So groß wie deine Träume - Viola Shipman - E-Book
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So groß wie deine Träume E-Book

Viola Shipman

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Beschreibung

Hoffnung ist das größte Geschenk. Der neue Roman der Erfolgsautorin Viola Shipman. ›So groß wie deine Träume‹ ist eine hochemotionale, tief berührende Geschichte über drei Menschen, die neuen Mut schöpfen und ihrem Leben Sinn geben, indem sie füreinander da sind. Im Alter von zehn Jahren bekommt Mattie eine Truhe geschenkt, um darin alles zu sammeln, was sie als Erwachsene an ihre Familie erinnern würde: ihre geliebte Stoffpuppe, glitzernder Christbaumschmuck, eine Vase ihrer Mutter, und vieles mehr. Jahrzehnte später: Mattie ist inzwischen schwer erkrankt, ihr Mann Don sorgt sich sehr um sie und stellt Rose, eine junge, alleinerziehende Mutter, als Pflegerin ein. Rose stößt auf die verstaubte, vergessene Truhe und bringt sie Mattie. Nach und nach erzählt Mattie ihr die Geschichten und Geheimnisse, die sich um die Familienerbstücke ranken. Rose erkennt, was sie tun kann, um Mattie und Don zu helfen, in ihrem letzten gemeinsamen Jahr füreinander da zu sein.

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Seitenzahl: 438

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Viola Shipman

So groß wie deine Träume

Roman

Aus dem Amerikanischen von Anita Nirschl

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungMottoProlog Der Duft von ZedernMai 20161. Teil Die Stoffpuppe1232. Teil Der Strandglasanhänger4563. Teil Das Wildrosenporzellan7894. Teil Die McCoy-Vase1011125. Teil Die Schürze1314156. Teil Das Erinnerungsalbum1617187. Teil Der bestickte Kissenbezug19208. Teil Der Familienbilderrahmen2122239. Teil Der alte Christbaumschmuck24252610. Teil Das Hochzeitstortenbesteck27282911. Teil Die Schneekugel3031323312. Teil Die Eintrittskarte343513. Teil Die Familienbibel363738394041Epilog Die HochzeitstruheOstern 2017DankLeseprobe1

Für meinen Vater

Ich vermisse dich jeden Tag, weiß aber, dass du mir nahe bist. Du hast mir beigebracht, dass harte Arbeit und Ausdauer sich auszahlen und dass ich nie, niemals aufgeben soll. Und das werde ich auch nicht.

 

Für meinen Onkel Don

Der tapfer ein Jahrzehnt lang gegen ALS gekämpft und mir beigebracht hat – inmitten seines schrecklichen Kampfes –, was Stärke, Würde und Hoffnung wirklich bedeuten.

 

Für meine Großmütter und Großtanten

Die Schätze aus euren Hochzeitstruhen bleiben ein wichtiger Teil unserer Familie und sind einer der Hauptgründe, warum mein Haus stets ein Zuhause ist.

 

Für Anne Lamott

Dein Geburtstagswunsch (und deine Zeichnung) hat mich täglich aufs Neue inspiriert, ebenso wie deine Bücher.

Barbaras Gesicht war nun starr, beinahe wie eine Maske, wie etwas, dem der Wind hart zusetzt, und sie hatte viel Gewicht verloren, so dass man die Gestalt ihres Tieres sehen konnte, und ihre Knochen und Äste und Menschlichkeit.

 

Dennoch hatte sie immer noch ein Lächeln, das einen jedes Mal in seinen Bann schlug, kein blendendes Aufblitzen weißer Zähne, sondern die Schönheit gedämpften Lichts, das durch die unteren Zweige sickert: lieblich, friedlich, verhalten.

 

– Anne Lamott über den Kampf ihrer Freundin mit ALS, aus:Small Victories

PrologDer Duft von Zedern

Mai 2016

»Ich glaube, das war die letzte Kiste, Liebling. Brauchst du noch ein paar Minuten für dich allein, um dich zu verabschieden?«

Mattie Tice ließ den Blick durchs Zimmer schweifen, dann sah sie ihren Mann Don an, bevor sie zustimmend nickte.

Wie kann ich mich angemessen von meinem geliebten Haus verabschieden, wenn ich kaum noch sprechen kann?, dachte sie.

Nach fast fünfzig gemeinsamen Jahren konnte Don die Gedanken seiner Frau beinahe instinktiv lesen. Er ging zu ihr, kniete sich vor ihren Rollstuhl und beugte sich vor, bis ihr weißblondes Haar sein gebräuntes Gesicht kitzelte.

»Es wird immer unser Zuhause am See bleiben«, flüsterte er. Sein Atem roch süß nach Toffee-Latte, den er so gern trank, besonders wenn er müde war. »Unser Zuhause ist, wo immer wir sind.«

Mattie wusste, dass seine Worte sie trösten sollten, aber sie war zu aufgewühlt, als dass sie geholfen hätten. Sie öffnete den Mund, um zu sprechen, aber selbst wenn sie schrie, konnte niemand sie hören.

Meine Stimme wird schwächer, dachte sie.

»Sag es noch mal, Schatz. Für mich«, bat Don sanft und hob das winzige Mikrophon an, das vor dem Gesicht seiner Frau baumelte, um ihre Stimme zu verstärken.

»Das … ist … Blöd…sinn«, sagte Mattie langsam. »Genau … wie … A … L … S.«

Don lachte über ihren Schneid und küsste sie auf die Wange.

»Ich weiß«, sagte er. »Tut mir leid. Ich weiß, wie sehr du Plattitüden hasst.«

»Du weißt, was man über Umzüge sagt«, brachte Mattie mühsam hervor, ein undeutliches Wort nach dem andern. »Das drittstressigste Erlebnis nach einer Scheidung und dem Tod eines Angehörigen.«

Das Wort Tod hing in der Stille des nun leeren Häuschens und hallte in Dons Kopf wider.

Er lächelte und biss sich dabei in die Wange – seine einzige Möglichkeit, in Momenten wie diesem nicht zu weinen.

Er legte seiner Frau die Hände auf die Schultern und massierte sie.

»Und dicht gefolgt von der Steuererklärung«, fügte er hinzu. »Ich weiß, wie schwer das hier ist, Liebling.«

Mattie neigte den Kopf zur Seite, bis er sich an den Arm ihres Mannes schmiegte.

»Mach dich nicht selbst fertig«, sagte sie, weil sie jede seiner Gefühlsregungen kannte. »Ich bin ein großes Mädchen.«

Mattie Tice war der stärkste Mensch, dem Don je begegnet war, und diese Willensstärke hatte sie durch fünf Jahre mit der Krankheit ALS getragen.

Aber jetzt wurde es einfach zu schwer für sie, in ihrem geliebten Haus am See zurechtzukommen.

Es ist zu groß, und ich bin zu klein, dachte Mattie, als sie sich in dem Cottage umsah, das sie schon seit ihrem zehnten Lebensjahr kannte.

Plötzlich kamen zwei Möbelpacker mit einer Kiste die schmale Treppe heruntergepoltert. Mabel, die geliebte Mischlingshündin der Tice’, tat bellend ihre Missbilligung kund.

»Ich dachte, das war alles?«, fragte Mattie, bevor sie die Kiste zur Vordertür hinaustragen konnten. »Was ist da drin?«

Die beiden jungen Männer – mit breiten Schultern und mächtigen Brustkörben – blieben stehen, weil sie nicht verstehen konnten, was sie sagte.

»Sie möchte wissen, was da drin ist«, wiederholte Don erklärend.

»NATÜRLICH, MA’AM!«, brüllte einer der beiden Möbelpacker, der etwa um die zwanzig war. Er kam näher und bedeutete seinem Freund, ihm zu folgen, dann blieb er vor Mattie stehen. »WÜRDEN SIE ES GERN SEHEN?«

Er stellte die Kiste auf den Boden und öffnete sie mit schwungvoller Begeisterung, als wäre er ein Pantomime, der vor einer Gruppe Kindergartenkinder eine Geschichte vorspielt.

Don gab sich große Mühe, nicht die Augen zu verdrehen. Die Leute redeten mit seiner Frau immer, als wäre sie ein Baby oder taub. Sie schrien laut, sie gurrten, sie waren nervös, sie erfanden sogar ihre eigene Sprache.

Warum fühlen sich die Leute immer so unbehaglich bei Menschen mit einer Behinderung, fragte er sich. Sie hat ALS! Ihr Verstand ist ironischerweise so stark, wie ihr Körper schwach ist.

Stattdessen lächelte Don höflich und blieb stumm. Seine Frau hasste Szenen.

