Ein Cottage für deinen Sommer - Viola Shipman - E-Book
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Ein Cottage für deinen Sommer E-Book

Viola Shipman

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Beschreibung

Wer erinnert sich nicht gern an die unbeschwerten Sommer der Kindheit? Ein wunderbar herzerwärmender Roman über einen neuen Anfang, zweite Chancen und über den Mut, den es braucht, das Leben zu leben, das man sich erträumt hat: Adie Lou verbrachte die Sommerferien als Kind im Cottage ihrer Eltern am Michigansee. Damals waren Schwimmreifen und Angeln genug für das Glück endlos scheinender Tage am Wasser. Auf der Suche nach diesem Gefühl gibt sie nach ihrer Scheidung ihre Stelle in Chicago auf und zieht an den See. Wird es ihr gelingen, das Ferienhaus ihrer Familie in ein stylisches und gemütliches Inn umzubauen? Und wer wird ihr helfen, ihren Traum zu verwirklichen?

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Seitenzahl: 513

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Viola Shipman

Ein Cottage für deinen Sommer

Roman

Aus dem Amerikanischen von Anita Nirschl

FISCHER E-Books

Für meine Großeltern, die mich gelehrt haben, dass sich die kleinste Hütte wie ein Palast anfühlen kann, wenn sie von Liebe erfüllt ist.

 

Und für Gary, der mich gelehrt hat, alle Regeln zu brechen.

»Was macht unser Sommer-Cottage so besonders? Die Tatsache, dass wir auf dieser Welt nichts anderes brauchen als Schwimmreifen, Angelruten, Bücher und einander.«

 

Meine Grandma über die Blockhütte Creaky Cabin am Sugar Creek, wo ich jeden Sommer meiner Kindheit verbracht habe, vom Memorial Day bis zum Labor Day

Prolog

Juli 2006

»Da ist es!«, rief ich, kurbelte das Fenster herunter und streckte meinen Kopf aus dem Auto.

Obwohl ich schon eine erwachsene Frau war – eine verheiratete Mutter in ihren Dreißigern –, gab es doch nichts Schöneres, als das Sommer-Cottage meiner Familie wiederzusehen. Ich lächelte, als Cozy Cottage in Sicht kam. Es sah aus, als wäre es direkt einem Bilderbuch entsprungen: Ein altes, mit Holzschindeln verkleidetes Häuschen auf einem Steilhang mit Blick über den Michigansee und einer amerikanischen Flagge, die in der Brise flatterte. Der kühle Wind pfiff vom See her, das Gras auf den Dünen wogte, die Blätter der Zitterpappeln raschelten, und die Nadeln der hohen Kiefern, die das Cottage umgaben, bebten.

Mein Herz raste, und all die Jahre fielen von mir ab. Sofort war ich wieder so aufgeregt wie das kleine Mädchen, das wusste, dass es seinen ganzen Sommer hier verbringen würde. Ich winkte meinen Eltern zu.

»Wir sind da!«, rief ich. »Wir sind da!«

Ich konnte sie von der Fliegengitterveranda aus jubeln und rufen hören. Ihre fröhlichen Stimmen schallten herüber und hüllten das Auto ein.

»Willkommen im Cozy Cottage, Camper!«

Unser SUV hielt am Ende der langen, kiesbedeckten Auffahrt an, die zum Sommerhäuschen führte, und mein sieben Jahre alter Sohn Evan sprang aus dem Wagen, noch bevor er überhaupt vollständig zum Stillstand gekommen war.

»Grandma! Grampa!«, jauchzte er. Er ließ die Wagentür offen und sprintete das Labyrinth aus verzogenen hölzernen Stufen zur Veranda hoch. Meine Mom und mein Dad schaukelten auf einer rot gestrichenen Schaukelbank und sprangen dann mit strahlenden Gesichtern auf und winkten mit kleinen amerikanischen Flaggen, während ›Yankee Doodle‹ aus einer alten Stereoanlage dröhnte. Sie zogen Evan in ihre Arme und übersäten seinen Kopf mit Küssen.

Ich lachte und drehte mich zu meinem Mann Nate um, der die Augen verdrehte.

»Bitte«, sagte ich leise. »Nicht.«

»Wir sind keine Camper«, erwiderte er tadelnd in dem professionellen Tonfall, mit dem er seine Erstsemester am College einschüchterte. »Das ist so kindisch, Adeleine.«

»Du weißt, dass sie das schon immer gemacht haben«, erwiderte ich und tätschelte seinen Arm. »Komm, wir amüsieren uns einfach. Es ist Sommer. Heute ist der vierte Juli. Das ist unsere einzige Auszeit von all dem Stress des Lebens.«

Nate stimmte mir weder zu, noch nickte er, stattdessen ging er zum Kofferraum, um das Gepäck herauszuholen.

Ich hasste es, wenn er nicht auf meine Bemerkungen reagierte – was in letzter Zeit häufiger vorkam –, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, ihm das zu sagen. Wir hatten meine Eltern seit Weihnachten nicht mehr gesehen, und ich wollte einfach nur, dass unser Besuch angenehm verlief.

»Adie Lou«, gurrten meine Mom und mein Dad gleichzeitig, als ich auf sie zuging. Sie zogen mich in die Arme und drückten mich fest. »Unser Yankee Doodle Dandy ist wieder daheim!«

»Ich liebe euch auch«, sagte ich. Und das meinte ich ernst. Meine Eltern waren mehr als nur ein bisschen gefühlsduselig, doch ich liebte sie über alles.

Hinter mir schleppte Nate einen großen Koffer und eine überdimensionale Kühlbox die Stufen hoch.

»Jonathan«, sagte er förmlich zu meinem Vater und streckte ihm die Hand hin, bevor er sich an meine Mutter wandte. »Josephine.«

Alles, was Nate tat, war förmlich. Das war eins der ersten Dinge gewesen, die ich am College attraktiv an ihm gefunden hatte. Er hielt Türen auf und trug Pullover mit Lederflicken an den Ellbogen. Er ging mit mir ins Theater und las mir Bücher vor. Er sagte mir, dass ich alles werden und tun konnte, und behandelte mich wie eine Ebenbürtige. Er war anders als all die biersaufenden Studentenverbindungstypen, mit denen die Mädchen aus meiner Studentinnenvereinigung normalerweise ausgingen. Und seine Ernsthaftigkeit und Manieren verliehen ihm eine Ausstrahlung von Autorität, die mir ein Gefühl von Sicherheit gegeben hatte. Aber jetzt fühlte sich das einfach nur distanziert und kalt an.

»Nathaniel«, antwortete mein Dad ebenso ernst, bevor er schallend loslachte. »Lächeln, Nate! Das hier ist Cozy Cottage. Nicht Grumpy Cottage.«

»Ja, Dad!«, fügte Evan hinzu, dann drehte er sich zu seinen Großeltern um und hüpfte aufgeregt auf und ab. »Bereit?«

Nate lächelte, aber es kam eher wie ein süffisantes Grinsen rüber.

»Bereit wofür?«, fragte mein Dad neckend, der sich entschieden hatte, Nates Reaktion zu ignorieren und sich stattdessen auf Evan zu konzentrieren.

»Bereit, die Regeln aufzusagen!«, antwortete Evan, die Augen so groß und weit wie der gewaltige Michigansee hinter ihm.

»Das ist das einzige Mal, dass ich dich auf Regeln achten sehe«, neckte ich ihn.

Mein Dad steckte sein Fähnchen in die Hemdtasche, griff in den geflochtenen Weidenkorb, der an der Eingangstür hing, und drehte sich dann mit den Händen hinter dem Rücken wieder um, als wäre er ein Magier.

Evan kicherte.

»Ta-da!«, rief Dad und zauberte fünf Wunderkerzen hervor. Er reichte jedem von uns eine davon und drückte die letzte Nate in die Hand. Dann nahm er ein langes Kaminfeuerzeug aus dem Korb und zündete sie an. Bei den sprühenden Funken kicherte Evan sogar noch heftiger.

»Denkt dran, wir müssen alle Regeln aufgesagt haben, bevor unsere Wunderkerzen ausgehen.« Die Stimme meines Dads bebte vor Begeisterung. »Los!«

»Die erste Regel des Sommer-Cottage?«, fragte meine Mom schnell, während sie ihre Wunderkerze hochhielt und dadurch ein bisschen wie die Freiheitsstatue aussah.

»Lass deine Sorgen vor der Tür!«, brüllten Evan und ich gemeinsam.

»Die zweite Regel des Sommer-Cottage?«, fragte mein Dad.

»Lass dir die Sonne auf den Bauch scheinen!«, sagten wir mit einem breiten Lächeln im Gesicht.

»Regel Nummer drei?«, fiel meine Mom ein.

»Mach regelmäßig ein Nickerchen!«

»Vier?«

»Wach mit einem Lächeln auf!«

»Fünf?«

»Mach ein Lagerfeuer!«

Wir sagten jede Regel so schnell auf, wie wir konnten – Geh Steine suchen, Abendessen ist Familiensache, Eiscreme muss sein, sei dankbar für jeden Tag, spring in den See, bau eine Sandburg, eine Bootsfahrt, die ist lustig, Sonnenuntergang ist Pflicht für alle –, bis wir zur letzten kamen.

»Und wie lautet die letzte Regel, Nate?«, fragte mein Dad betont und drehte sich zu meinem steifen Mann um, der noch kein Wort gesagt hatte.

»Das weiß ich nicht mehr«, erwiderte der. »Ich will das Zeug hier in den Kühlschrank schaffen, bevor es schlecht wird.«

Er öffnete die Tür, schleppte die Kühlbox und den Koffer mit einem lauten Ächzen hinein und schloss die Tür hinter sich.

