Ein dunkler Fleck - Ann Cleeves - E-Book

Ein dunkler Fleck E-Book

Ann Cleeves

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Beschreibung

Ein kleines Städtchen hoch oben im Norden Dicke Schneeflocken fallen auf Newcastle nieder, Weihnachten steht vor der Tür. Detective Ashworths Vorfreude verfliegt jedoch schnell. Auf dem Heimweg sieht er eine alte Dame tot in der Bahn sitzen, ihr Körper weist Messerstiche auf. Und niemand hat etwas gesehen. Zusammen mit seiner Chefin Vera Stanhope macht er sich auf den Weg nach Northumberland in das kleine Städtchen Mardle, wo die Tote lebte. Die Ermittlungen dort stellen sie vor ein Rätsel. Die alte Dame war fromm und bescheiden - wer konnte ein Interesse an ihrem Tod gehabt haben? Als eine zweite Leiche gefunden wird, führen auch hier die Spuren zu der kleinen Pension «Harbour Street». Und deren Gäste schweigen beharrlich. «Eine Kommissarin, die man einfach mögen muss!» (Freundin)

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Seitenzahl: 543

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Ann Cleeves

Ein dunkler Fleck

 

 

Aus dem Englischen von Stefanie Kremer

 

Über dieses Buch

Ein kleines Städtchen hoch oben im Norden

 

Dicke Schneeflocken fallen auf Newcastle nieder, Weihnachten steht vor der Tür. Detective Ashworths Vorfreude verfliegt jedoch schnell. Auf dem Heimweg sieht er eine alte Dame tot in der Bahn sitzen, ihr Körper weist Messerstiche auf. Und niemand hat etwas gesehen.

Zusammen mit seiner Chefin Vera Stanhope macht er sich auf den Weg nach Northumberland in das kleine Städtchen Mardle, wo die Tote lebte. Die Ermittlungen dort stellen sie vor ein Rätsel. Die alte Dame war fromm und bescheiden - wer konnte ein Interesse an ihrem Tod gehabt haben? Als eine zweite Leiche gefunden wird, führen auch hier die Spuren zu der kleinen Pension «Harbour Street». Und deren Gäste schweigen beharrlich.

 

«Eine Kommissarin, die man einfach mögen muss!» (Freundin)

Vita

Ann Cleeves lebt mit ihrer Familie in West Yorkshire und ist Mitglied des «Murder Squad», eines illustren Krimi-Zirkels. Für ihren Kriminalroman «Die Nacht der Raben» erhielt sie den «Duncan Lawrie Dagger Award», die weltweit wichtigste Auszeichnung der Kriminalliteratur. 2017 wurde sie für ihr exzellentes Lebenswerk mit dem «Diamond Dagger» ausgezeichnet. Sowohl die «Vera Stanhope»-Reihe, als auch Cleeves zweite Serie um das Shetland-Quartett, sind verfilmt worden.

 

Stefanie Kremer, geb. 1966 in Düsseldorf, arbeitet freiberuflich als Übersetzerin für Sachbücher und Belletristik aus dem Englischen und Französischen. Sie lebt südlich von München.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel «Harbour Street» bei Macmillan/Pan Macmillan, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH,

Reinbek bei Hamburg

«Harbour Street» Copyright © 2014 by Ann Cleeves

Redaktion Tobias Schumacher-Hernández

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-53781-1

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für Oliver Clarke und Arthur Raynor

Kapitel eins

Joe Ashworth schob sich durchs Gedränge. Es war kurz vor Weihnachten, und die U-Bahnen quollen über vor Leuten, die ihre mit nutzlosen Geschenken vollgestopften Einkaufstüten umklammert hielten. Babys in teuren Kinderwagen schrien, ohne dass sich jemand um sie kümmerte. Ganze Ströme von Menschen, die schon früh am Tag begonnen hatten zu trinken, kamen von ihren Weihnachtsfeiern im Büro, stolperten die Rolltreppen hinunter und in die Waggons. Die Jugendlichen warfen mit Ausdrücken um sich, von denen Joe eigentlich nicht wollte, dass seine Kinder sie hörten. Heute allerdings hatte er keine Alternative zur Metro gehabt. Sal hatte darauf bestanden, dass sie das Auto brauchte.

Er war allein mit seiner Tochter Jessie unterwegs. Sie sang im Schulchor, und in der Kathedrale von Newcastle hatte eine Aufführung stattgefunden. Weihnachtslieder bei Kerzenschein, denn in der Kathedrale war es selbst um vier Uhr nachmittags schon dunkel. Die Kinder hatten so wunderschön gesungen, dass er am liebsten geweint hätte. Vera Stanhope, seine Chefin, meinte ja immer, er sei ein rührseliger Dummkopf. Danach mussten sie durch das Feierabendgetümmel, und dann fing es auch noch an zu schneien, sodass Jessie wieder ganz aufgedreht wurde. Sie hatte ein Solo gesungen, und der Chorleiter hatte sie, weil sie alle Töne getroffen hatte, am Schluss noch einmal namentlich hervorgehoben. Außerdem waren es nur noch wenige Tage bis Heiligabend, auch wenn sie nun schon zu alt war, um an den Weihnachtsmann zu glauben. Aber es schneite. Winzige Flocken wirbelten wie kleine Tornados durch den böigen Wind.

In der U-Bahn hielt er sie an der Hand. Sie mussten stehen. Neben der Tür standen zwei junge Mädchen, kaum älter als Jessie, doch ihre Wangen waren ganz orange vor lauter Schminke und die Augen schwarz vom Kajal und von der Wimperntusche. Dicht an sie gedrängt zwei junge Kerle. Joe beobachtete, was sich zwischen den vieren abspielte, und fand abscheulich, was er sah, das ganze Gegrabsche und Gefummel. Vera hielt ihn auch für prüde. Es hätte ihm ja gar nicht so viel ausgemacht, wenn sie zärtlich und respektvoll miteinander umgegangen wären, aber die Art, wie die Jungs mit den Mädchen redeten, war unangenehm. Sie beleidigten und verhöhnten sie, weil sie so brav aussahen. Joe dachte, dass er die Mädchen gern mal mit aufs Revier nehmen würde, damit Vera ihnen eine flammende Rede über Feminismus halten konnte – über das Recht der Frauen auf Respekt. Bei dem Gedanken musste er lächeln. Er betrachtete die Abzeichen auf den Schulblazern der Mädchen. Von einer Privatschule in der Stadt. Er und Sal hatten schon darüber nachgedacht, ob sie Jessie auf eine Privatschule schicken sollten. Ihre Tochter war ein aufgewecktes Kind, und sie setzten große Hoffnungen in sie. Ganz bestimmt würde sie später studieren. Vielleicht ja an einer altehrwürdigen Universität. Aber als er jetzt sah, wie diese Mädchen eingeschüchtert und demütig zu den Jungs emporlächelten, war er sich, was die teure Schule betraf, nicht mehr so sicher.

Der Zug fuhr in die nächste oberirdische Station ein. Im Licht des Bahnsteigs erkannte er, dass es jetzt sogar noch heftiger schneite als vorhin, die Flocken waren größer geworden und blieben auf den Dächern der Häuser liegen. Eine Frau in langem Mantel stieg zu und setzte sich auf einen gerade frei gewordenen Platz weiter hinten im Waggon. Joe, der diesen Sitz bereits für Jessie ausgespäht hatte, spürte eine unsinnige Abneigung gegen die Frau in sich aufsteigen. Sie hatte silbergraues Haar und war dezent geschminkt, ihr taillierter Mantel berührte fast den Boden. Trotz ihres Alters – sie musste bestimmt schon siebzig sein – umgab sie eine gewisse Eleganz. Er hielt sie für wohlhabend und fragte sich, wieso sie nicht ein Taxi genommen hatte, anstatt sich mit dem gewöhnlichen Volk in die Metro zu quetschen. Beim nächsten Halt drängte sich eine Gruppe Männer in den Waggon. Anzüge und Krawatten, Aktentaschen. Laute Stimmen, die sich über irgendeine Vertriebstagung unterhielten. Mies, wie er mittlerweile gelaunt war, konnte Joe auch sie nicht ausstehen, sie waren ihm zu großspurig. Spielten sich zu sehr auf. An jeder Station stieg eine Flut von Menschen ein und aus, aber Jessie und er standen inzwischen in eine Ecke neben der Tür gezwängt, und alles, was er noch sehen konnte, war der Rücken eines bulligen Mannes, der ein Sweatshirt von Newcastle United trug. Keine Jacke. Ein hartgesottener Fan.

Die Beleuchtung im Waggon flackerte, dann war es einen Augenblick lang vollkommen dunkel. Irgendwo stieß eine junge Frau einen leisen Schrei aus. Die Lichter gingen wieder an, und der Zug fuhr in den nächsten Bahnhof ein. Partington, kurz vor der Endhaltestelle. Auf dem Bahnsteig lag der Schnee fast drei Zentimeter hoch. Joe hoffte, dass Sal schon zu Hause war, die Heizung angestellt und eine Kanne Tee gekocht hatte. Dieses Jahr wollte sie einen richtigen Weihnachtsbaum besorgen. Ihm hätte ein künstlicher Baum genügt – seine Mutter hatte sich nie die Mühe gemacht, einen echten aufzustellen –, aber zu Weihnachten wurde Sal wieder wie ein kleines Kind, sie stürzte sich in die Vorbereitungen und platzte beinahe vor Aufregung. Er stellte sich vor, wie er das Haus betreten und den Duft von Fichtennadeln und einer guten Mahlzeit riechen würde. Wieder wusste er nicht mehr, wie er jemals hatte glauben können, diese Ehe – diese Familie – könnten sein Leben nicht ausfüllen.