In der Kiste befanden sich große Erinnerungsalben. Der Möbelpacker nahm eins heraus und legte es Mattie auf den Schoß. Don ging schnell zu ihr, um das alte gebundene Album für sie zu öffnen.

»Meine Blumen«, sagte sie. »Oh!«

Im Laufe der Jahre hatte Mattie diese Alben zusammengestellt und darin jeden Blumensetzling, den sie je von jemandem bekommen hatte, dokumentiert: die lateinischen und die gebräuchlichen Namen der Pflanzen und Blumen, ihre Farben und die Jahre, in denen sie geschenkt und gepflanzt worden waren.

Daneben hatte Mattie mit Aquarellfarben ein Bild von jeder Pflanze gemalt. Jahre später, wenn die Pflanze ausgewachsen war, malte Mattie noch ein weiteres Bild von ihr in voller Blüte.

Diese Bücher hatten außerdem als Matties berufliche Visitenkarte gedient: Als Landschaftsarchitektin hatte sie ihren Kunden kunstvolle Zeichnungen ihrer Gartengestaltungen geschenkt und war dann Jahre später – oftmals unangekündigt – wiedergekommen, um die nun eingewachsenen Gärten zu malen, die sie damals vor ihrem inneren Auge gesehen hatte. Zu Matties Kunden hatten Geschäftsführer großer Firmen, wichtige Politiker, berühmte Schauspieler und Musiker gehört.

Die Erde bringt uns alle zurück zu unserer Mitte, dachte sie.

Mit einem zitternden Finger strich Mattie über das Aquarell einer weißen Pfingstrose mit rosafarbener Füllung, einer ihrer Lieblingsblumen. Es versetzte sie in eine andere Zeit zurück. Sie konnte ihre Hände in der Erde spüren. Sie konnte eine Verbindung zur Welt spüren.

Ich konnte spüren.

»Danke«, sagte Mattie unvermittelt, und sofort klappte Don das Buch wieder zu. »Allein … jetzt … bitte.«

»Natürlich«, sagte Don. »Sag uns Bescheid, wenn du so weit bist.«

Mattie konnte immer noch den Akzent der Ozark Mountains aus seiner Stimme heraushören, der sonst tief unter seiner geschliffenen städtischen Sprechweise verborgen war. Er kam zum Vorschein, wenn Don gestresst war. Er versuchte, diesen Akzent zu verbergen, aber das verräterische ›so weit‹ kam immer beinahe dreisilbig heraus: »so-we-it«.

»Geh«, sagte sie und rang sich zu einem Lächeln durch.

Don war inzwischen oft der Einzige, der seine Frau noch mühelos und ohne sich stark zu konzentrieren, verstehen konnte. Er kannte ihre stimmlichen Rhythmen und Tonfälle auswendig, jedes Stöhnen, Husten, Keuchen, Nuancieren. Er konnte beinahe ihre Gedanken lesen, wenn er in ihre haselnussbraunen Augen sah. Die grünen Flecken darin erinnerten ihn immer an das Seegras, das auf den sandigen Dünen am Ufer des Michigansees wogte.

Don küsste seine Frau auf den Scheitel und hielt dabei einen Augenblick lang inne, um ihren Duft einzuatmen.

Sie riecht nach Sonnenschein, dachte er.

Mattie hob lächelnd den Kopf ein paar Zentimeter von der Kopfstütze des Rollstuhls und nickte, bevor sie ihn leicht zur Seite neigte, um ihrem Mann – immer noch so jung, so stark, so lebendig – hinterherzusehen, wie er zur Tür hinausging. Ein Frühlingskranz hing an der Tür und sah aus wie ein glücklicher Heiligenschein über seinem Kopf, als er daran vorbeiging.

Während die Tür sich schloss, hörte Mattie die Vögel singen, und ihr Lied war wie ein Sommerchor. Don sagte ihr stets, dass ihre Stimme selbst jetzt noch wie der Gesang eines Vogels klang.

Immer noch wunderschön, sagte er ihr jeden Tag.

Mattie drückte mit dem rechten Zeigefinger auf die Steuerung des Rollstuhls und beschrieb langsam einen Kreis in ihrem Wohnzimmer, bevor sie den Joystick nach vorn schob und vor dem großen Panoramafenster anhielt, das auf den See hinausblickte.

Das Fenster war nur einen Spaltbreit geöffnet – »um das Haus und seine Geister auszulüften«, hatte Mattie vorhin gescherzt. Sie schloss die Augen und lauschte dem leisen Pfeifen des Windes, der vom Wasser her über die Dünen landeinwärts strich. Dann machte sie die Augen wieder auf und drehte den Kopf nach links, um zuzusehen, wie die Brise das Dünengras kräuselte, bevor sie die Pfingstrosen, Fingerhüte, Rittersporne und orangefarbenen Blüten des arktischen Mohns tanzen ließ. Als der Windstoß Mattie schließlich erreichte, kräuselte er den zarten Kragen ihrer weißen Bluse und ließ ihr Haar aufwirbeln.

Sie drehte den Kopf nach rechts und beobachtete Don, wie er Hunderte kleiner Blumentöpfe hinten in ihren behindertengerechten Van lud.

Mattie brach das Herz.

Blumentöpfe! Alles, was ich jetzt noch haben werde, sind Kübelpflanzen? Eingetopfte Pflanzen. Genau wie ich.

Als bei Mattie ALS festgestellt worden war, hatten sich ihr Leben in ihrem geliebten Garten und ihre Karriere als Landschaftsgestalterin schnell in Luft aufgelöst.

Jahrzehntelang hatte sie allein gearbeitet, in ihrem Garten, in den Gärten anderer Leute und in dem Büro auf dem Dachboden, das sie nun nicht mehr erreichen konnte. Das waren ihre privaten Rückzugsorte gewesen.

Jetzt war sie nie mehr allein: Alle schwirrten um sie herum wie Geister, machten Aufhebens um jeden Huster, Atemzug, Schluck Wasser.

Nichts mehr, um je wieder Wurzeln zu schlagen, zu wachsen, zu blühen. Für immer gefangen in diesem Stuhl, dachte sie und ließ die Fäuste auf die Armlehnen niedersausen.

Mattie verließ das Wohnzimmer und steuerte den Rollstuhl ins Esszimmer, Mabel trottete dicht hinter ihr her. In der Mitte, wo der große Esstisch lange Zeit den Ankerpunkt des Raumes gebildet hatte, hielt sie an. Sie konnte die Stimmen ihrer Familie und den Trubel vergangener Feste in ihrem Kopf widerhallen hören – Hochzeitstage, Geburtstage, Thanksgivingdinner, Feiern zum Unabhängigkeitstag am vierten Juli.

Sie fuhr in die Küche und dachte an all die Abendessen, die sie gekocht, die Kekse, die sie gebacken, die Picknickkörbe, die sie gepackt hatte. Alte wasserblaue Fliesen, die sie bei einer Antik-Keramikwerkstatt gekauft hatte, reflektierten den Sonnenschein und erfüllten den Raum mit strahlendem Licht.

Als Mattie ihren Rollstuhl ins zweite, nur von der Familie genutzte Wohnzimmer steuerte, das auf den See hinausblickte, hüllte sie der Geruch nach Rauch vom zimmerhoch gemauerten Kamin ein. Sie lächelte beim Anblick der schönen, polierten Steine, aus denen der Kamin bestand; ihr Vater und ihr Mann hatten sie am Seeufer gesammelt.

Mattie erinnerte sich an die erste Nacht in diesem Haus – eine bitterkalte Juninacht –, als ihr Vater das Ferienhäuschen gerade erst gekauft hatte.

Er hatte ein Feuer aus Birkenästen gemacht, die er im Wald gesammelt hatte – und dabei beinahe sich selbst und das ganze Haus in Brand gesteckt, da er noch nicht gewusst hatte, dass manche Hölzer als Brennholz taugten und manche nicht.

Lächelnd betrachtete Mattie das verblasste Viereck über dem Kaminsims. Sie hatte vor Jahrzehnten ein Blatt mit dem »Feuerholzgedicht« für ihren Vater eingerahmt, und sie konnte es noch Zeile für Zeile aufsagen, obwohl es nicht mehr an seinem heiligen Ort hing.

Birke und Tanne brennen zu schnell,

Verzehren sich rasch und lodern zu hell,

Doch Esche trocken oder grün

Taugt selbst für eine Königin.

Pappel macht gar bitt’ren Rauch,

Beißt Hals und Augen mit ihrem Schmauch.

Apfelholz erfüllt die Luft

Mit seinem angenehmen Duft.

Der Wohlgeruch von Birkenholz

Macht selbst die duftigste Blume stolz.

Sind alt und trocken die Eichenscheite,

Des Winters Kälte sucht das Weite.

