Ein Echo aus stählerner Zeit - Ralf Lano - E-Book

Ein Echo aus stählerner Zeit E-Book

Ralf Lano

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Beschreibung

Der erste Fall für den Eifeler Dorfschmied 1946 – Die Kriegsheimkehrer finden in der rauen Abgeschiedenheit der Eifelhügel traumatisierte Menschen und beschädigte Dörfer vor. Einer von ihnen ist Karl Bermes, der Schmied des Örtchens Disselbach in der Nähe von Bitburg. Er ist noch nicht lange aus der Gefangenschaft zurückgekehrt, als sein bester Freund Werner bei der Detonation einer Mine am Rande des Dorfes getötet wird. Karl ist sehr schnell klar, dass es sich nicht um einen Unfall handelt, sondern um einen gezielten Anschlag. Unweit der Unglücksstelle wurde mitten im Wald ein ehemaliges Lager des Arbeitsdienstes von der französischen Besatzung zum Flüchtlingslager umfunktioniert, das eine Menge undurchsichtiger Fremder ins Dorf bringt. Karl beginnt nachzuforschen. Eine der Neuankömmlinge ist Pauline, die Tochter des Lagervorstehers, die für Karl in jeder Hinsicht wichtiger wird, als er sich das hätte vorstellen können. Nach und nach offenbart sich ein schreckliches Geheimnis, und Karl gerät in einen Strudel gefährlicher Ereignisse. Eine hochspannende Nachkriegsgeschichte – der fulminante Auftakt zu einer neuen Romanreihe!

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Seitenzahl: 430

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Ralf Lano, geb. 1965 in Kyllburg, ausgebildeter Werkzeugmacher, staatlich geprüfter Maschinenbautechniker, arbeitete einige Jahre als Designer und Konstrukteur von Kachelöfen. Seit 22 Jahren ist er als Maschinenbaukonstrukteur bei einem größeren Automobilzulieferer beschäftigt.

Zum Schreiben kam er bereits sehr früh, bisher sind ca. 30 Kurzgeschichten in regionalen Publikationen (z. B. Eifeljahrbuch) erschienen. 2022 war er unter den sechs Nominierten des deutschen Kurzkrimi-Preises. Sein Beitrag Die Kuh Elsa ist in »Tatort Eifel 8« des KBV erschienen.

Ein Echo aus stählerner Zeit ist sein erster Roman und der Auftakt einer mehrbändigen historischen Eifelkrimi-Reihe.

Ralf Lano

Ein Echo aus stählerner Zeit

Originalausgabe

© 2023 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Krampunter Verwendung von © Evgeniy Kalinovskiyund © Fabio - stock.adobe.com

