Eike Immel - Gregor Schnittker - E-Book

Eike Immel E-Book

Gregor Schnittker

5,0

Beschreibung

Eike Immel: Profi-Debüt mit 17 Jahren für Borussia Dortmund ausgerechnet gegen die Bayern, anschließend Deutscher Meister, Stammtorwart der Nationalmannschaft, über 500 Bundesligaspiele. Und nach der Karriere? Abgestürzt, Privat-insolvenz und Teilnahme am "Dschungelcamp". Gregor Schnittker legt mit dieser Biografie ein sensibles und berührendes Porträt des einstigen Weltklassetorhüters vor. Neben Immel selbst hat der Autor mit vielen ehemaligen Weggefährten gesprochen, die ausführlich zu Wort kommen: Lothar Matthäus, Christoph Daum, Toni Schumacher, Berti Vogts u.v.m

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GREGOR SCHNITTKER

EIKE IMMEL

DIE BIOGRAFIE

Der Autor

Gregor Schnittker, Jahrgang 1969, ist seit vielen Jahren freier Mitarbeiter des ZDF. Im Verlag Die Werkstatt hat er Bücher über Borussia Dortmund veröffentlicht, zuletzt „BVB 09. Die Chronik“ (zusammen mit Dietrich Schulze-Marmeling) und den Bildband „Heja!“. Außerdem war er am Film über Vereinsgründer Franz Jacobi beteiligt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2022 Verlag Die Werkstatt GmbH

Siekerwall 21, D-33602 Bielefeld

www.werkstatt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Coverabbildung: Marius Neumann

Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen

eISBN 978-3-7307-0600-8

Inhalt

INTRO

„Man muss überlegen, wie das Leben weitergehen soll“

KAPITEL 1

12. August 1978

Geburtsstunde eines Torwarts

KAPITEL 2

Torwarttraining zwischen Kuhhaufen und Gülledampf

Eine sorgenfreie Kindheit in Erksdorf

KAPITEL 3

„Der beste Torwart seit Norbert Nigbur“

Von Stadtallendorf nach Dortmund

Interview mit Sepp Maier

KAPITEL 4

„Eike Immel, du bist der beste Mann!“

Die ersten Jahre beim BVB

KAPITEL 5

„Kopfüber ins Stahlbad“

Die Karriere beim DFB

Interview mit Toni Schumacher

KAPITEL 6

Sportliche Höhenflüge und finanzielle Desaster

Interview mit Erdal Keser

Interview mit Ralf Loose

KAPITEL 7

Die Nationalmannschaft

Eine viel zu früh beendete Karriere

Interview mit Lothar Matthäus

KAPITEL 8

„Wie ich aus der Hölle in den Himmel kam“

Eike Immel beim VfB

Interview mit Christoph Daum

KAPITEL 9

„So richtig feiern konnten die Schwaben nicht“

Erfolgreiche Zeiten in Stuttgart

Interview mit Dieter Hoeneß

Interview mit Michael Frontzeck

KAPITEL 10

Neue Erfahrungen im Ausland und als Trainer

Interview mit Thomas Mandl

KAPITEL 11

„Ich habe davon gelebt, dass es mir schlecht ging“

KAPITEL 12

Eintracht Stadtallendorf

„Kaum bin ich zurück, ist auch der Erfolg wieder da“

Dank und Quellen

INTRO

„Man muss überlegen, wie das Leben weitergehen soll“

Am 7. März 2021 ist es so weit. Stadtallendorf. Etwas außerhalb. Keine kurzfristige Absage. Kein „Mir ist was dazwischengekommen“. Der Termin steht. Unsere Verabredung mündet in einem Treffen. Zu Gast in der Teeküche einer Firma mit frisch gebrühtem Kaffee. Die Vereinschronik von Borussia Dortmund liegt auf dem Tisch. „Für mich?“, fragt der ehemalige Torhüter und entdeckt beim schnellen Durchblättern das Kapitel über sich, klappt das Buch aber direkt wieder zu. Interessiert ihn nicht, was über ihn geschrieben steht, oder fürchtet er sich vor Analysen seines Lebenswerks? Die nächsten Stunden vergehen rasant. Einer wird reden, einer zuhören. Einer stellt Fragen ohne Zeit für Antworten, ein anderer notiert Beobachtungen und Klärungsbedarf. Geduld hat Eike Immel nicht.

Er ist aufgekratzt. Und ich bin erstaunt, ihn so zu erleben. Er wirkt trotz der offensichtlichen Unruhe zugewandt, eloquent, wirkt wie ein alter Freund beim Wiedersehen nach langer Reise. Er hat was Sympathisches. Es ist, abgesehen von Telefonaten und SMS, unser erster persönlicher Kontakt. Bei einem der letzten Male, als ich ihn sah, trug er im April 1992 ein weinrotes Trikot im Neckarstadion. Der VfB gewann 4:2, was den Dortmundern den Titel kostete. Vielleicht war der schwäbische Triumph auch in jenem 0:0 im Hinspiel begründet, als Eike den Stuttgartern, dem späteren Meister, einen Punkt im Westfalenstadion rettete. Ich weiß noch, dass ich mich über die derben Beleidigungen der Fans wunderte. Ewig her.

Noch im November 2020 ist zu lesen, Immel arbeite an einem Enthüllungsbuch. „Stimmt“, sagt Eike, er habe damit begonnen – und sein Buch würde sich bestimmt gut verkaufen lassen. Viele skandalöse Geschichten könne er erzählen, die noch niemand kenne. Seine Beispiele sind gut erzählt und hier und da von seichtem Nachrichtenwert. Aber interessiert heute noch, was einst hätte empören können? Wie sie damals im Trainingslager nachts heimlich verschwanden, um Abenteuer zu erleben, die millionenfach zu Junggesellenabschieden gehören. Interessieren heute noch diese vielen Episoden, die sehr privat klingen? Interessieren Puffbesuche von Männern in Adiletten oder im DFB-Dress und Anekdoten über finanziell und hormonell gut bestückte Jungs mit fußballerischem Talent in jenen 1980er- und 90er-Jahren? Für mich ist das eine langweilige und zum Glück fremde Welt. Die Namen dazu kennt man – und manch einer hat offenbar trotzdem seinen Weg gefunden.

Irgendwann rufe ich „Stopp!“ und erkläre, dass unser Buch kein Enthüllungsbuch werden soll. Ich skizziere das Konzept und erkläre, dass mich Skandal-Kram nicht interessiert. Eike zögert, denkt nach und wie sich zeigt, denkt er ans Geld. Es gäbe noch das Angebot eines prominenten Redakteurs dieser großen Zeitung. Da bekäme er vielleicht viel Geld für die alten Geschichten, und er müsse sich das überlegen. Ich finde das gut, denn viel zu oft hat dieser Eike Immel in seinem Leben zu schnell entschieden, ungelesen etwas unterschrieben und damit Fehler gemacht.

Eike bleibt unruhig, wippt mit den Füßen in den modernen Turnschuhen auf dem PVC-Boden. Er knetet seine Finger, legt sein Smartphone von links nach rechts, schaut drauf, schaut auf, stellt sich hin, begleitet gestenreich seine Geschichten. Er ist ein guter Erzähler, wortstark, detailreich und einnehmend in seiner Art. Er lacht gerne und oft und auch über sich. Mein Wissen oder scheinbares Wissen und die Bilder im Kopf erhalten neuen Stoff. Und egal, ob stimmt oder nicht, was geschrieben steht: Dieser Mann, so hibbelig er ist, scheint mit sich im Reinen. Trotz allem, was war, und trotz allem, was ist. Vielleicht ist es die Hoffnung, dass noch was Gutes kommt, dass sich sein Leben stabilisiert.

„So ein Buch“, beginnt Eike, „also noch mal zurück zu der Idee mit dem Buch, wie du es schreiben willst, das ist ja keine schlechte Idee. Ich habe, wie gesagt, schon viel zusammengetragen.“ Er schaut Wolfgang Schratz an und sagt: „Davon erzähle ich dir schon so lange, verstehst du, was ich meine?“ Schratz schmunzelt und nickt. Wir werden später klären, was ihm durch den Kopf geht. Sympathie ist nicht das Problem. Wir drei sind per Du, könnten anfangen Skat zu spielen und Bier zu trinken. Stattdessen reden wir über dieses andere Konzept, trinken den dritten Kaffee in der Teeküche. Eike sagt sehr oft dieses „Verstehst du, was ich meine?“ – und es klingt ein klein bisschen hessisch.