Er beschloss, dass sie sich am Bahnhof in Mardle ein Taxi nehmen würden. Sal hatte zwar gesagt, sie werde sie abholen, aber er wollte nicht, dass sie bei diesem Wetter mit dem Auto fuhr. Die lange Strecke bis nach Hause würde mit dem Taxi ein Vermögen kosten, aber das war es ihm wert. Die Türen des Zuges standen noch offen, und er erhaschte einen kurzen Blick auf die Passagiere, die ihm gegenübersaßen, wobei er sah, dass der kalte Wind ein paar Schneeflocken hereingeweht hatte, die im Haar der Reisenden hängen geblieben waren. Für die Aufführung in der Kathedrale hatte er sich schick gemacht, und Jessie trug über ihrer Schuluniform nur einen Mantel. Er legte den Arm um sie und hoffte, sie so warm zu halten.

Da brummte es in der Lautsprecheranlage, und sie hörten die Stimme des Fahrers.

«Tut mir leid, Leute. Auf der Strecke gibt es Schwierigkeiten. Schnee im Winter ist ja auch ungewöhnlich.» Die Passagiere lachten gedämpft, sie hatten zu viel Feiertagslaune und Bier getankt, um sich über die Störung zu ärgern. «Dieser Zug endet hier. Ein Kollege wird Sie zur Hauptstraße begleiten, wo Ihnen in Kürze ein Bus zur Fortsetzung Ihrer Fahrt zur Verfügung gestellt wird.» Gutmütiges Gegrummel. Die Leute stolperten aus dem Waggon, sie klagten über die Kälte, doch im Grunde genossen sie das Drama. Heute Abend im Pub hätten sie eine prima Geschichte zu erzählen. Ashworth hielt Jessie zurück. Sollten erst mal die Betrunkenen und die ganzen schrägen Typen aussteigen. Als er auf den Bahnsteig trat, wühlte er in seiner Tasche nach dem Handy, um ein Taxi zu rufen. Sie waren nur noch einen Halt vor Mardle. Das war wirklich keine große Entfernung mehr, und wieder dachte er, dass es nicht nötig sei, Sal bei dem Wetter vor die Tür zu jagen. Während er nach der Nummer suchte, zog er Jessie zu sich unter den Mantel und hielt sie dicht an sich gekuschelt. Die anderen Passagiere folgten einem Angestellten der Metro in grüner Jacke; sie entfernten sich, waren schon in dem Schneegestöber verschwunden.

Die Lichter im Waggon waren noch an, leuchteten aber nur noch schwach. Keine Spur vom Fahrer. Jessie stieß Joe in die Rippen.

«Schau mal. Die Dame bewegt sich gar nicht.»

«Mach dir keine Gedanken.» Joe hielt sich das Handy ans Ohr. Es klingelte. «Sie schläft bestimmt. Vielleicht hat sie zu Mittag ja ein bisschen zu viel getrunken.» Dann sah er, dass Jessie auf die ältere Frau in dem langen Mantel deutete.

Er wollte schon sagen, dass der Fahrer den Zug sicher nicht ins Depot fahren würde, ohne vorher nachzusehen, ob alle Waggons leer waren, als Jessie unter seinem Arm hervorschlüpfte und zurück in den Zug lief. Sanft schüttelte sie die Frau an der Schulter. Sie war schon immer ein hilfsbereites kleines Mädchen gewesen, und Joe war stolz auf sie, doch manchmal wünschte er sich, sie würde sich nicht immer einmischen.

Und gerade in dem Moment, als jemand beim Taxiunternehmen abhob, schrie Jessie los.

Kapitel zwei

In der Harbour Street stand nur ein Wohnhaus; in all den anderen Gebäuden waren Geschäfte oder Büros. Es war hoch und grau, fast schon schwarz von dem Kohlenstaub, der auch den kleinen Strand auf der anderen Seite der Hafenmauer schwarz färbte. Drei Stockwerke, Souterrain und Dachgeschoss. Eindrucksvoll. Über der Eingangstür war ein Jahr eingemeißelt: 1885. In einem der Fenster im Souterrain war Licht. Eine Frau nahm gerade Bettlaken von einer Wäscheleine, die sie vor dem Ofen gespannt hatte. Sie faltete sie mit geübten Handgriffen zusammen, zuerst Ecke an Ecke, dann strich sie die Laken glatt, bevor sie sie auf den Tisch legte. Auch in den oberen Stockwerken war Licht in einigen Fenstern, doch vom Gehsteig aus konnte man nicht sehen, wer sich dort oben aufhielt.

Gleich neben dem Haus lag der Hof von Malcolm Kerr, der von der Straße nur durch einen rostigen, von scharfen Spitzen gekrönten Eisenzaun abgetrennt war; am Tor hing eine gewaltige Kette mit einem riesigen Vorhängeschloss. Ein paar alte Boote, Einzelteile von Motoren, merkwürdig bucklige, mit Segeltuch abgedeckte Gegenstände – der Hof sah aus wie ein Schrottplatz. Malcolm bot Ausflugsfahrten nach Coquet Island zur Vogelbeobachtung an, und im Winter, wenn die Lucy May nur selten gechartert wurde, arbeitete er auf dem Hof, wo er die Boote seiner Nachbarn reparierte. Der Schnee ließ die harten Umrisse auf dem Hof langsam weicher erscheinen, sie wirkten geheimnisvoll und waren nur schwer zu erkennen. In einer Ecke stand ein Schuppen aus Wellblech und Holz. Dort arbeitete Malcolm oft die ganze Nacht lang und trank dosenweise Bier dabei, doch an diesem Abend lag der Hof dunkel und still da, im Schnee waren keine Fußspuren.

Neben dem Hof befand sich das Bootshaus, in dem das Rettungsboot des Ortes untergebracht war, und dahinter, auf der dem Meer zugewandten Seite, standen der Auflieger und die Zugmaschine, mit deren Hilfe das Boot bei Notfällen oder für Rettungsübungen zu Wasser gelassen wurde. Dann kamen die Fischhallen von Mardle: Hier ging es lebendig und laut zu, aus dem Fernseher im Hintergrund dröhnte Musik. Tagsüber wurde in einem langen, flachen Lager auf der Rückseite des Gebäudes frischer Fisch für den Groß- und Einzelhandel verkauft, der größtenteils direkt vor Ort gefangen wurde. Abends verwandelten sich die Fischhallen in einen Fish-and-Chips-Shop, mit einem Restaurant daneben, wo man auch sitzen konnte. Hinter den Fritteusen standen zwei weiß gekleidete Frauen, deren Gesichter von der Hitze gerötet waren, obwohl die Schneeflocken durch die offen stehende Tür hereinwehten. Die Schlange der Kunden reichte bis auf die Straße hinaus. Alles Einheimische. Mardle war keine Touristengegend, auch im Sommer nicht. Neben den Fischhallen ging es nicht mehr weiter, da war nur noch eine Mauer und dahinter der Hafen. Die Boote, die dort lagen, waren schwarze, im Schneegestöber halb verborgene Schatten.

Auf der anderen Straßenseite befand sich der Coble Pub, und dort, wo die Leute zwischen dem Pub und dem Fish-andChips-Shop hin- und herliefen, war der Schnee schon flachgetreten und vereist. Vor dem Pub lehnten ein paar hartgesottene Raucher an der Hauswand, um sich vor dem Wetter zu schützen. Neben dem Pub lag das niedrige, gedrungene Gebäude mit dem Büro des Hafenmeisters; dahinter ein ungepflegtes Grundstück, das als Parkplatz diente, und neben diesem, gegenüber dem großen Wohnhaus mit dem hell erleuchteten Souterrain, stand die St.-Bartholomew’s-Kirche. Das im neugotischen Stil für Seeleute und Grubenarbeiter erbaute Gotteshaus wurde inzwischen nur noch von einer Handvoll älterer Frauen besucht. Am Ende der Straße, wie ein Lichtsignal oder ein rechteckig glühender Mond, leuchtete der gelbe Würfel mit dem schwarzen M herüber, der den Metrobahnhof kennzeichnete. Endstation. Auf dem Bahnsteig warteten Menschen, die für den Feierabend in die Stadt fahren wollten, doch es kamen keine Züge.

Das war die Harbour Street.

 

In dem großen Haus trug Kate Dewar die Betttücher die Treppe hoch zum Wäscheschrank, wobei sie vor den mit Nummern versehenen Türen eine kleine Pause einlegte. Nicht um zu lauschen. Kate würde ihren Gästen niemals nachspionieren. Doch das hier war ihr Hoheitsgebiet, und sie wollte wissen, wer im Haus war. Alles wirkte still. Vielleicht hatte der Schnee ja für Verkehrsprobleme gesorgt. Sie war froh, dass die Kinder schon daheim waren; sie hatte sie vorhin kommen gehört und stellte sich vor, wie sie jetzt auf der Couch in der Souterrainwohnung herumhingen und fernsahen. Eigentlich hatte sie die Regel aufgestellt, dass erst die Hausaufgaben gemacht sein mussten, ehe der Fernseher eingeschaltet wurde, aber die Ferien standen kurz bevor, und heute wollte sie nicht darauf bestehen.