Doch Esche feucht oder Esche trocken

Auch einem König wärmt die Socken.

Mattie wandte ihren Rollstuhl zur mit Fliegengitter geschützten Veranda, die auf ihren großen Garten mit Terrasse und Pool hinter dem Haus hinausging.

Überall entrollten ihre riesigen Farne ihre Blätter – wie verschlafene Tänzer, die sich nach einem langen Winterschlaf streckten. Sie starrte hinaus auf den See, die gesamte sandige Küste Michigans in der Ferne, den in Wolken gehüllten Horizont des Wassers, beinahe wie eine Fata Morgana.

Wie die Sturmhöhe, dachte Mattie. Ich werde dich vermissen.

Mattie sah zu, wie der Wind durch die Äste und zarten Blätter des Zuckerahorns wogte. Plötzlich wehte eine Bö vom See empor und über das Steilufer und trug einen Geruch mit sich, der Mattie überwältigte. Sie schloss die Augen und atmete tief ein.

Der Duft von Zedern.

Ohne Vorwarnung begann Matties Herz zu pochen. Sie starrte auf den rötlich braunen Stamm des alten Baumes, der an der Grenze ihres Gartens stand.

Wie lange ist es her?, fragte sie sich, während sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie alt sie gewesen war, als sie zusammen mit ihrem Vater einen Setzling aus ihrem Elternhaus in St. Louis hier eingepflanzt hatte.

Die Arme der Zeder streckten sich dem Himmel entgegen. Sie war alt, einige ihrer unteren Äste karg, und sie stand im Kontrast zu der gertenschlanken weißen Birke, die sie ebenfalls vor langer Zeit gepflanzt hatte. Aber die gealterte Zeder besaß eine eigene, unverkennbare Würde.

Genau wie ich, lachte Mattie innerlich.

Wieder hob sie die Nase in den Wind und schnupperte, und Mabel tat es ihr nach. Unbewusst lenkte sie ihren Rollstuhl bis dicht ans Fliegengitter.

Der Duft löste etwas in Mattie aus, etwas Mächtiges, Altes, Unvergessliches.

Ihre Gedanken wirbelten, und plötzlich konnte sie die Stimme ihres Vaters hören.

»Was denkst du, wie groß der mal wird, Dad?«, erinnerte sie sich, ihn gefragt zu haben, als sie den Baum gepflanzt hatten.

»Wie groß sind denn deine Hoffnungen und Träume?«, hatte er im Gegenzug gefragt, die Schaufel in der Hand.

Matties Herz begann noch schneller zu pochen, und eine Träne trat ihr ins Auge. Sofort versuchte sie, es auf eine Allergie zu schieben, aber sie wusste es besser.

Ostern 1950

»Ich hab’s gefunden! Ich hab’s gefunden!«

Madeline Barnhart sauste durch ihren abschüssigen Garten in St. Louis, den Hügel hinunter und direkt auf ein rosa gefärbtes Ei zu, das in der Astgabel eines Judasbaums versteckt war.

Ihre Eltern lachten, als sie in ihren Lederschühchen und dem von ihrer Mutter genähten Osterkleidchen – weiß mit kleinen rosa Schleifen – auf und ab hüpfte und das farblich passende rosa Ei hochhielt, damit sie es sehen konnten.

Als seine Tochter zu ihm hinsah, zeigte Joseph Barnhart heimlich hinter dem Rücken seiner Frau auf das nächste Versteck – ein Eichhörnchenloch in einer alten Eiche –, und kichernd rannte Mattie mit ihrem Körbchen voll leuchtend grünem Kunstgras, Schokolade und bunten Eiern los.

Joseph legte den Arm um seine Frau.

»Ein perfektes Osterfest«, sagte er und küsste sie auf die Wange.

»Es sieht aus wie in Der Zauberer von Oz mit all den leuchtenden Farben, nicht wahr?«, meinte Mary Ellen.

Während die Barnharts auf ihrer Terrasse standen, konnten sie nicht nur ihren eigenen großen Vorstadtgarten sehen, sondern auch die Gärten ihrer Nachbarn. Sie konnten sehen, wie auch die Nachbarskinder mit Körbchen über den Rasen flitzten, während aus dem Radio die markante Stimme des Sportreporters drang, der über das Spiel der Cardinals berichtete.

Hartriegel und Judasbäume standen in voller Blüte – Weiß und Rosa sprenkelten das üppige Grün –, und die meisten der Bäume, bis auf die eigensinnigen Eichen, waren beinahe vollständig belaubt. Tulpen umringten die Bäume – eine bunte Palette leuchtender Buntstiftfarben –, während sonnige Osterglocken die Zäune säumten.

Es war April, und in St. Louis war es regelrecht heiß: Die Luft war schwer und feucht wie in einem Regenwald. Die Erde roch lebendig.

Mary Ellen tupfte sich die Stirn mit einem Taschentuch, das sie aus den Tiefen des Dekolletés ihres Osterkleides gezogen hatte.

»Du bist wie ein Zauberer«, neckte Joseph sie. »Ständig ziehst du Taschentücher aus einer Handtasche, einem Ärmel … überall heraus.«

Schwungvoll legte Mary Ellen ihrem Mann das Taschentuch übers Gesicht. »Manchmal wünsche ich mir, ich könnte dich verschwinden lassen«, scherzte sie lachend, bevor sie sich wieder die Stirn damit betupfte. »Die Luftfeuchtigkeit ist schon wieder da. Es wird ein heißer Sommer werden, das kann ich jetzt schon sagen.«

Joseph tat so, als wäre er ein Ventilator, und fächelte seiner Frau mit wedelnden Armen Luft zu.

»Das wird auch nichts bringen«, lachte sie.

Joseph ging hinüber zu einem Liegestuhl auf der Terrasse und setzte sich, während seine Tochter ihre Ostereierjagd fortsetzte.

»Wir sollten über ein Sommerhaus nachdenken«, meinte er. »Einen Ort, wohin wir vor dieser Hitze fliehen können.«

»Wirklich?« Mary Ellen strahlte erwartungsvoll.

Sie sieht genauso aus wie Doris Day, dachte Joseph. Und Mattie sieht aus wie eine Mini-Doris. Beide blonde, fröhliche Bündel Sonnenschein.

»Das könnten wir tun, besonders mit dem zusätzlichen Geld durch meine Gehaltserhöhung«, sagte Joseph. Er arbeitete in der Buchhaltung bei Anheuser-Busch. »All die Jungs in der Brauerei kaufen sich etwas in Wisconsin und Michigan. Und ich habe jetzt fast einen Monat frei. Wir könnten es schaffen.«

Matties glückliches Jauchzen schallte durch den Garten, und die Zehnjährige sauste am Vogelbad vorbei auf ihre Eltern zu, was ein fettes Drosselpärchen aufgeschreckt in den Himmel flattern ließ.

»Zu viel Schokolade.« Mary Ellen zog ein weiteres Taschentuch aus ihrem Kleid und wischte ihrer Tochter das Gesicht ab. »Du bist überdreht.«

»Es ist Ostern!«, rief Mattie. »Ich liebe meine Schokolade!«

»Nun, wir haben heute noch eine Überraschung für dich … wenn du dich ein wenig beruhigst«, sagte ihre Mom, ohne sich ein Lächeln verkneifen zu können. »Komm mit uns mit.«

Als Mary Ellen und Joseph ihre Tochter ins Wohnzimmer des weitläufigen Ranch-style-Hauses aus rotem Ziegel führten, schnappte Mattie nach Luft: Am Nierentisch, dem Amoeba-Clubsessel und der Ottomane in gebranntem Orange vorbei wand sich ein Pfad aus Jelly Beans.

»Wo führt der hin?«, fragte Mattie kichernd.

»Folge ihm und finde es heraus«, erwiderte Joseph.

»Folge dem gelben Steinweg«, sang Mattie das Lied aus dem Zauberer von Oz, bevor sie den Text abänderte. »Folge dem Jelly-Bean-Weg!«

Wie der Blitz sauste sie los – das Osterkörbchen immer noch in der Armbeuge –, und ihre Eltern mussten laufen, um mit ihr Schritt zu halten. Der Pfad aus Jelly Beans führte über das Küchenlinoleum vorbei an Herd und Kühlschrank ins zweite, formellere Wohnzimmer, wo – genau in der Mitte – ein riesiges, in buntes Zellophan gewickeltes Paket stand.

»Das ist aber ein großes Osternest«, staunte Mattie, die haselnussbraunen Augen weit aufgerissen.