Der Unternehmer Wolfgang Schratz und die Eintracht Stadtallendorf, in dessen Vorstand sich Schratz um Finanzen kümmert, sie haben Eike in die Heimat zurückgeholt. Eike hört nicht gern, dass man sich um ihn kümmert. Er sieht sich selbstständiger, sieht sich lebenstüchtiger, robuster, als andere ihn sehen. Wie ihn andere sehen, das treibt ihn um. Das wird sich zeigen in den nächsten Monaten. Auch seine Selbsteinschätzung wird ein ständiges Thema sein und schließlich das Thema Lebensqualität. Nicht immer gab es einen Wolfgang Schratz in seinem Leben, einen Kümmerer ohne weiteres Interesse an ihm. Die vielen anderen vermeintlichen Kümmerer wollten mit ihm glänzen, posieren, angeben, Geschäfte machen und Geld verdienen. Sie wollten vom Glanz eines schillernden Fußballstars profitieren, dessen Ruhm nutzen – und ihn benutzen. Und Eike fiel es meistens nicht auf. Dieser Kümmerer hier in der alten und neuen Heimat aber meint es gut mit ihm. Stadtallendorf ist das Schutzgebiet nach einem pulsierenden Leben in einer bisweilen überfordernden Welt, zumindest abseits des Rasens.

Auf dem Tonband empfinde ich mich später als zu forsch. Das Angebot zum gemeinsamen Buch-Projekt ist nicht frei von Eitelkeit, auch was den Autor angeht. Das Phänomen Eike Immel mit seiner Geschichte zwischen Buchdeckeln zu analysieren, ist ein lang gehegter Wunsch. Jetzt kann es klappen – oder endgültig scheitern. Das Schöne und Schlimme in seinem Leben gilt es zu beschreiben, Genie und Wahnsinn zu zeigen, Ursachen zu suchen, zu finden, Erfolge zu würdigen und Misserfolge nicht zu missachten. Es ginge mir, so höre ich mich reden, um Meilensteine und Zwischenschritte, um Einblicke und Seitenblicke, um Training und Spiele, Pokale und Paraden, um Gründe und um Abgründe im Übrigen auch. Die guten und schlechten Momente ausbalancieren, sie gewichten, Zusammenhänge erkennen, rote Linien zeichnen und Bereiche in Grau, all das sei mein Interesse und die Aufgabe.

Mein altes journalistisches Ziel sprudelt aus mir raus, die Begeisterung für den einstigen Weltklasse-Torwart in Schwarz und Gelb, auch mit Stuttgarter Brustring. Frei von Boulevard- und TV-Trash – das war immer mein Wunsch. In Eike Immels Gedanken schürfen, Erinnerungen schütteln, sie sieben, Wichtiges und Unwichtiges unterscheiden, goldene Momente finden und auch bleischwere Stunden. So ein großer Torwart, so eine imposante Person. Was ist passiert? Wie verlief seine Reise? Was prägte sein Leben? Wann trübt sich im Rückblick das glorreiche Bild – und vor allem: warum?

Wer ist Eike Immel? Einer der besten Torhüter der deutschen Fußballgeschichte. Das könnte die erste Antwort sein. Die Gedanken zwei und drei zeigen diffuse Bilder, haben was Tragisches, was Trauriges, etwas, das wehtut. Das alles macht ihn aus. Das alles gehört dazu. Das Leben zu meistern, bedeutet mehr als Meister und Fußball-Legende in Dortmund und Stuttgart zu sein. Bei Eike Immel ist das offensichtlich.

Ich fahre nach Hause, denke nach. Ein aufwühlender Termin, der noch lange nachklingt. Gespräche mit Verlagskollegen und anderen Journalisten folgen. Wohin geht die Reise? Drei Tage nach dem Termin eine SMS:

„Ich fand das sehr interessant, was du zu bieten hast. Das hat mit Geld nichts zu tun. Man muss wirklich überlegen, wie das Leben weitergehen soll. Da ist die öffentliche Wahrnehmung schon wichtig. Gruß Eike.“

Einige Tage später steht die nächste Verabredung. Es geht also los.

KAPITEL 1

12. August 1978

Geburtsstunde eines Torwarts

Für diesen Tag gibt es keine Anleitung. Dass ein Wendepunkt ansteht, kann der 17-Jährige nicht ahnen, als er im Parkhotel in Witten aufwacht. Das Gebäude an der Bergerstraße ragt hoch auf in der Ruhrstadt. Warmer Regen perlt an der Fensterscheibe ab. Der Sommer macht Pause an diesem 12. August 1978, als sich die Borussen nach dem Frühstück zu einem Spaziergang durch den Stadtpark aufmachen. Um elf Uhr bittet Trainer Carl-Heinz Rühl zur Besprechung, präsentiert auf einer Stellwand seine Aufstellung. So erfährt Eike, dass er wenige Stunden später, etwa 15 Kilometer entfernt, sein erstes Bundesligaspiel absolvieren wird. Sein Zimmernachbar, der eigentliche Stammtorwart Horst Bertram, ist nicht rechtzeitig fit geworden. Deshalb wird Eike nach dem Debüt im Pokal in der Vorwoche, einem 14:1 gegen Verbandsligist Schwenningen, und seinem Einsatz im letzten Test (5:0 gegen Bezirksligist Kellerberg) an diesem Tag seine Bundesliga-Premiere feiern.

Viele Jahre später erinnert sich Bertram nur ungern. Er wäre gerne selbst rechtzeitig fit geworden. „Auf ein Spiel im Westfalenstadion verzichtet man nicht freiwillig“, führt Bertram aus. „Das war ein noch junges Stadion, alles ganz eng. Und wenn dann die Anfeuerung losging, die vielen Schnipsel flogen, dieser Tropfschutz der Dortmunder Brauereien, da gab es doch für mich als Fußballer gar nichts, was hätte besser sein können. Und dann kommen an so einem Tag die Bayern. Aber es ging einfach nicht – und so wünschte ich Eike viel Glück.“ Rühl verliert zu dieser Personalie nach der Besprechung kein weiteres Wort. Ein persönliches Gespräch gibt es nicht. Eike ist 17 Jahre und 8 Monate alt, als er seine Eltern in Erksdorf anruft und sie nach Dortmund bittet.

Die Hupe von Jüppi Wietlake ist nicht zu überhören. Der Busfahrer ist pingelig. Noch mehr als Straßenkarten, denn er kennt jeden Weg zu jedem Stadion bundesweit, und Krümel auf den Sitzen verachtet er das „ewige Zuspätkommen der verzogenen Muttersöhnchen“, wie er das gerne kommentiert. Als Eike das Zimmer verlässt, ist ihm flau zumute, was aber nicht am strengen Jüppi liegt oder dem bevorstehenden Spiel. „Zu Mittag gab es ein 300-Gramm-Steak mit Sauce béarnaise und einem Berg Pommes, dazu Cola“, erinnert sich Eike. „Das lag mir wie ein Stein im Magen. Später dachte ich: Okay, jetzt bin ich immerhin stark wie ein Bulle. Walter Maahs kümmerte sich darum, dass meine Eltern ins Stadion kamen. Ich packte meine Tasche, dann ging’s los nach Dortmund.“

Schräg hinter Eike, der sich beim Blick aus dem Fenster freut, dass ein Jugendtraum in Erfüllung geht, blättert Burghard Segler im „Kicker“, in dessen Spielvorschau noch Bertram als Torwart genannt wird. Dass es nun Eike richten soll in seinem ersten Bundesligaspiel überhaupt und das gegen den Titelkandidaten Bayern München, den dreimaligen Europapokalsieger der Jahre 1974 bis 1976 mit all diesen Weltstars, macht den Mittelfeldspieler nicht nervös. „Wir kannten Eike schon länger, auch wenn er eigentlich noch in der A-Jugend bei Heinz Keppmann war“, erinnert sich der im Vergleich zu Immel zehn Jahre ältere Segler. „Wenn wir am Donnerstag Abschlusstraining hatten, war er öfter dabei. Da sah man schon, wie gut er war. Er machte keine spektakulären Sachen, strahlte aber Ruhe aus. Er war groß, hatte gute Reflexe und man merkte ihm nie Nervosität an. Man könnte das respektvoll als Phlegma bezeichnen. In seinen Aktionen war er abgeklärt, was uns Mannschaftskollegen natürlich gefiel.“

46.402 Tickets hat der BVB verkauft, was angesichts des sportlich fatalen und seelisch verletzenden Abschlusses der Vorsaison ein Vertrauensbeweis ist. Die 4.500 Dauerkarten sind ein weiterer Beleg ungebrochener Treue und bringen dem Verein gut eine Million Mark ein. Mit dem Schwerter Unternehmen Prestolith gibt es einen neuen, jährlich 300.000 Mark schweren Trikotsponsor. Finanziell geht es dem Verein gut, aber welche Auswirkungen hat das allgemeine Klima? Fußball ist in Deutschland im WM-Sommer 1978 ein Frustthema. Auch in Dortmund sind nach dem 0:12 gegen Mönchengladbach nicht alle Fans besänftigt oder versöhnt. Beobachter spüren aber vor der neuen Spielzeit durchaus eine gewisse Aufbruchstimmung an der Strobelallee. Jetzt, gegen 14:45 Uhr, ist die Stimmung wohlwollend in einer der schönsten Arenen Europas. Das 1974 fertiggestellte Westfalenstadion mit seinen roten Flutlichtmasten verzichtet auf eine Leichtathletik-Bahn, ist gebaut wie kaum ein anderer Spielort. In diesem reinen Fußballstadion sitzt der entfernteste Besucher maximal 44 Meter weit weg vom Feld, hat dafür aus 17 Metern Höhe einen perfekten Blick auf das Geschehen. „Wenn das Flutlicht angeht, kommen allein Zehntausende“, lautet ein Spruch in der stolzen Stadt. Für Onkel Otto gilt das umso mehr. An jedem Spieltag erscheint der Hoesch-Rentner freudetrunken in seinem zweiten Wohnzimmer, haut die Pauke im Clownskostüm. Auch heute ist der Edelfan aus Hombruch rechtzeitig mit der Bahn angereist und macht am Zaun ordentlich Stimmung.