Evan machte ein langes Gesicht, als seine Wunderkerze zischend verlosch. »Wir haben nicht alle rechtzeitig aufgesagt«, sagte er mit trauriger Stimme.

»Wir schon«, erwiderte meine Mom mit Betonung auf dem ersten Wort. »Gut gemacht, Evan. Möchtest du schwimmen gehen?«

»Ja!«, schrie er, und schon war seine Stimmung wieder umgeschlagen. Er packte seine Grandma bei der Hand und zog sie durch die Eingangstür.

Tut mir leid, flüsterte ich meinem Dad lautlos zu.

Er zwinkerte. »Manche Leute begreifen die Schönheit eines Sommerhäuschens eben nicht«, meinte er leise und legte den Arm um meine Schulter. »Aber die magischen Camper schon, nicht wahr, Adie Lou?« Er gab mir einen Kuss auf die Wange. »Ich geh mal ein paar Sachen aus eurem Wagen holen«, sagte er und ging die Treppe hinunter.

Einen Moment lang blieb ich allein auf der Veranda zurück. Der Michigansee war spiegelglatt, und das blaue Wasser ließ sich vom Horizont nicht unterscheiden. Es verlief alles ineinander, und diese Schönheit ließ mich den Atem anhalten.

Das Wasser war übersät mit Segelbooten; Motorboote und Jetskis flitzten in der Ferne vorbei, und die goldene Küstenlinie krümmte sich sanft, als streckte sie gähnend ihren sandigen Rücken.

Was für ein Gegensatz zum Verkehr in Chicago, dachte ich. Saugatuck, Michigan ist magisch.

Ich kam schon mein ganzes Leben lang hierher, genau wie meine Eltern und die Eltern meines Dads es getan hatten. Es gab keinen Moment in meinem Leben, in dem Saugatuck und Cozy Cottage nicht ein Teil davon gewesen waren.

Wie alt bist du wohl?, fragte ich mich und betrachtete das Cottage.

Seine Schindeln waren verwittert und grau und auf dem Dach an manchen Stellen ein wenig moosbewachsen. Die Fensterscheiben waren verzogen, und die Farbe der Fensterrahmen blätterte ab. Mein Dad redete stets davon, wie viel »Eigenkapital an Schweiß« er in das Cottage steckte, aber Nate sagte immer, dass es irgendwann ein kleines Vermögen kosten würde, es zu reparieren.

Ich schaute hoch. Ein Türmchen krönte das Haus, mit einem Fenster, von dem ich immer geglaubt hatte, es hielte auf den See hinaus Ausschau wie ein magisches Auge. Eine schmale Treppe – so eng, dass man geduckt hinaufsteigen musste – führte zu dem Türmchen, von wo aus man einen herrlichen Rundumblick auf den See hatte. Ich hatte die Sommer in unserem Cottage damit verbracht zu lesen, zu träumen, zu glauben, dass ich alles werden konnte, was ich wollte.

Ich nannte das Cottage ›malerisch‹ und ›bezaubernd‹, aber Nate beschrieb es als ›alt‹ und ›heruntergekommen‹.

Das Cottage knarzte, und ich lächelte.

Ich liebte die Geräusche, die unser Sommerhäuschen machte. Es knarrte im Wind, der nachts vom See her pfiff. Der Dachboden stöhnte in der Hitze, die Holzböden ächzten, wenn wir darüberliefen, die Fliegengitter auf der Veranda seufzten im Wind. Kolibris schwirrten um die Futterhäuschen, die meine Mom in die Bäume gehängt hatte, Motten flogen nachts dumpf gegen die Außenlampen, Bienen summten in den üppigen Beeten und überquellenden Blumenkästen an den Fenstern, wilde Truthähne antworteten dem Donner, der über den See grollte. Das Cottage schien regelrecht aufzuatmen, wenn es voller Menschen war.

Ich ging hinein, und sofort begrüßte mich sein unverwechselbarer Geruch – nach Holz, Wasser, ein wenig modrig. Ich machte einen Schritt in den Flur.

Knarz!

Das Häuschen war eine Kombination aus Holzwänden und schrägen Balkendecken, die mit unzähligen Schichten weißer Farbe überzogen waren, breiten Fenstern, Gemälden vom See und dem Garten, alten Fundstücken, die teils Shabby Chic, teils Blockhütten-Style waren. Gerahmte Familienfotos, die über Generationen zurückreichten, säumten die Beistelltischchen, Wände und Bücherregale. Besucher wurden von Sesseln mit hohen Lehnen, einem abgenutzten, mit alten Campingdecken drapierten Ledersofa und einem gewaltigen Elchkopf an einem hoch aufragenden, aus Seesteinen gemauerten Kamin begrüßt. Mein Grandpa – ein Gemüsehändler aus Chicago, der fast seine gesamten Ersparnisse aufgewendet hatte, um das Cottage zu kaufen, damit meine Grandma einmal aus dem Laden herauskam, den sie so gut wie nie verließen – hatte den Elch, der aus dem Kamin ragte, immer Darryl genannt, weil er meinte, seine Augen sähen genauso glasig aus wie die seines besten Freundes nach ein paar Manhattans. Als ich klein war, erzählte mir mein Grandpa, dass man das Cottage um Darryl herum gebaut hatte und dass dessen Schwanz immer noch an der Rückseite des Hauses herausschaute. Ich verbrachte Stunden damit, nach Darryls Hinterteil zu suchen.

Aber der größte Blickfang des Cottage war ein Loch in der Wand mit einem Bilderrahmen drumherum. Unsere Besucher fragten sich zuerst immer, ob wir in der Familie einfach nur faule Haushälter oder furchtbar schlechte Renovierer und stolz auf unsere Fehler waren, bis sie nahe genug kamen, um das kleine Schildchen unter dem Bilderrahmen zu lesen:

EINSCHUSSLOCH VON AL CAPONE NACH BETRUNKENEN-SCHIESSEREI

Gerüchten zufolge war Cozy Cottage einst Al Capones Versteck gewesen, ein Ort, an dem er während der Prohibitionszeit in Zusammenarbeit mit Detroits Purple Gang Alkohol geschmuggelt hatte. Capone hatte die geräuschvolle Hütte – weit weg von Chicago und Detroit gelegen und wo sich Polizei oder andere Gangster schwierig anschleichen konnten – angeblich sehr geliebt.

Ich wusste nie, ob das wahr oder einfach nur eine weitere abenteuerliche Lügengeschichte meines Grandpas war.

Knarz!

Evan kam in seiner Badehose und einem wie ein Superman-Umhang um den Hals geknoteten Handtuch die Treppe heruntergerannt und kreischte »Huuiiiii!«.

Meine Mom folgte ihm. »Warte auf mich, Camper!«, rief sie.

»Regel Nummer zehn!«, konnte ich Evan schreien hören, als er zum See rannte. Seine Stimme schallte zurück ins Haus. »Spring in den See!«

Meine Mutter wurde nur eine Sekunde lang langsamer, als sie mein Gesicht sah. »Wie lautet die erste Regel, Adie Lou?«

»Lass deine Sorgen vor der Tür!«, erwiderte ich und lächelte. Mit einem Augenzwinkern nickte sie mir zu, dann lief sie wieder schneller, und die Tür schlug hinter ihr zu.

Juli 2018

Das Schlagen einer Tür reißt mich jäh zurück in die Gegenwart. »Der Gutachter ist fertig«, ruft Nate ins Cottage hinein. »Die Inspektion ist auch abgeschlossen.«

Ich stehe im Wohnzimmer des Cozy Cottage und starre Darryl an, dessen Augen mich fixieren, als wäre ich eine Verräterin.

Nate marschiert an mir vorbei. »Der Bootsheini ist gerade vorbeigekommen und meint, er hat vielleicht auch einen Käufer für die Adie Lou. Das ist ein guter Tag.«

Guter Tag?, denke ich.

Er sieht sich im Wohnzimmer um und folgt meinem Blick. »Dieser Elch ging mir schon immer auf die Nerven. Sag Lebwohl. Ich lasse dich ein paar Minuten allein.«

Ich kann mich weder bewegen noch sprechen.

»Adeleine«, sagt er in demselben raffinierten Tonfall, mit dem er wahrscheinlich seine Studentin Fuchsia dazu gebracht hat, seinem Charme zu verfallen. Fuchsia – ich meine, was ist das überhaupt für ein Name? Das ist ja sogar als Farbe furchtbar!

Ein Auto hupt.

»Sie hat nicht gerade viel Geduld, was?«, frage ich. »Du hast sie nicht besonders gut erzogen.«

»Adeleine«, wiederholt er. »Fuchsia tut uns einen Gefallen.«

»Uns?«, frage ich mit weit aufgerissenen Augen.

Wider besseres Wissen und obwohl heute die Inspektion stattfand, war ich damit einverstanden gewesen, Nate zum Cottage kommen zu lassen, damit er ein paar seiner Sachen sowie sein geliebtes Oldtimer-Porsche-Cabrio holen konnte, das er mit der Erlaubnis meines Dads in dessen Garage eingestellt hatte. Schätze, ich wollte das Pflaster einfach mit einem einzigen Ruck abziehen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Lolita mitkommen würde.

Verstohlen sehe ich aus dem Fenster.

»Um wie viel Uhr fängt der Abschlussball an?«, frage ich.