Lektorat: Nicola Härms, Rheinbach

Print-ISBN 978-3-95441-663-9

E-Book-ISBN 978-3-95441-671-4

INHALT

PROLOG

MONTAG, 12.08.1946: TAG 1

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

DIENSTAG, 13.08.1946: TAG 2

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

MITTWOCH, 14.08.1946: TAG 3

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

DONNERSTAG, 15.08.1946: TAG 4

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

FREITAG, 16.08.1946: TAG 5

KAPITEL 15

KAPITEL 16

SAMSTAG, 17.08.1946: TAG 6

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

SONNTAG, 18.08.1946: TAG 7

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

MONTAG, 19.08.1946: TAG 8

KAPITEL 25

EPILOG

PROLOG

Werner Schomer hatte das Gefühl, nicht allein im Wald zu sein. In einem antrainierten Reflex ging er in die Hocke, um die Lage zu überprüfen. Im Krieg waren Bedrohungen aller Art sein tägliches Brot gewesen. Seit dieser Zeit wusste er, dass er sich zu einhundert Prozent auf seine Instinkte verlassen konnte. Öfter als einmal hatte ihm das sein Leben gerettet, während seine Kameraden, die nicht so schnell reagierten, starben. Das Gefühl der Gefahr, das sich wie gewohnt als Kitzeln im Nacken ausbreitete, hatte ihn noch nie getrogen. Dass seit über einem Jahr wieder Frieden herrschte, änderte daran nichts. Hier im Disselbacher Wald sollte die größte Gefahr maximal von den scheuen Füchsen oder vielleicht von einem wütenden Eber ausgehen. Werner hatte während des Krieges jedoch lernen müssen, was für ein gefährliches Raubtier der Mensch sein konnte. Lange genug war er selbst als Raubtier im Einsatz gewesen. Die diversen Orden, die man ihm dafür verliehen hatte, lagen gut versteckt zu Hause im Keller, hier in der Eifel wollte er um keinen Preis auffallen.

Ganz langsam griff er in die Hosentasche, in seiner Hand erschien sein gutes altes Wehrmachtsrasiermesser. Ohne ein Geräusch zu verursachen, zog er es langsam auseinander. Er hatte das Messer etwas modifiziert. Danach war nicht nur die Klinge sehr scharf, es rastete auch mit einem Splint sicher ein. Zudem war es so zugeschliffen, dass man damit auch zustechen konnte. Dieses Rasiermesser hatte nicht nur seinen Hals bearbeitet.

Werner drehte sich sehr langsam um sich selbst, seine Augen bildeten schmale Schlitze, seine Ohren registrierten jedes noch so kleine Geräusch. Einige Meter entfernt lagen die Säge und die große Axt. Werner bereitete seit Tagen Fallholz aus seinem Teil des Disselbacher Forstes auf, um Brennholz für den kommenden Winter zu haben. Eigentlich wollte er die zugeschnittenen Stücke heute an den Wegesrand rücken. Mit seinem Nachbarn Wilhelm war abgesprochen, dass er sich dessen Ochsen und Wagen lieh, um das Holz in den nächsten Tagen nach Hause transportieren zu können. Er war nur zum Pinkeln etwas zur Seite getreten. Als er die Hose wieder zuknöpfte, hatte sein Nacken zu kitzeln begonnen. Rechts raschelte etwas im Unterholz. Werners Hände zuckten, als ein Eichhörnchen zu einem Baum hüpfte, um mit schnellen Sprüngen nach oben zur Krone zu verschwinden. Einen sehr kurzen Augenblick durchflutete ihn Erleichterung: nur ein blödes Eichhörnchen. Dann meldete sich das Gefühl der Bedrohung zurück, stärker als zuvor. Erneut eine Bewegung, diesmal links.

Werner schluckte das »Wer da?« herunter. Diese saudumme Frage machte nur auf die eigene Position aufmerksam. Seine Devise lautete seit Jahren: erst schießen beziehungsweise handeln, dann fragen – falls noch jemand zum Fragen übrig war.

Wenn das ein dummer Scherz sein sollte, würde sich der Scherzbold vermutlich die Überraschung seines Lebens einhandeln.

Er brachte das Messer routiniert in eine halbhohe Position, um möglichst in alle Richtungen agieren zu können. Hauptfeldwebel Karb, seinerzeit sein Ausbilder im Nahkampf, wäre vermutlich stolz, ihn so zu sehen. Karb war ein Arsch gewesen, aber er hatte die Grundlagen für Werners Fähigkeiten gelegt.

Langsam, Schritt für Schritt, bewegte Werner sich nach links, das trockene Laub des Waldbodens verriet allerdings jeden noch so vorsichtigen Tritt.

Da, tatsächlich! Hinter einigen dichten Büschen duckte sich ein Mann weg. Werner umfasste das Messer fester, wie ein Scherz wirkte das nicht. Nun, egal was dies bedeuten mochte, er war gewillt und fähig, sich seiner Haut zu erwehren. Beim vorsichtigen Verfolgen des Phantoms hob er mit links einen Ast vom Boden auf. Im beidhändigen Kampf war er zwar ausgebildet, er gehörte jedoch nicht zu seinen Stärken. Zur Not konnte er aber auch mit links töten.