Und so riecht es – wie immer bei Heimspielen – nach Bratwurst, gemähtem Rasen und Zigarettenrauch, als sich die Tribünen füllen. Dabei ist diese Kulisse nicht die größte, vor der Eike bislang gespielt hat. „Ich hatte zuvor auch schon mal vor 80.000 gespielt in der Schüler-Nationalmannschaft. Das war in Berlin gegen England, auch mal vor 25.000 in Koblenz oder 30.000 in Augsburg. Im Stadion waren aber nur Kinder. Die hatten Freikarten und es war morgens um elf Uhr. Aber das ist ja kein Vergleich zu so einem Spiel, einem richtigen Bundesligaspiel mit allem Drum und Dran.“ Zum Drumherum gehört auch Walter Wolniewicz, der mit sonorer Stimme die Reklametexte vorliest. Der Stadionsprecher bewirbt Autohäuser, Modegeschäfte und auch den Ausbildungsbetrieb von Eike, wo er sich sein Torwartdress selbst gekauft hat. Links auf der Brust hat der Hersteller den Namen Sepp Maier einsticken lassen, wobei das Original an diesem Tag im baugleichen Hemd in Hellblau aufläuft. Vorbild und Talent werden also im gleichen Trikot aufeinandertreffen, nur in den Farben getrennt. Die Fußballgeschichte gönnt sich ein bisschen Kitsch.

Als Eike in prominenter Begleitung aus der Kabine kommt und die Südtribüne ihn anfeuert, hat sich längst rumgesprochen, dass heute ein A-Jugendlicher im Tor steht. Dem Nachwuchsmann eilt ein exzellenter Ruf voraus. Eike hat einen großen Sympathievorschuss und spürt das sofort. „Da passierten unfassbare Dinge“, sinniert Eike 43 Jahre später. „Auch dass mich ein Sigi Held begleitet. Ein hochinteressanter Mann. Er hat nie gesprochen, war eine Respektsperson erster Güte. Wenn ich mich erinnere, dass mich so ein Gigant warmschießt. Normalerweise macht das der zweite Torhüter, aber an diesem Samstag machte Sigi es. Wir kamen raus und ich fragte mich, was hier denn los ist. 50.000 rufen meinen Namen. Die kennen mich doch gar nicht. Ein Sigi Held neben mir, diese Legende, Vizeweltmeister und Europapokalsieger, der jeden Tag mit einer weißen S-Klasse kommt. Er sagte zu mir, dass ich mir keine Sorgen machen muss. Das war wichtig für mich. Das hat mich unglaublich motiviert. Dieser Tag war in jeder Situation unglaublich.“

Beinahe wäre Held sogar zum Trainer aufgestiegen, gilt im Sommer 1978 als gute Lösung. Nach dem Ende der Ära Otto Rehhagel verkündet Pressesprecher Gerd Kolbe, man suche nach einem anerkannten Trainer. Namen wie Rinus Michels, Georg Kessler oder Helmuth Johannsen werden genannt, Dettmar Cramer wird tatsächlich angesprochen. Mit Carl-Heinz Rühl aus Köln überrascht die Borussia die Experten. Der gebürtige Berliner, ein Freund offensiver Spielweise, hat mit dem MSV Duisburg gerade den UEFA-Cup erreicht, verlässt die Zebras dennoch Richtung Dortmund. Von seinem Kölner Ziehvater Hennes Weisweiler übernimmt Rühl vieles – auch den Mut, auf junge Spieler zu setzen. „Eine Woche vorher gab es ein Spiel gegen Arsenal, und Bertram verletzte sich“, berichtet Rühl im August 2015 in seinem Kölner Appartement. „Damit war klar, dass er kaum wird spielen können. Was nun? Eike hatte erst mal keiner auf dem Plan. Man hätte noch einen verpflichten können bis zum Bayern-Spiel. Aber wo bekommen wir so schnell einen Torwart her, ausgerechnet vor so einem Spiel? Ich hatte den Eike schon auf dem Schirm, hatte ihn in der Vorbereitung kennengelernt und dachte mir: Das riskiere ich.“

Der Trainer geht also ins Risiko und wird es nicht bereuen. Burghard Segler erinnert sich noch präzise an die vertrackte Situation: „Die Vorbereitung war, wie immer in diesen Jahren, in Zeist in Holland. Da war Eike dabei, galt als zweiter Mann. Schlimm war, dass wir kaum ein Vorbereitungsspiel gewannen. Wir spielten grottenschlecht. Der Trainer war mit den Nerven schon am Ende. Ich beruhigte ihn und sagte, wir würden schon bald ganz sicher bessere Leistungen bringen. Dann kamen die Spieltermine raus. Wir mussten also direkt gegen die Bayern ran. Oha. Schon vor der Saison gab es im Tor eine gefühlte Wachablösung, zumindest deutete sich was an, obwohl Eike noch jung war. Als sich Horst Bertram verletzte, bekam Eike schnell seine Chance. Aber er traute es sich zu, machte sich keine Gedanken.“

Es ist und bleibt ein großes Wagnis: Rühl vertraut gegen das Starensemble einem Torhüter, der an diesem Tag jedes Recht hat, Fehler zu machen. Stattdessen aber erfüllt Eike alle Dortmunder Hoffnungen. Eine echte Alternative zu Immel hätte Rühl nicht gehabt. Als Reservist sitzt der in der Mannschaft beliebte Willi Brock auf der Bank, im Vergleich zweifelsohne der schwächere Torhüter. Aber Brock hat sich beim Trainer zuletzt auch unbeliebt gemacht. Beim Training ruft er etwas zu laut über den Platz: „Was ist denn das für ein Blinder?!“ Dabei übersieht er, dass es ausgerechnet der Trainer ist, der den Ball übers Tor gejagt hat.

Gegen Bayern sitzt neben Brock Pressesprecher Gerd Kolbe auf der Bank, der auch zu jenen gehört, die kaum glauben können, was passiert. „Da begann ein großes Spektakel“, sagt Kolbe, dem man seine Begeisterung über den Debütanten bis heute anmerkt. „Eike hielt alles, was auf sein Tor kam. Es war eine wahre Pracht. Darauf hatte man lediglich hoffen dürfen. Das hatte sprichwörtlich etwas von einem wahr gewordenen Märchen.“

Noch sind die Ermittlungen gegen die Borussia vom DFB nicht eingestellt worden. Der Verdacht, das Spiel gegen Mönchengladbach sei verschoben gewesen, wie so viele Partien einst im Bundesligaskandal, hat sich zwar nicht erhärten lassen, aber freigesprochen ist der BVB noch nicht und verarbeitet ist die Partie ebenso wenig. Es braucht Siege zur Rehabilitation. „Mit Dingen wie dem 0:12 und dass die Kollegen vielleicht noch traumatisiert sind oder die Fans sauer sind, darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht“, erinnert sich Eike an seine Gefühlslage. „Ich habe sowieso nicht viel nachgedacht, sondern mich einfach gefreut.“ Wohl auch wegen dieser Unbekümmertheit hilft Eike an diesem August-Samstag dem BVB, die historische Demütigung etwas zu überwinden, wird gefeiert als Wunderheiler, ist sich in der Hektik des Tages aber zu keinem Zeitpunkt der Dimension dieses Spiels und des Sieges bewusst.

Als Schiedsrichter Günter Linn aus Altendiez pünktlich um 15:30 Uhr anpfeift, spuckt unterhalb der Südtribüne ein junger Mann noch einmal in die Hände. Zeugwart Betzer hat die Handschuhe am Mittag frisch gewaschen und in den Trockner gelegt. „Sie kleben ideal, das hat der Walter super gemacht“, denkt Eike, als der Ball rollt, er das Leder fortan nicht mehr aus dem Blick lässt. Kurz zuvor hat ihm Maier am Mittelkreis Glück gewünscht, Karl-Heinz Rummenigge klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.

