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Welcher Spieler hat uns in der Hand? Vom Mysteriösen im Alltäglichen, von der Unterwelt ins Klassenzimmer, von Tod bis Leben, davor und dazwischen Eine verweigerte Sehnsucht? Ein unbemerkter Fehltritt? Ein blinder Fleck in der vermeintlichen Klarheit? Ganz genau werden sie wohl nie ergründen, woher es kommt: das Sehnen und Zehren, das seltsame Unbehagen, das Schöne wie das Schreckliche, das ihnen entgegentritt. Denn Ringende, Suchende und Fragende sind sie allesamt, die Figuren in Georg Haderers Erzählungen. Und immer ist ihnen eine unbekannte Größe eingeschrieben. Der Lehrer, der seine Liebe zur Physik unbewusst auch als Nächstenliebe vermittelt; der Gärtner, der der Absurdität der Existenz Tag für Tag mit dem Griff in die Erde begegnet; die Tramperin, die ihren Halt in der Bewegung sucht; oder der junge Mann, der wie ferngesteuert seinem Zuhause entflieht, als wäre er ein Nachkomme von Schuberts gequältem Winterwanderer. Ein literarisches Kaleidoskop, das mit jedem Drehen einen neuen Blick auf das Mysterium des Menschseins wirft So eigenständig die Erzählungen in Inhalt und Stil sind, so verneigen sie sich doch gleichzeitig auch vor den Riesen, auf deren Schultern sie zeitweilig klettern, um den Blick zu weiten. Um vielleicht doch noch herauszufinden, mit welch unbekannten Größen wir es im menschlichen Leben zu tun haben. Georg Haderers Erzählungen sind virtuos und gewitzt, manchmal poetisch, manchmal knochentrocken, fantasievoll und stets pointiert, geprägt von einem feinen Gespür für die Protagonist*innen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Georg Haderer
Erzählungen
Himmelschlüssel
Trigger
Bardo
Lepton
Keller
Aokigahara
OWS
Schreinern
Photon
Lügen
Iron
D911
Test
AHS
Manati
Franz
Jung
Sale
Gestern ist Mama gestorben. Sie haben mich aus dem Heim angerufen und mein erster Gedanke war: Lorbeer, Wacholder, Stechpalme. Für den Frühling: Krokusse, Narzissen, Pfingstrosen. Veilchen. Wenn der Boden es hergibt, Lavendel und Verbene, weil Mama den Duft gemocht hat. Weil Mama tot ist, bin ich der Letzte aus der Familie. Chrysanthemen. Keine Kinder, keine Geschwister, keine Neffen oder Nichten, wenn ich tot bin, ist es aus mit uns. Vergissmeinnicht. Mir macht das nichts aus, glaube ich. Was kümmert es das Universum, ob meine Gene weiterleben. Ich muss mir keine Sorgen um jemanden machen. Keine Angst. Kornblumen vielleicht. Zum Glück habe ich meine Arbeit. Viele Gärtnereien setzen inzwischen auf Ungelernte. Nicht nur wegen der Kosten, man bekommt ja kaum noch Lehrlinge. Bei größeren Aufträgen nimmt der Chef Leiharbeiter. Die wenigsten taugen was. Mimosen. Warum sollte ich denen was beibringen. Zwei Wochen schleppen, graben, setzen, dann sind sie eh wieder woanders. Dass ich schauen soll, ob nicht einmal ein Junger dabei ist, den ich für die Arbeit begeistern kann, sagt mein Chef. Ja. Buchsbaum. Aber mal ehrlich, wie soll ich ins Schwärmen geraten, wenn ich jemandem von den chronischen Rückenschmerzen erzähle, die mich nach gut 30 Jahren plagen? Vom Jucken nach dem Thujen- und Eibenscheren, von den Zeckenbissen, von der Hitze, ich übertreibe. Kriechmispeln. Als dienstälteste Fachkraft könnte ich die anstrengendsten und eintönigsten Arbeiten ohne Weiteres an die Hilfsarbeiter delegieren. Mache ich nicht. Kann sein, dass es was mit Stolz zu tun hat. Steile Böschungen, Südlagen, da sieht man, wer was aushält. Unten Lavendel. Niedrige Fetthenne, Katzenminze. Sonnenhut mögen inzwischen viele. Hält was aus. Man muss an die Neigung denken und an das abfließende Wasser, die Staunässe unten. Polsterstauden, verschiedene Gräser. Und natürlich die Kriechmispel. Mochte ich früher gar nicht. Hat was Biederes, braucht auch nicht viel, macht wenig Mist, kreuzbrav. Aber über die Jahre. Zäh ist die. Bescheiden. Treu. Potentilla und Dasiphora passen gut dazu. Roter Mauerpfeffer, wo es in die Schattenbereiche geht. Am Rand Funkien. Erika gibt schöne Farbtupfer dazwischen. Die Kriechmispel ist einfach da. Immergrün. Autobahnböschungen, Verkehrsinseln, Friedhöfe, da sind Kriechmispeln ideal. Ich erinnere mich an die erste große Böschung, die ich als Lehrling mit ihr bepflanzt habe. Das war eine Schinderei, da haben mir Stellen wehgetan, von denen ich