»Halte dich einfach an den Plan«, fährt Nate auf seine förmliche, distanzierte Weise fort. »Spiel nach den Regeln, genau wie unsere Anwälte es vorgegeben haben, dann bekommen wir beide den Neuanfang, den wir wollen. Du erhältst ein Vermögen für dieses Häuschen hier, und wir bekommen einen netten warmen Geldregen durch den Verkauf unseres Hauses in Lake Forest. Du sitzt auf einer Goldmine, wenn du jetzt verkaufst. Dieser Ort hier hat schon bessere Zeiten gesehen. Er braucht ein neues Dach, neue Rohre, neues Leben …« Er macht eine bedeutungsvolle Pause. »Neue Besitzer.« Er lächelt. »Der Makler wird schon irgendeinen Trottel finden, der sich in seinen – wie sagtest du immer? – ›Charme‹ verliebt, bevor alles auseinanderfällt.«

Mit offenem Mund starre ich ihn an.

Obwohl meine Eltern Cozy Cottage mir vermacht haben und Nate keinerlei Anrecht darauf hat, war ich damit einverstanden, es zu verkaufen, weil er mich davon überzeugt hat, dass die Chancen schlecht für mich stehen.

Bei deinem Gehalt werden dich die Instandhaltung des Cottage und die Steuern in die Pleite treiben, hatte Nate mir immer wieder gesagt. Und wie oft wirst du es überhaupt noch benutzen? Wie oft wird Evan es benutzen?

»Ich muss diesen Ort hier reinigen«, sage ich plötzlich laut, ebenso sehr zu mir selbst wie zu ihm. »Etwas bessere Energie hereinbringen.«

Nate lacht abfällig. »Du mit deinem Salbei und deinen Kristallen und Perlen und ätherischen Ölen. Und was hast du je aus diesem Yoga-Schein gemacht, der so viel Zeit und Geld gekostet hat?«, fragt er. »Das Einzige, was dieser New-Age-Mist bewirken wird, ist, dass die Hütte für potentielle Käufer schlecht riecht.« Er dreht sich um und sieht mich an, als sähe er mich zum ersten Mal. »Du bist nicht mehr die Frau, die ich geheiratet habe, Adeleine.«

Der Fußboden knarrt unter Nates Füßen, dann schlägt die Tür hinter ihm zu, und das Cottage scheint bei seinem Hinausgehen erleichtert aufzuatmen.

Spiel nach den Regeln, denke ich. Aber ich habe während der letzten dreißig Jahre nach den Regeln gespielt, und was hat es mir gebracht? Ich bin nicht diejenige, die sich verändert hat. Du hast versucht, mich zu ändern. Ich bin immer noch dieselbe Frau, die du geheiratet hast.

Als ich mich umdrehe, bemerke ich, dass das Schild mit den Cottage-Regeln, die meine Eltern vor so langer Zeit eigenhändig auf ein altes Scheunenbrett gemalt haben, schief hängt, genau wie mein Leben.

Wer hätte geahnt, dass sich in nur einem Jahrzehnt so viel ändern kann?

Mein Sohn geht jetzt aufs College, meine Eltern sind tot, und mein Mann und ich lassen uns scheiden. Sogar mein Job – mir als leitende Angestellte in der Werbebranche hübsche Slogans für Firmen, die die Erde vergiften, einfallen zu lassen – macht mich fertig. Alles, was mich meine Eltern gelehrt haben, scheint sich in Luft aufzulösen, genau wie die Wunderkerzen, die sie immer austeilten, wenn wir ankamen.

Ich wende mich zum Gehen, bleibe dann jedoch auf dem Knüpfteppich stehen, den meine Großmutter vor langer Zeit gemacht hat, dem bunten, runden, der schon seit Jahrzehnten auf genau diesem Fleck liegt und den Sand auffängt. Ich kann das Schild einfach nicht schief hängen lassen.

Also rücke ich es gerade und streiche dabei mit der Hand über die Buchstaben.

Regeln.

Dieses Sommerhäuschen war ein Ort, dessen einzige Regeln es waren, glücklich zu sein.

Bei der letzten Regel des Cottage halte ich inne, derjenigen, bei der Nate sich vor so vielen Jahren geweigert hat, sie aufzusagen. Mein Herz rast, als ich sie lese, Tränen springen mir in die Augen und lassen die Worte verschwimmen.

Streif den Sand von deinen Füßen, aber streif nie die Erinnerung an unser Sommer-Cottage ab.

Es gehört zur Familie!

Teil eins

1

Februar

»Ich kann das nicht.«

»Doch, das kannst du.«

Meine Anwältin Trish, die nicht nur zufällig eine der besten Scheidungsanwälte Chicagos, sondern auch seit dem College meine beste Freundin ist, starrt mich ungläubig an, ohne auch nur zu blinzeln.

»Ich kann nicht.«

»Unterschreib. Die Papiere. Adie. Lou.«

Sie sagt es langsam, in einem Tonfall, wie ihn mein Dad immer benutzte, wenn er mich dabei erwischte, wie ich versuchte, mich spätabends ins Cottage zu schleichen, wenn ich eigentlich längst hätte drinnen sein sollen.

»Ich kann nicht«, wiederhole ich. Es sind die einzigen Worte, die ich zustande bringe.

»Du kannst«, erwidert sie.

Sie starrt mich weiter an, immer noch, ohne mit ihren braunen Augen zu blinzeln, die die gleiche Farbe haben wie die Fassung ihrer teuren Schildpatt-Lesebrille. Trish war Abschlussbeste unseres Collegejahrgangs und ihres Jurastudiums an der Northwestern. Ihr Blick hat schon einige der skrupellosesten Scheidungsanwälte und Ehemänner Chicagos niedergerungen.

Sie starrt nicht einfach nur, wird mir schließlich bewusst. Sie durchbohrt deine Seele.

»Du machst mir Angst«, sage ich nach einer unangenehmen Pause. »Du hast seit einer Minute nicht geblinzelt. Du siehst aus wie eine Schlange.«

»Ich bin eine«, erwidert Trish. »Deswegen bin ich eine tolle Anwältin.« Sie verstummt kurz. »Genau genommen machst du mir Angst. Was ist los, Adie Lou?«

Sie lehnt sich zurück auf der Sitzbank des schicken Ralph-Lauren-Restaurants in der Michigan Avenue, gleich gegenüber des Polo-Flagship-Stores, faltet ihre Serviette auf dem Schoß und verschränkt dann die Arme über ihrem maßgeschneiderten Blazer. Der Raum ist wunderschön und voller Leben und wirkt dennoch leise und gedämpft, wie teure Orte es stets an sich haben. Ich sehe mich um. Hier kommt die Elite Chicagos zusammen. Das ist der adrette Ort, an dem die Damen sich zum Mittagessen (und dem einen oder anderen Gläschen Champagner) treffen, der Ort, an dem Geschäftsmänner einen Whiskey kippen, um einen Geschäftsabschluss zu feiern, der Ort, an dem sich Touristen versammeln, um diese Damen und Geschäftsleute anzugaffen …

Ich halte inne.

Der Ort, an den Anwälte ihre Klienten bringen, um Scheidungspapiere zu unterzeichnen, füge ich in Gedanken hinzu, damit sie keine Szene machen können.

Ich lege den Kugelschreiber weg und schiebe die Papiere zurück in die Mitte des Tisches, dass Brotteller und Besteck klirrend aneinanderstoßen.

»Wie ich sehe, werden wir einen Drink brauchen«, meint Trish. »So schnell wie möglich.«

»Es ist erst Mittag.«

»Dann brauchen wir einen doppelten.« Trish winkt unserem Kellner, der lautlos erscheint, wie ein wohlerzogener Geist. »Zwei Manhattan.«

»Ja, Ma’am.«

»Davon macht mich einer schon betrunken«, sage ich.

»Gut.« Trish lacht. »Dann unterschreibst du vielleicht die Papiere.« Sie hält kurz inne. »Was ist los? Raus damit, Adie Lou. Was geht in deinem Köpfchen vor?«

Obwohl es draußen grausig kalt ist – typisch für Februar in Chicago –, ist es ein strahlend sonniger Tag. Ich sehe den Menschen zu, die mit ihren Einkaufstüten an den mit Frost überzogenen Fenstern des Restaurants vorbeieilen. Ihre Wangen sind rot, ihre Augen strahlen, sie sehen glücklich aus, lebendig, begeistert, Teil dieser Welt zu sein.

Ich spüre, wie meine Lippen zu zittern anfangen und meine Augen sich mit Tränen füllen.

»Oh, Schätzchen.« Trish nimmt meine Hand.

»Es tut mir leid«, sage ich, als der Kellner unsere Drinks bringt. Er denkt, dass ich mit ihm rede, und schenkt mir ein trauriges Lächeln.

»Hier.« Trish reicht mir meinen Drink. Sie hebt ihren in die Luft, und ein breites Lächeln legt sich über ihr Gesicht. Sie nimmt die Brille ab und fängt an, das alte Trinklied unserer Studentinnenvereinigung zu singen.

»Aus Krügen blau und grau trinken wir unser Bier.

Wir trinken auf Zetas fern von hier.

Sieben Tage die Woche haben wir unsern Spaß

Und geht uns das Bier aus, gehen wir in die Klass’.

Und ist unsre Collegezeit schon lange her

Dann sind wir Ehemalige und trinken noch mehr.

Wir sind die Mädels, die gern einen heben.

Auf Z-T-A!

Hey! Hey!

Z-T-A!

Von Alpha bis Omega heißt’s um-dara, um-dara,

Eta Kappa Z-T-A!

Prost!«

Sie prostet mir zu, während alle im Restaurant uns anstarren. Trish dreht sich zu den Gästen um und hebt ihr Glas.