Schon beim Warmmachen hatte Rückkehrer Paul Breitner dem Sportstudio-Reporter Harald Clausen das Saisonziel des FCB genannt: Meister oder Pokalsieger wollen sie werden. Der Bericht am Abend zeigt später die Höhepunkte der Partie, lässt die Premiere von Eike aber zunächst außen vor. Clausen hält sich trotz der überraschenden Personalie an sein Konzept, analysiert die Gäste: „Von Meisterschaftsambitionen oder meisterlicher Form war dem Spiel der Bayern heute herzlich wenig anzumerken. Im Gegenteil: Die Borussia beherrschte eindeutig das Geschehen. Hier hatte der vierfache Europacup-Sieger Glück bei einem abgefälschten Ball von Burgsmüller, Nummer acht. Rummenigge war noch bester Angreifer der Süddeutschen. Sie enttäuschten. Nur selten übernahm jemand die Verantwortung für einen Schuss wie hier Oblak gegen den 17-jährigen Torwart Eike Immel, der übereifrig Fangprobleme hatte (Anm.: Der Reporter moniert ein kurzes Nachgreifen), ansonsten einen Einstand in der Bundesliga feierte, wie er besser nicht sein kann. Noch nie stand ein Jüngerer im Tor eines Bundesligaklubs.“ Der Reporter vergisst Jürgen Friedl aus Frankfurt, der 1976 mit 17 Jahren und 26 Tagen im Tor der Eintracht stand, ist nun aber doch spürbar begeistert und führt fort: „Gegen Oblak vollbrachte er seine größte Tat. Dafür dankten ihm sein Kapitän Lothar Huber und rund 50.000 Besucher. Ein Freistoß von Uli Hoeneß für München. 17 Meter Entfernung. Immel im richtigen Eck. Am Nachschuss hätte er wohl nichts machen können. In der 32. Minute erzielte Burgsmüller das 1 zu 0 für Borussia Dortmund. Freistehend ließ man ihm Zeit, den Ball mit der Brust zu stoppen und Sepp Maier zu überwinden.“ Diese Schilderung ist reichlich nüchtern für ein Tor, das man auch als fußballerisches Kunstwerk bezeichnen kann: Burgsmüller lässt den Flankenball von Werner Schneider auf seiner Brust hochspringen, gibt dem Ball mit dem Kopf einen Stups, legt ihn sich mit der Sohle noch einmal in den Lauf und spitzelt das Leder dann mit dem Außenrist unter Maier hinweg. „Die Dortmunder jedenfalls mit mehr Schwung als beim 0:12 gegen Mönchengladbach. Sie erinnern sich. (…) Immel ließ keinen Treffer zu bei seinem Debüt. Auch nicht bei einem Kopfball von Gerd Müller kurz vor Schluss. Übrigens Müllers beste Leistung nach dem Gewinn der Seitenwahl. Bayern verliert (…) und das Westfalenstadion hat nun einen neuen Publikumsliebling.“

Es ist die Geburtsstunde eines Torwarts, der dieses Spiel in jeder Sequenz dieser 90 Minuten rekonstruieren kann. Eike hat Maier, den er als den „besten Torwart der Welt“ bezeichnete, wenige Wochen zuvor bei der Weltmeisterschaft noch im Fernsehen gesehen. Dieser Mann von Weltruhm steht ihm nun gegenüber. Bevor Eike darüber nachdenken kann, laufen die ersten Angriffe. „Ich hatte direkt einige Großchancen zu verhindern. Aber ich fühlte mich gut, hatte eine gute Strafraumbeherrschung, konnte einige Flanken runterholen“, sagt Eike, dem anzusehen ist, dass die Bilder von einst nie verblassen werden. „Im Nachhinein ist es unfassbar, wie normal und wie selbstverständlich alles für mich war. Der erste Schuss, es war ein Freistoß von Uli Hoeneß, rechts ins Eck, und ich habe den weggefaustet. Das ganz Stadion jubelte. Oblak tauchte fünf Meter vor mir auf. Ich schmiss mich ihm entgegen – und dann war der Bann gebrochen, das ganze Stadion rief 90 Minuten meinen Namen. Alles jubelte. Beim Schlusspfiff minutenlanges Gebrüll. Lothar Huber wollte mich auf Schultern vom Platz tragen. Das war Wahnsinn. Unglaublich.“

Die Eltern Elke und Heinrich Immel sowie Jugendtrainer Karl-August Cimiotti fiebern auf der Haupttribüne dem Schlusspfiff entgegen. Es ist ein Tag, der an die Nerven geht. Auch ein zweites Tor für die Borussen scheint möglich. Der beliebte Schlager „Zieht den Bayern die Lederhosen aus …“ entwickelt sich zu einem Chor über vier Tribünen. Dann pfeift der Schiedsrichter ab, das ganze Stadion brüllt laut auf, gefolgt von Ovationen und lauten Immel-Rufen. Die Stadtallendorfer Delegation fällt sich jubelnd in die Arme. Überall in Deutschland freuen sich ehemalige Weggefährten aus Eikes Jugend, Vereinsmitglieder der Eintracht und zahlreiche Nachbarn der Immels haben am Radio mitgefiebert.

Der Held auf dem Rasen ist derweil kaum noch zu erkennen. Schon während des Spiels haben ihn die Mitspieler ermuntert und nach gelungenen Aktionen geherzt. Jetzt umringen sie gemeinsam mit den Fotografen den Torwart. Huber springt ihm mit Anlauf in die Arme, was wegen ihrer körperlichen Differenzen etwas lustig wirkt. „Ich kannte ihn ja aus dem Training, aber dieses Spiel war wirklich unglaublich“, sagt Lothar Huber gut vier Jahrzehnte später und wirkt immer noch perplex wegen der Ereignisse an diesem Tag. „Gegen die Bayern mit so einem jungen Spieler antreten? Das war ein Experiment. Entscheidend sind die ersten Aktionen. Da pflückt Eike eine Flanke, hält die erste Großchance, holte sich Sicherheit. Er zeigte unglaubliches Selbstbewusstsein. Die Bayern sind an ihm verzweifelt. Das war die Sternstunde von Eike Immel. Sein Vorteil war die Coolness. Dieses Leck-mich-am-Arsch-Gefühl. Die Fans haben ihn unterstützt, permanent angefeuert. Das hätte in die Hose gehen können, und wer weiß, wie es mit ihm weitergegangen wäre. Aber er hat es gebracht. Er konnte uns direkt Sicherheit vermitteln.“

Pressesprecher Kolbe erlebt alles aus nächster Nähe. Seine Funktion und auch sein zurückgenommenes Wesen verbieten ihm, mit in die Jubel-Arie einzusteigen. Begeistert ist er dennoch: „Er war von der ersten Minute an Liebling der Masse. Fußballerisch war Eike stoisch. Um ihn herum konnte passieren, was wollte. Wer auch immer kam. Wie groß auch immer der Name war. Es konnte ihn nicht aus der Bahn werfen. Er hatte die Ruhe. Er hatte die Physis. Sein Auftreten war überwältigend. Das alles war sehr eindrucksvoll, und jeder dachte, der ist vom lieben Gott dafür vorgesehen, ein großer Torwart zu werden.“ Zu den ersten Gratulanten gehört Maier, was die Fotografen freut. Beobachter analysieren wohlwollend dessen Begeisterung mit seinem auffällig herzlichen Verhalten gegenüber dem Youngster auf dem Weg in die Kabine. Trotz der Niederlage wirkt der 33-Jährige nicht unzufrieden. Im „Kicker“ erhält Eike trotz seines sehr guten Spiels nur die Note zwei, schafft es nicht in die Rubrik „Elf des Tages“. An entsprechender Stelle platzieren die Fachjournalisten immerhin eine eindrucksvolle Parade von Eike aus einer Hintertor-Position. In der Auswahl der Besten nimmt Bielefelds Uli Stein mit Note eins die Torwartposition ein. Er hat den Ostwestfalen ein 1:1 in Duisburg gesichert.

Immerhin schafft es Eike in die Kategorie „Der Glückspilz“. Zitiert wird seine schüchtern klingende Tagesbilanz: „Als die Immel-Immel-Rufe durch das Stadion hallten, war ich schon etwas nervös, aber mit dem Spielbeginn war alles vorbei.“ „Kicker“-Redakteur Willi Figur hat auf dem Rasen genau hingehört, dieses „Junge, das hast du gut gemacht!“ von Maier notiert und er dokumentiert das Urteil des Trainers: „Ich weiß, was der Junge kann. Die Frage war nur, halten seine Nerven. Jedenfalls hat er als Bertram-Vertreter einen Einstand gegeben, wie man ihn sich besser nicht wünschen kann.“

Von jetzt an wird Eike nie wieder ein Niemand sein. Die „Bild“ titelt: „Immel flog in den Himmel“. Wie gesagt: Für den 12. August 1978 gibt es keine Anleitung. Für alles, was danach kommt, erst recht nicht.