nicht gewusst hatte, dass sie weh tun können. Der zweite Lehrling hat das Handtuch geworfen, ist zur Polizei, glaub ich. Mir war auch jeden Abend danach, aber ich wollte Mama nicht enttäuschen. Dass ich die Schule mit 15 geschmissen habe, war hart genug für sie. Steinnelken könnte ich aufs Grab tun, blühen den ganzen Sommer über. Sie hat sich immer Sorgen gemacht um mich und ich habe das nie verstanden. Wieso sollte ich mehr aus mir machen wollen. Was ist falsch daran, morgen das Gleiche zu machen wie gestern und heute? Ich mag den Freitag, aber die Wochenenden mag ich nicht. Rosen mag ich nur die Rambler mit den kleinen Blüten, nicht die riesigen, die Angeber. Ich trete den Spaten in die Erde, wie schwer geht er hinein und wieder heraus, was bleibt am Metall, da weiß ich schon, was verträgt sich mit dem Boden und was nicht. Hortensien sind wieder sehr gefragt, vor allem die blauen, aber wer sich nicht richtig darum kümmert, auf den pH-Wert und das Aluminium schaut, dem werden sie schnell rosa oder weiß. Am Abend tut mir immer irgendetwas weh, das gehört sich so. Wenn wir mit einem größeren Projekt fertig sind, wässern, aufräumen, Werkzeuge zusammenpacken, dann sticht es mir auch in der Brust, das ist seelisch. Spätestens am nächsten Tag ist das wieder weg. Ginster. Willst du das denn ewig machen, hat mich neulich wieder ein jüngerer Kollege gefragt. Was verstehst du unter ewig?, habe ich geantwortet. Tagein tagaus. Grob geschätzt habe ich alleine schon an die 50 000 Kriechmispeln gesetzt. Da würde ich wahnsinnig werden, hat er gemeint. Nein, habe ich erwidert. Du setzt in der Früh die erste und am Abend die letzte, und dann schaust du die Böschung hinunter und weißt schon, was du morgen in Angriff nehmen kannst. Davon ist noch keiner wahnsinnig geworden. Im Gegenteil. Der Chef hat schon des Öfteren jemanden übernommen, aus der Nervenheilanstalt, die haben da so einen Deal, da zahlt das Land die Hälfte, damit die eine Tagesstruktur bekommen und Sinn, Arbeitstherapie, waren schon zähe Hunde dabei. Einmal ist einer nach Feierabend im Park geblieben und hat sich erhängt. Ahornblättrige Platane. Farne würde ich gerne öfter setzen, über einen Farn mit der Hand zu streichen, ist unverwechselbar, aber er ist nicht sonderlich beliebt, verstehe nicht warum. Sukkulenten gehen immer besser, Steingärten allgemein, Klimawandel, halten mehr Hitze aus, mir soll’s recht sein. Zu meinem 20-jährigen Firmenjubiläum habe ich vom Chef eine Teneriffa-Reise geschenkt bekommen. März oder April, Blütezeit der Tajinaste, ja, ich bin viel gewandert, weil das Herumsitzen nicht meins ist. Bienen haben mich viele gestochen, keine Ahnung warum, ich bin keiner, den Insekten nervös machen. Ein bisschen enttäuscht waren sie daheim, dass ich überhaupt keine Fotos gemacht habe. Das können sie sich doch im Internet viel besser anschauen. Jungfer im Grünen, die hat Mama gemocht, schaut viel empfindlicher aus, als sie in Wirklichkeit ist. Und die Birke, ja, die Birken, in die war sie verliebt. Ist sie sogar einmal nach Ostpolen mit dem Zug, weil es dort endlose, lichte Birkenwälder gibt, so muss das Paradies ausschauen, hat sie gemeint. Wird wahrscheinlich nicht genug Platz sein für eine Birke, nein. Auf den Waldfriedhof wollte sie ja nicht. So weit weg vom Opa. Einen alten Grabstein, auf dem schon Flechten zu Hause sind. Flechten sind kleine Wunderwerke, wenn man sie versteht. Ideale Symbiose. Ohne Du kein Ich. Ich mag Lebewesen, die selbst entscheiden, wo sie wachsen wollen. Heuer war ein Apfeljahr. Überall. Im Westen war die Blüte drei Wochen später, die Eisheiligen haben auch ordentlich zugebissen, im Süden war der ganze April ohne Regen. Aber im Spätsommer waren die Bäume überall so voll und schwer, dass es reihenweise die Äste gebrochen hat. Das versteht keiner. So viel, was da passiert, ergibt für uns keinen Sinn. Am wenigsten für die, die eine Wissenschaft draus machen. Der Chef hat gemeint, dass ich mir ruhig ein paar Tage freinehmen kann. Weil man schließlich nur eine Mama hat. Einen Tag werde ich wegbleiben, ihm zuliebe. Im Wald, auf dem Hügel hinter unserem Haus, da steht eine uralte Eiche. Ich werde hinaufgehen, mich an den Stamm setzen, das Holz riechen, vielleicht meine Stirn an die Rinde drücken. Himmelschlüssel.