»Prost!«

Ich lache und trinke einen Schluck von meinem Manhattan. Beides fühlt sich gut an.

»Das fehlt mir in meinem Leben«, sage ich. »Erinnerst du dich noch an die Zeta-Mädels? Die dachten, sie könnten die Welt erobern und alles tun, alles sein, was sie wollten?«

Trish nickt.

»Du hast das getan«, fahre ich fort. »Ich nicht.«

»Oh, Adie Lou. Hör mal, ich verstehe dich. Das tue ich wirklich. Aber ich muss ehrlich sein. Ich glaube, das ist die Scheidung, die da aus dir spricht. Ich hatte schon mit Hunderten von Scheidungen zu tun, und was du empfindest, ist ganz natürlich. Man hat ein Gefühl von überwältigendem Verlust, Traurigkeit und Versagen. Mehr noch, viele Frauen fühlen sich oft hilflos und verbittert, weil sie ihr Leben für ihre Familie opfern, und dann, wenn die Kinder erwachsen sind, bekommen ihre Männer eine Midlife-Krise und laufen mit einer davon, die halb so alt ist. Früher haben sie sich einfach ein bescheuertes Cabrio gekauft.«

»Das hat er auch getan«, sage ich.

Trish unterdrückt ein Lachen. Dann seufzt sie lächelnd. »Aber du hast die großartigste Errungenschaft, die ich nie haben werde. Ein Kind. Evan ist ein Geschenk für dich und diese Welt.«

Ich erwidere ihr Seufzen. »Ich weiß, ich weiß«, antworte ich. »Du hast ja recht.«

»Und lass mich das absolut klarstellen, Adie Lou«, fährt Trish fort. »Du hast die Chance, neu anzufangen.«

Ich nehme einen kräftigen Schluck von meinem Manhattan. »Das will ich auch«, sage ich. »Und deshalb kann ich diese Papiere nicht unterschreiben.«

Trish zieht die Augenbrauen hoch und will etwas erwidern, aber ich hindere sie daran. »Hör dir an, was ich sagen möchte.«

Mit dem Drink in der Hand lehnt sie sich zurück. »Okay.«

Ich nehme meine Tasche vom Stuhl und hole einen Stapel Blätter heraus. »Ich möchte, dass du dir etwas ansiehst«, sage ich. »Ich habe einen Plan.«

Trish zieht die Augenbrauen hoch und setzt ihren Drink an die Lippen. »O Gott«, sagt sie. »Einen Plan. So richtig auf Papier. Da muss ich mich erst mal wappnen.«

»Was wäre«, frage ich mit vor Aufregung heller werdender Stimme, »wenn ich das Sommer-Cottage behalte und ein Bed&Breakfast draus mache?«

Trish verschluckt sich an ihrem Drink. »Was?«, fragt sie zu laut, worauf sich erneut Leute umdrehen, um sie anzustarren. »Bist du verrückt geworden, Adie Lou? Oder bist du schon betrunken?«

»Weder noch«, erwidere ich, die Schultern gestrafft.

»Du hast einen super Job, mit dem du super viel Geld verdienst, in einer super Stadt mit super Freunden«, sagt Trish. »Und du hast ein super Angebot für das Cottage.«

»Ich hasse meinen Job«, entgegne ich. »Ich habe ihn schon immer gehasst. Das weißt du.« Ich zögere. »Ich will mich nicht länger elend fühlen.«

Trish neigt den Kopf schief, und ihre Miene wird weicher. »Es tut mir leid«, lenkt sie ein. »Mir war nicht bewusst, dass du so unglücklich bist.«

»Hör mir einfach nur noch ein bisschen länger zu«, sage ich. »Und versuch zu blinzeln.«

Trish lacht. »Red weiter.«

Ich breite die Papiere, mit denen ich auf den richtigen Moment gewartet habe, auf dem Tisch aus. »Was wäre, wenn ich das Cottage nicht verkaufe und ein B&B draus mache«, fange ich noch einmal an. »Ich habe viel recherchiert.«

»Ich unterbreche dich nur ungern jetzt schon«, wirft Trish ein, »aber es gibt haufenweise B&Bs in Saugatuck. Nennt man es nicht die B&B-Hauptstadt des Mittleren Westens?«

»Schon«, erwidere ich. »Aber es gibt nur zwei Inns am ganzen Seeufer. Das eine ist ein älteres Motel, und das andere ist winzig und steht zum Verkauf. Cozy Cottage hat das Potential für acht Gästezimmer, wenn ich den Dachboden ausbaue und das alte Fischhaus an der Rückseite in eine Flitterwochensuite verwandle.« Ich verstumme und schließe die Augen. »Und dieses Türmchen … Wäre das nicht der romantischste Ort, um bei Sonnenuntergang Wein zu servieren?« Ich sehe Trish an. »Ich habe auch schon mit einem Bauunternehmer gesprochen«, sage ich, bevor ich noch hinzufüge: »Blinzeln.«

Sie blinzelt. Einmal. Sehr theatralisch.

»Und was wäre, wenn ich das Holzboot behalte?«, fahre ich fort. »Und damit Bootstouren bei Sonnenuntergang veranstalte? Dadurch könnte ich etwas anbieten, das die anderen Inns nicht haben, etwas, das mich einzigartig machen würde.«

»Die Rosen«, sagt Trish und starrt mich immer noch an. »Du hast die Rosen vergessen.«

»Das ist nicht fair«, erwidere ich und erinnere mich sofort an das erste Mal, als Trish und ich einander begegnet sind.

Wir waren achtzehn, und wir hatten gerade das Aufnahmeritual unserer Studentinnenvereinigung hinter uns gebracht. Es war schon spät, und alle waren entweder völlig hinüber oder immer noch in den Bars unterwegs. Ich konnte von all dem Adrenalin und der Frage, ob und von wem ich eine Offerte bekommen würde, nicht schlafen und schlenderte in den Gemeinschaftsraum, wo ich Trish dabei vorfand, wie sie sich Eisfieber ansah, einen meiner absoluten Lieblingsfilme aller Zeiten. Nicht nur, dass wir beide fast jede Zeile auswendig mitsprechen konnten – einschließlich der großen Szene, in der alle merken, dass Eiskunstläuferin Lexie in Wirklichkeit blind ist, als sie über die Rosen stolpert, die Fans in ihrer Bewunderung aufs Eis geworfen hatten –, wir wussten auch sofort, dass wir für immer beste Freundinnen sein würden.

Von da an benutzten Trish und ich diesen Spruch, wenn eine von uns im Begriff ist, einen großen Fehler zu machen.

»Ich bewundere deinen Enthusiasmius, Adie Lou«, sagt Trish, »aber jetzt hör mir zu.«

Sie nimmt die Scheidungspapiere, die ich vorhin beiseitegeschoben habe, und fängt an, sie durchzublättern. »Weißt du noch, wie viele Probleme sich bei der Inspektion des Cottage aufgezeigt haben?« Ihre Stimme ist sofort wieder ernst und in vollem Anwaltsmodus. »Das Dach muss erneuert werden, die Rohrleitungen sind uralt, du hast an manchen Stellen des Hauses immer noch vorsintflutliche Aufputzleitungen, die Treppe zum Strand hinunter muss repariert werden, ganz zu schweigen von der Erosion, um die man sich kümmern muss, die Fenster sind alt, das Haus braucht eine neue Isolierung und neue Schindeln … Soll ich noch weitermachen?«, fragt sie. »Okay.«

Trish blättert weiter durch die Papiere. »Deine Gas- und Stromrechnungen sind astronomisch, selbst wenn keiner dort wohnt, und muss ich dich an die Grundsteuer erinnern? Fast 15000 Dollar im Jahr.«

»Aber ich werde selbst dort wohnen«, sage ich mit immer noch hoffnungsvoller Stimme. »Das sollte die Steuer um ein Drittel mindern.«

»Oh, wow«, erwidert Trish sarkastisch. »Dann bist du ja reich.«

Mit etwas sanfterer Stimme fährt sie fort. »Den Unterhalt eines alten Holzboots nicht mitgezählt, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass du – ach ja – kein regelmäßiges Einkommen haben wirst. Wie viel kostet es, ein B&B zu führen? Wie lange dauert es, bis du Gewinn machst? Was ist mit Versicherungen und Hygienevorschriften und …«

»Aber Nate hat gesagt, er zahlt mir monatlichen Unterhalt, bis Evan seinen Collegeabschluss hat«, wende ich ein.

»Wenn du einwilligst, das Cottage und das Boot zu verkaufen«, unterbricht Trish mich.

»Ich weiß, ich werde das Boot vielleicht nicht sofort verkaufen können.« Meine Stimme wird wieder höher. »Ich weiß, ich kann mir nicht alles auf einmal leisten.«

»Das ist noch untertrieben«, meint Trish.

»Trish.« Ich dämpfe meine Stimme. »In den letzten zwanzig Jahren habe ich ein Kind in einer lieblosen Ehe großgezogen, ich habe einen Mann ertragen, der mich ebenso kritisch betrachtet wie eines seiner Philosophiebücher, ich habe ausgezeichnete Arbeit in einem Job geleistet, den ich hasse, ich habe beide Eltern verloren, und ich bin kurz davor, das Sommerhaus meiner Familie zu verlieren.« Ich verstumme kurz, während ich versuche, meine Gefühle zu zügeln. »Ich kann nicht noch etwas verlieren.«

»Dir ist doch bewusst, was hier auf dem Spiel steht, oder?«, warnt Trish mich. »Du bist meine Freundin, aber jetzt gerade muss ich dich in erster Linie als deine Anwältin beraten.«

Ich nicke. Ich weiß, dass sie sich um mich sorgt und nur auf mein Wohl achtet.