April 2021„Nicht genug Geld bedeutet nicht genug Respekt!“

Aus Genialität Glück zu machen, das ist die Kunst. Gelingt das nicht, droht Unglück. Der Vorwurf, aus optimalen Möglichkeiten zu wenig gemacht zu haben, lauert überall. Insofern ergibt sich meine erste Frage wie von selbst. „Bist du glücklich, wenn du auf dein Leben schaust?“ Die Frage überrascht ihn nicht. Er wird sie später selbst rauskramen, wie eine alles überlagernde Lebensfrage, und er wird versuchen, sich noch präziser zu erklären. Klar scheint, dass es für ihn kaum noch einen Weg geben dürfte in ein geregeltes, bürgerliches Leben mit gutem Auskommen, so wie es andere ehemalige Fußballprofis hinbekommen haben. Viel ist passiert, viel wurde berichtet – und meist mit großen Schlagzeilen über einen, der mal ein Großer war oder zumindest wie ein Großer wirkte. Dutzende, mutmaßlich Hunderte einst weniger talentierte Fußballer sitzen heute dankbar und demütig in ihren Eigenheimen. Manch einer mag denken, er habe aus wenig viel gemacht, während das Telefon klingelt und ihn jemand zum Golfen einlädt, in seine Finca auf Mallorca, zu einer Wanderung durch den Odenwald oder dem Besuch eines Bundesligaspiels im VIP-Bereich einer modernen Arena.

Bei Eike ruft niemand an. Neben Eike sitzt ein Journalist, der ergründen will, was schieflief und noch immer schiefläuft, immerhin mit ausreichend Platz für das Kleingedruckte. Es scheint das Malheur seines Lebens: Irgendwann flutscht Eike trotz seiner fußballerischen Genialität das Glück durch die Finger. Er konnte es nicht festhalten und den Spielaufbau, die Lebensplanung sinnvoll einleiten. Hätte er sein Glück aber festgehalten und nicht Dutzende andere Dinge, wäre der Mann neben ihm kein neugieriger Buchautor mit aufwühlenden Fragen, wäre er selbst nicht so ein unruhiger Geist, hektisch ohne Termine, gestresst ohne Stress, dem es oberflächlich betrachtet wieder gut geht in Stadtallendorf. Mit seiner sportlichen Biografie geprägt von Erfolg bietet der Blick auf die komplette Geschichte kaum noch Anlass für Jubelprosa. Dass es Eike Immel heutzutage kaum noch schaffen dürfte, aus seiner Genialität dauerhaftes Glück zu machen, ist zutiefst deprimierend. Dass es ihm nicht gut geht, ist offensichtlich, nicht zu ignorieren und kein Fall für den VAR. Dies einzugestehen aber fällt ihm schwer. Anfang April 2021 klingt der Dialog dazu so:

Eike, wie würdest du dich eigentlich sehen: glücklich oder unglücklich?

Nein. Ich ärgere mich oft. Da sind verschiedene Sachen, die mich stören.

Also nicht glücklich?

Ach, eigentlich doch. Eigentlich bin ich glücklich. Ich bin auch froh, dass ich allein bin und meine Ruhe habe. Ich hatte zehn richtig schlechte Jahre. Da wusste ich morgens nicht, wo ich abends schlafe, wo ich am nächsten Tag meine Brötchen herbekomme. Das musst du dir mal vorstellen. Zehn Jahre habe ich es geschafft, in Dortmund in Hotels zu wohnen. Beste Adressen, aber auch in einfachen Hotels. Jeden Tag bekam ich von einem alten Freund 100 Euro oder mehr. Ein totaler BVB-Fan. Für ihn war es eine Ehre, mir zu helfen. Er gab mir Geld für Medikamente wegen meiner Schmerzen, für den Magen, für Essen und Übernachtungen. Irgendwann wollte ich ihn nicht mehr belasten. Das musste mal aufhören. Der Wolfgang Schratz hatte mich angerufen. Es dauerte aber noch ein Jahr, dann rief ich zurück.

Geld ist ein Thema und bleibt es an diesem Vormittag auf einem Parkplatz in der Stadtmitte. Stadtallendorf ist keine Liebe auf den ersten Blick, trotz reizvoller Landschaft drumherum. Während Eike zum Bäcker geht, lese ich bei Wikipedia ein wenig zur Stadtgeschichte. Interessant ist vor allem, dass dieses Fleckchen Erde sehr lange sehr unbedeutend ist, bis zum Zweiten Weltkrieg eine unscheinbare Bauerngemeinde mit 1.500 Einwohnern. Dann gewinnt Allendorf im Landkreis Marburg-Biedenkopf mit einem Schlag an Bedeutung, erfährt explosives Wachstum. Die nationalsozialistischen Kriegstreiber und ihre Rüstungsindustrie haben eine stadthistorisch bedeutsame Entscheidung getroffen. Allendorf wird Standort zweier Sprengstoffwerke. In kürzester Zeit entsteht die größte Produktionsstätte für Munition in Europa. Von 1938 an bauen die Nazis eine Infrastruktur für ihre Kriegsmaschinerie mit Straßenbau und Gleis-, Wasser- und Stromanschlüssen. Von hier aus liefern bis zu 25.000 Beschäftigte Bomben und Granaten für die Front und NS-Feldzüge in alle Himmelsrichtungen. So wird aus einem Dorf, einst nur doppelt so groß wie Erksdorf nebenan, wo Eikes Wiege steht, in wenigen Jahren eine der kriegswichtigsten Städte im deutschen Reich. Von den Alliierten wird Allendorf nicht zerstört, weil die in der Landschaft getarnten Munitionsfabriken unentdeckt bleiben. Der Ort aber, so die historische Wahrheit, ist in seiner heutigen Größe mit 21.000 Einwohnern eine Stadtentwicklung der Nazi-Zeit. Erst 1960, also im Jahr von Eikes Geburt, erhält der damals noch „Stadt Allendorf“ geschriebene Ort Stadtrechte, die heutige Schreibweise Stadtallendorf wird 1976 eingeführt.

Dann steigt Eike wieder ein. Er hat 15 Euro bezahlt, wo 13 verlangt waren. Trinkgeld geben, sagt Eike, gehöre für ihn dazu, auch beim Bäcker. Dass ich mich wundere, versteht er nicht. Zu den fünf belegten Brötchen kommen zwei Flaschen Eistee und die „Bild“. Corona bestimmt die Schlagzeilen. Eike sagt, dass er „den Mist mit Corona“ schon hatte, es aber gut überstanden habe. Er wirkt wieder hektisch, weil er sich ärgert: „Es gab jetzt Ärger um das Torwarttraining im Verein, ist auch egal, was genau war, aber das muss ich direkt mal klarstellen“, sagt er kauend. „Da werden Dinge behauptet, die einfach nicht stimmen, und dann merke ich immer, dass es mir gegenüber einfach an Respekt fehlt. Wenn ich Kohle hätte und ich könnte hier und da mal ein paar Scheine auf den Tisch legen, dann wären alle ganz anders zu mir. Es reicht nicht, der Nationalspieler zu sein, ein deutscher Meister, einer der besten Torhüter. Es dreht sich immer ums Geld und wenn du keines hast, dann bekommst du keinen Respekt. Dann bist du ein Niemand. Ich ärgere mich einfach darüber, wie respektlos manche Menschen mit mir umgehen.“

Er ist sauer, trägt die schlechte Stimmung aber nicht lange mit sich rum. Wir sprechen über dies und das, schnell ist er abgekühlt. Ich komme mir vor, wie in einer Fahrstunde, weil seine kurzen, präzisen und oft späten Richtungs-Kommandos auf mich wirken, als würde Eike eine Mauer vor dem gegnerischen Freistoß dirigieren. Während ich aus Stadtallendorf rausfahre, lässt ihn das Thema Geld nicht los: „Ich kann mir doch selbst helfen. Ich habe Einkommen. Nicht regelmäßig, kein festes Einkommen, aber ich weiß mir zu helfen. Ich bin aber auch selbst schuld daran, wie die Menschen hier mit mir umgehen. Ich gelte eben als großer Loser. Ohne Geld bist du ein Loser. Das ist überall auf der Welt so, auch hier.“ Die nächsten Stunden fahren wir sein Leben ab, zumindest die frühen Jahre. Eike zeigt mir Häuser, Schulen, Sportplätze, erzählt Geschichten zu seiner Geschichte und wirkt mit allem ziemlich zufrieden. Seine Beine sind unruhig, und oft schlägt er mir auf den Arm, bevor er ansetzt. Vor allem mag er es, wenn der Buchautor neben ihm wie ein Fan spricht. Dass ich Details seiner Biografie kenne, ohne dass er es erzählen muss, lässt ihn schmunzeln. Noch ein kleiner Streit über den vermeintlichen Zauber des deutschen Schlagers, dann stehen wir vor seinem Elternhaus.

