Meldung erlangen können. Leider war die ganze Sache verebbt, als namhafte Zoologen sich einschalteten und behaupteten, sein Puma wäre nur eine große Hauskatze gewesen. So war am Ende zwar ein gewisser Bekanntheitsgrad zurückgeblieben. Doch damit einhergehend auch die Verballhornung als »Eifel-Däniken«, die ihm seitdem häufig entgegenschallte, sobald er erkannt wurde.

Zingsheim griff nach seinem knöchellangen Camouflage-Tarnmantel und schlüpfte hinein. Der Stoff war dick wie Teerpappe, und in der Mittagshitze wäre er darunter vermutlich geschmolzen wie Eis in der Sonne. Doch so früh am Morgen war es auszuhalten. Anschließend zog er seine Sturmhaube über. Nur nicht entdeckt, nicht erkannt werden.

Er grinste, als ihm klar wurde, dass das ein Spleen von ihm geworden war. Dauernd dachte er daran, als hätten seine Gedanken einen Sprung. Wie damals seine geliebte Eagles-Schallplatte. Beim Versuch, deren Welthit »Hotel California« rückwärts abzuspielen, um die geheime satanische Botschaft zu hören, hatte er eine ordentliche Kerbe ins Vinyl gehauen. Ab dem Zeitpunkt sprang die Nadel beim normalen Abspielen nach dem Wort »Mercedes-Benz« jedes Mal einige Liedtextzeilen zurück und setzte bei »Candle« wieder auf. Nur ein gekonnter Stups am Tonarm genau zur rechten Zeit hatte dafür sorgen können, dass sie in der Rille blieb und der Sänger Don Henley den gesamten Liedtext zum Besten gab.

Später hatte er die Platte als neuwertig bei eBay versteigert, zu einer Zeit Mitte der Nullerjahre, als der LP-Boom bei der Onlinebörse einsetzte. Der Erlös hatte für einen durchzechten Abend an der Theke einer Dorfkneipe gereicht. Dunkel erinnerte er sich an die harsche Bewertung des Käufers, die einige Tage später eintrudelte.

Wie auch immer, derart mit Tarnkleidung ausgerüstet, würde er mit dem Hintergrund des Waldes verschmelzen.

Er drückte die Heckklappe leise zu und ging in die Richtung, aus der das Motorengeräusch gekommen war.

Er mied den Forstweg, schlich stattdessen am Waldrand entlang. Hier lag ein dicker Teppich aus abgestorbenen Fichtennadeln, der seine Schritte dämpfte. Nach etwa hundert Metern meinte er, einen hellen Fleck zwischen den Stämmen erkennen zu können, weitere fünfzig Meter später war er sich sicher. Dort stand ein Lieferwagen.

Zingsheim verharrte und versuchte zu erkennen, ob sich Personen in dem Fahrzeug aufhielten. Es regte sich nichts.

Wo war der Fahrer?

War es ein Hundebesitzer, der hier zu früher Stunde mit seinem Vierbeiner Gassi ging?

Oder ein Jäger auf Tour in seinem Revier? Aber fuhren die nicht eher geländegängigere Modelle?

Zumindest schien keine akute Gefahr zu bestehen. Die Hütte hatte der Eigentümer des Wagens wohl nicht als Ziel im Auge, ansonsten hätte er nicht hier geparkt, sondern wäre auf dem Forstweg weiter vorgefahren.

Zingsheim wollte sich schon abwenden und den Rückzug antreten, in Vorfreude auf einen sehr frühen Frühschoppen, als er in dem Wagen ein oranges Flackern bemerkte.

»Verdammt«, zischte er, »die Karre brennt ja.« Er ließ jegliche Vorsicht fahren und rannte los. Denn sollte sich doch noch jemand in dem Auto befinden, ging es womöglich um Sekunden.

Vielleicht hatte der Fahrer mit einer Kippe im Mund einen Herzanfall erlitten und war ohnmächtig zur Seite gekippt. Oder es war ein Schleuser, der versuchte, sich im Laderaum eingepferchter Flüchtlinge zu entledigen.

So furchtbar dieser Gedanke auch war, es wäre immerhin eine Story, aus der sich etwas machen ließe, fand Zingsheim. Dass die Balkanroute ja gar nicht über die Eifel führte, fiel ihm ein, kurz bevor er die Fahrertür erreichte. Also handelte es sich vielleicht gar nicht um Schleuser, sondern um Menschenhändler?

In dem Moment verwandelte sich der Wagen vor ihm in einen riesigen Feuerball.

Eine heiße Druckwelle erfasste Zingsheim und schleuderte ihn nach hinten. Hart schlug er mit dem Hinterkopf gegen einen Baumstamm, und ihn übermannte eine tiefe Schwärze.

4

Fischbach entwand Sigrid die hastig gepackte Reisetasche. »Die nehme ich«, sagte er mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch zuließ. »Die nächsten Tage werden für dich anstrengend genug.«

Keine halbe Stunde war der Anruf her, und schon stand seine Welt kopf.