»Du hast ein großartiges Angebot für das Cottage – komplett in bar, darf ich dich erinnern? Wenn du nicht verkaufst, verlierst du einen beträchtlichen Batzen Geld, mit dem du ausgesorgt haben würdest. Darüber hinaus wirst du haufenweise Schulden aufnehmen, du wirst eine Stadt verlassen, die du liebst, um in einem Urlaubsort wieder neu anzufangen, du wirst ein Gewerbe aufnehmen, in dem du keine Erfahrung hast …« Trish verstummt kurz. »Du könntest alles verlieren, Adie Lou. Alles. Sogar das Cottage am Ende.«

»Ich fühle mich, als hätte ich nichts zu verlieren«, entgegne ich. »Und was, wenn ich es nicht tue? Was, wenn es mir bestimmt ist, das hier zu tun? Mein Grandpa hat alles dafür geopfert, um dieses Cottage zu kaufen. Meine Eltern haben dieses Cottage mehr geliebt als alles auf dieser Welt. Genauso wie Evan und ich. Was hat das für eine Bedeutung, wenn ich allem einfach den Rücken kehre, damit das Leben ein bisschen einfacher für mich ist? Meine Mom hat mir gesagt, das Schlimmste, womit man leben kann, ist Reue.« Ich verstumme kurz. »Dieses Cottage ist meine Geschichte.« Wieder mache ich eine kurze Pause. »Ich glaube, es könnte auch meine Zukunft sein.«

Trish nickt, dann lächelt sie. »Okay, soll ich dich dann daran erinnern, dass du fremde Leute nicht besonders magst und dass ich dich, seit ich dich kenne, in der Küche noch nichts anderes habe tun sehen, als was zu bestellen?«

»Hey!«, protestiere ich. »Ich habe gekocht, als Evan noch klein war, aber dann meinte Nate, dass er den ›Essensgeruch‹ in unserem Haus nicht ausstehen kann. Und er wollte eigentlich nur mit Leuten zusammen sein, die er mochte, intellektuelle Elite, die nichts davon verstand, was für ein Vergnügen es ist, an einem verregneten Nachmittag einen Becher Eiscreme zu essen und Wiederholungen von Sex and the City zu gucken.« Ich mache eine Pause, um wieder zu Atem zu kommen, während meine Wut vorwärtspeitscht wie die Wellen des Michigansees während eines Sturms. »Und ich mag die Leute einfach nicht, mit denen oder für die ich arbeite.« Wieder verstumme ich kurz und sehe meine Freundin an.

»Mein Gott, Trish«, fahre ich fort. »Sieh mich an. Ich meine es ernst! Sieh mich an! Wer bin ich noch? Ich habe fast zehn Kilo zugenommen. Ich trage jetzt Twinsets. Letzten Monat bei einem Meeting hat mich ein Mann, der älter als ich ist, ›Ma’am‹ genannt. Ich bin nur einen Onlineklick davon entfernt, mir einen rosa Jogginganzug mit Rotkardinälen auf einem verschneiten Ast drauf zu bestellen und einfach aufzugeben.« Mit zitternden Lippen verstumme ich. »Ich brauche einen Neuanfang. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich versuche, diese Frau wiederzufinden. Hilf mir.«

Trishs Gesicht wird weicher.

»Und es ist mein Sommer-Cottage, nicht seines. Nate hat es nie leiden können. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt auf ihn gehört habe, als er sagte, ich solle es verkaufen.«

Trish sieht mich lange an, ohne zu blinzeln, und nimmt einen weiteren kräftigen Schluck von ihrem Manhattan. »Gib mir ein paar Minuten«, sagt sie. »Lass mich seinen Anwalt anrufen.« Sie verstummt kurz. »Er schuldet dir wirklich etwas, und ich werde dafür sorgen, dass sie das wissen.«

Als sie weggeht, trinke ich einen Schluck von meinem Drink, und mir wird schwindelig. Die Welt scheint stückchenweise direkt vor meinen Augen wegzubrechen – zuerst die Wände des Restaurants, gefolgt von den Tischen, dann den Kellnern und Gästen, bevor die Gebäude draußen im Boden versinken und mich allein zurücklassen, mit nichts als dem Klang meines Herzschlags in den Ohren.

Was mache ich da? Trish hat recht. Ich könnte den größten Fehler meines Lebens begehen.

»Also«, sagt Trish, als sie zum Tisch zurückkommt und ich aufschrecke, »Nate will nicht, dass du an der Universität eine große Sache daraus machst, besonders da seine Evaluierung für eine Anstellung auf Lebenszeit ansteht und Evan dort studiert.« Trish zwinkert mir zu. »Ich habe es womöglich so wirken lassen, als würdest du ins Büro der Universitätsleitung stürmen oder die Studentenzeitung anrufen, wenn du nicht deinen Willen kriegst.« Sie fährt fort. »Und in Illinois gilt Gütertrennung. Wie ich dir schon sagte, werden dabei eheliches Vermögen und eigenes Vermögen getrennt. Deine Eltern haben dir das Cottage hinterlassen. Es gehört rechtmäßig dir. Es ist eigenes Vermögen. Es gehört nicht Nate. Also hat er kein Anrecht darauf.«

Sie fährt fort. »Aber die Hypothek auf euer Haus in Chicago läuft auf beide Namen. Sie gilt als eheliches Vermögen. In Illinois wird das eheliche Vermögen aufgeteilt, aber das heißt nicht, dass es gleichmäßig oder sogar fifty-fifty aufgeteilt wird, sondern vielmehr, wie es das Bezirksgericht als fair erachtet. Das Gericht teilt das eheliche Vermögen ohne Berücksichtigung ehelichen Fehlverhaltens auf.«

»Worauf willst du damit hinaus?«, frage ich nervös.

Sie lächelt. »Du hast einen Deal. Nate wird dir weiterhin mindestens zwei Jahre lang Unterhalt zahlen, so lange, bis Evan seinen Abschluss macht. Aber jetzt will er zwei Drittel vom Verkauf des Hauses in Lake Forest.«

Ich mache Anstalten zu protestieren, doch Trish hebt eine Hand. »Hör mir zu. Ich kann das anfechten, und aller Wahrscheinlichkeit nach könntest du eine Fifty-fifty-Aufteilung des Hauses kriegen, wenn nicht noch mehr, aber dann könnten sie die Höhe von Nates Unterhaltszahlungen anfechten, und ich weiß, wie viel dir die bedeuten, um vorwärtszukommen. Sie verlängern deine Startbahn, geben dir ein bisschen mehr Zeit, den Flieger vom Boden zu kriegen.« Sie fährt fort. »Und Evan geht kostenlos zur Schule, weil Nate dort arbeitet, also haben sie das noch in der Hinterhand, um gegen die Höhe des Unterhalts zu argumentieren.«

Ich hole tief Luft, während Trish wieder Platz nimmt.

Sie hebt ihr Glas. »Prost!«, sagt sie. »Ich denke immer noch, dass du verrückt bist, aber ich bin so stolz auf dich, Adie Lou.«

»Danke«, erwidere ich, während mich die Tragweite dessen, was gerade passiert ist, mit voller Wucht trifft. »Prost«, füge ich hinzu und trinke einen zu großen Schluck.

»Und es tut mir leid«, sagt Trish. Als ich hochschaue, sind ihre Augen voller Liebe. »Dass ich dich nicht öfter gefragt habe, wie du dich wirklich fühlst. Dass ich nicht für dich da war. Dass ich nicht gemerkt habe, dass deine Ehe nicht gut lief. Dass …« Sie zögert. »Na ja, einfach alles. Du gehst ein Risiko ein, und das ist bewundernswert. Ich beneide und bewundere dich, Adie Lou.«

Ich nehme über den Tisch hinweg die Hand meiner Freundin und drücke sie fest. »Danke.«

»Trinken wir darauf, nichts zu bereuen«, sagt Trish, dann fügt sie noch hinzu: »Versprichst du mir eins?«

»Okay.«

»Pass einfach nur auf die Rosen auf.«

2

»Hi, Mom.«

Es verblüfft mich jedes Mal, wenn ich die Stimme meines Sohnes höre. Ich erwarte immer noch, dass sie so klingt wie damals, als er noch ein Junge war – hoch, säuselnd, mich darum bettelnd, ihn auf den Arm zu nehmen oder ihm zu helfen – und nicht wie dieser Bariton, der jetzt aus seinem einen Meter neunzig großen und neunzehn Jahre alten Körper brummt.

»Hast du meine Nummer verloren?«, necke ich ihn. Ich bin am Handy und sitze in meinem Volvo, der mit Kartons aus meinem Büro vollgepackt ist. Es ist schon erstaunlich, wie wahnsinnig unbedeutend ein Beruf, der jede Minute deines Lebens vereinnahmte, plötzlich wird, kaum dass du ihn hinter dir lässt, um deiner Leidenschaft zu folgen. »Ist schon eine Weile her.«

»Tut mir leid«, antwortet er.

Ich taste mich vorsichtig vor, weil ich Evan nicht beunruhigen will. »Ich habe Neuigkeiten.«

»Hab ich schon gehört«, fällt er mir ins Wort. »Dad hat es mir gesagt.«

Natürlich hat er das, denke ich verärgert.

»Oh«, sage ich und wappne mich innerlich. »Was hat er dir denn gesagt?«

»Willst du die bereinigte Version?«, fragt er.

Ich lache, damit Evan denkt, das Handeln seines Vaters mache mir nichts aus, aber es klingt hohl.