Während sie die Treppe weiter hochstieg, glaubte sie die Haustür zu hören, doch als sie stehen blieb, um darauf zu achten, rührte sich nichts mehr. Es musste der Wind gewesen sein, der den Briefkasten zum Klappern brachte. Sie wusste immer gleich, wann der Wind von Norden her kam, wegen dieses ganz speziellen Geräuschs. Der Wäscheschrank stand auf dem Treppenabsatz im Dachgeschoss, zwischen Margarets Wohnung und dem Regal, wo sie Tee und Kaffee und eine Dose mit selbstgebackenen Keksen aufbewahrte. Neben dem Regal war ein kleiner Kühlschrank, in dem eine Tüte Frischmilch stand. Zwar gab es in allen Zimmern die Möglichkeit, sich Tee und Kaffee zuzubereiten, doch sie wollte, dass ihre Gäste sich willkommen fühlten. Es waren die kleinen Gesten, weswegen sie wiederkamen. Wegen der Lage jedenfalls kamen sie sicher nicht; die Harbour Street hatte kaum etwas zu bieten, das Fremde anlocken konnte. Durch ein Bogenfenster konnte man auf Malcolms Hof und über die Fischhallen hinweg das Meer sehen. Es schneite immer noch. Im Lichtdreieck einer Straßenlaterne sah sie die Flocken tanzen. Draußen auf dem Meer blinkte eine Leuchtboje rot auf. Ihr Mann hatte auf den Ölplattformen gearbeitet, und noch immer verspürte sie diese Mischung aus Schuld und Trauer, wenn sie an die endlose Weite gleich vor ihrer Haustür dachte.

Einen Augenblick lang blieb Kate stehen und lauschte auf die Musik in ihrem Kopf. Dann erweckte sie die Melodie zum Leben und summte sie. Ein Lied für den Winter, klar und ohne Schnörkel. Für die Liebe im Winter. Und wieder musste sie an Stuart denken, an die unerwarteten Schmetterlinge im Bauch, die sie in ihrem Alter noch erwischt hatten; ihr stockte der Atem, und sie war überrascht, als ihr klar wurde, dass sie noch im gleichen Moment alles für diesen neuen Mann in ihrem Leben stehen und liegen gelassen hätte. Er war ihr wichtiger als Ryans Albträume, sein nächtliches Herumstromern in der Nachbarschaft, als wäre er ein verwildertes Tier, das nicht schlafen konnte, wichtiger als seine gelegentlichen Wutausbrüche. Wichtiger als Chloes Noten und ihr erschreckender Ehrgeiz. Der ältere, drahtige Stuart, der mehr wie ein Bergsteiger aussah als wie ein Musiker, hatte Kate wieder Lust am Leben gemacht.

Auf dem Weg zurück in die Souterrainwohnung entdeckte sie George Enderby vor der Eingangstür und ließ ihn herein. Auf seinem Wollmantel hingen Schneeflocken, und sein großes, gutmütiges Gesicht strahlte auf Kate herab. «Na, Kate, was meinen Sie? Schnee zu Weihnachten. Die Kinder sind bestimmt ganz aus dem Häuschen.» Er hatte eine sonore Stimme und eine so vornehme, südenglische Art zu sprechen, dass sie sich an einen Politiker oder Schauspieler erinnert fühlte.

Kate dachte, dass ihre Kinder in diesem Jahr supercool taten und sicher glaubten, dass es weit unter ihrer Würde lag, noch Schneemänner zu bauen. Aber George besaß einen so unschuldigen Glauben an das Leben in einer perfekten Familie, dass sie es nicht über sich brachte, ihn von diesem Irrtum zu befreien.

«Ja», sagte sie.

George arbeitete als Vertreter für einen Verlag und reiste mit einem großen Rollkoffer voller Bücher umher. Oft schenkte er den Kindern ein paar Exemplare. Manche gefielen Chloe sogar, die dicken, in denen es um fremde Kulturen ging, aber Ryan las nicht gern, auch wenn er so tat, als würde er sich dafür interessieren. Er nahm ihm die Bücher ab, um George eine Freude zu machen. In Kates Hinterkopf spukte eine beständige Sorge um Ryan herum. Er machte nicht direkt Ärger, doch trotz seines unbeschwerten Lächelns argwöhnte sie, dass er unglücklich war, und sie wusste nicht, was sie dagegen tun konnte. Und manchmal bekam er Wutausbrüche, die sie an Rob erinnerten. Aber das Haus in der Harbour Street nahm all ihre Zeit und Kraft in Anspruch, und all ihre Träume drehten sich um Stuart. Ryan redete schon seit Jahren nicht mehr richtig mit ihr. Sie sagte sich, dass der Junge ja noch ein Teenager sei, dass Kinder immer schwierig seien und sich ihren Eltern nie anvertrauten.

George war verheiratet, hatte aber keine Kinder. Das hatte er ihr einmal erzählt. Er hatte ihr an den Abenden, wenn es spät wurde und er seinen üblichen Schlummertrunk im Salon für die Gäste zu sich nahm, schon eine ganze Menge erzählt. Er trank seinen Whisky dann immer in kleinen Schlucken, und sie sah auf ihre Armbanduhr und fragte sich, wann er wohl schlafen gehen würde. Sie führte die Pension im Großen und Ganzen allein. Außer ihr gab es nur Margaret, die ihr in der Küche half, und die war in den letzten Tagen nur zu wenig zu gebrauchen gewesen.

«Hatten Sie einen erfolgreichen Tag, George?»

Sie wusste, dass sein Beruf ihn forderte. Auch das hatte er ihr gestanden. «Ich wüsste nicht, was ich ohne meine Arbeit anstellen sollte, Kate. Ich brauche Bücher wie die Luft zum Atmen.» Dabei hatte sie gespürt, dass er nicht darauf angewiesen war, für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten. Er besaß dieses entspannte Selbstvertrauen und diese sorglose Einstellung zu Geld, die man nur hat, wenn man reich geboren ist. Aber sie glaubte nicht, dass seine Ehe glücklich war, obwohl er, selbst wenn er sehr betrunken war, nie etwas Unfreundliches über seine Frau sagte. «Meine Diana ist ein Wunder», pflegte er zu sagen, «eine famose Frau.»

Jetzt schälte er sich aus seinem Mantel. «Das gleiche Zimmer wie sonst auch, Kate?»

«Aber natürlich.» George wohnte gern in dem großen Zimmer im rückwärtigen Teil des Hauses mit Blick aufs Meer, und es machte ihm nichts aus, dass es das teuerste von allen war. Meine Vorgesetzten sind Londoner Preise gewöhnt, Kate, sagte er immer. Sie machen mir nie Ärger wegen meiner Spesen.

«Diesmal bin ich bloß für ein paar Tage hier oben. Dann muss ich wieder gen Süden. Außer der Schneefall wird wirklich so schlimm, wie sie im Wetterbericht sagen. In dem Fall bekommen Sie vielleicht einen unerwarteten Gast zum Weihnachtsessen.» Er lächelte wehmütig, und sie dachte, dass er das genießen würde. Ein richtiges Familien-Weihnachtsessen mit ihr und den Kindern, alle säßen um den Tisch im Souterrain, und er würde den Truthahn tranchieren. Aber dieses Jahr würde auch Stuart dabei sein, und sie war sich nicht sicher, was George davon halten würde. Sie argwöhnte im Stillen, dass George Enderby bis über beide Ohren in sie verliebt war.

«Ich stelle Ihnen eine Kanne Tee in den Salon.» Auch das war zu einer Gewohnheit geworden. Er setzte sich stets mit seinem Laptop und den Büchern in den Salon, trank Tee und aß die Kekse, die Margaret gebacken hatte. Danach ging er, weil Kate keine warmen Mahlzeiten anbot, zum Abendessen auf die Harbour Street – entweder in den Fish-and-Chips-Shop oder in den Pub – und kam mit ein paar Gläsern Bier intus wieder zurück, um dann bis Mitternacht aufzubleiben und Whisky zu trinken.

Als sie ins Souterrain kam, sahen die Kinder fern. Sie dachte, kann gut sein, dass sie, als sie mich auf der Treppe hörten, das Programm gewechselt haben. Irgendwas gesehen haben, was Jugendliche nicht sehen sollten. Sie war kontrollsüchtig und wollte wissen, was die Kinder sich anschauten. Manchmal fragte sie sich, ob sie nicht zu streng mit ihnen war. Vielleicht wollten sie ja deswegen nicht mehr über alles mit ihr reden. Immerhin waren sie fast schon erwachsen. Sie sah doch, wie andere Kinder sich aufführten, womit die immer davonkamen. Aber sie wusste auch, wie sie selbst in dem Alter gewesen war: Sex und Drogen und ihre Band. Sie hatte nie die Schule abgeschlossen, und für ihre Kinder wünschte sie sich etwas Besseres.

Beide hatten immer noch die Schuluniform an, und Kate wollte ihnen schon sagen, sie sollten sich umziehen, doch dann hielt sie lieber den Mund. Überflüssig, deshalb einen Streit vom Zaun zu brechen. Man sollte sich seine Schlachten gut auswählen. Das hatte sie in einer Frauenzeitschrift gelesen.

«Geht’s euch gut?»

Als Antwort erhielt sie ein halblautes Grunzen von Chloe. Dann drehte Ryan sich um und lächelte sie auf diese Weise an, die sie immer an seinen Vater erinnerte und ihr beinahe den Magen umdrehte, weil es sich anfühlte, als würde sie einen Geist sehen.