Er liebte es, abends von der Arbeit nach Hause zu kommen und mit Sigrid beim Essen die Ereignisse des Tages zu besprechen. Ihre Nähe zu spüren, entspannte ihn, sie in den Armen zu halten, ließ sein Herz selbst nach den vielen Jahren immer noch flattern. Dazu die kleinen Dinge, die für das Seelenheil wichtig waren, die lieb gewonnenen Routinen, all das, was man als Alltag bezeichnete und darum kaum einen Gedanken daran verschwendete, bis sie in schmerzlicher Deutlichkeit vermisst wurden, weil das Gegenüber fehlte. Auf all das musste er jetzt eine Weile verzichten.

Die Anruferin war Sigrids Nichte Tanja aus Schweich an der Mosel gewesen, alleinerziehende Mutter von zwei kleinen Kindern und eine überaus liebenswerte Person, zugleich ein Tollpatsch sondergleichen. Was sie soeben erneut unter Beweis gestellt hatte. Vor einer Stunde war sie in der Dusche ausgerutscht. Warum sie mitten in der Nacht duschte, fragte sich Fischbach immer noch. Andererseits erschien es ihm nicht komplett abwegig, sich bei der herrschenden Hitze zu so später Stunde erfrischen zu wollen. Unglücklicherweise hatte Tanja sich dabei einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen. Hätte ihr vierjähriger Sohn sie nicht rufen gehört und ihr das Telefon gebracht, läge sie jetzt bestimmt immer noch in der Duschtasse. Glück im Unglück. Tanja hatte auf dem Weg ins Krankenhaus angerufen, um Sigrid unter Tränen zu bitten, die Nachbarin abzulösen und auf ihre Kleinen aufzupassen. Sigrid hatte sofort zugesagt.

Fischbach ahnte, dass sich die Unterstützung nicht auf wenige Tage beschränken würde. Eher würden Wochen daraus werden. Denn seine Frau würde niemals zulassen, dass Tanja sich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus um eine von der Krankenkasse bezahlte Haushaltshilfe bemühte.

Sigrid sah zu ihm auf. »Du kommst doch ohne mich klar, oder?«

»Bin ja schon groß«, sagte Fischbach tapfer.

Sie legte den Kopf an seine Brust. »Ich muss los. Klaus wartet.«

Klaus, das war der Kommerner Pfarrer Klaus Levknecht, Fischbachs Kumpel und so wie er Mitglied der K-Heroes, ihres Motorradclubs. Levknecht hatte sich ohne zu zögern bereit erklärt, Sigrid zu fahren, als Fischbach ihn vorhin angerufen und von dem Noteinsatz berichtet hatte, zu dem er seine Frau leider nicht selbst begleiten konnte.

Sie traten vor die Tür.

Der Pfarrer stand rauchend an seinem Wagen. Sein schlaksiger, dürrer Körper steckte in einem Jogginganzug, die knorrige Nase warf im Licht der aufgehenden Sonne einen markanten Schatten auf sein Gesicht.

»Du rauchst wieder?«, rutschte es Fischbach heraus.

»Nette Begrüßung. Dir auch einen gesegneten Tag«, entgegnete Levknecht. Er beugte sich leicht vor und begrüßte Sigrid mit einer Umarmung. Dann wandte er sich wieder an Fischbach. »Wenn du dich mal öfters bei unseren Treffen sehen lassen würdest, wärest du im Bilde.«

»Ich … äh … meine ja nur, weil … du hattest doch aufgehört … also …«, stammelte Fischbach ertappt. »Der Dienst. Wir hatten einen Mordfall … die Tage erst.« Er brach ab. Was für eine fadenscheinige Ausrede. Als wäre das der einzige Grund, weshalb er die Treffen der vergangenen Monate versäumt hatte. In Wirklichkeit war er meist zu faul gewesen, sich aufzuraffen.

Levknecht trat die Zigarette aus. »Übrigens treffen wir uns morgen wieder. Hatte ich dir ja geschrieben. Allerdings keine Antwort erhalten.« Er seufzte übertrieben, um sodann Shakespeare zu zitieren: »Gebt, Götter, mir Geduld! Geduld tut not!« Der Pfarrer liebte es, mit Aphorismen um sich zu werfen.

Fischbach wusste, dass sein Freund nicht wirklich verärgert war, auch wenn es auf Außenstehende so wirken mochte. Er stellte die Reisetasche in den Kofferraum. »Danke, dass du dir die Zeit nimmst.«

»Ist doch selbstverständlich. Wo die Not groß ist, ist die Hilfe in der Nähe«, erwiderte Levknecht. »Aber neugierig bin ich trotzdem. Was ist mit deiner BMW?«

Er meinte damit Fischbachs zweites Motorrad, eine BMW Baujahr 1960 mit Felber-Beiwagen. Damit fuhren Sigrid und er hin und wieder aus.

»Zylinderkopfdichtung. Der Block ist zum Planschleifen in der Werkstatt.«

»Verstehe, das kann dauern, ist sehr aufwendig. Dann mal los.«

Fischbach wartete, bis der Wagen aus seinem Blickfeld verschwunden war, dann ging er zurück ins Haus. Stille empfing ihn. Schon jetzt kamen ihm die eigenen vier Wände fremd und ungemütlich vor. Er sah auf die Uhr, beschloss, sich einige Minuten, angezogen wie er war, aufs Bett zu legen. Vielleicht fand er trotz der Aufregung noch eine Mütze voll Schlaf.