»Dad meinte, du wärst irgendwie, na ja, durchgeknallt und dass du deinen Job kündigst, nach Saugatuck ziehst und das Cottage in ein B&B verwandelst.«

»Das ist die bereinigte Version?«, frage ich.

»Ja.« Er lacht. »Glaub mir.«

»Also, ich habe heute tatsächlich meinen Job gekündigt«, sage ich. »Ich sitze gerade im Auto und versuche, nicht auszuflippen.«

Evan lacht. Es folgt eine Pause, die mich beunruhigt, aber dann sagt er leise: »Ich bin stolz auf dich, Mom.«

Diesmal treffen mich seine Worte so heftig und unvorbereitet, dass ich das Gefühl habe, jeden Moment die Fassung zu verlieren und loszuheulen. »Danke«, antworte ich mit zitternder Stimme.

»Ich wollte Cozy Cottage auch nicht verlieren«, sagt er. »Es ist ein Teil unseres Lebens, ein Teil von uns. Ich kann mir mein Leben ohne das Häuschen nicht vorstellen. Dad mochte es nie, ich weiß, aber wir schon.« Evan hält inne, und seine tiefe Stimme bricht. Sofort erinnere ich mich daran, wie ich als Kind mal eine Wiederholung von Drei Mädchen und drei Jungen gesehen habe, eine Folge, in der Peter Bradys Stimme bricht, als er ein Solo singt.

»Danke, dass du es gerettet hast«, fährt er voller Gefühl fort. »Manche Leute begreifen die Schönheit eines Sommerhäuschens eben nicht, aber die magischen Camper schon, nicht wahr, Mom?«

Das Herz springt mir in die Kehle. Evan wiederholt genau die Worte, die mein Dad immer zu mir sagte, wenn Nate sich weigerte, die Regeln aufzusagen.

»Oh, Evan. Du erinnerst dich noch daran.«

»Wie könnte ich das vergessen?«, erwidert er. Dann fragt er plötzlich: »Aber warum, Mom? Was hat das alles ausgelöst?«

Wie kann ich ein ganzes Leben voll Staunen, Liebe, Verlust, Fehler, Kummer, kostbarer Momente und vergeudeter Zeit für einen Neunzehnjährigen zusammenfassen?, denke ich. Wie kann ich ihm erklären, was mit Erwachsenen passiert, wenn sie tun, was von ihnen erwartet wird, den Weg des geringsten Widerstandes nehmen, ihr Leben lang nur schauspielern?

»Weißt du, Evan«, setze ich an, »ich habe das Gefühl, dass ich einen Neuanfang brauche. In meinem bisherigen Leben hätte ich mir dreimal überlegt, meinen Job zu kündigen, und Nate hätte sich einen Taschenrechner geschnappt, um das verlorene Einkommen zu berechnen, und was das für Auswirkungen auf unsere Altersvorsorge haben würde. Aber ich habe zu lange an Krankenversicherungen und Rentenpläne gedacht und daran, zu tun, was alle anderen wollen und erwarten. Ich habe mich in ein Leben gezwängt, das dem Menschen, der ich sein möchte, nicht wirklich passt.«

Ich halte inne und hole tief Luft. »Um ehrlich zu sein, habe ich auf dem Konto meines Lebens nur noch ungefähr sechshundert Monate, falls ich gute achtzig Jahre alt werde, und das erscheint mir ausnahmsweise wichtiger als das, was auf meinem Rentenkonto ist. Ich möchte etwas tun, das sinnvoll und mutig ist, etwas, das mich zutiefst und unsagbar glücklich macht. Ein einziges Mal möchte ich den Atem anhalten, die Augen schließen und springen.«

Einen ganzen Moment lang antwortet Evan nichts, und ich denke schon, dass ich den Empfang verloren habe oder er aufgelegt hat, doch dann sagt er mit einer Stimme, die klingt, als wäre er wieder dieser kleine Junge, den ich einst im Arm gehalten habe: »Dann spring, Mom. Und ich werde da sein, um dich aufzufangen, falls du fällst.«

»Oh, Evan«, sage ich, bevor ich das Handy zuhalte, um mein Schniefen zu dämpfen.

»Der Sturz kann nicht schlimmer weh tun als der, den du gerade hattest, oder?«, fragt er. »Weißt du, Mom, ich verstehe das. Wirklich. Es ist nicht leicht, auf einem Campus zu studieren, wo jeder weiß, dass Dekan Clarke dein Vater ist und dass seine neue Freundin nicht viel älter als sein Sohn ist.« Er verstummt kurz. »Ich weiß, ich brauche keine Studiengebühren zu zahlen, und das ist supercool, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass ich auch einen Neuanfang brauche.«

Mitten in meinem Schmerz wird mir bewusst, dass ich den Schmerz meines Sohnes verharmlost und vergessen habe, dass er immer noch mehr ein Junge als ein Erwachsener ist. Ich habe geglaubt, dass er im College behütet wäre, aber in Wahrheit lebt er am Ground Zero.

»Dann spring«, sage ich. »Und ich werde auch für dich da sein.«

»Danke, Mom«, sagt er. »Also, wann fährst du rauf zum Cottage? Ich nehme an, du willst alle Genehmigungen und sämtliche Renovierungsmaßnahmen vor dem Memorial Day erledigt haben, damit du die Touristenhauptsaison ausnutzen kannst, stimmt’s?«

Mir bleibt das Herz stehen. Plötzlich trifft mich die Erkenntnis, dass ich gerade meinen Job gekündigt habe und innerhalb von drei Monaten ein Unternehmen gründen und das Cottage renovieren muss.

»Das ist Wahnsinn«, sage ich vermeintlich zu mir selbst.

»Das hast du gesagt, Mom«, lacht Evan, »nicht ich.« Er zögert. »Ein paar der Jungs haben vor, nächsten Monat zur Spring Break nach Florida zu fahren, aber jetzt denke ich, sollte ich lieber nach Saugatuck fahren und dir helfen.«

»Evan, nein«, widerspreche ich. »Du brauchst eine Pause vom College und von all dem Stress, den wir dir aufgehalst haben. Das könnte ich nicht von dir verlangen.«

»Du hast es nicht verlangt, Mom«, erwidert er. »Ich will es.«

Wieder halte ich mit zitternder Hand mein Handy zu. »Danke«, sage ich. »Das wird sehr viel Arbeit sein, und …«

Plötzlich ertönt so laute Musik, dass mir die Trommelfelle weh tun. Ein Lied, das ich kenne – It’s the End of the World As We Know It (And I Feel Fine) von REM.

»Was ist los?«, frage ich.

»Wir müssen unsere jährliche Rund-um-die-Welt-Party fertig vorbereiten«, antwortet er. »Jedes Zimmer im Verbindungshaus wird als eine andere Stadt oder ein anderes Land dekoriert, und es wird ein dazu passender Drink serviert.«

»Hört sich lustig an«, erwidere ich. »Wie Margaritas in Mexiko oder Wein in Paris?«

»Na ja, vielleicht das Erste«, meint er. »Wein in Paris ist ein bisschen zu schick für Verbindungstypen. Josh und ich verwandeln unsere Bude in New York City und servieren Long Island Iced Teas.«

»Seid vorsichtig«, warne ich. »Die haben’s in sich.«

»Ich weiß, Mom«, erwidert er. »Darum geht’s ja.«

»Na ja, ich mag die Old-School-Musik.«

Evan lacht. »Das ist Tradition«, sagt er. »Ich liebe Tradition.«

Mir geht beinahe das Herz über, als Evan das sagt.

»Die Oldtimer haben die Party in den Achtzigern begründet«, fährt er fort, »und das war der Song, mit dem sie anfing. Das können wir nicht ändern.«

»Du weißt, dass ich auch ein Oldtimer bin, oder?«, frage ich. »Ich kenne diesen Song. Ich habe zu diesem Song getanzt. Beim Tanzen zu diesem Song rumgeknutscht.«

»La-la-la-la-la«, singt Evan laut, wie er es immer tut, wenn er etwas nicht hören will, das ich zu sagen habe.

»Na, ich lege jetzt lieber auf«, erkläre ich über sein Singen hinweg. »Viel Spaß.«

»Dir auch, Mom«, antwortet er. »Du hast es dir verdient.«

»Denk dran, mich wieder anzurufen, okay?«

»Okay«, erwidert Evan. »Ich melde mich bald wegen des Besuchs in den Ferien.«

»Bye. Ich hab dich lieb.«

»Ich dich auch«, antwortet er, dann brüllt er plötzlich »Mom?« ins Handy, bevor ich auflegen kann.

»Ja?«

»Wie lautet die erste Regel des Sommer-Cottage?«

»Lass deine Sorgen vor der Tür!«, antworte ich lächelnd.

»Daran sollten wir beide denken«, sagt er. »Oh, und Mom? Sitz nicht weinend im Auto wie damals, als ich in den Kindergarten gekommen bin, und in die Grundschule und in die Middleschool und in die Highschool und aufs College.« Er lacht.

»Woher weißt du das?«

»Mom«, seufzt er, »die ganze Schule wusste das.«

»Ich werde manchmal eben emotional. Das ist nichts, wofür man sich entschuldigen muss«, wende ich ein. »Und ich verspreche es. Ich werde nicht weinen. Ich werde mit jedem Tag stärker.«

»Das weiß ich«, antwortet er. »Bye, Mom.«

»Bye, Schätzchen.«

Ich lege auf, denke, wie stolz ich auf meinen Sohn bin, dann werfe ich einen Blick in den Rückspiegel auf mein früheres Leben im Kofferraum meines Wagens, lege den Kopf auf das Lenkrad meines Volvos und weine genau wie damals an Evans erstem Tag im Kindergarten.