Lachend fuhr sich Joseph mit der Hand durch sein dichtes schwarzes Haar, das glatt nach hinten gekämmt und seitlich gescheitelt war. »Mach es auf«, sagte er und kniete sich vor seine Tochter. »Ich helfe dir dabei.«

Die beiden begannen, die Schichten aus Zellophan zu entfernen, und das laute Knistern ließ Mattie nur noch mehr kichern.

»Was ist das?«, fragte sie mit offenem Mund, nachdem das Geschenk enthüllt war.

»Das ist eine Aussteuertruhe«, antwortete Mary Ellen. Sie setzte sich neben ihre Tochter auf den Teppich.

»Eine was, Mommy?«

»Eine Aussteuertruhe«, wiederholte sie. »Oder auch Hochzeitstruhe. Manche nennen sie auch Hoffnungstruhe. Sie ist so etwas Ähnliches wie ein Schmuckkästchen, nur in groß, für deine Hoffnungen und Träume.«

Mary Ellen kniete sich neben Mattie und strich ihr über das kurze blonde Haar.

»Diese hier hat mir gehört, als ich ein kleines Mädchen war, und dein Dad und ich dachten, es wäre der perfekte Zeitpunkt, sie an dich weiterzugeben.«

»Warum?«

»Weil ich dir helfen will, sie zu füllen, bevor du erwachsen bist.«

»Womit denn?«, fragte Mattie.

»Nun, in so einer Truhe werden alle möglichen Dinge gesammelt«, antwortete Mary Ellen, während sie ihrer Tochter weiter übers Haar strich. »Sie wird mit Decken und Bettwäsche gefüllt, um dich warm zu halten. Mit Haushaltsgegenständen, zum Beispiel Gläsern, Geschirr, Küchenhandtüchern und Backutensilien, damit dein zukünftiges Haus ein richtiges Zuhause wird. Mit Erinnerungen, mit Poesiealben und Familienfotos, Teddybären und Puppen, damit du sie einmal weitergeben kannst, wenn du verheiratet bist und selbst Kinder hast. Sie ist eine Möglichkeit, deine Vergangenheit mit deiner Zukunft zu verbinden.«

Mary Ellen hielt inne und schaute zu ihrem Mann. »Aber hauptsächlich wird eine Hochzeitstruhe mit Liebe gefüllt und mit den Hoffnungen und Träumen, die Eltern für ihre Töchter haben und die wir für dich haben.«

»Sie ist so hübsch«, rief Mattie aus. Sie strich über den Deckel der Truhe, deren poliertes Holz vom häufigen Gebrauch golden glänzte.

»Dein Vater wollte auch etwas dazu beitragen«, fuhr Mary Ellen fort, »also hat er diese schönen Frühlingsblumen in die Vorderseite geschnitzt.«

»Es sind deine Lieblingsblumen: Tulpen, Narzissen und Hartriegelblüten«, sagte Joseph. »Ich dachte, das würde dir gefallen, da wir so gern zusammen im Garten arbeiten. Und diese Blumen repräsentieren den Frühling, die Jahreszeit ewiger Hoffnung.«

»Danke, Daddy!« Mattie stand auf, um ihn fest zu umarmen.

»Mach sie auf«, drängte Mary Ellen sanft. »Ich habe auch etwas für dich hineingetan.«

Mattie versuchte den Deckel anzuheben, aber er bewegte sich keinen Millimeter. »Ich glaube, sie klemmt«, meinte sie und drehte sich um, um ihre Eltern anzusehen. »Oder sie ist kaputt.«

»Ach, das hatte ich vergessen«, sagte Mary Ellen. »Siehst du das Schloss? Dazu gibt es einen besonderen Schlüssel – den einzigen auf der ganzen Welt, der dazu passt und den nur du hast. Also musst du ihn gut an einem geheimen Ort aufbewahren, okay?«

»Und wo ist er?«, fragte Mattie.

»Würdest du mir helfen?«, wandte sich Mary Ellen an ihren Mann.

»Ich weiß auch nicht, wo der Schlüssel ist«, entgegnete Joseph.

»An dem Ort, an dem jeder zu allerletzt danach suchen würde.« Sie nahm ein Ende der Truhe und bedeutete ihrem Mann, das andere Ende zu nehmen. Die beiden kippten die Truhe hoch – und an der Unterseite klebte der Schlüssel. »Direkt vor der Nase.«

Mattie kicherte.

»Nimm ihn, Schätzchen«, forderte Mary Ellen sie auf.

Mattie nahm den Schlüssel, ihre Eltern ließen die Truhe wieder zu Boden, und dann steckte Mattie den Schlüssel vorsichtig in das alte Schloss.

Als sie den Deckel öffnete, fragte sie: »Was ist das für ein Geruch? Es ist, als wären wir im Wald.«

»Das ist Zedernholz«, antwortete Mary Ellen. »Der Geruch geht niemals ganz weg. Sie riecht noch genauso wie damals, als ich ein kleines Mädchen war. Diesen Geruch wirst du nie vergessen. Hast du schon etwas darin gefunden?«

Mattie beugte sich über die tiefe Truhe. Ihr Deckel hatte eine ausgekleidete Schublade mit Fächern, die über die gesamte Breite ging. Auf dem Boden lag ein einzelner Gegenstand: eine hölzerne Tafel.

Vorsichtig hob Mattie sie heraus.

»Es ist eine Spruchtafel für dein zukünftiges Heim«, sagte Mary Ellen. »Ich habe das Gedicht darauf nur für dich geschrieben, und dein Vater hat es in die Tafel geschnitzt.«

Mary Ellen nahm sie ihrer Tochter aus den Händen und hielt die Tafel hoch, damit Mattie sie lesen konnte.

Hoffnung und Heim liegen nah beieinander,

Erfüllt sich Hoffnung,

wird daraus Liebe.

Erfüllt sich Liebe,

wird daraus Familie.

Erfüllt Familie ein Haus mit Erinnerung,

dann wird aus einem Haus ein Heim.

Während Mattie las, wurden Mary Ellens Augen feucht, und Joseph legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter.

»Und, siehst du«, fuhr Mary Ellen mit zitternder Stimme fort, »auf der anderen Seite der Tafel hat dein Vater das Wort ›Heim‹ eingraviert und deinen Namen vom M ausgehend nach unten.«

»Danke, Mommy!«, sagte Mattie. »Ich finde die Truhe großartig! Wann können wir damit anfangen, sie zu füllen?«

»Wir haben alle Zeit der Welt, mein Engel«, antwortete Mary Ellen, während sie die Tafel wieder zurück in die Truhe legte. »Sie wird überquellen, bis du den Mann deiner Träume triffst und dein erstes kleines Mädchen bekommst.«

Mary Ellen hielt inne und zog ihre Tochter eng an sich. »Soll ich dir etwas Wichtiges sagen?«

»Natürlich!«, nickte Mattie.

»Denk immer daran, dass Hoffnung etwas ist, das du für immer mit dir trägst, nicht nur in dieser Truhe, sondern auch in deinem Herzen. Also schau in die Truhe und in dich selbst hinein, wenn du Hoffnung am nötigsten brauchst.«

Mattie sah ihre Mutter an und dachte über deren Worte nach. Dann nickte sie und ließ den Schlüssel in ihr Osterkörbchen fallen, bevor sie wieder hineinlangte und ein kleines Schokoladenei herausnahm. Sie wickelte die Süßigkeit aus und steckte sie in den Mund.

»Okay!«, sagte sie. »Aber ich glaube nicht, dass es je eine Zeit geben wird, wo ich traurig bin. Ich hab haufenweise Hoffnung!«

Mattie steckte sich noch ein weiteres Stück Schokolade in den Mund, umarmte ihre Eltern und hüpfte mit ihrem Osterkörbchen aus dem Zimmer.

»See you later, alligator!«, kicherte sie. Dabei hinterließ sie fünf Schokoladenfingerabdrücke an der Innenseite des weißen Türrahmens, direkt unter den Bleistiftstrichen, die ihre zunehmende Größe markierten.

 

»Das hier hätten wir beinahe vergessen!«

Die Rufe der Möbelpacker ließen Mattie aufschrecken.

»Wir haben es auf dem Dachboden gefunden«, sagte einer der Männer. »Was ist das für ein altes Ding?«

Mattie hörte einen dumpfen Laut, als sie es hinter ihr abstellten. Sie drehte ihren Rollstuhl herum, um zu sehen, was sie entdeckt hatten. Ihr blieb fast das Herz stehen.

»Das ist meine Hoffnung»–«, keuchte Mattie mit erstickter Stimme, doch bevor sie das Wort vervollständigen konnte, versuchten die jungen Möbelpacker bereits, die Truhe zu öffnen.