In der Küche stellte sie das Tablett für George zusammen. Eine Stoffserviette, loser Tee in einer Kanne, eine Tasse und ein Teesieb. Milch in einem Kännchen. Manchmal machte Ryan sich über ihre Sorgfalt lustig. «Wir sind hier in Mardle, Mum! Du führst nicht das Ritz.» Und Kate wusste, dass ihr Bemühen, ein gewisses Niveau aufrechtzuerhalten – die Stoffservietten auf dem Abendbrottisch, selbst wenn sie nur Pizza aßen, ihr Beharren auf guten Manieren –, den Kindern ein Dorn im Auge war. Aber sie war sich nun einmal sicher, dass es auf die Kleinigkeiten ankam, und sie wollte die beiden auf die Zukunft vorbereiten. Sie wollte mehr für sie als ein Leben in einer heruntergekommenen Straße in einem heruntergekommenen Vorort. Sie selbst hatte es einmal besser gehabt – ihr Vater war Steuerberater mit einer eigenen Kanzlei gewesen, bis das Geschäft in der Rezession den Bach runtergegangen war –, und es wurmte sie immer noch, dass sie hier gelandet war.

Der Salon war leer. George war bestimmt noch auf seinem Zimmer. Kate stellte das Tablett ab, machte den Gaskamin an und zog die Vorhänge zu. Der Schnee wehte in sanftem Gestöber gegen das Fenster.

Gerade überlegte sie, dass sie zum Abendessen einen Schmortopf aufwärmen könnte, als die Türglocke läutete. Wenn das neue Gäste waren, die das Wetter in Mardle festhielt, konnte sie ihnen Zimmer sechs geben. Sie öffnete die Tür.

Draußen stand eine Frau von ungeheuerlicher Gestalt. Sie trug einen ausgebeulten Anorak über einem Tweedrock und hatte ein breites Gesicht mit kleinen braunen Augen. Die Kapuze verdeckte ihr Haar. An den Füßen trug sie Gummistiefel. Der ganze Körper war schneebedeckt. Hinter ihr stand noch eine zweite Gestalt, die jedoch größtenteils von der massigen Frau verdeckt wurde, sodass man unmöglich Einzelheiten erkennen konnte.

Die Frau des Yeti, dachte Kate.

Dann sagte die Frau etwas. «Würden Sie uns bitte hereinlassen, Herzchen? Hier draußen ist es eiskalt. Ich bin Vera Stanhope. Inspector Vera Stanhope.»

Kapitel drei

Der Anruf erreichte Vera, als sie gerade einkaufen war, und als ihr Handy in der Tasche brummte, durchzuckte sie eine freudige Erleichterung. Sie wagte sich nur selten nach Newcastle, wenn es nicht um die Arbeit ging, und das hier war der reinste Albtraum. Weihnachtseinkäufe: Horden von gestressten Menschen mit einem panischen Flackern in den Augen. Wie die Kaninchen, die Hector auf der Jagd nach einem Braten mit der Taschenlampe geblendet hatte. Ihr Vater Hector war schon vor Jahren gestorben, und sonst hatte Vera keine Familie, für die sie Geschenke besorgen müsste. An Heiligabend ging sie zum Abendessen immer rüber zu ihren Hippie-Nachbarn, und sie betranken sich zusammen, bis sie sternhagelvoll waren, aber Jack und Joanna erwarteten keine Geschenke von ihr – höchstens mal eine anständige Flasche Whisky –, und sie selbst wollte auch keine.

Und dann hatte Holly, eine ihrer Mitarbeiterinnen, sich dieses Spiel ausgedacht. Wichteln: Alle Namen wurden in einen Hut geworfen, und jeder zog den Namen desjenigen, den er beschenken sollte. Vera hatte gehofft, dass sie Charlie ziehen würde. Über eine Flasche Whisky hätte der sich auch gefreut. Doch stattdessen hatte sie Hollys Namen aus dem Hut gezogen. Holly benutzte Parfüm und schminkte sich und trug schicke Klamotten, selbst bei der Arbeit. Was sollte Vera für sie bloß finden? Und deshalb stand sie jetzt hier bei Fenwick’s und schwitzte, weil sie ihre Wintersachen anhatte, umgeben von eleganten Verkäuferinnen, die sie anstrahlten, und wollte gerade die Flucht antreten, als ihr Handy brummte. Am anderen Ende war Joe Ashworth. Wenn er jetzt vor ihr gestanden hätte, sie wäre ihm um den Hals gefallen.

«Joe, was gibt’s?», trällerte sie. Eine Kosmetikverkäuferin in weißem Kittel, die gerade die Grundierung auf das Gesicht einer Frau Mitte vierzig klatschte, die auf einem Stuhl hockte, der aussah wie die Stühle beim Zahnarzt, starrte zu Vera hinüber.

«Einen Mord», sagte er, und das Herz schlug ihr noch höher, bevor das Schuldgefühl einsetzte und sie sich schalt, dass das Opfer sicher Verwandte und Freunde gehabt hatte. Niemand starb, um ihr, Vera, ein Vergnügen zu bereiten. «Jemand wurde in der U-Bahn erstochen.»

«Eine Schlägerei, die aus dem Ruder gelaufen ist?» Das kam ihr seltsam vor. So etwas geschah spätnachts, aber doch nicht am Nachmittag.

«Nein.» Sie kannte ihn gut genug, um zu spüren, dass die Dinge nicht so einfach lagen, und auch das gefiel ihr. Sie mochte es, wenn die Umstände ein bisschen komplizierter waren. Wenn sie herausgefordert wurde. «Es handelt sich um eine ältere Dame. Ich war als Erster am Tatort. Die Spurensicherung ist schon unterwegs.»

«Geben Sie auch Holly Bescheid.» Zurzeit war Vera darauf bedacht, Holly öfter mit einzubinden, denn wenn die junge Polizistin den Eindruck bekam, sie würde hier etwas verpassen, dann könnte es passieren, dass sie runter in den Süden abdampfte. Vera holte tief Luft, während sie sich durchs Gedränge in Richtung Ausgang schob und in der Jackentasche nach dem Autoschlüssel fischte. «Und stöbern Sie Charlie in seinem Bau auf. Wer hat die Leiche gefunden?»

«Jessie», antwortete Joe. «Meine Tochter Jessie.»

 

Vera brauchte länger als gedacht zur Metrostation Partington. Ein paar Zentimeter Schnee, und schon spielte die ganze Welt verrückt. In Benton war ein Auto quer über die Straße gerutscht und blockierte jetzt die Spur. Vera hatte Hectors Landrover genommen, was zwar gegen sämtliche Polizeivorschriften verstieß, weil der Wagen so alt war, aber heute war sie froh, ihn zu haben. Der Bahnhof war geschlossen und mit Absperrband der Polizei gesichert worden, und nun bewachten ihn zwei U-Bahn-Mitarbeiter, die jede Minute ihres kurzen Ruhms genossen. In einiger Entfernung sah sie Joe Ashworth am Bahnsteig stehen. Ihr Sergeant und Sohnersatz, ihr Schützling. Und ihr Gewissen. Er stand mit dem Rücken zu ihr, mitten im Schneegestöber, trug einen schwarzen Mantel und sprach in sein Handy. Von seiner Tochter keine Spur. Bestimmt hatte Sal sie eiligst abgeholt und nach Hause gebracht. Beide Eltern bemühten sich, ihre Kinder zu beschützen. Vera glaubte, dass Jessie wahrscheinlich lieber hiergeblieben und sich den ganzen Trubel angesehen hätte. Das Mädchen hatte etwas Quicklebendiges an sich, das Vera die Hoffnung nicht aufgeben ließ.

Dann zog sie sich die Gummistiefel an, die immer im Landrover lagen. Das kostete sie einige Mühe – ihre Waden passten gerade so hinein. Aber sie wog weniger als früher. Die Stiefel waren neu, und noch vor einem Jahr hätte sie überhaupt nicht hineingepasst. Auf dem Bahnsteig war es glatt, und sie machte vorsichtige Schritte. Sollte sie hinfallen, bräuchten sie einen Kran, um sie wieder auf die Beine zu stellen. In dem hell erleuchteten Waggon sah sie Gestalten in weißen Spurenschutzanzügen bei der Arbeit. Sie hoffte, dass Billy Wainwright das Team der Spurensicherung leitete, denn von dort, wo sie stand, konnte sie die Leiche nicht sehen, und jetzt würden sie sie erst in den Waggon lassen, wenn alle Spuren gesichert waren.

«Joe!» Er drehte sich zu ihr um und ging auf sie zu, wobei er sein Telefongespräch beendete und dann die Hände in die Taschen schob.

Als er näher kam, sah Vera, dass er die Stirn runzelte. Vermutlich hatte er sich den Tag etwas anders vorgestellt. Ein Abend daheim mit Sal und den Kindern. Vielleicht wollten sie die Geschenke einpacken, wenn die Kinder im Bett waren. Sal war bestimmt gut organisiert; sie würde niemals ihre Weihnachtseinkäufe bis zur letzten Minute aufschieben. Doch Vera wusste, dass dieses perfekte häusliche Dasein Joe langweilte, auch wenn er das nie zugeben würde, nicht mal sich selbst gegenüber. Gut möglich, dass dieser Mord ja auch für ihn wie ein Geschenk des Himmels war.