Im Schlafzimmer streifte er die Schuhe ab und legte sich auf die Matratze. Er zwang sich, bewusst ein- und wieder auszuatmen, konzentrierte sich auf das Heben und Senken seines Brustkorbs, versuchte, die in alle Richtungen davonstrebenden Gedanken loszulassen, keinem bewusst zu folgen. Es half, er spürte, wie Müdigkeit von ihm Besitz ergriff und ihm die Augen zufielen.

Es schienen nur Minuten vergangen zu sein, als Fischbach wenig später aus einem traumlosen Schlaf aufschreckte. Sein Smartphone vollführte surrend einen Tanz auf dem Nachttisch. Er griff danach und stellte erstaunt fest, dass es bereits nach acht Uhr war und langsam Zeit wurde, den Weg ins Büro anzutreten. Aber die eigentliche Überraschung stellte die auf dem Display angezeigte Nummer dar.

Diesmal kannte er sie.

Allerdings war es wider Erwarten nicht die Dienststelle.

5

Mit einer Tasse schwarzem Tee in der Hand saß Jan Welscher auf dem Balkon und streckte das Gesicht der Sonne entgegen. Es war der erste Morgen nach dem Bruch seiner Beziehung mit Lars, an dem er nicht aufgewacht war und sofort Trübsal geblasen hatte.

War er damit darüber hinweg?

Sicherlich nicht, dafür war es viel zu früh. Drei Tage war die Trennung erst her. Er spürte weiterhin ein Gefühlschaos in sich toben. Lars’ Vertrauensbruch hatte Welscher tief verletzt. Er fühlte sich von ihm verraten, war wütend und zugleich enttäuscht. Auch stellte er sich die Frage, ob er etwas falsch gemacht hatte, ob er Schuld an dem Schlamassel trug. So ganz unvorstellbar war das nicht. Immerhin war er seinem Partner nicht nach New York gefolgt, wie anfänglich geplant. Hatten die Ernüchterung darüber und die eher schwierig zu händelnde Fernbeziehung Lars in die Arme eines anderen getrieben?

All das beschäftigte Welscher.

Doch es hatte sich trotzdem etwas verändert. Der Schmerz über den Verlust loderte nicht mehr so heftig wie anfangs in seiner Brust. Die letzte Nacht hatte er durchgeschlafen, ohne mit einem tränennassen Kopfkissen aufzuwachen, und er hatte sich beim Duschen bei der Einsicht ertappt, dass so ein Schlussstrich auch etwas Gutes hatte. Er befreite ihn davon, sich weiterhin den Kopf darüber zu zerbrechen, wie diese Beziehung trotz der Tausenden von Kilometern, die sie trennten, funktionieren könnte. Beim Abtrocknen war ihm sogar trotzig der etwas abgegriffene Spruch in den Sinn gekommen, dass andere Mütter auch schöne Söhne hatten.

»Moin. Stör ich?«

Welscher schirmte die Augen mit einer Hand vor der grellen Sonne ab.

Maila Aalto, seine WG-Partnerin mit finnischen Wurzeln und zugleich Kollegin, ließ sich auf den freien Stuhl an seiner Seite fallen, ohne eine Antwort abzuwarten. »Wäre mir auch egal«, ergänzte sie mit einem frechen Grinsen im Gesicht. In der Hand hielt sie eine Schüssel mit Porridge, einige Beeren bildeten das Topping. Sie löffelte los, fragte mit vollem Mund: »Immer noch keinen Hunger?«, und wies mit dem Kinn in Richtung der Teetasse.

Die letzten Tage hatte Welscher keinerlei Appetit auf irgendetwas verspürt und daher kaum etwas gegessen. Jetzt horchte er in sich hinein, wie auf Kommando knurrte sein Magen.

Maila Aalto lachte. »Bist wohl unter die Bauchredner gegangen.«

Welscher fiel mit ein.

»Oha!«, rief seine Kollegin gespielt erschrocken und zog die Augenbrauen nach oben. »Jetzt bekomme ich Angst. Weitere seltsame Laute von dir.«

Welscher stellte die Tasse auf die Fensterbank. »Muss ja weitergehen.«

Gestern noch wäre ihm das nicht über die Lippen gekommen. Es schien tatsächlich aufwärtszugehen.

»Ich hol mir was zu beißen.«

»Hör ich gerne. Bringste mir einen Kaffee mit?«

»Mach ich.«

Mit einer Käsestulle und einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand, die er an Maila weiterreichte, kehrte er wenig später zurück. Beherzt biss er ins Brot. »Mhm, schmeckt richtig gut.«

»Ist aber auch ein besonderer Käse. Habe ich vorgestern auf dem Gröner-Hof in Loogh organisiert. Was anderes kommt mir nicht mehr in den Freezer.«

Sie aßen eine Weile schweigend, dann fragte Welscher: »Feierst du heute wieder Überstunden ab?«

Sie kratzte die Reste aus ihrer Schüssel und schleckte den Löffel ab. »Denke schon. Ist ja im Moment nicht viel los.«

»Jo, Sommerloch«, bestätigte Welscher. »Wir kümmern uns derzeit auch nur um kleinere Delikte.« Was ihm nur recht war. Mit seinen Achterbahn fahrenden Gefühlen nach der Trennung war er froh, sich nicht direkt wieder in einen komplizierten Mordfall hineinfuchsen zu müssen.

»Ich schlage vor, du nimmst dir auch frei«, sagte Maila Aalto.

