Eigentlich müsste ich längst tot sein - Markus Hänni - E-Book

Eigentlich müsste ich längst tot sein E-Book

Markus Hänni

4,8

Beschreibung

"Ich bin davon überzeugt, dass Gott mit jedem Menschen einen Weg geht. Und die Strecke, die er für den einzelnen herausgesucht hat, ist sehr unterschiedlich." Markus Hänni Markus Hänni hat Mukoviszidose - eine genetisch bedingte Stoffwechselkrankheit. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 30 Jahren. Jetzt ist er 29. Markus Hänni müsste eigentlich längst tot sein. Er könnte jederzeit ersticken. Wie lebt man ein Leben im Angesicht des Todes? Markus Hänni kennt die Antwort. Seit seiner Kindheit haben ihm die Ärzte sein nahes Ende vor Augen gemalt. Bis er es nicht mehr aushielt und sich das Leben nehmen wollte. Doch wie durch ein Wunder scheiterte der Selbstmordversuch. Das änderte seine Sicht des Lebens grundlegend. Seither begreift er jeden Tag als Geschenk. Sein Buch macht Mut. Und die Lebensweisheit, die er im Angesicht des Todes entfaltet, hat große Tiefe.

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Seitenzahl: 139

Veröffentlichungsjahr: 2012

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In Dankbarkeit für die besten Eltern der Welt.
Und für B.
„Ich bin 29 und eigentlich sollte ich längst tot sein.
Aber man muss ja nicht immer das tun, was andere sagen.“
Markus Hänni

Inhalt

Prolog

1: Winterträume in Valbella

2: Todesangst und große Fragen

3: Elternliebe. Meine Reise in die Vergangenheit

4: Der Tag des Rückschlags

5: Herzklopfen

6: Todessehnsucht

7: Sterbenskrank und lebenslustig

8: Wer bin ich eigentlich?

9: Familienbande

10: Mehr als ein Nachwort: Zeilen an meine große Liebe

Danksagung

Was ist Mukoviszidose?

Informationen

Vita

Markus Hänni vor der Eiger-Nordwand, in seiner Heimat, dem Berner Oberland (Schweiz).

Prolog

Ich wusste, wo die Ampullen lagen, die den Herzmuskel lahmlegten und einen sanften Tod versprachen.

Eine Zeit lang schlich ich um die Stelle herum und blickte mich um. Niemand war zu sehen. Also schnappte ich mir eine Packung, steckte sie in die Tasche meines Morgenmantels und verschwand auf meinem Zimmer.

Es war an der Zeit zu gehen.

Die traurige Geschichte des Zwillingsbruders Markus Hänni aus Toffen bei Bern in der Schweiz sollte an dieser Stelle ein für alle Mal enden.

Niemand musste um mich weinen. Alle sollten froh sein, dass es endlich vorbei war. Bald würden sie erkennen, dass es besser so war, denn ich hatte ja keine Perspektive.

In einem Testament, abgespeichert unter „Mein letzter Wille“, hatte ich festgehalten, wie die Beerdigung ablaufen und wer meinen Computer bekommen sollte. Meine Eintrittskarten für das Fußballspiel Holland gegen Rumänien während der Europameisterschaft hatte ich bereits meinem Zwillingsbruder Thomas geschenkt.

Auf ins Paradies, in dem ich keine Antibiotika-Kuren mehr brauche, keine Mukoviszidose-Therapie am Morgen und am Abend. Manchmal vergehen Jahre, bis wir verstehen, wie kostbar Augenblicke sein können.

Bis bald!

Ich hatte bereits eine Nadel in der Vene des linken Armes, einen Zugang für die Medikamentengabe. Ich zog das Mittel in eine Spritze, öffnete den kleinen Deckel an der Kanüle, steckte die Spritze hinein. Wie das funktionierte, hatte ich tausendmal zuvor beobachtet.

Draußen war es dunkel. Ein starker Wind war aufgezogen. Für die nächsten Tage hatten sie schlechtes Wetter vorhergesagt. Das konnte mir nun egal sein.

Auf der Station war es ruhig, niemand ging auf dem Gang hin und her. Ich hatte meine Ruhe.

Leben atmen!