«Was können Sie mir jetzt schon sagen, Joe?» Sie gingen in die schützende Bahnhofshalle. Joe lehnte sich gegen einen Fahrkartenautomaten. Draußen fiel der Schnee nun so dicht, dass sie wie durch einen wallenden weißen Vorhang auf den Zug blickten. Gar nicht mal so übel, dachte Vera. Die Leute werden dem Wetter die Schuld dafür geben, dass die Metro lahmgelegt ist, nicht der Polizei.

Während Joe die Fahrt aus der Stadt heraus beschrieb – den vollgepferchten Waggon, die Jugendlichen mit ihrem frechen Mundwerk, die betrunkenen Geschäftsleute –, hörte sie zu. Zu diesem Zeitpunkt machte sie sich noch keine Notizen. Das hätte nur ihre Konzentration behindert. Sie musste sich vorstellen können, selbst in diesem Waggon zu sitzen und den Wortgeplänkeln zu lauschen.

Sie wartete, bis er fertig erzählt hatte. «Dann waren also alle guter Laune? Es gab nichts, was einen kleinen Weihnachtskoller verursacht haben könnte? Das Opfer hat sich nicht über Jugendliche beschwert, die Kraftausdrücke benutzten oder die Füße auf die Sitze legten?»

«Nicht dass ich es gesehen oder gehört hätte. Es war zwar rappelvoll in dem Waggon, aber wenn es irgendwo einen Tumult gegeben hätte, hätte ich das sicher mitbekommen. Selbst als der Zug anhielt und wir alle aussteigen mussten, ist niemand ausgetickt.»

«Was wissen wir über das Opfer?» Diesen Moment genoss Vera bei jeder Ermittlung am meisten. Sie war nun einmal neugierig, schnüffelte mit Leidenschaft im Privatleben anderer Menschen herum. Vielleicht ja, wie sie zugeben musste, weil sie selbst kein Privatleben hatte.

«Nur das, was ihrem Seniorenticket zu entnehmen war. Sie hatte zwar eine Handtasche bei sich, aber darin waren bloß eine Geldbörse, ein Schlüsselbund und ein Taschentuch.»

«War Geld in der Börse?» Es gibt Drogensüchtige, dachte Vera, die würden ihre Großmutter erstechen, nur um an das Geld für einen Schuss zu kommen. Aber wahrscheinlich nicht mitten am Tag in der Metro.

«Fünfzig Mäuse und ein bisschen Kleingeld.»

Also kein Raubüberfall. «Was wissen wir denn über sie?»

«Sie heißt Margaret Krukowski und ist siebzig Jahre alt. Eine Adresse in Mardle. Harbour Street Nummer eins.» Beim Nachnamen hatte Joe sich verhaspelt.

«Was für ein Name ist das? Russisch? Polnisch?»

Joe schüttelte den Kopf. Woher sollte er das wissen? «Sie war schon fast zu Hause», sagte er. «Nur noch eine Haltestelle, und sie wäre in Sicherheit gewesen.» Vera dachte, dass er wirklich der gefühlsduseligste Polizist war, der ihr je über den Weg gelaufen war.

«Haben Sie mitgekriegt, wo sie zugestiegen ist?»

«Aye, in Gosforth.»

Einer der vornehmeren Stadtteile von Newcastle. Das war weit von Mardle entfernt, was soziale Zugehörigkeit und Anspruchshaltung betraf.

Joe erriet, was sie dachte. «Ihrer Erscheinung nach gehörte sie eher nach Gosforth als nach Mardle», sagte er.

Darüber dachte Vera einen Augenblick lang nach und fragte sich, wo die Leute sie selbst wohl einordneten, wenn sie sie sahen. Obdachlose? Bäuerin?

«Dann wollen wir mal los, oder?», sagte sie. «Mal sehen, ob zu Hause jemand auf Margaret Krukowski wartet.»

 

Vor dem Haus blieben sie einen Moment lang im Landrover sitzen. Die Harbour-Street-Pension. Eine Holztafel neben der Eingangstür, schon fast völlig zugeschneit.

«Manchmal kommen wir mit den Kindern hierher, zu den Mardle-Fischhallen», erzählte Joe. «Ein kleiner Ausflug. Hier soll es die besten Fish and Chips im ganzen Nordosten geben.»

Vera hatte ihre eigenen Erinnerungen an Mardle. Hector, der einen Fischer bestach, damit der sie mitten in der Nacht nach Coquet Island hinausfuhr. Die Lichter, die im Wächterhäuschen am anderen Ende der Insel noch brannten. Gelächter und Musik von irgendeiner Party, die da stattfand. Ihr Horror, sie könnten erwischt werden, während Hector nur Augen und Ohren für seine Jagd nach den Eiern der Rosenseeschwalbe hatte. Er hatte das Risiko geliebt. Heute glaubte sie, dass es die Gefahr gewesen war und nicht so sehr seine Leidenschaft, die ihn dazu getrieben hatte, die Eier seltener Vögel zu stehlen und zu verkaufen.

«Na dann», sagte Joe. «Gehen wir rein? Ich habe eine Familie, die ich heute auch noch gern sehen würde.»

Sie nickte und kletterte aus dem Wagen, wobei sie versuchte, sich daran zu erinnern, ob es die Pension auch schon gegeben hatte, als sie noch ein Kind war. In ihrer Erinnerung war die Straße heruntergekommen, fast schon armselig, aber das war über vierzig Jahre her. Sie läutete.

Die Frau, die ihnen die Tür öffnete, war gerade im richtigen Alter, um die Tochter des Opfers zu sein. Ende dreißig, Anfang vierzig. Lockiges, schwarzes Haar und kastanienbraune Augen, ein freundliches, beinahe geschäftsmäßiges Lächeln. Vera musste an eine Krankenschwester denken. Als Vera sich vorgestellt hatte, trat die Frau beiseite, um die beiden ins Haus zu lassen. «Ist etwas passiert?»

Wenn die Polizei vor der Haustür auftauchte, bekamen die Menschen entweder Schuldgefühle oder einen Schreck. Vera konnte nicht erkennen, was hier der Fall war. Sie folgte der Frau in den rückwärtigen Teil des Hauses, in einen geheizten, salonartigen Raum, der mit wuchtigen Möbeln ausgestattet war, die in einem kleineren Zimmer fehl am Platz gewirkt hätten, und wo sie sich auf ausladende, mit Samt bezogene Sofas setzten. An einer Wand stand ein Klavier, daneben ein Notenständer und an einer anderen eine Anrichte mit Karaffen und Spirituosen. Vera fand, ein Gläschen Malt Whisky wäre jetzt genau, was sie bräuchte, nachdem sie sich an der kalten Metrostation herumgetrieben hatte, aber sie war professionell genug, nicht darum zu bitten. Die Vorhänge waren zugezogen, und der Raum war weihnachtlich geschmückt, mit Stechpalmenzweigen und silbern angesprühten Kiefernzapfen auf dem Kaminsims, und auf den im Zimmer verteilten Tischchen standen große rote Kerzen. Es sah wirklich aus wie in einem viktorianischen Salon.

In dem Raum war sonst niemand, doch auf einem der kleinen Tische stand ein Teetablett. Dass es dort war, schien ihre Gastgeberin zu stören. Sie warf entschuldigende Blicke in die Richtung. Joe kam ihnen nun auch nach und setzte sich vor den Gaskamin.

«Ein hübsches Zimmer», sagte er. «Gemütlich.»

Die Frau lächelte und entspannte sich anscheinend etwas.

«Würden Sie uns bitte sagen, wie Sie heißen?» Das war wieder Joe.

«Dewar.» Die Frau wandte Vera jetzt den Rücken zu. «Kate Dewar.»

Die Tür ging auf, und ein großer, glatzköpfiger Mann mit gewinnendem Lächeln und ungezwungenem Auftreten unterbrach sie.

«Hallo», sagte er. «Noch mehr Gäste, Kate? Noch mehr im Schneesturm Gestrandete?» Er drehte sich um, sodass er nun auch Vera und Joe in sein Lächeln mit einschloss. «Herzlich willkommen.» Als wäre das hier sein Haus. «Hätten Sie gern einen Tee? Ich bin sicher, dass genug in der Kanne ist, und Kate bringt uns bestimmt noch ein paar Tassen.»

«Die Herrschaften sind keine Gäste, George. Es sind Polizeibeamte.» Schwang da eine Warnung in den Worten mit? Pass auf, was du sagst?

«Ach so», meinte er. Er blieb kurz stehen und schaute sich unbehaglich um. «Dann störe ich bestimmt. Ich will mich nicht aufdrängen. Ich nehme den Tee mit auf mein Zimmer, ja?» Er nahm das Tablett vom Tisch und ging hinaus, ohne noch einmal zurückzublicken. Vera glaubte, sie selbst wäre viel zu neugierig gewesen. Sie hätte gefragt, ob sie helfen könne, hätte irgendeine Ausrede erfunden, um im Zimmer bleiben und erfahren zu können, was los war.

«Ein Gast?» Sie deutete mit dem Kinn zur Tür.

«George Enderby, einer meiner Stammgäste.»

«Und Margaret Krukowski? Zählt sie auch zu Ihren Stammgästen? Ich frage nur, weil sie hier gemeldet ist.»

«Margaret? Fehlt ihr etwas? Sind Sie deswegen hier?»