»Warum?«

»Dann können wir endlich unser Aufgebot bestellen, Schatz.« Sie grinste.

Welscher verschluckte sich an seinem Tee und hustete unkontrolliert. Als er wieder Luft bekam, setzte er zu einer Entgegnung an. »Maila, ich …«

»Schon gut«, unterbrach sie ihn. »Wollte nur abchecken, ob du schon wieder zum Scherzen aufgelegt bist. Ist wohl noch zu früh. Aber für einen Ausflug wärest du doch zu haben, oder?«

Bevor Welscher etwas erwidern konnte, erklang im Wohnzimmer die finnische Nationalhymne. Maila verzog das Gesicht und stand auf. »Ach, Scheiße. Wo wir doch gerade so schön am Flirten waren.« Sie zwinkerte ihm amüsiert zu und ging hinein, um den Anruf entgegenzunehmen.

»Verrücktes Huhn«, murmelte Welscher. Gott sei Dank war ihre Freundschaft nur platonischer Natur. Denn wäre es anders, und seine Kollegin würde echte Gefühle für ihn hegen, konnte die Sache mehr als kompliziert werden. Sie wohnten zwar noch nicht lange zusammen, doch Welscher gefiel es hier inzwischen ausgezeichnet. Zur Dienststelle waren es nur wenige hundert Meter die Kölner Straße runter, die Wohnung war großzügig geschnitten, und der Balkon ging nach hinten raus, zum Innenhof. Auch wenn man den Euskirchener Innenstadtverkehr noch hören konnte, war es hier draußen durchaus auszuhalten. Und mit Maila hatte er immer etwas zu lachen … zumindest in den Zeiten, in denen er nicht von Liebeskummer heimgesucht wurde.

Er trank seine Tasse leer und überlegte, sich tatsächlich einen freien Tag zu gönnen, um mit Mailas Unterstützung weiter seine trüben Gedanken anzufechten. Dabei fiel ihm ein, dass er sich eigentlich um einen neuen Wagen kümmern müsste. Sein Chef hatte ihn neulich erst darauf hingewiesen, dass die Nutzung eines Dienstwagens für private Zwecke nur eine Übergangslösung sein durfte. Welscher dachte an seinen Porsche. Den hatte er verkauft, als er noch plante, mit Lars nach Amerika auszuwandern. Er hätte nichts dagegen, wieder einen zu fahren, doch der Unterhalt war recht kostenintensiv gewesen. Daher überlegte er, sich ein sparsameres Vehikel zuzulegen. Sogar ein Elektroauto schloss er nicht aus. Die Tiefgarage des Hauses war mit Wallboxen ausgestattet, was das Aufladen vereinfachte.

Vielleicht würde es Maila gefallen, mit ihm von Autohaus zu Autohaus zu dackeln, um einige Modelle zur Probe zu fahren? Immerhin lag ihr Benzin im Blut, davon zeugte ihre pfeilschnelle Yamaha. Ein stinkendes und infernalisch heulendes Gerät, das einst ihrem Vater gehört hatte. Tragischerweise hatte der bei einem Unfall mit der motorisierten Rakete beide Beine verloren. Was Maila jedoch nicht davon abgehalten hatte, die Maschine wieder herzurichten und selbst zu nutzen. In Welschers Augen war das schon irgendwie morbide.

Maila erschien in der Balkontür. Ihr Handy hielt sie locker auf Hüfthöhe. Das Gespräch hatte sie offensichtlich beendet.

Welscher traf eine Entscheidung und rappelte sich aus dem Stuhl. »Okay, überredet. Ein wenig Ablenkung wäre schön. Ich nehme auch frei. Wo soll es hingehen?«

Sie blickte ihn verwirrt an. »Was meinst …? Ach so, das. Daraus wird heute nichts.«

»Wie? Kein Ausflug?«, fragte Welscher ein wenig enttäuscht. Einmal dazu durchgerungen, hatte er sich darauf gefreut, mit ihr durch die Gegend zu streifen und den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen.

»Doch, doch, Ausflug schon, irgendwie.« Sie grinste schief.

»Aber?«

»Du musst dafür nicht freinehmen.«

»Ich verstehe nur noch Bahnhof.«

»Du bist im Moment wirklich noch schwer von Kapee. Wir haben einen Einsatz!«

6

Von Kommern aus waren es nur wenige Minuten bis zur Nachbargemeinde Sinzenich, ein Ortsteil von Zülpich. Fischbach genoss den Abstecher. Jetzt, am frühen Morgen, war die Luft angenehm klar und frisch. Er fuhr durch den Ort und bog dann rechts in die Lizenicher Straße ein.

Ein Stück weiter stellte er seine Maschine auf dem kleinen Platz vor dem steinernen Kreuz mit der Marienstatue ab. Direkt daneben parkte ein silber-blauer Polizeiwagen. Rundherum standen Einfamilienhäuser, Stellplätze vor den Haustüren, einige Gärten durch Hecken von der Straße abgeschirmt.

Die Fahrertür des Streifenwagens schwang auf, und Thomas Gilles stieg aus. Mit diesem Kollegen hatte Fischbach bereits einige bizarre Situationen erlebt. Gilles war ein fähiger Beamter, doch neigte er zur Selbstgefälligkeit und klopfte manches Mal Sprüche, die nicht mehr in die Zeit passten und den Adressaten daher immer häufiger aufstießen. Einmal hätte ihn das sogar fast seinen Job gekostet. Immerhin hatte Gilles ein Einsehen gehabt und versuchte mittlerweile, sich zu ändern. Was ihm mal mehr, mal weniger gut gelang.