Ein Rascheln, ähnlich wie das seiner eigenen Schritte. Es hörte sich so an, als wollte der Fremde ihn rechts umgehen. Vor Werner standen zwei dichte Büsche, in der Mitte gab es einen schmalen, natürlichen Durchgang. Werner wartete, bis er wieder Geräusche vernahm; entschlossen machte er einen Schritt nach vorne, um durch die Büsche hindurchzulaufen.

Es klickte.

Werner erstarrte. Er sah sich vorsichtig um, bevor er nach unten blickte. Unter seinem Fuß befand sich eine rostige Metallplatte, die mit einem Draht verbunden war, der nach rechts lief. Am Ende des ungelenken Drahtes hingen, etwa in Schritthöhe, einige Handgranaten zusammengebunden an einem Stiel. Er wusste sehr genau, was das war, er hatte schließlich selbst genug von diesen Scheißdingern verlegt. Es war dem Fremden gelungen, ihn in eine Sprengfalle zu locken, die aus einer geballten Ladung bestand. Bei der kleinsten Bewegung seines Fußes wäre ein Blitz das Letzte, was er sah.

Ich Idiot, ich bin in eine Falle gelaufen, ging es ihm durch den Kopf. Früher wäre mir das nicht passiert, dämlicher Friede.

Die Gestalt erschien in der Lücke zwischen den Büschen. Vor ihm stand ein unbekannter Mann. Wie so viele andere, die der Krieg durchgekaut und ausgespuckt hatte, trug er eine alte, abgenutzte Wehrmachtsuniform, von der sämtliche Abzeichen entfernt worden waren. Einige Sekunden starrten sich die Männer in die Augen. Dann sagte der Fremde: »Weißt du, wer ich bin?«

So sehr Werner seine Erinnerungen auch durchforstete, er konnte das Gesicht nirgends einordnen.

»Nein«, teilte er wahrheitsgemäß mit.

»Der Name Huber sagt dir noch etwas?«

Werner atmete tief aus, er verstand, worum es hier ging. Man wurde wohl tatsächlich von seinen bösen Taten eingeholt, selbst hier im hintersten Winkel der Eifel. Gnade brauchte er keine zu erwarten. Im Gegenteil, sehr wahrscheinlich würde sich dies zu einer sehr hässlichen Sache entwickeln. Es wunderte ihn eigentlich nur, warum es sich lediglich um einen Gegner handelte. Er sah zu den Granaten. Vielleicht sollte er besser gleich die geballte Ladung auslösen und den Bastard mitnehmen? In den Jahren des Krieges war Aufgeben für ihn nie eine Option gewesen. Also fragte er: »Was möchtest du von mir?« Er versuchte, Zeit zu gewinnen, im Kopf ging er fieberhaft seine Möglichkeiten durch.

Der Mann verzog den Mund. »Das weißt du ganz genau, Arschloch. Ich lasse dich erst mal etwas schmoren, damit du über deine Lage nachdenken kannst. Ich habe einige Kameraden, die sich ebenfalls für dich interessieren. Da wirst du bestimmt den ein oder anderen kennen.«

Ohne weitere Erklärung machte er kehrt, vielleicht zehn Schritte entfernt drehte er sich zu ihm um. Anscheinend wollte er prüfen, ob sein Opfer sich bewegte. Wenn es hier um das ging, was Werner vermutete, wusste der Fremde genau, wozu Werner in der Lage war. Nun galt es, Ruhe zu bewahren. Er musste es irgendwie schaffen, den Draht so unter Zug zu behalten, dass er seinen Fuß wegnehmen konnte. Er spürte das Holz des Astes in seiner linken Hand, das könnte mit etwas Geduld funktionieren. Allerdings beobachtete ihn sein Gegner aufmerksam. Also, nur Geduld.