Die Vorgeschichte für dieses Buch ist eine Geschichte für sich. Schon Anfang der 2010er-Jahre versuche ich, ihn anzusprechen. Seine Telefonnummer habe ich längst gespeichert. Dass er noch immer in Dortmund lebt, weiß ich. Sein Sohn hat beim Vorortklub Kirchhörder SC angeheuert, wo ich damals selbst aktiv bin. Und Eike schaut immer mal wieder dem Training zu. In meiner Erinnerung ist das Flutlicht an, und ein hagerer Typ mit kurzen Haaren steht auf der obersten von drei Betonstufen in einem dunklen Parka. Während wir Kreisklassen-Pöhler bei Wind und Wetter schwere Lederbälle über die Asche wuchten, steht einer draußen und friert. In so einem Moment hätte ich ihn ansprechen können, tue es aber nicht, weil es sich nicht ergibt oder es mir doof vorkommt. Eike Immel aber so zu sehen, hat was Befremdliches. Das alte Torwartidol. Nur knapp zehn Jahre älter als ich. Sein Gangbild ist schlecht, die Hüften sind kaputt. Irgendwann steht was in der Zeitung über ihn und den Sohn. Wochen und Monate gehen dahin. Da sind beide wieder weg.

Anfang 2014 aber rufe ich ihn doch mal an. Freizeichen auf Freizeichen und keine Reaktion. Irgendwann im Sommer habe ich Glück. „Ja?“, meldet sich einer leicht schroff. Im Fernsehen läuft die WM in Brasilien. Bela Réthy fix leiser gemacht, telefonieren wir anschließend lang. Aus Eike sprudelt es raus, ich bin beeindruckt. Das wird doch noch was und es wird ein spannendes Buch, denke ich und freue mich über den Startschuss eines Fehlstarts. Immer wieder versuche ich es, komme aber nicht mehr in Kontakt. Und irgendwann ist die Nummer nicht mehr erreichbar.

Ich besorge mir also seine neue Nummer und direkt wieder ein nettes „Hallo!“ Eike sagt: „Ich dachte schon, du meldest dich gar nicht mehr!“ Erneut reden wir lange, eine Vereinbarung aber finden wir nicht. Er habe alles Mögliche um die Ohren und vor allem wenig Geld. Als wir im Herbst 2015 erneut telefonieren, scheint das Projekt endgültig gestorben. Als Eike plötzlich anruft, eile ich aus dem Besprechungsraum des WDR und erlebe auf dem Flur ein bizarres Telefongespräch. In meiner Erinnerung verläuft es so:

Hey Eike, schön dass du anrufst. Was gibt es denn?

Du, pass auf. Das mit dem Buch. Das können wir jetzt machen. Aber zuerst benötige ich 500 Euro. Lass uns später treffen und bring das Geld mit. Kann ich dir ja quittieren oder so. Ich bin gerade nicht so flüssig. Okay?

Warte mal eben. Wie stellst du dir das vor?

Pass auf. Neben dem Buch können wir noch was anderes machen. Du hast doch Ahnung von Fußball, vermute ich mal, nach allem, was ich über dich weiß. Mich hat ein Kontaktmann vom katarischen Fußballverband angesprochen. So wie im Januar bei der Handball-WM möchte Katar eine Mannschaft aufbauen. Die holen sich Profis aus Europa und dann bekommen die einen Pass. Dafür soll es ein Büro geben in Deutschland für das Scouting und das Ansprechen der Spieler mit Blick auf die WM 2022. Ich soll das machen, aber ich brauche noch einen, der sich um Organisatorisches kümmert. Das wäre was für dich, oder? Da kannst du deinen Job beim WDR oder beim ZDF schön einpacken. Aber das erzähle ich dir später in Ruhe.

Okay, Eike, Moment. Das überfordert mich jetzt. Die 500 Euro kann ich auch nicht so schnell besorgen. Ich muss heute erst mal arbeiten. Lass uns doch später noch mal telefonieren.

Ja, musst du wissen. Bis später.

Abends berichte ich zu Hause vom Gespräch und beerdige ein Projekt, das mich verstört, bevor es beginnt. Auf meiner Festplatte gibt es schon zahlreiche Interviews und Recherche-Dokumente. ZDF-Dienstreisen habe ich genutzt, um Wegbegleiter von Eike zu treffen. Carl-Heinz Rühl zuzuhören, der sich 1978 traute, einen 17-Jährigen aufzustellen, war packend. Auch die Begegnung mit Dietrich Weise im Sommer 2015 in Heilbronn bleibt ein Freudentag. Ärgerlich wäre es trotzdem. Es gibt erste Gedanken und Formulierungen, erste Episoden, fragmentarisch ist einiges da. An diesem Tag rufe ihn nicht mehr an.

Vor dem Haus seiner Eltern aber, an diesem 10. April 2021 haben wir zueinander gefunden, und endlich zeigt er mir sein erstes Trainingslager. Er ist ein bisschen angefasst, als er mich in den Hof des landwirtschaftlichen Betriebs von Familie Immel führt, zum wichtigsten Ort seiner Kindheit. Obwohl er nur einige Kilometer entfernt in Stadtallendorf lebt, ist er nicht mehr oft hier.

Wie fühlt es sich an, hier heute zu stehen?

Heute kann ich hier stehen, ohne die großen Emotionen, aber als der Vater starb, vor gut zehn Jahren war das, und wir alle hier zusammenkamen, da berührte mich das sehr. Inzwischen hat sich der Hof verändert, ist verpachtet und es sieht anders aus. Früher standen hier unsere Traktoren rum, und in der Mitte lag immer der Misthaufen. Die Tiere sind auch alle weg, insofern ist es jetzt schon was anderes. Aber es fühlte sich gut an. Ich weiß noch, wie selten ich damals krank war in der Kindheit. Ich war total abgehärtet durch die Landluft.

KAPITEL 2

Torwarttraining zwischen Kuhhaufen und Gülledampf

Eine sorgenfreie Kindheit in Erksdorf

Geboren wird Eike am 27. November 1960. Die Wahl von John F. Kennedy zum US-Präsidenten hat Eike Heinrich Immel, wie er vollständig heißt, um einige Tage verpasst. Weltpolitisch ist es die Zeit des Kalten Kriegs. Ost und West befinden sich im geopolitischen Clinch. 15 Jahre nach Ende des infernalen Zweiten Weltkriegs bleiben militärische Auseinandersetzungen ein Mittel der Wahl, zumindest als apokalyptisches Bedrohungsszenario.

Im westlichen Deutschland Konrad Adenauers werden die Zeitungen am Morgen nach Eikes Geburt über Willy Brandt berichten, der für die SPD 1961 in den Bundestagswahlkampf gehen soll. Eike wird sich zeitlebens für Politik nicht groß interessieren. Eine kleine biografische Ausnahme findet sich viele Jahre später in seiner Stuttgarter Zeit. 1988 unterstützt er Lothar Späth in einer Landtagswahl und ist damit öffentlich Sympathisant der CDU. Das hat insofern eine gewisse Logik, weil auch Eltern und Großeltern traditionell konservativ denken und entsprechend wählen. „Du bist so schwarz, du wirfst sogar im Keller einen Schatten“ ist eine gängige Redewendung im Alltag. Am Abendbrottisch von Großfamilie Immel aber gibt es für gewöhnlich andere Themen. Erst recht an diesem Sonntagabend in der Hatzbacherstraße 3, denn zu den Immels gehört fortan ein kleiner Eike.

Die ersten Schreie erfreuen Mutter Elke in einem Kreissaal im Marburger Krankenhaus. Eike ist ein Sonntagskind, im Sternzeichen Schütze. Eine Hausgeburt schien zu risikoreich, und so fährt Ehemann Heinrich seine von kurz getakteten Wehen geplagte Frau in die knapp 30 Kilometer östlich gelegene Studentenstadt. „Eike war bei der Geburt noch nicht so groß“, erinnert sich die Mutter 60 Jahre später, „49 Zentimeter und 3.200 Gramm schwer. Beim ersten Kind vergisst man das nie. Eike war ein Wunschkind, ein richtig hübscher, kleiner Junge. Wir sind nach Marburg, es war höchste Eisenbahn. Wehe auf Wehe. Die Geburt verlief dann normal. Für mich mit meinen 19 Jahren war es damals aber schon schwer. Ich hatte noch den Hof. Das alles war anstrengend.“

Dass ihr Erstgeborener Eike heißen soll, haben die Eltern schon weit vor der Geburt entschieden. Begründen werden sie ihre Entscheidung mit der imposanten Bedeutung des aus dem Skandinavischen stammenden Namens. Eike, das hieße so viel wie „Der Schwertmann“ und sei der Sage nach ein blonder Hüne, also ein groß gewachsenes, muskulöses Mitglied der Hunnen. Klein-Eike findet das prima, zumindest so lange, bis ihn die ersten Nachbarskinder wegen seines Vornamens hänseln. Der sei mädchenhaft und damit unmännlich. Auch der sich ins Phallische reimende Nachname hilft nicht weiter, ist eher weiterer Grund für bösartige Tuscheleien. In einer ländlichen Region mit einer Fülle an Friedrichs und Heinrichs, an Günthers und Manfreds haben Söhne zu Beginn der 1960er-Jahre Jörg, Dirk, Thomas oder Jürgen zu heißen, aber bitte nicht Eike. Davon unbenommen gibt Heinrich Immel am Abend in der Kneipe „Zum Salzwirt“ ein paar Runden mehr aus als sonst. Der Zusammenhalt in der 722-Seelen-Gemeinde und die Freude am Feiern sind überliefert und vielfach erwähnt. Anlassgemäß trinkt Eikes Papa einige Bier mit den anderen Gästen. Alkohol spielt keine große Rolle in seinem Leben, aber großzügig ist Heinrich ohne Zweifel – und arm ist die Landwirtschaftsfamilie mit ihren rund 30 Hektar Land nicht. Allerdings ist viele Jahre später bei Heinrichs Tod 2008 kaum noch etwas übrig vom Besitz.