Fischbach sah über einige Eskapaden des Kollegen hinweg, da er wusste, dass unter der ungehobelten Schale, die Gilles im Dienst gern an den Tag legte, ein feinfühliger Kerl steckte. Gilles half ehrenamtlich auf dem Gnadenhof seines gebrechlichen Onkels aus. Ohne seinen Einsatz wäre das Tierwohl dort nicht mehr gewährleistet. Das war ihm hoch anzurechnen.

Fischbach schaute durch die Heckscheibe in den Wagen. »Du bist alleine unterwegs?«, fragte er und begrüßte Gilles mit einem festen Handschlag.

Üblicherweise waren die Streifenpolizisten zu zweit auf Achse, um sich bei Gefahr in Verzug gegenseitig Beistand leisten zu können.

»Habe die Kollegin zur Wache gefahren. Sie soll schon mal die Berichte tippen. Die Frauen können das ja auch besser mit ihren flinken …«

Fischbach unterbrach die Ausführung mit einem vernehmlichen Räuspern.

Gilles’ Wangen färbten sich rot. »Was? Ach so, ja. Okay … also … ähm, blöd von mir. Dachte nur, weil wir ja hier unter uns …«

»Auch dann nicht.«

»Verstehe, verstehe, dann vergiss das mal rasch.«

Fischbach nickte gönnerhaft. Er selbst hatte auch so seine liebe Not damit, sich dem Zeitgeist entsprechend auszudrücken. Daher wusste er die Herausforderung, der Gilles gegenüberstand, bestens einzuordnen. Um festgefahrene Gepflogenheiten zu ändern, bedurfte es großer Anstrengung. »Zurück zum Wesentlichen. Was ist los? Warum hast du mich hierhergerufen?«

»Es geht um die Sache da.« Gilles wies auf die Straße.

Fischbach war schon bei seiner Ankunft aufgefallen, dass sich hier ein Verkehrsunfall ereignet hatte. Bremsspuren waren mit Kreide gekennzeichnet worden, und der dunkle Fleck auf dem Asphalt deutete auf wenigstens eine bei dem Unfall schwerwiegend verletzte Person hin. »Dann wäre ein Anruf beim Verkehrsunfallaufnahmeteam die richtigere Wahl gewesen. Ich habe doch damit nichts zu tun.«

»Die Jungs waren schon hier. Sind vor einer Stunde wieder abgerauscht.«

»Waren keine Frauen dabei?«

»Was … ach so, ja … klar, ein Mädel … äh … Kollegin meine ich … Die war auch dabei.«

»Was für eine schwierige Geburt«, brummte Fischbach. »Ob das Umdenken bei dir irgendwann von Erfolg gekrönt sein wird, da habe ich Zweifel.«

»Divers war aber niemand«, ergänzte Gilles mehr an sich selbst gewandt, nahm seine Dienstmütze vom Armaturenbrett und setzte sie schwungvoll auf. »Widmen wir uns jetzt wieder den wichtigen Themen im Leben. Es war kein Unfall.«

»Bitte? Etwa etwas für uns? Warum hat uns denn dann keiner benachrichtigt?«

»Sah ja zunächst nach Routine aus. Inzwischen zeigt sich aber ein anderes Bild. Bestimmt wirst du gleich offiziell benachrichtigt. In aller Freundschaft habe ich den kurzen Dienstweg gewählt und dich direkt angerufen. Ich hoffe, das ist dir recht. Komm mal mit.«

Während sie über die Straße gingen, berichtete Gilles. »Der Unfall ereignete sich heute Nacht um kurz vor zwei. Eine Frau wurde dabei lebensbedrohlich verletzt und ins Krankenhaus nach Mechernich gebracht.« Er deutete mit der Hand vage die Richtung an. »Der RTW und der Notarzt waren zwar rasch zur Stelle, doch es gibt wohl leider wenig Hoffnung, dass sie es übersteht.«

»Scheiße«, knurrte Fischbach und meinte damit nicht nur den kritischen Status des Opfers, sondern auch das, was die Kolleginnen und Kollegen letzte Nacht demnach zu sehen bekommen hatten. Die Leichen, derer er bei seinen Fällen ansichtig wurde, reichten ihm voll und ganz. Er war froh, keine Streife mehr zu fahren.

Sie steuerten auf ein Haus auf der anderen Straßenseite zu.

»Habt ihr den Fahrzeugführer?«, fragte Fischbach.

»Nein«, antwortete Gilles. »Der ist längst über alle Berge. Er öffnete das Tor, ging zur Haustür und klingelte.

Beinahe sofort wurde die Tür aufgerissen. Ein schlaksiger Teenager stand vor ihnen. Er trug ein T-Shirt mit einem riesigen »K« auf der Brust, drum herum konnte Fischbach »Kraftklub« lesen. Vermutlich die Bezeichnung eines ortsansässigen Fitnessstudios. Der junge Mann trat zappelig von einem Bein auf das andere, deutete in den Flur und nuschelte etwas.

»Habe kein Wort verstanden«, raunte Fischbach.