»Das Ding klemmt«, sagte einer von ihnen. Er wandte sich zu Mattie. »Tut mir leid.«

Mattie lächelte. »Schlüssel«, sagte sie. »Untendrunter geklebt.«

Als die Möbelpacker die Truhe ein wenig anhoben, schimmerte ein alter Schlüssel im Sonnenlicht.

»Na, ich fass es nicht«, stieß einer der Männer hervor. »Ziemlich clever. Da hätte ich nie nachgesehen.«

Er nahm den Schlüssel, steckte ihn ins Schloss und öffnete die Truhe.

»Wow«, staunte der andere, bevor er vor die Truhe trat, die vor Familienerbstücken überquoll. »Riecht großartig. Was ist das alles für Zeug?«

Sofort füllten sich Matties Augen mit Tränen, als sie den Inhalt betrachtete: eine Stoffpuppe, Familienfotos, Porzellan, Weihnachtsbaumschmuck, eine Bibel, ein Erinnerungsalbum und eine selbstgenähte Küchenschürze.

Einer der Möbelpacker sah Matties Tränen und lächelte sie an.

»Muss wohl für Ihre Enkelkinder sein, was?«, fragte er.

»Gut, dass wir sie gefunden haben.«

»Bitte, stellen Sie die Truhe hinten in unseren Van«, sagte Don leise von der Eingangstür her, bevor er herüberkam, um den Schlüssel zu nehmen und seiner Frau zuzuflüstern: »Schatz, ist alles in Ordnung?«

»Wie konnte ich das nur vergessen?«, fragte sie mit schwacher, bebender Stimme.

»Sie war auf dem Dachboden«, antwortete Don. »Da war sie schon lange Zeit.«

»Das hätte ich mir nie verziehen«, sagte Mattie.

Der Duft nach Zedern breitete sich über die Veranda aus.

»Können wir jetzt gehen? Bitte«, flehte sie.

»Natürlich.« Sanft küsste Don Mattie auf die Wange, dann legte er ihr die Hand unters Kinn und sah seiner Frau in die Augen. »Ich liebe dich.«

»Ich dich auch«, antwortete sie. »Zeit zu gehen.«

»Hier.« Don legte ihr den Schlüssel in die Hände. »Als Glücksbringer. Um dich daran zu erinnern, dass Erinnerungen sich niemals wegschließen lassen.«

Mattie versuchte zu lächeln, doch es gelang ihr nicht. Stattdessen lenkte sie ihren Rollstuhl aus dem Haus, die Rampe hinunter und zum Van, während sie innerlich schrie.

Ich sage allem Lebewohl. Meiner Familie. Meiner Geschichte.

Sie hielt inne.

Meinem Leben.

Mattie kniff fest die Augen zu, bis ihr Rollstuhl hochgehoben und gesichert war und sie den Kies der langen Auffahrt unter den Reifen des Vans knirschen hörte.

Sie versuchte ihre Augen geschlossen zu halten, aber sie konnte nicht anders, sie öffnete sie im letzten Moment, gerade rechtzeitig, um das geschnitzte, hölzerne Schild zu sehen, das an einem langen Holzbalken zwischen zwei steinernen Säulen in der Brise schwang und das Besuchern viele Jahre lang den Namen des Familienhäuschens verkündet hatte – Hope Dunes.

Mattie schloss die Augen wieder und rieb den Schlüssel zwischen den Fingern, aber sie konnte den Geruch nach Zedern nicht ausblenden, der von der Truhe ausging, oder die Tatsache, dass das Einzige, was noch schlimmer war, als sich an eine einst hoffnungsvolle Zeit zu erinnern, das Gefühl war, in einer Zeit zu leben, in der es keine Hoffnung mehr gab.

1. TeilDie Stoffpuppe

1

Mai 2016

Rose Hoffs beugte sich näher zu ihrem Badezimmerspiegel und drückte gegen die Tränensäcke unter ihren Augen. Mit einem Seufzen griff sie nach mehr Feuchtigkeitscreme und dann nach ihrer Foundation.

Mehr Wasser, mehr Schlaf, mehr Sport, mehr … alles, dachte sie. Ich bin sechsundzwanzig und fühle mich wie hundertsieben.

Rose genehmigte sich einen tiefen Atemzug und einen noch größeren Schluck Kaffee und fuhr damit fort, sich »ihr Gesicht aufzumalen«, wie ihre Mom immer gesagt hatte. Ihre Nase zuckte instinktiv, wie die eines Hasen, als sie schnuppernd die Luft einatmete.

Frühling. Die Stadt ist wieder lebendig!

Es war ein wunderschöner Tag in Saugatuck, Michigan, und die Fenster von Rose’ winzigem Häuschen mit fünf kleinen Zimmern waren offen und ließen die warme Luft herein, auf die alle in den endlosen Wintern so lange warteten. Mit dem Wind wehte der Duft von Blaubeermuffins, Zimtscones und gerösteten Kaffeebohnen vom Lake-Effect-Coffeeshop ein paar Blocks entfernt herein.

Ihr Häuschen in der Butler Street lag versetzt hinter einer Reihe größerer Ferienhäuser, beinahe wie ein Kutschenhaus. Doch es war keines. Das Haus war eine der ursprünglichen Fischerkaten der Stadt – mit einem winzigen Stück Land darum herum, gerade groß genug für ein paar Rhododendronbüsche und ein paar Fahrräder. Ihre Familie hätte sich nie träumen lassen, dass eines Tages scharenweise Sommerfrischler in die kleine Künstlerkolonie in den Dünen des Michigansees einfallen, jedes verfügbare Fleckchen Land aufkaufen und Häuser bauen würden, die immer höher hinausstrebten, um malerische Ausblicke auf den Fluss und den See zu erhaschen.

Tatsächlich war das Haus der Hoffs’ in der Stadt als das Oben-Haus bekannt geworden (ob der Spitzname sarkastisch oder liebevoll gemeint war, hing davon ab, mit wem man sprach und wie viel Kapital er besaß), weil ihr reizendes kleines Häuschen mitten in der Gentrifizierungszone lag, genau wie das Haus des alten Witwers im Disney-Film.

Der Film war in die Kinos gekommen, kurz bevor Rose’ Mutter Dora starb, und sie hatte den Film und den Spitznamen geliebt.

»Oben«, hatte sie lachend jedes Mal gesagt, wenn sich das Zeichentrickhaus dank der Hunderte mit Helium gefüllten Ballons in die Luft erhob. »Unser Haus ist wie das in Oben: voller Hoffnung und Abenteuer.«

Wieder wehte der Wind den Duft nach frisch gebackenen Köstlichkeiten herein. Rose lief das Wasser im Mund zusammen.

Das sind definitiv Blaubeermuffins, dachte sie und fragte sich, wie viele Blaubeeren ihre Eltern Dora und Dave wohl im Laufe ihres Lebens an ihrem kleinen Marktstand am Blue Star Highway verkauft hatten.

Wir könnten uns heute nicht mehr leisten, dieses Haus zu kaufen. Ich könnte mir nicht einmal mehr leisten, ihren Stand aufrechtzuerhalten. Ich kann kaum meine Steuern zahlen.

Rose’ Gedanken schweiften ab zu all den Urlaubern, die um das Hoffs-Haus herum Land besaßen, und an ihre Angebote, das Haus und das Grundstück zu kaufen.

Wie lange werde ich noch durchhalten können?, fragte sie sich. Meine Mutter würde es mir nie verzeihen, wenn ich das Haus verliere. Ich brauche diesen Job.

Rose schüttelte den Kopf und griff nach ihrem Lippenstift.

»Was ist mit dem hier, Mommy?«

Rose schaute hinüber zu ihrer Tochter Jeri, die auf einem gepolsterten Stuhl vor dem Schminktisch saß und fröhlich einen Lippenstift hochhielt. In den paar Minuten, in denen Rose geistig abwesend gewesen war, hatte ihre siebenjährige Tochter sich das ganze Gesicht in ihrer Lieblingsfarbe Pink angemalt. Sie sah aus wie eine der Doodlebops aus der Zeichentrickserie, die sie so gern anschaute.

»Wie Deedee Doodle«, lächelte Rose trotz Jeris ungezogenen Verhaltens. Deedee war eines der bunt angemalten Mitglieder der Kinderband, die Kindern Lektionen in gutem Benehmen erteilten.

»Ja!«, kicherte Jeri. »Besser als einer der Jungs.« Sie verstummte und sah ihre Mom mit ernster Miene an. »Warum heiße ich eigentlich wie ein Junge? Alle Kinder in Mrs Hoopers Klasse haben sich dieses Jahr über meinen Namen lustig gemacht. Ich bin froh, dass endlich Ferien sind!«

»Nun«, setzte Rose an. Sie hatte immer schon Schwierigkeiten damit gehabt, ihrer Tochter diesen Umstand zu erklären.