Erksdorf ist eine typische Ansammlung von Höfen mit Fachwerkbau im Landkreis Marburg-Biedenkopf. Es gibt eine Grundschule, einen Sportplatz, ein Bürgerhaus und Menschen, die wissen, wo sie herkommen und was das bedeutet. Für viele ist die Landwirtschaft keine berufliche Selbstverwirklichung, sondern die von ihnen erwartete Maloche. Insofern ist nicht nur die Einwohnerzahl stabil, sondern auch die Erwerbsstruktur der Familien. Schon fünf Kilometer entfernt gelten junge Menschen aus Erksdorf als rückständige Landeier. Der erste Schritt in die große Welt ist ein Trip nach Stadtallendorf, die Nachbargemeinde wirkt geografisch wie ein großer Bruder.

Die Immels sind als Großfamilie seit Jahrhunderten in Erksdorf zu Hause, mit Einkommen als Maler, Schankwirt oder Spritzenmeister bei der Feuerwehr, in den häufigsten Fällen aber als Landwirte. Auf dem Friedhof finden sich jede Menge Grabstätten von historisch tief in Erksdorf verwurzelten Familien. Eikes erste Vorfahren dürften hier irgendwann nach 1563 gesiedelt haben. In diesem verheerenden Jahr, so dokumentiert es die Dorfchronik, sterben im Oberfürstentum Hessen Tausende Menschen an der Pest, werden weitere Opfer von marodierenden Kriegern, die auch in Erksdorf morden und brandschatzen. Kurz vor Ende des Dreißigjährigen Kriegs wird 1645 urkundlich ein Stoffel Immel vermerkt, weil er sechs Albus Löhnungsgeld zu zahlen hat. Neben Stoffel finden sich Immels mit Vornamen Conrad, Johann, Wilhelm, Valentin und immer wieder irgendein Heinrich. Sie gestalten die Dorfentwicklung in vielen verantwortlichen Positionen. 1832 wird Bürgermeister Conrad Immel als Schultheiß von Erksdorf bezeichnet, der kraft seines Amtes andere Dorfbewohner an notwendige Abgaben erinnert. Eikes Ur-Opa Heinrich ist zwischen 1934 und 1945 Bürgermeister, sein Opa gleichen Vornamens von 1952 bis 1972. Als nächster Bürgermeister namens Heinrich Immel wäre der am 21. August 1935 geborene Papa von Eike in Frage gekommen. Dieser Heinrich aber wird, bis zu seinem Tod 2008, politisch nicht in Erscheinung treten.

Doch zurück ins Jahr 1960 und mittenhinein in die evangelische Kirche, Mittelpunkt und Wahrzeichen von Erksdorf. Hier erhält Eike Anfang Dezember das Sakrament der Taufe in stilvollem Ambiente. Das Ritual wird allerdings nicht verhindern können, dass Erksdorfs jüngster Bürger Anfang der 1980er-Jahre aus der Kirche austritt. Nach Blick auf einen Lohnbescheid des BVB erachtet er die dort ausgewiesene Kirchensteuer als deutlich zu hoch.

In seinen ersten Lebenswochen hat Eike oft seine Oma Käthe um sich, die der Mutter zur Hand geht. Käthe bringt rheinische Fröhlichkeit in sein Leben, denn die Großmutter kommt aus Köln. Sie lernt eines Tages einen Soldaten namens Karl aus Speckswinkel kennen, einem Nachbarort von Erksdorf. Sie bekommen 1940 eine Tochter namens Elke – und die wird knapp 20 Jahre später auf einer Kirmes den Landwirtssohn Heinrich Immel kennenlernen. Zwischen Karussell und Schießbude verlieben sich Eikes Eltern. Kurz darauf müssen sie heiraten. Es gibt sanften Druck der Familie, denn ein erstes Produkt ihrer Liebe zeichnet sich ab unter Elkes Bluse. Mit der Hochzeit von Elke und Heinrich am 29. Mai 1960 steht Eikes moralisch integrer Geburt nichts mehr im Weg. Eike wächst in einem Drei-Generationen-Haushalt auf, wobei mit Elisabeth und Heinrich Senior auch die väterlichen Eltern unter dem gemeinsamen Dach leben. Dabei ist Opa Heinrich als Bürgermeister eine prominente Figur, der achtsam seine Rituale pflegt wie jene Gewohnheit, im schicken Mantel nahezu täglich nach Marburg zu fahren, um dort im Café einen Tee zu trinken.

Mit etwa zwölf Monaten lernt das Kind laufen. Auf Empfehlung einer Freundin hatte die Mutter ein Laufgestell besorgt. Eingehängt in einen Holzrahmen eckt Eike überall an, demoliert Türen. Das Geschrei im Fachwerkhaus ist groß, und die entnervte Mutter bringt das Laufgerät direkt wieder weg. Vielleicht hat die Episode mit Problemen beim räumlichen Sehen zu tun. Das linke Auge steht bei Eike von Geburt an etwas nach innen. Der Augenarzt klebt dem blonden Kleinkind ein Pflaster drauf, das Eike bald wieder abzieht. Auch eine Brille mag er nicht tragen. „Er hat sie nie aufgesetzt. Da hat er sich immer geniert“, so die Mutter, „dadurch korrigierte sich das Auge nicht und die Sehkraft litt darunter.“

Die Probleme beim Sehen werden ihn zeitlebens begleiten. In diesen jungen Jahren möchte Eike davon selbstverständlich nichts wissen. Spannender ist der Einzug seiner Schwester Dagmar. Nur ein gutes Jahr nach Geburt des Nesthäkchens haben Elke und Heinrich ein zweites Kind bekommen. Der geschwisterliche Doppelschlag erhöht das Arbeitspensum. Weil Elke Immel vor der harten Arbeit auf einem Bauernhof gewarnt worden war, möchte sie es den Skeptikern in ihrem Umfeld umso mehr zeigen. Es sind herausfordernde Jahre. „Ich würde aus heutiger Sicht vieles anders machen“, sagt die Mutter nachdenklich. „Ich war den ganzen Tag auf dem Acker. Wir hatten so viele Hektar Land, haben jede Menge Rüben angebaut. Da mussten viele Leute mit anpacken. Frühmorgens erst melken, dann auf den Acker, erst spät am Abend kam ich nach Hause. Da lagen die Kinder manchmal schon im Bett. Ich war ehrlich gesagt froh, dass ich wenigstens dann mal Ruhe hatte. Heute tut mir das leid, aber ich musste es so machen. Ich war ja gar nicht aus der Landwirtschaft.“ In diesen Jahren unterstützt Kindermädchen Christa, eigentlich beim Metzger beschäftigt, Familie Immel im Haushalt und bei der Erziehung. Auch die üblichen Streitigkeiten zwischen Geschwistern gilt es zu unterbinden. „Die Dagmar und der Eike waren wie Hund und Katze“, so Mutter Elke, „sie haben häufig gestritten. Aber wenn sie was ausgefressen hatten, dann hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel. Sie haben mal die Tür kaputt gemacht, und ich sagte, dass sie was erleben können, wenn der Papa kommt. Doch der meinte nur, dass ich die Kinder in Ruhe lassen solle. Heinrich hat sich nicht groß gekümmert, außer Fußball spielen mit dem Eike.“

1965 wird er eingeschult, schon früh ist Eike selbstständig, läuft jeden Morgen einige Hundert Meter durch das seit Sonnenaufgang fleißige Dorf. Das Gelände ist etwas ansteigend, weshalb die Kinder die Gasse im Winter in andere Richtung zum Schlittenfahren nutzen. Es ist ihr Mount Everest, an dessen oberem Ende die Grundschule steht, mit kleinem Schulhof und Klettergerüst. Mit Hilfe von Mülltonnen und einem Strauch lässt sich auch hier ein Fußballplatz improvisieren. Sie spielen mit Getränkepackungen und an guten Tagen einem Tennisball. In jeder Pause gibt es ein Spielchen oder kleine Turniere, die Schulklingel als unbarmherziger Schlussgong. Die Kinder sprechen hessische Mundart, wobei Eike vom Immel’schen Hof her auch Plattdeutsch kennt, das er bisweilen mit den Großeltern spricht. In Turnen und Rechnen ist er gut. Manchmal aber, wenn ihm langweilig wird, schnappt er sich kurzerhand die Tasche und geht nach Hause. Dann schimpft die überraschte Frau Hirtz mit ihm. Nur fünf weitere Schüler werden von ihr in diesem einzügigen Jahrgang unterrichtet. Angesichts der geringen Anzahl an Kindern kann der Lernstoff intensiver und schneller vermittelt werden als andernorts. So ergeben sich Zusatzferien für Eike und ausreichend Zeit für unendlich viele Abenteuer.