»Wir sollen mitkommen«, übersetzte Gilles. »Seine Eltern sind bei der Arbeit. Wir dürfen aber trotzdem mit ihm sprechen, habe ich vorhin mit denen abgeklärt.«

Über eine steile Treppe ging es in das oberste Stockwerk. Sie betraten ein großes Zimmer. Routiniert verschaffte sich Fischbach einen Überblick. Offenbar war dies das Reich des jungen Mannes. Das Bett war zerwühlt, der Kleiderschrank stand offen. Darin sah es aus, als hätte jemand die Wäsche mit einer Kanone hineingeschossen. Bügel schien es für die Kleidungsstücke nicht zu geben. In einer Ecke stand ein Kleintierkäfig, ein Meerschweinchen fiepte aufgeregt. An der Wand hing ein Kalender. Das Blatt zeigte einen Rennwagen, die Initialen »JP« waren in fetten Lettern in der linken oberen Ecke abgedruckt. Fischbach assoziierte damit »John Player«. In jungen Jahren war er öfters am Nürburgring und fasziniert von dem Design der mit goldenem Schriftzug versehenen schwarzen Wagen des Rennteams gewesen. Allerdings war er sich fast sicher, dass es richtigerweise »JPS«, »John Player Special« hätte heißen müssen. Es schien sich um einen Fehldruck zu handeln. Er überlegte kurz, den jungen Mann darauf hinzuweisen, ließ es aber bleiben. Er war nicht hier, um solche Lappalien richtigzustellen.

Dominiert wurde der Raum von einem Schreibtisch, auf dem drei Monitore standen. An der vorderen Kante klemmte ein Lenkrad, ein Satz Pedale stand unter der Tischplatte auf dem Boden. Auf den Monitoren lief ein Autorennspiel. Im Mülleimer lagen etliche geleerte Energydrinks, was das zappelige Verhalten des Jungen erklärte.

Ein normales Jugendzimmer, schloss Fischbach.

Der Teenager wies auf das große Fenster seitlich des Schreibtischs. »Da.«

Fischbach trat näher.

Gilles stellte sich an seine Seite. »Von hier oben hast du die gesamte Straße im Blick. Der Junge heißt übrigens Zacharias Bäumler.«

Es bedurfte keiner großen Kombinationsgabe, um zu wissen, worauf das hier hinauslief, daher sagte Fischbach: »Er hat alles gesehen.«

»Fast alles, ja.«

Sie drehten sich um.

Zacharias hatte auf dem Bett Platz genommen. In der Hand hielt er eine Dose, auf der zwei rote Bullen mit gesenkten Köpfen aufeinander losgingen.

Während Fischbach überlegte, ob er den jungen Mann siezen sollte, eröffnete Gilles das Gespräch.

»Erzähl bitte meinem Kollegen, was du mir vorhin berichtet hast.«

Zacharias nahm einen Schluck aus der Dose, nuschelte dann temporeich einen Satz.

»Was?«, hakte Fischbach nach. »Es tut mir leid, ich habe wieder nichts verstanden.«

Der junge Mann verdrehte die Augen, rülpste und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Immer das Gleiche mit eurer Altersklasse«, beschwerte er sich, diesmal klar und deutlich. »Wenn ich mal so werde, dann erschieße ich mich.«

»Wie freundlich«, entgegnete Fischbach ein wenig düpiert.

Gilles ließ sich mit einem Lacher auf den Schreibtischstuhl fallen und umfasste das Lenkrad. »Da haben sich ja zwei gefunden«, rief er. »Wie funktioniert das hier eigentlich?«

Zacharias sprang auf, ergriff die Maus und bewegte den Cursor über den Bildschirm. Es schien ihm zu gefallen, dass sich jemand für das Spiel interessierte. »Arcade-Modus«, sagte er. Ein Countdown erschien. »Einfach drauflos. Gangschaltung steht auf Automatik. Nur lenken, bremsen und Gas geben.«

»Krieg ich hin«, verkündete Gilles. »Habe schon unzählige Fahrsicherheitstrainings gehabt. Das hier ist garantiert ein Witz dagegen.«

Zacharias hob skeptisch die Augenbrauen. »Hm, okay, da bin ich aber jetzt wirklich gespannt, was ihr Bullen so draufhabt.«

»Dann pass mal auf.« Gilles trat das Gaspedal durch. »Und übrigens: ›Bullen‹ sagt man nicht.« Sein Wagen schoss über die virtuelle Fahrbahn und rammte das Heck eines Vorausfahrenden.

»Geht ja gut los«, lästerte Zacharias.

»Alles Absicht«, erklärte Gilles. »Mit einem gezielten Hecktreffer kannst du Flüchtige aus der Spur bringen und somit stoppen. Oder dir einen Vorsprung verschaffen. Lass mich mal machen. Und berichte dem Kollegen bitte solange, was du gesehen hast.«

Zacharias verfolgte noch einige Sekunden skeptisch, was Gilles da trieb, wandte sich dann aber folgsam Fischbach zu. »Weißer Lieferwagen, ein Transit, meine ich, bin mir aber nicht sicher. Könnte auch ein Volkswagen gewesen sein. Das hat vielleicht gerumst, hörte sich echt creepy an. Nicht gesund, weißt schon, was ich meine. Ich bin sofort hochgeschossen und zum Fenster gerannt. Rennsieg zwar futsch, aber musste sein. Weil es so anders war, das Geräusch. So richtig schlimm eben, da muss man einfach wissen, was los ist. Und das hat jetzt nichts mit Gaffen oder so zu tun. Ich habe auch keine Fotos fürs Internet …«

Fischbach hob die Hand. »Alles in Ordnung. Niemand wirft dir etwas vor.«

Zacharias nickte, setzte seine Dose an die Lippen, trank sie in einem Zug leer und zerknüllte sie. »Will ja nicht wie ein Perverser rüberkommen.« Mit einem gekonnten Wurf versenkte er die Dose im Mülleimer. Es schepperte blechern.