Ich holte tief Luft, dann drückte ich die klare Flüssigkeit in meine Adern. Die Wirkung setzte in null Komma nichts ein. Sofort spürte ich ein enormes Brennen auf der Haut und meine Zunge fühlte sich wie gelähmt an. Vor meinen Augen begann die Welt erst zu verschwimmen, dann überzog sie ein dichter, trockener Nebel. Schließlich verschwand sie ganz.

Danach war Stille.

Dass ich heute noch am Leben bin, trotz der eigentlich sicheren Methode, muss mit einem großen Schutzengel zu tun haben. Theoretisch hätte meine Dosis für drei Personen gereicht, um sie ohne Zwischenstopp in den Himmel zu schicken.

Aber ich wachte auf und lebte.

Und wenn ich ehrlich bin, dann war ich darüber gar nicht sonderlich traurig.

Was war mit mir um Himmels willen passiert? Ich war doch immer so hart im Nehmen. Aber das Fass war übergelaufen. Dass ich meine ganze Kraft dafür brauchte, nur um im Bett aufrecht zu sitzen, erschien mir kein lebenswertes Leben. Dass ich auf die Hilfe von anderen angewiesen war, empfand ich als derart demütigend, dass es nicht mehr auszuhalten war.

Keine Stunde ist ungeschminkter, intimer und konsequenter als die Stunde des Sterbens.

Aber sie war noch nicht gekommen.

Jemand hatte etwas dagegen, dass ich die Bühne verlasse ...

Mein Name ist Markus Hänni und ich habe Mukoviszidose.

Wer diesen Begriff bei Google eingibt, findet automatisch auch das Wort „Lebenserwartung“. Mit über 100.000 Treffern. Dort heißt es an oberster Stelle auf einer medizinischen Informationsseite: „Patienten, die in den 90er Jahren erkrankt sind, werden 40 bis 45 Jahre alt, davor 30 Jahre.“

Meine Diagnose war in den 80er Jahren.

Jetzt bin ich 29.

Ich könnte ersticken.

Aber ich will nicht.

Denn das Leben ist viel zu schön ...

1

Winterträume in Valbella

Vielleicht klingt es ein bisschen kitschig und mag nach Postkartenromantik aussehen. Aber was soll ich machen? Wenn ich hier aus dem Fenster schaue, sehe ich vor dem blauen Himmel schroffe Schweizer Berge. Auf den Tannen liegt eine dicke Schicht Neuschnee. Ein bisschen weiter unten, auf dem zugefrorenen See, springen eingemummelte Kinder hin und her und liefern sich eine Schneeballschlacht und verliebte Paare stapfen, Händchen haltend, ihre Runden. Hier in der warmen Stube höre ich das Feuer im Kamin knistern und der Duft eines Gemüseauflaufs, überbacken mit kräftigem Schweizer Käse, zieht in meine Nase. Mir könnte es nicht besser gehen. Ich fühle mich wohl und kräftig. Es ist ein guter Tag.

Das war nicht immer so, wenn ich als Kind mit meinen Eltern von Bern hier herauf nach Valbella gefahren bin. Einmal ging es mir so schlecht, dass Vater schon nach zwei Stunden wieder alles zusammenpacken und mich in die Klinik bringen musste.

„Dieses Mal wird es eng, liebe Familie Hänni, dieses Mal wird es ganz eng“, haben dann die Ärzte nicht selten gesagt. „Hoffentlich schafft er das noch.“

Soll ich mich an all das erinnern?

Ich glaube, ich kann nicht anders.

Aber gerade heute, an diesem herrlichen Wintertag?

Ja, gerade heute! Ich empfinde jeden schönen Tag in meinem Leben als ein Geschenk. Zumal ich ja nicht weiß, wie viele es noch werden. Wenn es nach mir geht, jede Menge. Dafür kämpfe ich auch. Andererseits sollte man sich ja nicht immer nur auf das irdische Glück verlassen.

Deshalb beginne ich heute damit, meine Geschichte aufzuschreiben. Jetzt und hier. Gut möglich, dass mich hin und wieder ein Husten unterbricht, ein stechender Schmerz in der Lunge, aber das gehört dazu. Es gehört zu mir.

Mein Husten erinnert mich daran, dass ich zwar grundsätzlich so bin wie alle anderen – wie alle 29-Jährigen auf der ganzen Welt. Doch es gibt einen Unterschied: Bei mir tickt die Uhr vielleicht ein bisschen schneller. Was für meine Geschichte nicht ganz unwesentlich ist. Deshalb ist ein Tag, ein Wintertag wie dieser, für mich ein doppelt schöner Tag.