Es war allein dein Wunsch, Ministrant*in zu werden. War es eine Art Glücksversprechen? Dem Priester kurz vor der Wandlung das silberne Tablett mit Wasser und Wein zu reichen. Wie schön das wäre, vor dem Altar kniend, beim Lamm Gottes dreimal die Glöckchen zu läuten. Erinnerst du dich denn nicht daran, wie du uns damit in den Ohren gelegen bist? Erinnerst du dich denn an gar nichts mehr? / Wie hättest du das Bauchgefühl deiner Mutter denn noch ernst nehmen können? Wenn sie bei jedem Menschen, der dir seit Anbeginn der erinnerten Zeit näherkam, ein sogenanntes ungutes Bauchgefühl gehabt hatte. Das Gefühl, das ihr bei jeder Schwangerschaft im Bekanntenkreis das Geschlecht spätestens im vierten Monat einflüsterte. Heute lässt sich nicht mehr sagen, wie oft sie damit falschgelegen hat. Sich darauf zu berufen, dass sie in diesem einen Fall mehr als recht gehabt hatte, ja, das wäre lächerlich – auch wenn ein Eingehen auf ihre Bedenken dem Lauf dieser Geschichte eine weniger tragische Richtung gegeben, womöglich sogar einen Todesfall vermieden hätte. / Hör zu: Es mag schon sein, dass eine Metastudie zum Schluss kommt, dass dieser Wirkstoff erstens allen anderen vergleichbaren Therapieformen signifikant überlegen ist, zweitens einige schwere Nebenwirkungen so gut wie ausschließt. Aber eben nur: so gut wie. Studien. Die sind nicht alles, ja? Du hättest nie außer Acht lassen dürfen, dass es sich dabei um Wahrscheinlichkeiten handelt, um Zahlen, Mathematik, ja, meinetwegen, aber das ist nicht alles. Da gibt es eben noch andere Faktoren. Da muss man eben auch offen sein, dann lässt sich so was vermeiden, oder es kommt gar nie so weit, ja? / Ich weiß, dass ich dir immer nahegelegt – in deinen Worten: gepredigt – habe, der Welt ohne Vorurteile entgegenzutreten. Und ja, es ist ein Unterschied, ob es sich um eine persönliche Begegnung, einen Dialog mit anderen Kulturen oder was dergleichen handelt, oder eben wie in diesem Fall nur um ein Buch. Aber. Bitte. Wenn auf der hinteren Flappe jemand Wert darauf legt, die Leser*innen wissen zu lassen, dass die Autorin mit vier Katzen in der schönen Eifel lebt, dann ist das mehr als ein Zeichen, das ist doch schon ein Urteil, das einem Entscheidungen abnimmt, oder? / Hausverstand. Hausverstand! Da muss ich doch gar nicht die Nachrichten lesen beziehungsweise die dazugehörigen Gesichter sehen. Und ich weiß, dass man hier schnell in die Rassismusfalle steigt, aber: Geschlecht, Alter, Haut- und Haarfarbe, Religion, ich meine, wenn alle Merkmale, zu denen es Diskriminierungsalarm gibt, in einer Person mit den passenden Vergehen respektive Verbrechen zusammenkommen, dann muss es erlaubt sein, Korrelationen herzustellen, die natürlich auch irgendwie darauf hinauslaufen, solchen Personen aus dem Weg zu gehen, wenn es schon nicht möglich ist, sie auf andere Weise, du weißt schon, das gebietet einem doch der Selbstschutz, dass ich besagte Kriterien als Warnsignale nehme, ich weiß, dass tierische Vergleiche oft nicht korrekt sind, aber so wie du in Australien hoffentlich nie dort schwimmen gehst, wo sich Salzwasserkrokodile tummeln, so überlegst du dir bitte beim nächsten Mal lieber doppelt und dreifach, mit wem du dich da einlässt, ja? / Ich behaupte nicht, dass solche Szenen