Über ihm raschelte es. Werner sah nach oben, weil er eine neue Bedrohung erwartete. Doch da turnte nur das Eichhörnchen herum. Ein alter Tannenzapfen löste sich dabei und fiel auf Werner herab. Weil sich alle seine Sinne im Alarmzustand befanden, duckte er sich reflexartig. Dabei verlor er den festen Stand. Mit einem »Uaaahh …« taumelte er unkontrolliert rückwärts. Der Draht knirschte, samt Blech schnellte er davon in Richtung der geballten Ladung. Werner wusste, dass er einen großen Fehler gemacht hatte, wohl seinen letzten.

MONTAG, 12.08.1946TAG 1

-1-

Fräulein Schneebach plagte die Langeweile, dabei hatten die großen Ferien gerade erst begonnen. Genau genommen handelte es sich um die ersten regulären großen Ferien nach den fast sechs Kriegsjahren. Im Jahr zuvor, nach der Eroberung durch die Amerikaner und die anschließende Besatzung durch die Franzosen, hatte es lange gedauert, bis es wieder so etwas wie einen geregelten Schulbetrieb gab. Ab dem Herbst normalisierte sich das Leben dann nach und nach, soweit man bei einer Besatzung von normalen Zuständen sprechen konnte. Das Fräulein war als Preußin aus Königsberg schon aus Prinzip und alter Tradition keine Freundin der Franzosen. Da sie aber weiter als Lehrerin arbeiten wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich mit den Verhältnissen zu arrangieren.

Immerhin war sie im Frühjahr von der Besatzungsmacht als unbelastet vom Naziregime eingestuft worden, für sie eine Selbstverständlichkeit. Fräulein Schneebach betrachtete sich als durch und durch konservativ, mit den braunen Schreihälsen hatte sie jedoch nie etwas anfangen können. Nach ihrem »Persilschein« wurde der Schulbehörde anscheinend wieder bewusst, dass sie überhaupt noch existierte. Lehrer, die nicht Mitglied in einer der unzähligen NSDAP-Organisationen gewesen waren, gab es kaum. In der Folge war der Mangel an Lehrkräften aktuell groß. Es tauchte sogar ein graugesichtiger Amtsträger aus Trier in der Disselbacher Volksschule auf, der das Fräulein an eine Schule eben nach Trier versetzen wollte. Der Mann flehte und drohte, Fräulein Schneebach blieb hart. Sie hatte sich bereits vor dem Krieg dazu entschlossen, ihre Dienstzeit in Disselbach zu beenden. Ein höheres Gehalt oder größere Kompetenzen interessierten sie nicht mehr. Nach der Abreise des Mannes vom Amt horchte das Fräulein in sich hinein und wusste, es war die richtige Entscheidung gewesen.

Während der Kriegsjahre waren die Ferien stets wie im Flug vergangen. Nun verhielt sich alles wieder wie in den Jahren vor dem Krieg. Wie eh und je wurden die Kinder in den Sommerferien als kostenlose Arbeitskräfte hauptsächlich dazu eingesetzt, die Ernte auf den elterlichen Bauernhöfen einzubringen oder von früh bis spät die Kühe zu hüten.