»Tust du nicht, keine Sorge«, versicherte Fischbach. »Um wie viel Uhr war das?«

Der junge Mann überlegte kurz. »So kurz vor zwei, plus minus ein paar Minuten.«

»Gut. Und was hast du gesehen?«

»Die Frau lag auf der Straße, der Wagen stand. Mann, der Typ hatte die voll erwischt.«

»Typ?«, hakte Fischbach nach.

»Hab dich, du Drecksau!«, rief Gilles. »Schon Platz dreizehn!«

Fischbach zwang sich zur Selbstbeherrschung. Es nervte ihn zwar, was Gilles dort trieb. Er vermutete jedoch, dass der Kollege sich diesmal nur deswegen zum Affen machte, um für Zacharias eine gefälligere Atmosphäre zu schaffen. Allerdings konnte man sich bei Gilles in solchen Dingen nie sicher sein.

Zacharias zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, war nur so dahergelabert. Kann auch eine Frau gewesen sein. Das Licht der Straßenlaterne wurde von der Frontscheibe reflektiert, im Inneren war nichts zu erkennen.«

»Ist der Fahrer nicht ausgestiegen?«

Der Junge zögerte mit der Antwort. »Weiß nicht genau. Kann schon sein.«

»Aber?«

»Der Wagen stand im Weg, ich konnte auf der Fahrerseite nichts sehen.«

»Okay, da kann man nichts machen. Konntest du ein Kennzeichen erkennen?«

»Keins dran.«

»Sicher? Könnte es bei dem Unfall nicht abgerissen sein?«

»Nee«, warf Gilles ein. »Es wurde keins gefunden.« Er kurbelte wild am Lenkrad und zischte: »Dich Sackgesicht krieg ich auch noch.«

Das war tatsächlich ungewöhnlich. Fischbach überlegte. Hatte jemand der Frau aufgelauert, um sie mit Absicht zu überfahren? Das Entfernen des Kennzeichens würde in diesen Denkansatz bestens hineinpassen. Während er noch über Alternativen nachsann, verzog Zacharias das Gesicht.

»Als der dann zurückgesetzt hat … und wieder … drüber ist, da … da … da … hat was geknackt. Laut … Ich meine, so richtig laut.«

Fischbach horchte auf. »Zurückgesetzt? Verstehe ich das richtig? Er hat die Frau noch mal überfahren?«

Zacharias nickte und schluckte. Jegliche Farbe war ihm aus dem Gesicht gewichen. »Zweimal sogar. Hin und her … und dann … noch mal. Die Frau … Da war plötzlich überall Blut … Sie lag in ihrem Blut wie ein … abgestochenes Schwein.«

Fischbach tat der junge Mann leid. So etwas sollte niemand sehen müssen. »Was ist dann geschehen?«

»Habe die 112 gewählt und bin runter. Meine Eltern haben gesagt, ich hätte geschrien, aber daran erinnere ich mich nicht mehr. Ich bin rausgerannt … Der Wagen war weg. Die Frau … Ich hatte gerade einen Kurs in Erste Hilfe … weil ich den Führerschein …« Er schwankte. »Aber so … stellt man sich das doch nicht vor. Die Frau sah aus wie … zermatscht.« Er sah zur Decke und blinzelte Tränen fort.

Gilles stellte den Spielsound aus und drehte sich zu Fischbach um. »Deswegen habe ich dich auch sofort angerufen, Hotte. Ich wollte, dass du es direkt aus dem Mund des Jungen hörst.«

Fischbach nickte und warf einen Blick auf Zacharias, verstand nun, was mit ihm los war. Der Junge war nicht allein wegen der Energydrinks so fahrig und aufgekratzt. Er stand unter Schock und benötigte Hilfe. Wie hatten die Eltern das nicht erkennen können? Oder Gilles? Aber er ging zu hart mit ihnen ins Gericht. Ihm selbst war der Zustand des Jungen am Anfang für einen übernächtigten Teenager nicht ungewöhnlich vorgekommen. Allerdings hatte er da auch noch nichts von dessen Erlebnis in der Nacht gewusst. »Setz dich«, wies Fischbach ihn an.

Zacharias folgte der Aufforderung. Er wirkte kraftlos und müde, trotz der anregenden Wirkung des Koffeins.

»Du wartest hier. Rühr dich nicht vom Fleck. Am besten, du legst dich einen Moment hin«, sagte Fischbach, winkte dann Gilles mit sich.