Soll ich ihr sagen, dass ihr Vater sich einen Jungen gewünscht hat? Und dass er von einem Mädchen enttäuscht war? Und von mir? Und von so ziemlich allem in seinem Leben? Und dass ihr Name ein Kompromiss war, um ihn bei Laune zu halten?

»Wir wollten einen Namen, der so einzigartig ist wie du«, sagte Rose. Sie streckte die Hand aus und verwuschelte Jeri die roten Locken. »Keine Sorge. Du gewöhnst dich daran. Es war auch nicht leicht, nach einer dornigen Blume benannt zu sein.«

Rose machte einen Waschlappen nass und beugte sich hinunter, um ihr das Gesicht zu waschen.

Das wird nicht reichen, dachte sie, dann nahm sie etwas Make-up-Entferner und ein paar Wattepads. Während sie Jeris pinkfarbene runde Wangen schrubbte, meinte ihre Tochter: »Eine Rose ist schön, Mommy. Genau wie du.«

Rose’ Unterlippe zitterte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Du bist so lieb. Danke. Du bringst mich noch zum Weinen.«

»Nicht weinen, Mommy«, sagte Jeri. »Heute ist ein sehr großer Tag.«

Rose nickte, während sie ihrer Tochter das Gesicht fertigschrubbte. »Ja, das stimmt«, pflichtete sie ihr bei.

Als sie gerade ihren Lippenstift auflegte, stellte Jeri eine weitere Frage.

»Bist du nervös?«

Rose hielt mitten in der Bewegung inne, den Lippenstift erhoben, als dirigiere sie ein unsichtbares Orchester. Wieder bebte ihr Mund.

»Ja«, gestand sie. »Es ist ein sehr wichtiges Vorstellungsgespräch für mich … für uns.«

»Warte hier.« Jeri hüpfte von dem kleinen Stuhl am Schminktisch, und Rose konnte die Schritte ihrer nackten Füße in ihrem Schlafzimmer hören. Ein paar Sekunden später war ihre Tochter zurück. Sie versteckte etwas in ihren winzigen Händchen hinter dem Rücken.

Ein breites Lächeln brach auf Jeris Gesicht aus.

»Da!«, sagte sie voller Überzeugung und reichte ihrer Mom ihre Lieblingspuppe – eine arg mitgenommene, weitervererbte Raggedy-Ann-Stoffpuppe. »Sie hat geschlafen, aber ich hab sie aufgeweckt. Ich glaube, du brauchst sie heute mehr als ich.«

Rose lächelte, und ohne nachzudenken, umarmte sie Jeri und die Stoffpuppe fest.

»Danke, Herzchen«, sagte sie.

»Ich möchte, dass du Ann mitnimmst auf dein … Wie heißt das noch mal?«, fragte Jeri.

»Vorstellungsgespräch«, antwortete Rose.

»Ja, Verstellungsgespräch«, sagte Jeri. »Sie wird dir Gesellschaft leisten.«

Rose lächelte ihre Tochter an und fühlte sich einen Sekundenbruchteil lang gelassen, bevor ihre Nervosität wieder einsetzte.

Ich habe keine Familie oder Freunde, die heute auf Jeri aufpassen könnten, dachte sie, und kein Geld für einen Babysitter. Ich bin eine schlechte Mutter.

»Denk dran, du wirst im Auto auf Ann aufpassen müssen, während ich für ein paar Minuten mit den netten Leuten rede, okay?«, sagte sie zu ihrer Tochter. »Du wirst heute ein sehr großes Mädchen sein müssen.«

»Das werde ich! Versprochen!«, antwortete Jeri. »Und du wirst heute auch ein großes Mädchen sein müssen!«

Rose lächelte und drückte erneut die Puppe an sich, die nach ihrer Tochter roch.

Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der Ann nicht Teil meines Lebens war.

»Ich verspreche, dass ich auch ein großes Mädchen sein werde«, sagte Rose. »Aber jetzt muss ich etwas zum Anziehen für große Mädchen finden. Wir müssen uns beeilen.«

Rasch liefen Rose und Jeri hinüber zum Schrank, wo Rose anfing, ihre Kleider durchzusehen und dabei Hosen, Blazer und Blusen auf ihr Bett zu werfen.

Jeris Worte – Du wirst heute auch ein großes Mädchen sein müssen – hallten in Rose’ Kopf nach, während sie versuchte, etwas auszusuchen, das sie anziehen sollte.

Warum fühle ich mich immer noch so wie ein kleines Mädchen?, dachte sie, die rothaarige Puppe, die ihr und ihrer Tochter so ähnlich sah, immer noch an sich gedrückt.

2

Februar 2011

Rose betrachtete ihre schlafende Tochter, die ihren pummeligen Babykörper an die geliebte Puppe schmiegte.

Im Schlaf nuckelte sie unbewusst an der Hand der Stoffpuppe, etwas, das Rose als kleines Kind mit genau dieser Puppe auch gemacht hatte, wie ihre Mutter ihr erzählt hatte.

Rose streckte die Hand aus, um die daunenweichen rötlichen Locken zu streicheln, die wie kleine Wellen über den Kopf ihrer Tochter fielen, hielt sich jedoch im letzten Moment zurück, ließ den Kopf sinken und weinte.

Ich habe alles. Und ich habe nichts.

Innerhalb von zwei kurzen Jahren hatte sich Rose’ Leben völlig auf den Kopf gestellt. Sie hatte die Schule verlassen, ihren Freund geheiratet, war schwanger geworden, hatte sich scheiden lassen, ein Baby bekommen und ihre Mutter verloren.

In der Ferne läuteten die Glocken der benachbarten Kirche, und Rose musste an den Tag denken, an dem sie Ray Rhodes geheiratet hatte.

»Ich höre heute keine fröhlichen Hochzeitsglocken läuten«, hatte ihre Mutter am Tag von Rose’ Hochzeit gesagt. »Ich höre nur Alarmglocken.«

Sie hat natürlich recht gehabt, dachte Rose. Mit allem. Die Kirchenglocken hallten durch ihr winziges Zuhause und ließen das alte, wellige Glas in den Fensterrahmen des Hauses, in dem sie aufgewachsen war, vibrieren. Sie sah sich im Kinderzimmer um, das einst ihr eigenes Kinderzimmer gewesen war, und betrachtete die winzigen gelben Entchen, die fröhlich in Gummistiefeln auf der Bordüre entlangmarschierten, die die Wände des Zimmers säumte.

Fröhlich, dachte Rose, während sie auf die lächelnden Schnäbel starrte. Was ist das?

Sie wippte mit ihrem Schaukelstuhl nach vorn und wand vorsichtig die Raggedy-Ann-Puppe unter dem Körper ihrer Tochter hervor.

Ich muss aussehen wie der Grinch, als er den Kindern von Whoville alle Weihnachtsgeschenke gestohlen hat. Sie stibitzte die Puppe aus der Wiege, ohne Jeri aufzuwecken.

Rose schlang die Arme um die winzige Puppe und drückte sie an sich. Raggedy Ann war durch Jahre des Spielens und Waschens verblasst, das Rot ihrer dreieckigen Nase, der Haare aus Wollfäden, des karierten Oberteils und der gestreiften Beine nun eher rosa.

»Das Leben dreht uns ganz schön durch die Mangel, was?«, flüsterte Rose der Puppe zu. Mit ein wenig Nachhilfe von Rose nickte Raggedy Ann zustimmend mit dem Kopf.

Rose sah der Puppe in die Augen. Ann hatte zwei unterschiedliche Knopfaugen, eins war der ursprüngliche schwarze Plastikkreis, das andere ein kleiner blauer Knopf von …

Ein Schluchzen stieg tief aus Rose’ Innern auf, und sie schlug sich die Hand vor den Mund, um Jeri nicht aufzuwecken.

O Mom. Du fehlst mir.

Ich hasse Krebs, sagte sie in Gedanken zu der Puppe, die ihr ursprüngliches Auge eingebüßt hatte, als Rose es – von Kummer überwältigt – während der Krankheit ihrer Mutter nervös abgedreht und verloren hatte. Sie hatte den neuen Knopf von der Rückseite des blauen Osterkleids ihrer Mutter abgetrennt, als sie es für die Beerdigung ausgesucht hatte, und ihn der Puppe angenäht, um einen Teil ihrer Mutter für immer bei sich zu behalten.

Krebs hat mir meine Eltern und Jeri ihre Großeltern genommen. Ich bin zu jung, um keine Familie mehr zu haben.