Ich will genießen, lachen und andere lachen hören. Mein größtes Hobby ist die Schauspielerei. Dabei übernehme ich gern die komischen Rollen, weil ich finde, dass es nichts Schöneres gibt auf der Welt, als andere Menschen zum Lachen zu bringen. Denn den, den man zum Lachen bringt, hat man auch zum Nachdenken gebracht. Lachen ohne Denken funktioniert nicht.

Manchmal, meistens am Sonntag, trage ich auch ein kleines Theaterstück vor oder irgendeinen anderen künstlerischen Beitrag im ICF (International Christian Fellowship) in Bern, einer protestantischen Glaubensgemeinschaft. Dabei geht es um viele Themen, um die es auch in diesem Buch geht: um das Leben, die Dinge zwischen Himmel und Erde, um Erklärliches und Unfassbares, um das Glück, um die Zukunft.

Zum meinem Glück gehört meine Familie. Ich habe wundervolle Eltern, die mich auf meinem Weg in einer Weise begleitet haben, die beispiellos ist. Dafür schon jetzt, ganz am Anfang, vielen Dank. (Mama, dein Gemüseauflauf duftet sensationell!)

Ich habe zwei Brüder, einer davon ist mein Zwillingsbruder, und eine Schwester. Unser Hund, ein zwei Jahre alter Appenzeller-Labrador-Mischling, heißt Tina.

Vielleicht stellen Sie sich die Frage, ob ich verheiratet oder Single bin. Das ist bei einem 29-Jährigen durchaus berechtigt. Nun ja, ich bin gerade ein bisschen verliebt.

Vermutlich ein bisschen sehr.

Sie weiß es nur noch nicht.

Dass ein paar meiner Gene eine entscheidende Macke haben – darüber weiß sie Bescheid. Jedoch ahnt sie wohl noch nicht, dass meine Hormone jede Menge bunter, aufgeregter Schmetterlinge in meinem Bauch aussetzen.

Das macht die Sache nicht unkomplizierter. Wobei ich glaube, dass ich in diesem Punkt schlauer bin, wenn ich dieses Buch zu Ende geschrieben habe. Vielleicht verrate ich Ihnen dann, wie es ausgegangen ist – je nachdem. In meinen Gedanken schwingt nämlich eine heimliche Widmung mit, die mich anspornt, diese Zeilen so persönlich wie möglich zu tippen.

***

Draußen, vor unserem Haus in Valbella in den Graubündner Bergen, zwischen dem Parpaner-Rothorn auf der einen und dem Piz Scalottas auf der anderen Seite des Hochtals, ziehen auf der Loipe ein paar Langläufer dahin. Würden sie immer weiter und weiter in diese Richtung Ski fahren, kämen sie irgendwann, vielleicht in einigen Stunden, jenseits des Lenzhorns nach Davos, wo gerade das Wirtschaftsforum vorbereitet wird. Ich bin auf 1.500 Metern Höhe in einer Hütte in den Bergen, an der sich die Eiskristalle an den Fenstern um die Wette drängen und die Leute ein Dorf weiter eine Sprache sprechen, Rätoromanisch, die nur schwer zu verstehen ist.

Dennoch fühle ich mich wie auf einer globalen Bühne. Letzten Sommer habe ich an der Straße einen Wegweiser mit den Kilometerangaben in alle Welt aufgestellt, falls all die vielen Langläufer und Wanderer mal nach neuen Zielen suchen. Zum Petersplatz in Rom sind es 587 Kilometer, nach Las Vegas 9.285, nach Santiago de Chile 11.937, nach Chur 16. Die Sportler müssen ja ein bisschen planen können, wie lange sie unterwegs sind.

Vielleicht reise ich auch mal dorthin, in die weite Welt, außerhalb von Europa. Ein Traum wäre es allemal.

Andererseits darf ich meinem Körper die Kräfte nicht übermütig entziehen. Wer schon mehrmals beim lieben Gott um eine Audienz gebeten hat, wenn auch unfreiwillig, lernt auch das Leben schätzen. Hier und jetzt bei Mutters genialem Gemüseauflauf mit geschmolzenem Käse.