Vor der Haustür wies er den Kollegen an: »Ruf einen Arzt. Der soll nach dem Jungen schauen. Dann benachrichtige die Eltern. Ich fahre rüber zum Krankenhaus. Vielleicht ist die Frau trotz der Verletzungen vernehmungsfähig.«

Gilles nickte und eilte zum Streifenwagen. Auf halbem Weg blieb er stehen. »Ach, eins noch.«

»Ja?«

»Die Tasche der Frau.«

»Welche Tasche?«

»Sie hatte eine Reisetasche dabei. Die muss sie vor dem Unfall auf dem Bürgersteig abgestellt haben. Stand immer noch dort, als das Verkehrsunfallaufnahmeteam bereits abgedampft war. Ich habe sie im Kofferraum. Willst du reinschauen?«

Fischbach überlegte einen Moment. »Wissen wir denn, wer das Opfer ist?«

»Ja, das haben wir anhand der Papiere, die sie dabeihatte, feststellen können.«

»Dann soll deine Ablöse die Tasche ins Krankenhaus bringen. Noch gibt es keinen Grund, in den Privatsachen der Frau herumzuschnüffeln.«

»Ist gut, gebe ich weiter.« Gilles hob die Hand zum Abschied.

Fischbach stieg auf die Harley. Doch bevor er den Motor starten konnte, klingelte sein Handy.

Déjà-vu, dachte er und nahm das Gespräch an.

7

Immer noch loderten Glutnester auf, angefacht von der leichten Brise, die aus Westen her über das Land strich und immerhin dafür sorgte, dass der Rauch fortgetrieben wurde. Der unverminderten Aufmerksamkeit der Feuerwehrleute war es zu verdanken, dass sich daraus kein Flächenbrand entwickelte. Sobald ein Funken aufstob, war jemand zur Stelle und löschte beherzt.

Welscher vermutete, dass der Brand ohnehin nur deswegen unter Kontrolle war, weil die Einsatzkräfte aus Marmagen in Windeseile zur Stelle gewesen waren. Hätte der Zeuge, der in eine Rettungsdecke gehüllt im RTW saß und von den Sanitätern behandelt wurde, den Notruf nicht bereits kurz nach der Explosion des Fahrzeugs abgesetzt, wäre es hier zur Katastrophe gekommen. So waren nur einige Bäume Opfer des Feuers geworden. Wie übergroße schwarze Zahnstocher ragten die rußgeschwärzten Stämme gen Himmel. Der heiße Sommer und die lange Trockenperiode hatten dafür gesorgt, dass das Gehölz entzündlicher war als ein Streichholz.

Maila Aalto trat zu ihm. »Wir fangen gleich an.« Sie wies auf einen grauen VW-Bus, der gerade auf dem Forstweg einbog. »Mein Team ist da.«

»Kann ich helfen?«, fragte Welscher. Er betrachtete das ausgebrannte Autowrack. Gemäß der Form der Karosserie handelte es sich um einen Kleintransporter. Welche Farbe, war allerdings aufgrund der Brandschäden rein visuell nicht mehr zu bestimmen. Dazu musste erst das Labor bemüht werden. Die Motorhaube war aufgesprungen und bot Sicht auf den verkohlten Motorblock. Alle Kunststoffteile des Wagens waren weitestgehend verbrannt, die Scheiben vom Druck der Explosion herausgesprengt. Glasgranulat lag verstreut um das Fahrzeug herum, knirschte vernehmlich unter den Stiefelsohlen der Einsatzkräfte. Von den Sitzen waren nur Gerippe übrig, Geflechte aus Draht und Metallfedern, die aussahen wie riesige Zahnspangen. Die Leiche lag zur Unkenntlichkeit verbrannt zwischen Beifahrersitz und Armaturenbrett. Löschschaum lief am Blech herab, benetzte den Boden und löste sich dort auf. Zwei Feuerwehrleute mit großen Feuerlöschern in den Händen bewachten das Wrack, das eine Wärme ausstrahlte, die Welscher selbst in gut zwanzig Metern Entfernung noch auf der Haut spüren konnte.

»Lieber nicht«, antwortete Maila Aalto. »Die Grisus haben von den Spuren, die nicht den Flammen zum Opfer gefallen sind, die meisten mit Sicherheit eh schon vernichtet. Muss jetzt nicht noch ein weiterer Laie dort herumstolpern. Lass erst mal die ran, die qualitativ hochwertige Arbeit verrichten. Danach könnt ihr euch umschauen.« Sie grinste frech.

Auf die Stichelei ging Welscher gar nicht ein, er hatte gerade andere Probleme. Bereits der Anflug des süßlichen Geruchs, den er immer dann wahrnahm, wenn sich der Wind kurz drehte, reichte aus, um bei ihm einen Würgereiz hervorzurufen. Ihm war es daher nur recht, erst einmal außen vor zu bleiben und den Blick auf die Leiche im Fahrzeug vermeiden zu können.

»Ich überwache dann nachher auch den Abtransport«, verkündete Maila Aalto.

»Des Fahrzeugs?«

»Ja. Um die Leiche kümmern wir uns auch, die Rechtsmedizin ist bereits informiert.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich denke aber, die werden kaum noch Antworten auf eure Fragen finden.«

»Wirf die Flinte nicht zu früh ins Korn. DNA, dentaler Zustand, die Knochen … Es gibt schon noch Mittel und Wege, selbst in diesem Zustand.«

»Stimmt auch wieder. Hier.« Sie reichte ihm den Schlüssel ihres Minis. »Ich fahre nachher mit den anderen zurück.«