»Ich liebe Blau!«, hatte ihre Mutter jedes Ostern fröhlich erklärt, wenn sie zu der steinernen Kirche auf dem Hügel in Saugatuck gegangen waren, ob bei Regen, Schnee oder Sonnenschein. »Blauer Frühlingshimmel, Blaumeisen, blühende Glockenblumen und blaue Schlumpfeiscreme. Blauer Himmel voraus!«

Rose lachte stets über den Optimismus ihrer Mutter, denn das Osterwetter in Michigan war bestenfalls fragwürdig. Aber ganz egal, wie das Wetter war, ihre Mutter gab ihr das Gefühl, sicher, glücklich und voller Hoffnung zu sein.

»Ich habe keine Zukunft ohne dich, Mom«, sagte Rose zu Dora in deren letzten Tagen, als ihre Mutter nichts anderes mehr tun wollte, als ihre neugeborene Enkeltochter im Arm zu halten und zu schlafen.

»Nein«, antwortete Dora eines Morgens, bevor sie in ein Koma fiel, aus dem sie nicht wieder erwachen sollte. »Du hast einfach nur keinen Plan B mehr.«

An jenem Morgen klopfte Dora auf die Kante des Krankenhausbettes, damit ihre Tochter herkam und sich zu ihr setzte. »Du bist so eine wunderbare Mutter und Tochter. Und du kümmerst dich so großartig um mich. Du bist weder hilflos noch hoffnungslos. Du hast einfach nur Angst.«

Mit Eindringlichkeit fuhr sie fort: »Nimm etwas von meiner Kraft, um weiterzukommen, und etwas von der Kraft deiner Tochter. Du solltest Krankenschwester werden. Das ist deine Berufung. Geh wieder zur Schule.«

Dora hielt inne und küsste Jeri auf den Kopf. »Und vergiss nie«, sagte sie mit zitternder Stimme, »dass die Welt immer voller Hoffnung und Möglichkeiten ist, einfach nur, weil dieser kostbare Engel nun in ihr ist.«

Der Februarwind rüttelte an den Fensterrahmen und riss Rose aus ihren Gedanken. Sie schaute nach draußen. Es war zehn Uhr vormittags, aber es hätte genauso gut Mitternacht sein können: Der Himmel über Saugatuck war schwarz, und der für die Gegend um den Michigansee typische Lake-Effect-Schnee kam in heftigen Schüben jede halbe Stunde herunter. Im Moment konnte Rose nicht einmal die Silhouette eines Baumes im Garten der Nachbarn erkennen. Das kleine Häuschen ächzte im Sturm.

Rose erschauderte. Es war ein Tag genau wie dieser gewesen, als sie aus diesem Haus ausgezogen war.

»Du wirst dieses Ding doch nicht etwa mitnehmen, oder?«, hatte Ray Rhodes seine frisch angetraute Ehefrau gefragt, während diese die Puppe an ihren schwangeren Bauch gedrückt und zu ihrer Mutter hinübergesehen hatte. »Wir haben nur eine winzige Wohnung.«

»Und ob sie die Puppe mitnimmt«, hatte Dora erwidert. »Sie hat mir gehört, als ich ein kleines Mädchen war, dann Rose, als die ein kleines Mädchen war, und eines Tages wird sie eurem kleinen Mädchen gehören.«

»Puppen«, hatte Ray verächtlich geschnaubt. »Mädchen.«

»Mom«, sagte Rose beschwichtigend. »Bitte. Nicht.«

»Ich bezahle für diese Wohnung.« Doras Worte waren so eisig wie das Winterwetter, das draußen tobte. »Ich denke, darin wird Platz für die Puppe und drei Mädchen sein, du etwa nicht? Wenn man bedenkt, dass ich ständig dort sein werde.«

Wütend stürmte Ray aus dem Haus der Hoffs und hinein in den wirbelnden Schnee draußen.

Warum wollte ich nicht hören, dachte Rose. Warum habe ich geglaubt, er würde sich ändern? Ray und Rose Rhodes. Ich glaubte, wir würden perfekt zusammenpassen. Warum war ich so eine Idiotin?

Wieder erschauderte Rose und bemerkte, dass sie immer noch im Kinderzimmer ihrer Tochter saß. Sie stand auf und warf einen prüfenden Blick auf das Thermometer.

Sechzehn Grad. Und dabei lief die Heizung ununterbrochen.

Kurz überlegte Rose, sie eine Stufe hochzudrehen, tat es jedoch nicht, als sie an all die fälligen Rechnungen dachte.

Ray würde uns nicht helfen, dachte sie, selbst wenn ich wüsste, wo er steckt und er etwas Geld übrig hätte.

Rose war froh, das Haus ihrer Mutter zu haben – und dass sie nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen angenommen hatte. Doch jetzt brauchte sie einen Job, um die restliche Hypothek, die Nebenkosten und Steuern zu zahlen. Das kleine Erbe ihrer Eltern schmolz bereits dahin.

Ich habe ein Kind. Ich kann nicht einfach wieder zur Schule gehen. Ich brauche ein Einkommen.

Jeri begann sich zu regen, und Rose ging zurück ins Kinderzimmer, nahm eine Decke und warf sie sich über die Schultern, immer noch die Puppe im Arm.

Draußen vor dem Fenster erschien ein schmaler Streifen blauen Himmels – eine Eigenart der Lake-Effect-Schneemaschinerie. Es konnte ein regelrechter Schneesturm toben und trotzdem sonnig sein.

Mom? Versuchst du mir etwas zu sagen?

Rose ging hinüber zu einer alten Kommode mit vielen Schubladen. Die Farbe blätterte bereits ab, und die Oberfläche war vollgepackt mit einer Mischung aus Rose’ Vergangenheit und Gegenwart: Highschool-Trophäen und Schleifen verstreut zwischen Fläschchen und Saugern.

Rose’ Schleifen waren allesamt »lobende Erwähnungen« oder Ehrungen für den Team-Manager. Auf einer Trophäe vom Basketballteam stand »Bester sechster Spieler«, während eine andere vom Hauswirtschaftsclub lautete: »Sie gibt immer ihr Bestes.«

Rose öffnete eine quietschende Schublade der Kommode und wühlte durch einen Stapel Babykleidung, auf der Suche nach einem Buch. Als sie stattdessen das Jahrbuch ihres Abschlussjahres hervorzog, schnappte sie überrascht nach Luft. Sie öffnete es und begann zu lesen, was ihre Freunde hineingeschrieben hatten: »Für das netteste Mädchen aller Zeiten«, »Du warst immer für mich da«, »Für das liebste Mädchen der Schule«.

Rose blätterte durch das Jahrbuch und stoppte bei dem Abschnitt, in dem die Schüler der Abschlussklasse für bestimmte Kategorien vorgeschlagen wurden. Da war ein Farbfoto von Rose, auf dem sie lächelnd den Stamm einer Kiefer umarmte. Die Sonne schien durch ihr rotes Haar und ließ es aussehen, als stünde es in Flammen.

»Wer dich am wahrscheinlichsten umarmt, wenn du es nötig hast: Rose Hoffs«, lautete ihre Kategorie.

Rose zuckte mit den Schultern.

Was hat mir Nettsein schon je eingebracht?

Erneut wühlte sie in der Schublade und zog ein weiteres Buch heraus.

Ah, da ist es ja. Die Abenteuer von Raggedy Ann von Johnny Gruelle.

Lächelnd schlug Rose das Buch auf. Ihre Mutter hatte es ihr immer vorgelesen, als sie noch klein gewesen war. Rose blätterte zum Vorwort. Die vergilbte Seite hatte immer noch ein Eselsohr, und Rose drückte ihre Puppe noch fester an sich.

»Welche Lektionen der Güte und Stärke du doch lehren könntest, könntest du nur sprechen … Kein Wunder, dass Lumpenpüppchen am meisten geliebt werden! … Je zerrissener, verschlissener und ramponierter ihr werdet, Lumpenpüppchen, desto mehr werdet ihr von Kindern geliebt.«

Rose lächelte, als ihre Tochter leise zu gurren anfing.

Ich bin eine lebende Raggedy Ann, dachte sie, während sie erst auf die kleine Puppe und dann auf ihr kleines Mädchen hinunterschaute.

Sie ging hinüber und nahm ihr aufwachendes Baby in die Arme, und Jeri umklammerte die Arme der kleinen Puppe, bevor sie beinahe sofort wieder einschlief.

Rose setzte sich in ihren Schaukelstuhl und sah Jeri beim Schlafen zu. Ein Sonnenstrahl durchdrang die Dunkelheit und erleuchtete die rosigen Wangen ihrer Tochter und der Puppe.

Blauer Himmel voraus, dachte Rose, während sie sich an ihre Mom erinnerte, an ihr Osterkleid, an Raggedy Ann und daran, dass die einfachsten Augenblicke oft die schönsten sind.