Das Zusammensein mit meiner Familie hier in unserem Haus, das wir Valcasa nennen, bedeutet für mich Erholung und Inspiration zugleich. Gestern zum Beispiel bin ich aufgestanden und habe ein kleines Theaterstück geschrieben. Mir tut die Abgeschiedenheit hier oben gut, der Tapetenwechsel. Deshalb komme ich auch zwei- oder dreimal pro Jahr für eine Woche hierher.

Früher waren wir während der Schulferien immer hier. Heute trifft sich die Familie mal komplett, mal sind es nur meine Brüder und ich, mal meine Eltern mit der Familie meiner Schwester. Ich empfinde das durchaus als Geschenk. Denn Familie ist für mich kein veralteter, altmodischer oder gar spießiger Begriff, sondern eine Gemeinschaft, die mir mein Überleben gesichert hat. Und dies vielleicht auch in Zukunft tut.

Nachdem ich mich dann hier ein paar Tage in der Einsamkeit erholt und mich neu geerdet habe, muss ich wieder runter in die Stadt. Die Ruhe hier oben ist etwas Wunderschönes. Irgendwann kann sie aber auch einengend wirken. Manchmal geht mir das so nach einem erfolgreichen Projekt. Kurz vor Weihnachten war ich in Bern an einem wichtigen Musical beteiligt, das nicht nur aus meiner Feder stammt, sondern bei dem ich auch eine Hauptrolle besetzte. Das ganze Team traf sich oft, wir haben geprobt, Dinge besorgt, uns intensiv auf die beiden Vorführungen vorbereitet.

Doch dann, plötzlich, einen Tag vor Heiligabend, war alles vorbei. Der letzte Vorhang war gefallen, der Applaus verklungen, die letzten Lobeshymnen ausgesprochen. Alles war still um mich herum und ich war allein. Dabei bin ich ein Mensch, der nicht gern allein ist, außer ich habe etwas, das gerade erledigt werden muss, etwas Kreatives zum Beispiel. Ansonsten brauche ich immer Leute um mich herum. Meine Familie, meine Freunde, Menschen, denen ich etwas erzählen kann und darf.

Als alles fertig war, fiel ich in eine Leere. Ein Gefühl, das ich auch von meinen Krankenhausaufenthalten kenne: wenn der Besuch sich verabschiedete, wenn die Tür zufiel und ich nur noch die Schritte auf dem Flur hörte, die sich entfernten.

Das kleine Theaterstück, das ich gestern geschrieben habe, handelt von Ruth, einem Buch im Alten Testament, das viele Leute gar nicht kennen, mit dem ich aber Begriffe wie Treue und Demut verbinde. Auch Ruth fiel nach dem Tod ihres Mannes in eine Leere, aber sie weigerte sich aufzugeben ...

Mein großes biblisches Vorbild ist übrigens Hiob. Ein Mann, mit dem mich meine Freunde ab und an vergleichen. Meistens dann, wenn ich mal wieder in der Klinik war. Denn Hiob war einer, der alles hatte, plötzlich alles verlor und krank wurde. Sogar seine Freunde wandten sich gegen ihn und warfen ihm vor, dass es ihm so schlecht gehe, weil er keinen Glauben und zu viele Sünden auf sich geladen habe. Die Realität war jedoch ein Zwist zwischen Gott und Teufel, an dem er aber eher gewachsen ist, weil er seinem Herrn treu blieb.

Auch bei mir weiß nur der liebe Gott, was mir die Zukunft bringt. Wenn ich einen Vorschlag machen könnte, dann würde ich ihm sagen: Bring mir bei, richtig große, bedeutende Musicals zu schreiben. Mein heimlicher Traum ist der, dass irgendwann ein Stück von mir auf der Seebühne in Bregenz zur Aufführung kommt. Wäre das nicht großartig? Ich sehe schon das Publikum vor mir: in Abendkleidern oder Jeans – ganz egal.

Schöne Träume sind dazu da, sie zu Ende zu träumen, auch wenn die Vernunft nicht lockerlässt in ihren Bemühungen, einen immer wieder wachzuschütteln.

Meine berufliche Situation ist im Moment von meiner Krankheit geprägt. Bei meiner letzten Firma war es extrem schwierig, weil ich immer wieder mehrere Tage oder sogar Wochen gefehlt habe. Es ging mir nicht gut. Ich hatte einfach nicht genügend Kraft für einen fünfstündigen Arbeitstag.