In den Urlaub fahren die Immels nicht. Wie soll das gehen mit all dem Vieh und all dem Land? Immerhin, da ist Eike sieben, unternimmt er mit Schwester und Mama einen Kurztrip ins Ruhrgebiet. Für ein paar Tage geht es nach Gelsenkirchen, genauer gesagt nach Buer zu Tante Friedchen. Am nächsten Tag fahren alle zusammen in die Niederlande, mal das Meer sehen. Kurz vor der Grenze jedoch fällt der Reisegruppe auf, dass Eikes Ausweis fehlt. Tante Friedchens Mann ist grenzenlos einfallsreich, fährt mit Vollgas an den Beamten vorbei. Der Kadett aus Gelsenkirchen fährt also unkontrolliert in ein Land, das Eikes Herz zeitlebens nicht so recht erobern will. „Irgendwie liegt mir Holland nicht. Ich bin da nie gerne hingefahren, vielleicht wegen dieser Geschichte damals. Ich hatte immer das Gefühl, dass die so tun, als würden sie alles besser wissen. Im Fußball, aber auch im Leben. Dass mir der van Basten später so ein Ding reinhaut, ist natürlich witzig in dem Zusammenhang. Das war 1988 die späte Rache für unseren Grenzdurchbruch.“ Das nächste Mal fährt Eike erst mit 17 in den Urlaub, mit der Freundin nach Sylt.

Zu Hause in Erksdorf bastelt sich Eike in seinem Kinderzimmer ein Tor, in dem ein Spielzeugtorwart die Bälle halten muss. Er spielt Turniere durch und würfelt Ergebnisse aus. Bayern München und Real Madrid treffen aufeinander, am Ende gewinnt meistens Celtic Glasgow. Er würfelt so lange, bis der schottische Verein jubeln darf. Er mag Celtic sehr, der Europapokalsieger der Landesmeister von 1967 beeindruckt ihn wegen der Fernsehbilder des Celtic Parks.

Eike entwickelt langsam die Idee und den Ehrgeiz, es selbst auch auf die große Fußballbühne zu schaffen. „Wenn er aus der Schule kam“, erinnert sich Mama Elke, „warf er den Ranzen in die Ecke. Dann hat er fix gegessen, sich umgezogen und war den ganzen Tag weg, Fußball spielen. Wenn er wiederkam, habe ich ihn oft nicht erkannt, so dreckig war er.“ Während Heinrich auf dem Traktor sitzt, ackert auch Eike auf den Feldern, mit seinem Ball. „Direkt hinter dem Hof auf den Feldwegen haben wir manchmal quer gespielt“, berichtet Eike 50 Jahre später. „Die Bäume waren das Tor, und wir schossen hin und her über den Weg. Dadurch sprang der Ball über die Kanten und veränderte seinen Flug. Da musste ich reagieren.“ Eike selbst kann auch schon Traktor fahren, da ist er ungefähr zwölf Jahre alt.

Ein erstes Trainingszentrum ist ihr Innenhof, eingesäumt von Kuh- und Schweinestall und dem Wohnhaus. Hier wirft Eike den Ball auf das Blechdach der Scheune. Von dort fliegt das Leder aus den Rillen heraus in nicht erwartbaren Flugkurven zurück. Unten auf dem gepflasterten Hof erwartet Eike den Ball, fängt ihn, sichert ihn an der Brust, entwickelt erste Torwartinstinkte. So trainiert er stundenlang bei Wind und Wetter, hört das Blöken und Gackern im Hintergrund und stellt sich anerkennendes Raunen eines Stadions vor. Er variiert die Scheunenübung mit Volleyschüssen gegen die Garagen beim Torwarttraining in Eigenregie zwischen Kuhhaufen und Gülledampf. „Meine Mutter stand kurz vor dem Nervenzusammenbruch, so hat das hier gescheppert“, berichtet Eike lächelnd. Der Vater wird nach Feierabend zu seinem Spielkameraden. Ob im Hof oder im Wohnzimmer: Wenn der Ball im Spiel ist, sind Papa und Sohn in ihrem Element. „Im Wohnzimmer war es ideal, weil ich mich auf dem weichen Teppichboden gut schmeißen konnte, aber es war absolut verboten, dort Fußball zu spielen. Da durfte man nur an den Feiertagen rein. Daran haben mein Vater und ich uns aber nicht immer gehalten.“

Auch mit der Mutter gibt es Augenblicke von Zweisamkeit. Etwa dann, wenn die beiden in der Stube sitzen, die Mutter auf dem Sofa, Eike davor. Musik vom Plattenspieler begleitet die heimelige Szenerie. Für Mutter und Sohn sind es Momente der Ruhe und Vertrautheit. Elke liest Zeitschriften wie „Bunte“ oder „Gala“. Das Lesen einer Illustrierten ermöglicht ihr die Reise raus aus der mittelhessischen Provinz. Auch für Eike sind die Momente wertvoll. Zum einen liebt er die Musik des jungen Peter Maffay. Zum anderen genießt er die Nähe und auch die Streicheleinheiten der Mutter. Mit ihr teilt er zwar nicht das Hobby, dennoch hat sie einen großen Anteil daran, dass er selbst sagt, er habe eine sehr glückliche und liebevolle Kindheit gehabt. „Meine Mutter war eine sehr gut aussehende und auch moderne Frau. Wenn ich später ältere Menschen traf in der Heimat, dann sagten die immer: ‚Deine Mutter war die hübscheste Frau im ganzen Landkreis‘ – und schwärmten richtig. Da war ich schon stolz.“

Eike mag auch Bücher, schmökert gerne in fußballerischer Fachliteratur. Er wünscht sich einen gelben Pulli, wie Englands ’66er-Weltmeister-Torwart Gordon Banks ihn trägt. Der Keeper ist sein erstes Vorbild, aber auch andere Torhüter können ihn begeistern. Dutzende Legenden werden im Bildband „Die Großen im Tor“ portraitiert, mit Sepp Maier auf dem Cover. Aber Eike studiert nicht nur die Torwartlegenden. Er liest auch gerne Jugendromane mit Fußballbezug. „Die 89. Minute“, eine dramatische Geschichte über ein Finale im Südamerika-Cup, hat es ihm besonders angetan. In Eikes Kinderzimmer ist es meist schon spät, wenn der Zehnjährige das Licht ausmacht und beim Einschlafen überlegt, ob er das Tor hüten oder nicht doch lieber im Feld spielen sollte. Die Helden in den Romanen stehen eben meistens nicht im Tor.

Der Gedanke aber ist abwegig, weil seine Stärken eindeutig im Torwartspiel liegen. Mit seinem Freund Herbert Trier, einem wieselflinken Rechtsaußen, verbringt er Tag um Tag, Stunde um Stunde auf dem Rasenplatz des TSV Erksdorf. Hier spielt sein Vater in der ersten Mannschaft, hier erlebt Eike erste Eindrücke jener dramatischen Momente, die einen Torwart ereilen können, in diesem Fall seinem Papa, den Kreisliga-Keeper. „Wir hatten Kirmes in Erksdorf“, holt Eike aus, um die Geschichte einzuleiten. „Meine Mutter hatte sich extra ein schönes, rotes Kleid besorgt. Das Spiel gegen Langenstein wurde vorverlegt, damit am Wochenende alle zur Kirmes können. Die Mannschaft meines Vaters musste gewinnen, unentschieden war zu wenig. Sie führten bis zum Ende. In der letzten Minute köpft einer, mein Vater hält den Ball richtig gut und präsentiert ihn stolz mit ausgestrecktem Arm den Leuten. Da kommt einer und köpft ihm den Ball aus der Hand. Das Tor zählte. Mein Vater war total fertig. Das war das 2:2. Das war so ein Manni-Burgsmüller-Tor. Mein Vater hat geweint und sich nicht auf die Kirmes getraut. Meine Mutter war auch fertig, weil sie ihr neues Kleid nicht zeigen konnte. Ich weiß noch, wie wir zu Hause saßen. Das waren prägende Momente für mich.“