Zärtlich küsste sie ihre Tochter auf den Scheitel. Vielleicht zeigt sich ein Hoffnungsschimmer am Horizont, wenn man es am wenigsten erwartet.

3

Rose hielt vor dem Eingang der River Bend Estates. Ein gewaltiges Metalltor – mit endlosen Schnörkeln verziert, um es freundlich statt imposant wirken zu lassen – hielt Besucher auf.

»Das sieht unheimlich aus«, sagte Jeri.

Rose warf einen Blick zu ihrer Tochter hinüber, die nervös ihre Puppe umklammerte.

»Das ist nicht unheimlich, Süße«, erwiderte sie. Sie tippte den Code ein, den ihr der Inhaber von Nirgends besser als Daheim gegeben hatte, der Seniorenbetreuung, für die sie seit einigen Jahren in Teilzeit arbeitete. »Das ist nur wie eine größere Version unserer Haustür.«

»Oh.« Unvermittelt lächelte Jeri. »Es ist gar nicht unheimlich, Ann«, sagte sie zu ihrer Puppe. »Es ist wie unsere Haustür.«

Als sich die Tore öffneten, fühlte sich Rose sofort ebenso ängstlich und unsicher wie ihre Tochter.

Ich brauche das hier, dachte sie, während sie noch einen prüfenden Blick auf ihr Aussehen im Spiegel warf. Vermassle es nicht.

River Bend Estates lag etwa fünf Meilen landeinwärts vom Michigansee und den beiden aneinandergrenzenden kleinen Ferienörtchen Saugatuck und Douglas. Die Siedlung befand sich auf einer Klippe über dem Fluss und der Marsch, die in den See mündeten. Sie war in zwei Teile geteilt: Die rechte Hälfte bestand aus großen Anwesen, wohingegen sich die linke Hälfte aus kleineren freistehenden Häusern und Reihenhäuschen zusammensetzte, manche weitläufig und einstöckig, manche hoch aufragend und zweistöckig.

Rose schaute auf die Karten-App auf ihrem Handy und bog rechts ab.

Da ist es! 331 River Bend.

»Wow«, staunte Jeri, als Rose den Wagen parkte. »Das ist aber hübsch! Und so groß wie ein Schloss! Ich bin froh, dass ich mein besonderes Kleid anhabe.«

Rose lächelte ihre Tochter an. Sie hatte angeboten, ein glitzerndes rosa Prinzessinnenkleid zu tragen, als Glücksbringer für ihre Mutter. »Es ist wirklich groß«, stimmte Rose ihr zu.

Das Haus der Tice’ war ein weitläufiges einstöckiges Gebäude mit einem beeindruckenden, mit Naturstein verblendeten Eingang und breiten Fenstern. Ein endloses Aufgebot an Topfpflanzen und Blumen füllte den Rasen vor dem Haus, jede davon belegte einen besonderen Platz, als warte sie geduldig darauf, wieder nach Hause zurückzukehren.

Rose atmete tief durch und nahm eine Mappe, die in der Seitentasche der Autotür steckte. Sie war voll mit Informationen und Formularen über das Ehepaar Tice.

ALS. Wie schrecklich, dachte Rose.

Mr Baker, der Inhaber von Nirgends besser als Daheim, hatte ihr gesagt, seinem Bauchgefühl nach könnte sie dafür die Richtige sein.

»Sie brauchen jemanden, der jung und stark ist«, hatte er gesagt. »Jemand Nettes. Die beiden sind ein sehr reizendes Paar. Außerdem brauchen sie jemanden, der ausgeglichen, aber voller Leben ist. Ich denke, Sie sind bereit dafür. Sie kommen so gut mit unseren Patienten und den anderen Pflegekräften zurecht. Ihre Ausbildung in der Kranken- und Altenpflege ist ideal.« Er hatte mehr Vertrauen in Rose als sie selbst.

Sie schloss die Augen und erinnerte sich an das Letzte, was Mr Baker zu ihr gesagt hatte.

»Allerdings tut es mir leid, sagen zu müssen, dass es wohl keine sehr langfristige Anstellung werden wird.«

Rose löste ihren Sicherheitsgurt, beugte sich nach hinten zum Rücksitz und nahm ein Kinderbuch, eine Schachtel Buntstifte und ein Malbuch und legte sie auf die Mittelkonsole. Dann zog sie ihren alten iPod aus dem Handschuhfach und wickelte die Ohrhörer ab.

»Versprich mir, dass du und Ann nicht aus dem Auto steigt, bis ich wieder zurückkomme, okay?« Rose kurbelte die Fenster herunter und sah ihre Tochter an.

»Versprochen«, antwortete Jeri, die bereits nach dem Malbuch griff. »Wie lange wirst du weg sein?«

»Ich bin wieder da, bevor du überhaupt richtig angefangen hast, dir Frozen anzuhören«, antwortete Rose und hielt ihrer Tochter den iPod hin. »Wünsch mir Glück.«

»Viel Glück«, sagte Jeri und hob den Arm der Puppe, damit ihre Mutter ihr ein High-five geben konnte.

Vom Wohnzimmerfenster aus beobachtete Mattie, wie eine junge, rothaarige Frau in einem rostigen Auto einem kleinen Mädchen und einer Puppe, die genauso aussahen wie sie, einen Kuss gab.

Rose stieg aus dem Wagen und ging den gewundenen Steinweg entlang, dabei blieb sie kurz stehen, um den Anblick der Bäume zu bewundern: eine kleine Birke, ein Judasbaumschössling, ein Hartriegel und ein Zedernbäumchen.

»Gärtnern Sie gern?«

Beim Klang der Männerstimme zuckte Rose zusammen.

»Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe«, sagte der Mann und kam aus der Garage. »Don. Don Tice.«

»Rose Hoffs. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.«

Don lächelte Rose herzlich an.

»Und ich gärtnere wirklich gern«, fuhr sie fort. »Allerdings habe ich nicht wirklich die Zeit oder den Platz dafür.«

»Michigan ist der Himmel für Gärtner, nicht wahr? Alles wächst wie verrückt. Gärtnern war Matties Leidenschaft.« Unvermittelt verwandelte sich Dons Lächeln in ein Stirnrunzeln, als er seinen Fehler bemerkte. »Ist ihre Leidenschaft. Ich versuche jetzt einfach, es für sie zu übernehmen. Es macht sie glücklich.«

Don bedeutete Rose, ihm zu folgen, und führte sie ums Haus herum und durch eine weiße Laube in den Garten dahinter.

»Du meine Güte. Wie schön!« Rose’ Blick ging in die Weite über den Garten hinaus zu dem sich windenden Fluss und den Marschen, wo ein blauer Reiher mit hohem Schritt auf der Suche nach Fisch durchs Wasser stakte.

»Ja, das ist es, aber es ist nicht Hope Dunes«, erwiderte Don. »Das ist Matties Häuschen am See. Wir lassen es verkaufen, und sie vermisst es schrecklich. Das Cottage war schon immer in ihrer Familie. Sie hat jetzt mit Depressionen zu kämpfen, weil dieses Haus hier neu ist, und Mattie bevorzugt Dinge mit einer Geschichte.«

Don setzte sich auf einen hübschen gestreiften Sessel auf der mit Ziegeln gepflasterten Terrasse. Rose nahm neben ihm Platz, aber ihre Aufmerksamkeit wurde von einer Rollstuhlrampe an der Terrassentür abgelenkt, und eine weitere kleine Rampe führte in den Garten zu einem hölzernen Labyrinth, das sich durchs Gras wand wie der gelbe Steinweg in Der Zauberer von Oz.

»Mattie kann diese Aluminiumrampen und Wege nicht leiden«, erriet Don ihre Gedanken. »Sie wollte, dass ihre Behinderung sich in die Landschaft einfügt. Sie hat all das entworfen und es mir diktiert. Das war früher ihr Beruf. Sie war eine sehr berühmte Landschaftsarchitektin.«

Rose lächelte und musterte Dons Gesicht. Seine Augen waren rot und verquollen, seine Haut schlaff und von der Farbe von Beton. Es sah aus, als wäre ein Teil seines sommersprossigen Gesichts ausradiert worden. Er wirkte bedrückt.

Ich kann es ihm nachfühlen, dachte Rose.

»Was haben Sie beruflich gemacht?«, fragte sie.

»Ich war leitender Angestellter bei Herman Miller«, sagte er. »Möbel. Mattie und ich lieben die Schönheit und die Bedeutung, die Gegenstände und Pflanzen im Leben von uns allen haben.«

Sofort dachte Rose an die Puppe ihrer Tochter.