Aus diesem Kreislauf der gegenseitigen Unzufriedenheit haben mich meine Ärzte vor einigen Monaten befreit, indem sie mich für ein ganzes Jahr krankgeschrieben haben. Ein Jahr, das ich zur Erholung nutzen sollte, was mir auch gelungen ist. Im Moment ist dieses Jahr vorbei und ein abschließendes Gespräch bei meiner Firma brachte das Ergebnis, dass mein Vertrag nicht verlängert wird.

Jetzt muss ich schauen, wie alles weitergeht. Dass ich etwas Produktives machen kann, ist absolut klar. Es geht nur nicht von morgens um sieben bis abends um fünf. So kam es, dass ich anfing zu schreiben, während ich nach neuen Tätigkeiten suchte, die zu mir passen.

Und ich liebe das, was ich in diesem Augenblick mache, obwohl der Rückblick auf mein Leben auch mit vielen Qualen verbunden ist.

Mit Tränen.

Mit Trauer.

Mit Zukunftsängsten.

Wenn man fast jede Woche irgendwann zu seinem Vorgesetzten gehen muss, um ihm eine Krankmeldung zu bringen, dann ist das schon sehr belastend. Für alle.

Bei mir hat das auch auf die Motivation geschlagen. Denn ich versuche immer, mein Bestes zu geben. Aber ich wusste oft von vornherein, dass ich ein Projekt nicht von A bis Z fertig machen kann. Dadurch nimmt man Dinge schnell mal auf die leichte Schulter und interpretiert gewisse Sachen anders als alle anderen. Zum Beispiel ist für mich naturgemäß die Gesundheit das Wichtigste. Das bestätigten zwar alle Kollegen und zeigten Verständnis, aber was hinter meinem Rücken ablief, weiß ich natürlich nicht.

Ich glaube, dass ich in einem ganz normalen Beruf eher eine Belastung für die anderen bin. Ein Gefühl, das eigentlich unerträglich ist.

Wenn ich zum Beispiel am Abend einen Druck auf meiner Brust spüre, weiß ich, dass ich tags darauf ziemlich sicher ins Krankenhaus muss, um wieder gesund zu werden. Um gesund für die Arbeit zu werden. Ich drehte mich in einem Hamsterrad.

Das ging sechs Jahre so.

Davor war ich an einer Schule, in der ich mit angehenden Spitzensportlern in der Klasse war, die viel trainieren mussten und deshalb das Pensum nicht in drei Jahren sondern in vier schafften. Das war ideal, denn sie hatten so Zeit für ihr Training und ich für meine Therapie. Diese ungewöhnliche Situation empfand ich als sehr gut, denn Sportler haben ein Kämpferherz – und genau das brauchte ich in meinem bisherigen Leben auch.

Die Ärzte sagten: „In die Grundschule wird er wohl nie kommen.“

Aber ich kam in die Grundschule.

Die Ärzte sagten: „Die Oberstufe erreicht er wohl nie.“

Doch ich erreichte sie.

Die Ärzte sagten: „Seinen Abschluss – nein, den wird er nicht mehr schaffen.“

Dennoch schloss ich die Schule mit Bestnoten ab.

Diese „Dennochs“ verdanke ich meinen Eltern, aber auch Lehrern, die mich gefördert und an mich geglaubt haben.

Wenn ich mich an diese Zeit in der Schule erinnere, dann kommt mir etwas Seltsames in den Sinn: Ich habe dort nie über meine Krankheit gesprochen. Auch in der Grundschule nicht. Zumindest nicht freiwillig. Wenn meine Fehlzeiten ein Thema waren, dann habe ich mir immer Ausreden zurechtgelegt.

Ich wollte mich alle dem nicht stellen. Unter keinen Umständen! Es war mir peinlich, dass ich als Mann einen Schaden an meinem Körper habe. Männer dürfen doch keine Schwäche haben! Dürfen doch nicht „weniger wert“ sein als andere!

Vermutlich habe ich während meiner gesamten Schulzeit durch all diese Verheimlichungen mein Schauspieltalent trainiert.

Wirklich offen darüber reden kann ich erst seit jenem Vorfall vor nicht allzu langer Zeit. Damals konnte und wollte ich nicht mehr, meinem Körper ging alle Kraft verloren, meine Gedanken sehnten sich nach ewiger Stille. Ich wollte Schluss machen.

Vielleicht haben meine Mitschüler und Lehrer auch etwas von mir gelernt, dem Kranken. Zum Beispiel, dass es nicht nur die Siege sind, die einen voranbringen.