3

Sobald ich die Biegung von Chicago nach Michigan umrunde, sehe ich eine Wolkenwand über dem Michigansee. Die eine Hälfte des Himmels ist strahlend blau, die andere stahlgrau, als habe Mutter Natur ein Banner mit der Warnung Albtraum voraus! aufgehängt.

Lake-Effekt-Schnee. Sofort umklammern meine Hände das Lenkrad fester.

Ich sehe eine Pure-Michigan-Reklametafel, die die Schönheit und Sehenswürdigkeiten des Staates anpreist, und muss lachen.

Lake-Effekt-Schnee ist Michigan pur, meldet sich mein früheres Werbe-Ich zu Wort, aber ich sehe keine Plakate, die den anpreisen.

Ohne Vorwarnung geht die Welt von klarem Himmel zu totalem Schneesturm über. Ich fahre langsamer, umklammere das Lenkrad noch fester und schalte die Scheinwerfer ein. Lake-Effekt-Schnee ist nicht einfach nur Schnee, das ist, als würde der Winterhimmel die Schleusen öffnen und Jahrhunderte gefrorener Tränen auf die Erde niederweinen. Innerhalb weniger Augenblicke ist der Highway schneebedeckt und glatt, und Lastwagen und Autos bewegen sich nur noch im Schneckentempo vorwärts. Mein Herz wummert wie ein Presslufthammer, und sofort bedauere ich meine Lebensveränderung.

Wie konnte ich nur vergessen, dass der Winter in Michigan länger dauert als Frühling, Sommer und Herbst zusammen? Was habe ich getan? Meine Geschäftssaison wird kürzer sein als die Saison, die meine Eltern hatten, um auf der Terrasse Tomaten anzubauen.

Ich drehe das Heizgebläse auf und öffne das Fenster einen Spalt, als ich bemerke, dass mein Beinahe-Hyperventilieren das ganze Auto beschlagen lässt. Und dann, aus dem tiefsten Nichts heraus, fange ich an zu lachen, verrückt, wie eine Irre.

Wie lange ist es her, dass ich so nervös, aufgeregt und unsicher war?, frage ich mich. Es ist wie ein Schock. Und es fühlt sich gut an.

Ich suche It’s The End of The World As We Know It (And I Feel Fine) in meiner Playlist, lasse es in Dauerschleife laufen und singe aus vollem Hals mit, dabei nimmt der Text durch den Schnee und mein neues Abenteuer eine neue Bedeutung an – und ich merke erst, dass ich es nach Saugatuck geschafft habe, als ich die Malerpalette erblicke, das Schild, das seit Ewigkeiten am Ortseingang Besucher willkommen heißt und wie ein Leuchtfeuer mit seinen blinkenden Farben und leuchtendem Schriftzug den Himmel erhellt.

Saugatuck ist ein wahres Paradies für Kunstliebhaber – auch als die Kunstküste Michigans bekannt –, hier gibt es Galerien in Hülle und Fülle. Ich habe früher oft mit meiner Mom auf dem Steilufer über dem See gemalt.

»Mal nicht, was du siehst«, hat sie immer zu mir gesagt. »Mal, was du fühlst.«

»Genau das versuche ich jetzt mit meinem Leben zu machen, Mom«, sage ich zu dem Schild.

Während ich meinen SUV vorsichtig auf der schneebedeckten Straße in die Stadt lenke, erhellen Galerie-Schaufenster meinen Weg. Riesige Ölgemälde, Pastellzeichnungen und Aquarelle vom Sommer in Saugatuck – dem Michigansee bei Sonnenuntergang, der majestätischen Pracht der Dünen, Gärten mit violettem Fingerhut, eisblauen Hortensien und roten Rhododendronbüschen so groß wie Bäume – bieten einen verheißungsvollen Vorgeschmack auf die Zukunft.

Was wäre, wenn ich in meinem neuen B&B Malkurse anbiete?, denke ich. Oder Malwochenenden im Herbst? Großstädter sind verrückt nach so was.

Auf meinem Weg durch die Stadt komme ich an einem historischen Wahrzeichen vorbei, der Kettenfähre, eine von Saugatucks größten Touristenattraktionen. Ihre Geschichte hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben, da ich früher im Sommer auf der Fähre gearbeitet und die Kurbel bedient habe. Als wäre ich wieder auf der Kettenfähre, leiere ich in roboterhaftem Tonfall die auswendig gelernten Zeilen herunter: Saugatucks Lage zieht schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts Stadtbewohner aus Chicago und sogar aus St. Louis hierher. Ab 1880 entwickelte sich eine Erholungs-, Tourismus- und Ferienhauskultur, die 1910 regelrecht boomte, als eine Gruppe Künstler vom Arts Institute of Chicago an der Ox-Bow-Lagune die Summer School of Painting gründete und zugleich ein großer Tanzsaal namens Big Pavilion am Ufer gebaut wurde. Der daraus resultierende Zustrom an bekannten Künstlern und namhaften Chicagoer Architekten führte dazu, dass eine ganze Reihe von Gebäuden im Stil des Arts-and-Crafts-Movements und der Colonial-Revival-Architektur errichtet wurden. Nun locken die Galerien, die goldenen Strände und hoch aufragenden Dünen, die Weingüter und Obstplantagen und die salzlose Majestät des Michigansees Touristen an.

Ich lache. Warum kann ich mich an alte Songtexte und solche Dinge aus meiner Jugend erinnern, aber nicht daran denken, den Müll rauszubringen?

Heute lächle ich über das verschnörkelte Urlaubsstädtchen, das im Schnee sogar noch schöner ist. Mit den weiß drapierten Kiefernzweigen und den altmodischen Straßenlaternen wirkt es, als könnte Charles Dickens jeden Augenblick den Kopf aus einem der Läden strecken. Ich finde einen Parkplatz direkt vor meinem Lieblingscafé und hüpfe hinaus. Der Laden ist leer bis auf ein paar Einheimische und Rentner, die an den Tischen sitzen und Latte macchiato oder heiße Schokolade schlürfen.

Ich bestelle meinen Lieblings-Latte, einen Caramel Silk – weiße Schokolade und Karamell gemixt mit der hauseigenen Kaffeeröstung –, und während ich warte, sehe ich dem Besitzer beim Abwischen der Tische zu.

»Dale?«, frage ich. »Adie Lou –« Ich stocke und muss meinen Ehenamen herauspressen, als würde ich daran ersticken. »Clarke. Erinnerst du dich noch an mich? Meinen Eltern gehörte Cozy Cottage.«

»O ja.« Er wirft sich das Geschirrtuch über die Schulter und streckt mir die Hand hin. »Schön, dich zu sehen. Es hat mir sehr leidgetan, das von deinen Eltern zu hören. Jeder hier hatte sie gern. Was führt dich denn an einem Wintertag hier rauf? Hab gehört, euer Haus ist zu verkaufen oder bereits verkauft?«

»Na ja«, setze ich an, »das war es. Und es wäre auch beinahe verkauft worden. Aber jetzt gründe ich ein Geschäft hier. Ich mache aus dem Cottage ein B&B.«

»Noch so eins davon brauchen wir hier so dringend wie einen Kropf«, krächzt ein alter Mann mit Strickmütze, der eine Zeitung liest.

»Kümmre dich nicht um Phil«, scherzt Dale. »Der weiß schon seit den Siebzigern nicht mehr, was los ist. Deswegen ist er so mürrisch.« Dale mustert mich. Er sieht älter aus, als ich ihn in Erinnerung habe, sein Haar ist jetzt silbern, seine Stirn faltig, wie ein Präsident, bei dem man bemerkt, dass er am Ende seiner ersten Amtszeit deutlich gealtert ist. »Bei der Hütte ist eine Menge Arbeit nötig, oder?«

Ich nicke.

Er grinst, als kenne er ein Geheimnis, das mir unbekannt ist. »Na, dann viel Glück«, sagt er. »Der Kaffee geht heute aufs Haus.«

»Danke«, antworte ich. »Aber ich habe schon bezahlt.«

»Na, so führt man ein erfolgreiches Geschäft«, lacht Phil im Hintergrund. »Er gibt immer einen aus, wenn’s schon zu spät ist.«

»Halt den Mund, Phil«, lacht Dale. Er dreht sich wieder um. »Aber er hat recht«, fügt er mit einem Augenzwinkern hinzu. »Im Ernst, der nächste geht auf mich.«

»Lügner«, raunt Phil leise, bevor er in sogar noch sarkastischerem Tonfall hinzufügt: »Viel Glück mit diesem B&B.«

Ich sehe Dale an, worauf der mir nickend sein Okay gibt. »Halt den Mund, Phil«, sage ich, während Dale wieder lacht und damit fortfährt, die Tische abzuwischen.

»Caramel Silk! Adie Lou!«, schreit ein Barista. Ich hole meinen Kaffee ab, gehe wieder hinaus in den Schnee und lenke meinen Wagen in Richtung Cottage. Als ich auf den Lakeshore Drive biege, wird mein Auto vom Wind durchgeschüttelt, und der Schnee fällt nicht mehr senkrecht, sondern fliegt horizontal.

Ich fühle mich, als könnte die böse Hexe aus dem Zauberer von Oz jeden Moment über meinen Kopf hinwegradeln.

Jedes Sommerhäuschen entlang der Straße ist dunkel. Nicht nur dunkel, sondern leer. Die Fenster wurden mit hurrikansicheren Läden verschlossen, Fliegengitterverandas in Plastik gehüllt und Bäume mit Pfählen gesichert. Meilenweit brennt kein Licht.