Vera hörte Erleichterung aus der Stimme heraus und fragte sich, was die Frau wohl sonst von der Polizei zu befürchten hatte. «Dann wohnt Margaret also tatsächlich hier? Sind Sie verwandt?»

«Nein. Sie ist eine Freundin. Und auch eine Angestellte, gewissermaßen. Sie hilft mir im Haus. Wir führen die Pension gemeinsam.» Kate lächelte. «Ohne sie würde ich das alles nicht schaffen.»

Vera beugte sich vor und sprach mit freundlicher Stimme. «Margaret Krukowski ist tot», sagte sie. «Sie wurde heute Nachmittag auf dem Heimweg aus der Stadt in der U-Bahn erstochen. Sie müssen mir alles über sie erzählen.»

Kapitel vier

Während sie in dem überhitzten Salon saßen, überlegte Vera, ob es draußen wohl noch schneite. Falls ja, würde sie den steilen Hang zu dem Haus, in dem sie seit ihrer Kindheit wohnte, höchstwahrscheinlich nicht mehr hinaufkommen, nicht mal mit dem Landrover. Aber das hier würde vermutlich ohnehin die ganze Nacht dauern, es war also sinnlos, sich wegen der Heimfahrt Sorgen zu machen.

Kate Dewar kauerte auf dem Rand eines der ausladenden Sofas und weinte. Sie machte kein Aufhebens, gab keinen Laut von sich, sondern weinte nur still vor sich hin. Joe Ashworth hatte ihr ein Päckchen Taschentücher gereicht. Er war wie ein Pfadfinder. Allzeit bereit.

«Wie lange kannten Sie Margaret denn?» Manchmal glaubte Vera, dass es am besten war, mit ganz einfachen Dingen anzufangen. Mit Einzelheiten, an die die Hinterbliebenen sich klammern konnten, die ihre Gedanken von dem Schock und der Trauer ablenkten.

Kate betupfte sich die Augen. «Seit zehn Jahren», sagte sie. «Die Kinder waren noch klein. Da starb meine Tante – sie war nur angeheiratet. Ich habe sie nie kennengelernt, und wir wohnten zu der Zeit weiter oben an der Küste. Aber in ihrem Testament hat sie mir dieses Haus hier hinterlassen. Damals war es noch keine Pension, doch es war schon in lauter möblierte Zimmer und kleine Wohnungen aufgeteilt. Alles ziemlich schmuddelig. Das meiste stand leer. Margaret war die Einzige, die überhaupt so etwas wie einen Mietvertrag hatte.» Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen. «Mir war langweilig. Das war nicht gerade die schönste Zeit meines Lebens. Mein Mann war wegen seiner Arbeit oft nicht zu Hause. Ryan ging schon zur Schule, und Chloe war im Kindergarten. Ich dachte, das könnte doch was werden, glaubte, Mardle wäre auf dem aufsteigenden Ast und bald würden die Touristen kommen. Da habe ich mich wohl getäuscht, was?»

Desillusioniert zuckte sie mit den Schultern.

«Zuerst dachte ich, dass es Schwierigkeiten geben könnte, wenn Margaret hierbliebe – dass sie irgendwie, na ja, im Weg wäre.» Wieder hielt Kate inne, und ein bezauberndes, breites Lächeln glitt über ihr Gesicht. «Aber weiter daneben hätte ich gar nicht liegen können. Sie war einfach wunderbar, und ohne sie wäre das alles ein einziger Albtraum geworden. Sie war wie eine Mutter und eine beste Freundin in einer Person. Wir schlossen eine Vereinbarung. Sie konnte weiterhin in ihrer kleinen Wohnung da oben unterm Dach wohnen, brauchte keine Miete zu zahlen und würde dafür in der Pension aushelfen. Und ich würde sie bezahlen, sobald ich konnte. Als dann die ersten Gäste eintrudelten, bekam sie ein richtiges Gehalt.»

Aus den Augenwinkeln heraus sah Vera, dass Joe Ashworth sich Notizen machte, während sie selbst versuchte, sich vorzustellen, wie es gewesen sein musste, dieses riesige Haus zu renovieren, überall Handwerker und dazwischen zwei Frauen voller Ideen und Zukunftspläne, denen zwei kleine Kinder an den Rockzipfeln hingen. So etwas schweißte bestimmt zusammen, und plötzlich durchzuckte sie eine schmerzliche Sehnsucht – sie selbst hatte nie eine beste Freundin gehabt, jemanden, mit dem sie ihre Träume hätte teilen können. Der Mensch, der ihr am nächsten stand, war Joe Ashworth.

«Margaret Krukowski», sagte sie. «Ist das ein polnischer Name?»

«Ja, aber Margaret kam nicht aus Polen. Sie ist hier oben im Nordosten geboren und aufgewachsen und stammt aus einer angesehenen Familie aus Newcastle. Als sie noch sehr jung war, hat sie einen polnischen Seemann geheiratet. Ihre Eltern waren außer sich, aber es waren ja die Sechziger, und sie sagte, dass er sehr gut ausgesehen habe, und außerdem war er ein Flüchtling, was das Ganze nur noch romantischer erscheinen ließ.»

«Was ist aus ihm geworden?» Vera mochte das Opfer bereits, ihr gefiel Margarets Vielschichtigkeit. Joe hatte gesagt, ihrem Aussehen nach gehöre Margaret eher nach Gosforth als nach Mardle, aber immerhin hatte sie sich mit einem polnischen Asylsuchenden eingelassen und war schließlich allein in einer schäbigen kleinen Wohnung gelandet. Doch sie hatte weiterhin auf ihr Äußeres geachtet. Sie hatte sich immer noch eine gewisse Eleganz bewahrt, mit ihren Stiefeln und dem roten Lippenstift; mit dem langen Mantel, der neu ein Vermögen gekostet haben musste.

«Nur ein paar Jahre nachdem sie geheiratet hatten, ließ er sie sitzen. Ist mit einer anderen Frau auf und davon, die mehr Geld hatte als Margaret. Sie sagte, das habe ihr das Herz gebrochen, aber sie war zu stolz, um zu ihren Eltern zurückzukehren. Sie ließ sich zur Buchhalterin ausbilden und hat für ein paar Betriebe im Ort gearbeitet. Als ich sie kennenlernte, war sie schon im Ruhestand. Oder in den Ruhestand versetzt worden.» Wieder lächelte Kate. «Sie konnte phantastisch mit Zahlen umgehen und hat mich nicht nur einmal vor dem Steuerprüfer gerettet.»

«Aber den Namen ihres Mannes hat sie behalten?» Das war damals bestimmt nicht so einfach gewesen, dachte Vera. Eine alleinstehende Frau von betont elegantem Auftreten, die einen fremdländischen Namen trug und danach strebte, ihren gewohnten Lebensstandard aufrechtzuerhalten.

«Sie hat mir erzählt, dass sie nie aufgehört hat, ihn zu lieben», erwiderte Kate. «Wie ich schon sagte, sie war sehr romantisch veranlagt.»

«Und Ihr Mann?», fragte Vera. «Arbeitet er noch immer so viel außer Haus?»

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.

«Nein», sagte Kate. «Er ist gestorben. Ein Arbeitsunfall draußen in der Nordsee. Bei den Ölplattformen. Er ist ertrunken. Seine Leiche wurde nie gefunden.» Und sie fing erneut an zu weinen.

 

Kate führte sie die Treppe hinauf zu Margarets kleiner Wohnung. «Als sie älter wurde, habe ich sie gefragt, ob sie vielleicht in eins der Zimmer weiter unten ziehen wolle, aber sie sagte, hier oben fühle sie sich inzwischen zu Hause und die Treppen hielten sie fit.»

«Dann war sie also völlig gesund? Gut in Form für ihr Alter?» Trotz ihrer neuen Diät und der gelegentlichen Ausflüge ins Schwimmbad keuchte Vera schon.

«O ja. Die Pension läuft mittlerweile recht gut. Wir haben unsere Stammgäste und machen auch manchmal das Catering für Partys, aber Margaret sagte immer, dass sie nicht daran denken würde, sich zur Ruhe zu setzen.» Vor der Türe blieb Kate stehen. Joe holte den Schlüsselbund hervor, den die Spurensicherung bei der Leiche gefunden hatte.

«Haben Sie keinen Generalschlüssel?» Vera lehnte sich gegen die Wand, um wieder zu Atem zu kommen.

«Für die anderen Zimmer schon, aber nicht für diese Wohnung. Ich habe Margaret angeboten, einen Schlüssel für Notfälle für sie aufzubewahren, aber das schien sie nie wirklich zu wollen. Die Putzfrau ist auch nie da reingegangen, obwohl ich nichts dagegen gehabt hätte, wenn sie dort wie im Rest des Hauses saubergemacht hätte. Mags liebte ihre Privatsphäre.»

«Hat sie denn manchmal Besuch bekommen?»

«Mich hat sie ab und zu zum Nachmittagstee eingeladen», erzählte Kate. «Das war wundervoll. Immer gab es eine besondere Kleinigkeit. Manchmal geräucherten Lachs aus den Fischhallen, auf kleinen Pfannkuchen. Manchmal eine Torte, die sie selbst gebacken hatte. Einmal gab es eine Flasche Rosé-Champagner, weil sie sagte, sie hätte etwas zu feiern. Aber ich habe nie mitbekommen, dass jemand anders sie hier besucht hätte.»

Sie blieb unschlüssig auf dem Treppenabsatz stehen und fragte sich anscheinend, ob von ihr erwartet wurde, dass sie die beiden in die Wohnung begleitete.