in allen Fällen auf unüberlegtes, minderwertiges, ausgelutschtes, klischeehaftes, eigentlich verwerfliches Drehbuch-Handwerk – von wegen, Dreckbuch sollte es heißen – schließen lassen, aber sag selbst: Anfänge, bei denen die Kamera die Umgebung eines belegten Bettes einfängt, geleerte Spirituosenflaschen respektive Bierdosen respektive orange Pillendosen am Boden oder Nachtkästchen, ein grummeliges Erwachen et cetera, cut; oder Bars, in denen das Personal es nicht für nötig hält, die leeren Cocktail-, Bier-, Schnapsgläser vom Tresen oder Tisch zu räumen, aus denen hier maßlos gesoffen wird. Typisch deutsch: Wieder versöhnte Freunde respektive Vater und Sohn entfernen sich mit dem Rücken zur Kamera, rempeln sich an oder stoßen sich wiederholt kumpelhaft weg. Du weißt, was dich erwartet. / Auf die Schnelle fiel ihr überhaupt niemand ein, der einen harmlosen Grund gehabt haben könnte, um 3:00 nachts an die Tür ihrer Wohnung zu klopfen. / Und dann, ping, 20 Jahre später, Maturajubiläum, zu dem sie gar nicht gehen wollte, inklusive Schulbesuch, großes Hallo, oh, so klein, so verpeilt waren wir damals, wirklich? Chemiesaal, Bibliothek, neuer Multimediaraum und dann der Turnsaal, dieser Geruch, auch wenn sie die Garderoben und Duschen saniert haben, sogar ein neues Linoleum, aber dieser Geruch, staubig, schwitzig, die blauen Matten, oh Gott oh Gott oh Gott. / In ihren mittlerweile über 20 Jahren beim Dezernat für Gewaltverbrechen hatte Chefinspektorin Kamp schon einiges an Scheußlichkeiten gesehen: gespaltene Schädel, mit dem Sofa verwachsene Kadaver, vier tote Frauen in sieben Räumen … aber was sie an diesem Sonntagmorgen in der Gustav-Mahler-Suite des Palais Coburg und so weiter und so fort. / Das Waschmittel, nach dem der Wäschekeller des Gemeindebaus auch im Sommer roch, wenn die meisten ihre Wäsche im Freien aufhängten, dieser bunkermäßige Raum, der dann so leer war, dass er sich hervorragend eignete, um darin Ball zu spielen, Softball-Tennis, Squash, Fußball, Völkerball, im Erdgeschoß konnte man die Bälle an den Beton prallen hören, aber da wohnte nur die schwerhörige Hausmeisterin, eine serbische Großfamilie, die selbst genug Lärm verursachte, und ein querschnittsgelähmter Einsiedler, der die Jugos mithilfe seines Fernsehers zu übertönen versuchte, in diesen Böden, Wänden und Wohnungen versiegten die Geräusche von unten, das Prellen, das Schreien, vergessen, nur der Geruch dieses Waschmittelpulvers, der ist hängen geblieben. / Sie sagen ihr, dass es nur an ihren Augen liegt. Sie sagen ihrer Tochter, dass es sich um das Charles-Bonnet-Syndrom handelt, es sind visuelle Trugwahrnehmungen, Pseudohalluzinationen, die nichts mit Psychosen oder etwas Ähnlichem zu tun haben. Aus diesem Grund hätten auch die Neuroleptika nicht geholfen, die ihr kurzzeitig verschrieben worden waren. Sie sagen ihr, dass es das Beste wäre, sich mit diesen Erscheinungen anzufreunden, diese Personen, längst verstorbene Bekannte genauso wie völlig unbekannte, freundliche und grimmige, willkommen zu heißen, weil ihnen das den Schrecken nehmen würde. Sie sagen, dass diese Wesen nur auf ihrer Netzhaut existieren, allein: Sie weiß es besser. / Ist es nicht ungerecht, dass es spezielle Tiefgaragenparkplätze nur für Frauen gibt?