Als ich in die Einfahrt von Cozy Cottage biege, hat mein SUV Mühe, die glatte Auffahrt hochzukommen. Ich öffne die Tür, und anstatt der Stimmen meiner Eltern glaube ich, das Cottage vor Qual stöhnen zu hören. Als ich aus dem Wagen steige, rutsche ich im Schnee aus und muss mich an der Autotür festhalten, damit ich nicht hinfalle. Ich nehme meine Handtasche, lasse aber mein Gepäck einstweilen im Auto und arbeite mich Schritt für Schritt die steile Treppe hoch, den Oberkörper im selben scharfen Winkel wie der Schnee nach vorne geneigt, um nicht umgeweht zu werden.

Als ich die vordere Veranda erreiche, kommt mein Atem in großen Wolken wie Dampf aus einer Dampflok heraus. Ich schaue hinaus auf den See. Er ist tosend und aufgewühlt, so laut, dass ich mich kaum denken hören kann.

Ich war selten im Winter in Saugatuck, und nie an Tagen wie diesem. Cozy Cottage war ein Sommersitz.

Das hier, denke ich, ist wie in Shining. Nur viel, viel schlimmer.

Als ich mich wieder zum Cottage umdrehe, wirbeln kleine Tornados aus Schnee vom Boden hoch und peitschen mir ins Gesicht. Ich kneife die Augen zusammen. Die Holzschindeln des Cottage sind locker, und ein paar fehlen inzwischen an der Vorderseite. Die Farbe blättert ab, da ist ein Riss im Steinfundament, und die meisten Fensterläden haben sich losgerissen und schlagen gegen das Haus.

Ich schaffe es, den Schlüssel in meiner Handtasche zu finden, und schließe die Eingangstür auf. Eine Maus schaut zu mir hoch, als wäre ich eine Fremde, die gerade in ihr Haus geplatzt ist. Ich kreische. Die Maus kreischt. Und dann flitzt sie vor mir über den Teppich. Ich kreische wieder, worauf die Maus erschrocken anhält und sich starr vor Angst auf die Hinterbeine stellt und dann auf die Treppe zusaust.

Plötzlich fällt mir ein, was Evan zu mir gesagt hat, und ich ziehe mich zur Tür hinaus wieder zurück, öffne den Weidenkorb, der immer noch an der Tür hängt, aber jetzt abgenutzt ist und sich langsam auflöst, und schaue hinein.

Keine Wunderkerzen, denke ich und bin augenblicklich traurig, als ich mich an meine Eltern erinnere. Und dann kommt mir eine Idee: Ich greife in meine Handtasche und hole ein großes Räucherbündel Salbei heraus, das ich mitgebracht habe, um das Cottage zu reinigen und ihm einen Neuanfang zu schenken. Dann krame ich herum, bis ich ein Feuerzeug finde. Ich drehe mich mit dem Rücken zum Wind, halte den Salbei dicht an den Körper und zünde ihn an.

»Bereit, die Regeln aufzusagen?«, frage ich mich selbst über das Brüllen des Windes und das Ächzen des Cottage hinweg. »Wie lautet die erste Regel des Sommer-Cottage?«

Ich halte den Salbei über meinen Kopf und schreie dem Cottage zu: »Lass deine Sorgen vor der Tür!« Das Haus knarrt, wie um mir zuzustimmen. Ich wiederhole die Regel, diesmal an mich selbst gewandt. »Lass deine Sorgen vor der Tür, Adie Lou.«

Wieder schreie ich, diesmal in den Winterwind: »Auf einen Neuanfang! Auf ein neues Leben für mich und dich, Cozy Cottage! Keine Reue!«

Gerade als ich die Tür öffnen will, reißt eine Windbö mich fast von den Beinen, und der brennende Salbei erlischt. Ein Fensterladen an der Vorderseite des Cottage schlägt wild im Wind, was ein Geräusch macht wie hundert Enten, die aus einem Teich hochflattern.

Und dann, einfach so, reißt sich der Fensterladen los und fliegt durch die Luft, direkt auf meinen Kopf zu. Ich weiche gerade noch rechtzeitig aus, und er kracht auf den Boden, poltert die Düne hinunter und in den See.

Bevor ich, nun um meine Sicherheit besorgt, hineinlaufe, sehe ich die ausladende hölzerne Pergola im Garten, an der sich jahrzehntelang die leuchtend pinkfarbenen und roten Rosen meiner Mom und meiner Grandma emporrankten. Die Pergola ist nackt und zittert im Wind, genauso heftig wie ich gerade, und ich schwöre, ich kann Trish sehr deutlich zu mir sagen hören: »Die Rosen, Adie Lou. Die Rosen.«

Teil zwei

4

Februar

»Wie spät ist es?«

Meine Stimme hallt durchs Kinderzimmer.

Die Sonne scheint mir direkt in die Augen, und mit rasendem Herzen setze ich mich kerzengerade im Bett auf. Ich werfe einen Blick hinüber zur Uhr auf dem Nachttisch.

Sie blinkt mich in Rot an: 9:39 Uhr. Ich ziehe die Bettdecke enger um mich, und mir ist zugleich kalt und zu warm. Vor lauter Geldsorgen habe ich mich gestern Abend geweigert, die Heizung höher als fünfzehn Grad zu drehen. Mein Gesicht ist eiskalt, doch eine Hitzewelle durchflutet meinen Körper, und mir wird bewusst, dass ich mich schäme, an meinem ersten Tag als Unternehmerin so lange geschlafen zu haben.

Wieder werfe ich einen Blick zu den roten Zahlen auf der Uhr, und mein Körper glüht vor Scham, als würde ich ein scharlachrotes A tragen.

A für antriebslos, setze ich an, dann korrigiere ich mich. »Nein, für Loser der Güteklasse A«, sage ich laut, und das Echo bekräftigt meine Bekanntmachung.

So lange habe ich seit Jahrzehnten nicht mehr geschlafen, denke ich. Seit ich ein Teenager war. Genau hier in diesem Zimmer.

Aus irgendeinem Grund konnte ich nicht im Schlafzimmer meiner Eltern schlafen, oder dem Gästezimmer, das Nate und ich uns so lange geteilt haben. Das erschien mir nicht richtig. Also entschied ich mich für mein altes Kinderzimmer, in dem Evan geschlafen hat, seit er ein Baby war. Ich ziehe die Decke noch enger um mich und mustere den Raum. Fotos von Evan im Cottage und am Strand, vom Kleinkind zum Teenager, direkt vor meinen Augen aufwachsend. Fotos von mir, wie ich dasselbe tue. Die Sonne strahlt mir in die Augen, und ich neige den Kopf und bemerke eine Gemeinsamkeit in all diesen Fotos: Sonnenschein. Lächelnd drehe ich den Kopf wieder ins Licht, schließe die Augen und lasse mich von der Sonne wärmen.

»Okay, Adie Lou«, sage ich zu mir. »Zeit, in die Gänge zu kommen.«

Um elf habe ich einen Termin mit meinem Bauunternehmer und habe mich noch kaum darauf vorbereitet, geschweige denn Kaffee gemacht, um halbwegs klar denken zu können.

Als ich aus dem Bett steige, schlägt mir die Kälte des Hauses entgegen. »Brrrr!«, schreie ich. Ich versuche, mich an all die Kleider zu erinnern, die ich hiergelassen habe – lauter Sommersachen –, und wühle dann in meinen Koffern. Nichts, was ich hastig hineingeworfen habe, scheint warm genug zu sein.

Warum habe ich wie für einen Wochenendausflug gepackt anstatt wie für immer?

Ich öffne eine Schublade einer alten grau-grünen Kommode – die zu meinen Lebzeiten wahrscheinlich schon in einem Dutzend verschiedener Farben gestrichen wurde – und nehme ein Paar von Evans Thermosocken raus. Dann öffne ich eine andere Schublade und reiße eine Jogginghose aus seiner Teenagerzeit heraus, schließlich mache ich den Schrank auf, stelle mich auf die Zehenspitzen und strecke mich, so weit ich kann – dass meine Knie knacken –, um mit den Fingerspitzen einen von Evans alten Highschool-Hoodies von einem Regal zu ziehen. Ich schalte das Badezimmerlicht ein und sehe in den Spiegel. Dann lehne ich mich noch weiter vor, um mein Gesicht zu mustern.

»Wer bin ich?«, frage ich den Spiegel, der durch meinen Atem beschlägt.

Ich fühle mich ausgeruht und dennoch erschöpft. Aufgeregt, aber deprimiert. Glücklich und traurig. Allein und doch getröstet.

»Im Wesentlichen bist du total durch den Wind«, sage ich zu meinem Spiegelbild.

Ich fahre mir mit der Hand durchs Haar, das mir vom Kopf absteht, als hätte ich gerade eine Elektroschocktherapie hinter mir. Als ich den Badschrank aufmache, finde ich einen uralten Haargummi aus einer Zeit, als Evan sich die Haare bis zu den Schultern wachsen ließ, und zerre meine eigenen schulterlangen Locken hindurch, was mir sofort das Aussehen einer dieser verrückten, in die Jahre gekommenen Babysitterinnen aus dem typischen kitschigen Fernsehfilm verleiht.

Ich wasche mir das Gesicht, schnappe mir meinen Kulturbeutel, um eine Feuchtigkeitscreme herauszukramen, und creme mir Gesicht und Hals ein. Dann greife ich wieder hinein und hole meine ätherischen Öle heraus, die Nate meine ›Voodotränke‹ genannt hat.