Vera streckte die Hand aus und legte sie ihr auf die Schulter. «Ist schon gut, Herzchen. Wir kommen jetzt allein zurecht.»

Kate nickte und kehrte um. Joe Ashworth wartete, bis sie die Treppe halb hinuntergegangen war, bevor er den ersten Schlüssel ausprobierte. An dem Bund hingen drei Schlüssel. Vera überlegte, wozu die anderen beiden gut waren – einer war sicher für die Haustür. Aber der andere? Joe stieß die Tür auf.

Wie Kate gesagt hatte, war die Wohnung sehr klein. Auf der einen Seite war die Decke nicht mal einen Meter hoch und ging in eine Dachschräge mit drei Gauben über, die Ausblick über den Hafen boten. Es gab zwei Zimmer und ein winziges Bad, das in die eine Ecke des Schlafzimmers gequetscht worden war. Und doch zeugte die Wohnung von Geschmack. Die dunklen Holzdielen in der Küche, die gleichzeitig auch als Wohnzimmer diente, waren gewachst. Ein Läufer leuchtete in Blau- und Grüntönen. In einer der Gauben standen ein alter Schreibtisch und ein Stuhl mit geschwungener Lehne. Eine kleine, mit grauem Samt bezogene Chaiselongue. Ein blankgeschrubbter Tisch aus Kiefernholz trennte den Küchenbereich mit Spüle, Herd und Kühlschrank vom übrigen Zimmer. Jede Menge Pfannen und Töpfe hingen an Haken von der Decke, und in einem grün glasierten Tonkrug auf dem mittleren Fensterbrett steckten Holzlöffel und Pfannenwender. Die Wand ohne Schräge war mit Regalen zugestellt, voll mit fein säuberlich eingeräumten Büchern, zwischen denen ab und zu Kieselsteine, Treibholzstücke und Muscheln lagen. Es war dunkel im Zimmer, weil die Fenster so klein waren, und die Wände waren dick, dennoch wirkte es elegant und edel, nur von einer Lampe auf dem Schreibtisch und einem Punktstrahler in der Küche beleuchtet.

«Kein Fernseher», sagte Joe. Vera merkte, dass er das kaum fassen konnte. Er machte die Tür zum Schlafzimmer auf, weil er unbedingt wissen wollte, ob der Fernseher vielleicht dort zu finden war. Sie blieben auf der Türschwelle stehen und lugten ins Zimmer, das mit lindgrünem Teppichboden ausgelegt war. Ein mit einem handgenähten Quilt abgedecktes Queen-Size-Bett, zu dessen Seiten je eine Kommode stand. Ein schmaler Kleiderschrank. Alle Möbel waren weiß gestrichen. Kein Durcheinander, keine Schmutzwäsche. Auch das Badezimmerchen war makellos sauber.

«Kein Fernseher», sagte Joe wieder. Vielleicht war das ja die einzige Unterhaltung, die er und Sal abends hatten, und er konnte sich ein Leben ohne Fernsehen nicht vorstellen.

«Als Erstes soll die Spurensicherung hier rein.» Vera ging zum Fenster und blickte hinaus. Es schneite immer noch. Sie war froh, dass nicht sie die Schubladen aufziehen und sich durch Margarets Unterwäsche wühlen musste. Sie war zwar neugierig, aber hier wäre sie sich vorgekommen wie ein widerlicher Eindringling.

Joe nahm die Regale genauer in Augenschein. «Nur ein Foto.» Er griff nicht danach, sondern deutete nur drauf. Auf dem Bild war ein Paar zu sehen. Ein Hochzeitsfoto. Sie trug ein schlichtes weißes Minikleid mit falschem Pelz an den Säumen, weiße, kniehohe Lacklederstiefel und ein kurzes Pelzjäckchen, und in der Hand hielt sie einen Brautstrauß aus goldgelben und weißen Freesien. Der dunkelhaarige Mann trug einen Anzug mit breitem Revers, im Knopfloch steckte eine Freesie. Im Hintergrund ein Kirchenportal.

«Ist sie das?», fragte Vera. «Ist das Margaret Krukowski mit der polnischen Liebe ihres Lebens?»

«O ja, das ist sie.» Die Antwort kam ohne Zögern und entschieden. «Unser Opfer besitzt den gleichen Mund und die gleichen Wangenknochen.» Sie bemerkte, dass Joe den Blick nicht von dem Bild abwenden konnte.

«Sie war ein hübsches Ding.» Das sagte sie wie nebenher. Von ihr hatte noch nie jemand gemeint, sie sei hübsch.

«Sie ist wunderschön», erwiderte er und stieß ein kleines Lachen aus, als wäre ihm aufgefallen, wie dumm es von ihm war, sich von einem fünfzig Jahre alten Foto so in den Bann ziehen zu lassen. Trotzdem ergänzte er: «Das ist ein Gesicht, für das Männer morden würden.»

Kapitel fünf

Auf dem mittleren Treppenabsatz zog Kate ihr Handy aus der Tasche und rief Stuart an, ihren neuen Freund. Ihre erste richtige Beziehung, seit Rob auf der Ölplattform ums Leben gekommen war. Stuart war mehr in den Bergen zu Hause als in der Stadt, und außerdem spielte er einfach traumhaft Saxophon, und jetzt überwältigte sie die Sehnsucht nach ihm. Doch niemand hob ab, und sie hinterließ eine Nachricht. «Ruf mich bitte zurück.» Während sie die Treppe hinabstieg, überlegte Kate, wie sie den Kindern beibringen sollte, dass Margaret tot war. Sie hatten sie fast ihr ganzes Leben lang gekannt. Margaret war ihr Babysitter und wie eine Großmutter für sie gewesen. Ryan hatte auch jetzt noch viel Zeit mit ihr verbracht. Dieses Jahr hatten sie sich schon an einige Veränderungen gewöhnen müssen, jetzt, wo Stu in ihr Leben getreten war und Kate voller neuer Pläne steckte. Kate verlangsamte ihre Schritte, sie brauchte Zeit, um sich die Worte im Kopf zurechtzulegen, und ihr wurde klar, dass sie nicht die geringste Vorstellung davon hatte, wie die Kinder auf die Nachricht reagieren würden. Sie waren groß geworden und hatten sich von ihr entfernt, und wenn es um die beiden ging, konnte sie ihrem eigenen Urteil nicht mehr trauen.

George Enderby musste sie gehört haben, oder vielleicht hatte er ja auch gehorcht, wann sie wiederkäme, denn die Tür zu seinem Zimmer ging auf, und er streckte den Kopf heraus.

«Ist alles in Ordnung, Kate?» Er klang aufrichtig besorgt. Dann peinlich berührt. «Bitte entschuldigen Sie, ich wollte nicht neugierig sein.»

«Margaret ist tot.» Auf einmal wurde ihr schwindlig, und sie stützte sich an der Wand ab.

«Oh, das tut mir aber leid!» Er wollte schon hinaus auf den Flur treten, als ihm einfiel, dass seine Tür hinter ihm zuschlagen und er ausgesperrt sein würde. Deshalb machte er einen merkwürdigen kleinen Hopser, hielt die Tür nun mit einem Fuß auf und beugte sich hinüber zu Kate. «Ich habe sie ja nicht gut gekannt, aber eine alte Frau habe ich nie in ihr gesehen. War es denn etwas Überraschendes? Ein Herzanfall?»

«Sie wurde umgebracht», sagte Kate. «Auf dem Heimweg aus der Stadt in der U-Bahn erstochen.» Wieder hatte sie das Gefühl, alles um sie herum würde sich drehen. Sie setzte sich auf die unterste Stufe und vergrub den Kopf in ihren Händen.

George verschwand kurz, und sie sah, dass er im Zimmer nach seinem Schlüssel griff; dann saß er neben ihr, den Arm um ihre Schultern gelegt. Sie konnte sein Rasierwasser riechen und den süßen Duft des Kekses, den er gerade gegessen hatte. Zimt und Ingwer. Kate dachte, wie anders alles doch gekommen wäre, wäre Rob so liebenswürdig gewesen wie George Enderby. Einen Augenblick lang blieb sie so sitzen und genoss den Körperkontakt, dann machte sie sich sanft los. «Ich muss es den Kindern sagen.»

«Aber natürlich», erwiderte er. Er erhob sich und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. «Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, geben Sie mir bitte Bescheid.» Und damit verschwand er wieder in seinem Zimmer, als würde er denken, seine Anwesenheit könnte ihren Kummer noch vergrößern.

Unten im Souterrain hatte Ryan sich in sein Zimmer verzogen. Sie hörte die Geräusche seines Computers. Irgendein Spiel um Monster und das Ende der Welt. Chloe saß mit einem Stapel Bücher neben sich am Tisch und kritzelte in ein Notizheft. Sie sah blass und müde aus.

«Ryan, komm bitte her. Ich muss mit euch beiden sprechen!»

«Okay.» Aber er ließ sich nicht blicken. Und das war typisch Ryan. Er war immer mit allem einverstanden und machte dann doch, was er wollte. Chloe hatte sich auf ihrem Stuhl umgedreht und sah, dass ihre Mutter geweint hatte. «Was ist denn los?» Die Frage wurde von einem kurzen, unwilligen Blick begleitet, der reflexhaften Abwehr eines Teenagers, dessen Eltern sich komisch benahmen. Dann jedoch wurde ihr klar, dass es sich um etwas Ernstes handelte und Kate nicht bloß wegen irgendeines häuslichen Dramas überreagierte. Schon war sie aufgesprungen. «Mum, was ist denn los?» Und als Kate von neuem zu weinen anfing, rief Chloe ihren Bruder, und diesmal kam er tatsächlich aus seinem Zimmer. Er stand da und schaute sie beide verwirrt und unschlüssig an, als wären Frauen eine ganz andere Art von Geschöpfen, in deren Angelegenheiten man sich sicherheitshalber nicht einmischte.

Sie räumten die Schulbücher auf die Kommode und setzten sich an den Tisch. Chloe holte eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank, die sie mit einer Lässigkeit entkorkte, die Kate unter anderen Umständen Sorgen bereitet hätte. Sie goss Kate ein großes Glas ein. «Erzähl uns, was los ist.»

«Margaret ist tot.»

«Wie?» Das war das Erste, was Ryan überhaupt sagte. Sie blickten ihn an.

«Ich meine, wie ist sie gestorben? Hatte sie einen Unfall? Als ich mich heute Morgen auf den Weg gemacht habe, ging’s ihr noch prima.» Er runzelte die Stirn, und wieder fühlte Kate sich an Robbie erinnert.

«Sie wurde ermordet.» Kate dachte, das klingt wie ein Refrain von einem dieser Songs, die Ryan auf seinem iPod hört. Gebrüllter Krach. Wenn sie es nur oft genug gegenüber all den Leuten, denen sie es erzählen musste, wiederholte, würde sie es am Ende vielleicht ja glauben können. Sie sah die Kinder an. In beiden Gesichtern meinte sie, ein Aufflackern der Erregung zu entdecken, bevor Ungläubigkeit und Verzweiflung sich breitmachten. Mord war der Stoff, aus dem Geschichten waren. Sie stellte sich vor, dass beide sofort ihre Klassenkameraden anrufen würden, sobald sie sie vom Tisch aufstehen ließ. Ihr werdet nie glauben, was bei uns daheim passiert ist … Eine Zeitlang könnten sie sich nun in geborgtem Ruhm sonnen, die Beliebtheit genießen, nach der sie sich offenbar beide sehnten.

«Wieso sollte jemand denn eine alte Frau wie Margaret umbringen wollen?»

Kate blickte Chloe an und dachte, sie ist dünner geworden in letzter Zeit. Hatte Kate sich etwa so sehr von Stuart und ihrer geradezu närrischen Verliebtheit in Beschlag nehmen lassen, dass sie ihre Kinder vernachlässigt hatte?

«Ich weiß es nicht.» Kate schwieg kurz. «Sie war nie eine alte Frau für mich. Sie hatte so viel Energie.»

«Wo ist sie ermordet worden?» Offenbar brauchte Ryan Einzelheiten, um seine Neugier zu stillen. Auf einmal kam er ihr beinahe wie ein Fremder vor. Er war ein gutaussehender Junge; später einmal würde er den Mädchen die Herzen brechen. Sie hatte ihn hier in Mardle schon mit einigen hübschen Mädchen gesehen, doch vorgestellt hatte er ihr noch nie eins. Keins der Kinder brachte jemals Freunde mit nach Hause.

«Anscheinend in der U-Bahn. Als sie auf dem Heimweg aus der Stadt war.» Kate sah Ryan an. «Hat sie dir denn gesagt, wo sie hinwollte, als du sie heute früh gesehen hast?»

Er schüttelte den Kopf.

«Die Polizei wird das vermutlich wissen wollen.»

«Die Polizei?» Diese Frage stieß er betont gleichgültig hervor. Doch natürlich wollte er mehr über die Ermittlungen wissen. Noch mehr Informationsschnipsel, die man auf Facebook posten konnte.

«Sie sind gerade oben in Margarets Wohnung. Von ihnen weiß ich, dass Margaret tot ist.»

Alle waren kurz still. «Arme Margaret», sagte Chloe. «Wo ist sie jetzt? Ich meine, wo ist ihre Leiche? Wird es eine Beerdigung geben?»

«Ich nehme an, die Polizei wird eine Obduktion durchführen lassen. Und dann wird sicher eine Beerdigung stattfinden. Ich weiß nicht, wie so etwas abläuft.»

Wahrscheinlich werde ich mich darum kümmern müssen, dachte Kate. Wer soll es denn sonst machen? Dann fiel ihr ein, dass sie das mit Pater Gruskin würde besprechen müssen, einem Mann, den sie noch nie hatte leiden können. Plötzlich hatte sie großen Hunger. «Ich hol uns einen Schmortopf aus dem Gefrierschrank. Wir müssen ja schließlich noch etwas essen.» Es war eine Erleichterung, aufstehen und kurz aus dem Zimmer gehen zu können.

Sie trank gerade ihr zweites Glas Wein und war dabei, den Tisch fürs Abendessen zu decken, als die beiden Ermittler auftauchten. Sie hatte gedacht, sie wäre sie los, zumindest für heute. Sie hatte angenommen, die beiden hätten allein aus dem Haus gefunden. Doch jetzt standen sie da im dunklen Flur des Souterrains, und Kate wusste, dass sie noch mehr Fragen stellen würden.

«Sie kommen wohl besser herein.»

«Es tut mir leid, dass wir Sie noch einmal stören müssen.» Aber Vera Stanhope lächelte, und Kate glaubte, dass es ihr nicht im mindesten leidtat. «Wir würden gern Kontakt zu Mrs. Krukowskis Familie und Freunden aufnehmen, doch in ihrer Wohnung konnten wir kein Adressbuch finden. Vielleicht können Sie uns weiterhelfen.»

Kate führte sie in die Küche. Ryan und Chloe hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Die Gesellschaft von Erwachsenen mieden sie für gewöhnlich wie scheue Tiere. Chloe lernte bestimmt wieder. Und Ryan lauschte vermutlich. Er spionierte anderen gern hinterher, und sie hatte ihn schon öfter dabei erwischt.

«Margaret hat ihre Familie nie erwähnt», sagte Kate. Der Topf mit dem Schmorgericht drehte sich zum Auftauen in der Mikrowelle, und der Ofen zeigte an, dass er aufgeheizt war. Sie wünschte sich, Stuart würde endlich kommen. «Wie ich Ihnen ja schon erzählt habe, brachen die Beziehungen zu ihrer Familie ab, als sie heiratete. Ich glaube nicht, dass sie sich je wiedergesehen haben. Ihre Eltern sind inzwischen vermutlich tot, auch wenn ich mich nicht erinnern kann, dass sie mal zu einer Beerdigung gegangen wäre.»

«Keine Brüder oder Schwestern?»

«Nicht dass ich wüsste.»

«Hat sie Ihnen jemals erzählt, wo sie aufgewachsen ist?» Vera Stanhope hatte es sich am Küchentisch bequem gemacht. Sie war so massig, dass sie den Platz völlig auszufüllen schien, und fühlte sich offenbar so wohl, dass Kate sich schon vorstellte, dass sie die ganze Nacht dort sitzen blieb.

«In Gosforth», sagte Kate. «In einem dieser großen Stadthäuser in der Nähe der High Street.» Sie sah, wie die beiden Ermittler einen kurzen Blick austauschten, und dachte, diese Information ist wohl irgendwie von Bedeutung.

«Und was ist mit Freunden?», fragte Vera. Sie schaute hoch zu Kate. «Sie hat schließlich ganz schön lange in Mardle gewohnt und wird ja kaum eine Einsiedlerin gewesen sein, Ihre Margaret. Sie muss doch Freunde gehabt haben, auch wenn diese nicht herkamen, um sie zu besuchen.» Vera lächelte. «Freunde außer Ihnen, meine ich.»

Darüber dachte Kate nach. Margaret hatte anscheinend nie andere Freunde gebraucht als die, die sie hier in der Harbour Street gehabt hatte, aber sie wollte nicht, dass die Kommissarin Margaret für eigenbrötlerisch oder vereinsamt hielt.

«Ich glaube, wenn sie nicht hier war, spielte sich ihr soziales Leben größtenteils im Umkreis der Kirche ab», sagte sie. «Sie sollten den Priester fragen, Pater Gruskin.»

«Und wo kann ich den finden? Gibt es überhaupt eine katholische Kirche in Mardle?»

«Er ist anglikanischer Geistlicher. Betreut die Kirche gleich gegenüber. St. Bartholomew’s. Aber er selbst nennt sich nun mal Priester.» Kate hörte die Abneigung aus ihrer Stimme heraus und fragte sich, ob die Kommissarin das wohl aufgreifen würde. Doch stattdessen blickte Vera sich betont auffällig in der Küche um, betrachtete den Stapel Schulbücher auf der Kommode und den Notenständer in der Ecke.

«Wie alt sind Ihre Kinder?»

«Chloe ist vierzehn, und Ryan ist gerade sechzehn geworden.»

«Könnten wir bitte mit ihnen sprechen? Das ist keine offizielle Befragung, nur ein kurzer Plausch hier in der Küche, um herauszufinden, wann sie Margaret zuletzt gesehen haben. Joe kann ihnen die Fragen stellen. Er hat selber Kinder, fast im gleichen Alter. Nicht wahr, Joe?»

Der gutaussehende Sergeant lächelte. «Etwas jünger», sagte er. «Aber manchmal benehmen sie sich schon wie Teenager. Nicht gerade ein Alter, auf das ich mich freue.»