Für das Fräulein gab es derzeit also kein sinnvolles Tagesgeschäft, deshalb wusste sie nicht so richtig, wie sie ihre Zeit totschlagen sollte. Den Morgen verbrachte sie damit, die Bücher der kleinen Schulbibliothek zu inspizieren und zu sortieren. Da es sich jedoch nur um wenige Bücher handelte und das Ausleihen von Büchern nicht sehr weit oben auf der Wunschliste der meisten ihrer Schüler stand, brauchte sie dafür nicht lange. Die Bibliothek war auch aus dem Grund sehr überschaubar, weil eine der ersten Anordnungen der Besatzungsbehörde besagte, dass sämtliche Publikationen aus der Zeit von 1933 bis 1945 abgegeben werden mussten. Genau genommen handelte es sich um eine Umkehrung der Nazimaßnahmen seinerzeit, die sämtliche dem Regime nicht genehme Literatur verboten hatten. Diese Umkehr war eine der wenigen Anweisungen der neuen Ordnungsmacht, die das Fräulein uneingeschränkt begrüßte. Ebenso wie den Umstand, dass dieses unsägliche Fach Rassenkunde aus dem Lehrplan gestrichen wurde. 1933 ignorierte sie die barbarische Anordnung, Bücher abzugeben oder zu vernichten. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion rettete sie ihren geliebten Heine sowie die Bücher von Kästner und anderen verbotenen Autoren auf den Speicher der Schule. Wobei niemand je danach gesucht oder gefragt hatte. Mit diesem soliden Grundstock konnte sie im letzten Jahr die Bibliothek wenigstens wieder mit etwas Qualität ausstatten. Zudem freute es sie, dass sie so ein gewisses Gegengewicht zur katholischen Bücherei von Dorfpfarrer Winkel bilden konnte. Sie kümmerte sich nicht im Detail um das, was sich in diesem Hort religiöser Rückständigkeit befand. Sie war sich aber sehr sicher, dass einige ihrer Lieblingsbücher auf dem Index der verbotenen Bücher des Priesters ziemlich weit oben rangierten.

Nach dem Mittagessen brach sie zu einem kleinen Spaziergang ums Dorf auf. Disselbach lag im Süden der Eifel, etwas mehr als zehn Kilometer von der Kreisstadt Bitburg entfernt. Fräulein Schneebach war 1913, nach ihrer Ausbildung zur Dorfschullehrerin, hierher nach Disselbach versetzt worden. Damals hatte sie darum gebeten, in die katholische Provinz zu kommen, sie wollte das Licht preußischer Aufklärung zu den Menschen bringen. Trotz ihres Anspruchs wäre es 1913 außerhalb ihrer Vorstellungskraft gewesen, einmal auf dreiunddreißig Jahre Dienst in einer Dorfschule am Rand der zivilisierten Welt zurückzublicken und damit schlicht zufrieden zu sein. Eigentlich hatte Disselbach damals nur der erste Schritt in ihrer Karriere im preußischen Schuldienst sein sollen. Sie kam aus einer großen Stadt, es dauerte einige Jahre, bis sie das ruhige Landleben der Eifel mit ihren Ideen und Vorstellungen in Einklang gebracht hatte. In den Briefen, die von zu Hause kamen, konnte sie Bemerkungen über Preußisch-Sibirien lesen, wenn es um die Eifel ging.

1914 kam der erste große Krieg, das Kaiserreich versank in den Wirren danach, die Personalakte des Fräuleins verschimmelte in einem unbekannten Archiv. Irgendwie wurden aus den geplanten wenigen Jahren so sehr schnell Jahrzehnte. Nach dem anfänglichen Kulturschock freundete sich die Lehrerin langsam mit der Situation vor Ort an. Es hatte zunächst beiderseits große Vorbehalte zwischen der protestantischen Preußin und den durch und durch katholischen Eifelern gegeben. Mit der Zeit gewöhnte man sich aneinander. Mittlerweile unterrichtete sie bereits die zweite Generation Nachkommen ihrer ersten Schüler von 1913. Was ihr besonders an den Menschen in der Eifel gefiel, war ihre Ehrlichkeit. Es wurde nicht lange um den heißen Brei herumgeredet. Von einem Disselbacher Bauern wurde ihr direkt und ungeschminkt die Meinung gesagt. Damit hatte das Fräulein kein Problem, sie sagte ebenfalls immer allen offen und ehrlich ihre Meinung.

Sie schlenderte einen Feldweg am Rand des Dorfes entlang. Disselbach erstreckte sich von einem kleinen Hügel zu einer Senke hin, die von dem gleichnamigen Bach durchflossen wurde. Wäre das Fräulein nicht so nüchtern veranlagt, sie hätte von einem lieblichen Anblick sprechen können. Der Bach teilte den Ort inoffiziell in ein Oberdorf und ein Unterdorf. Die Bezeichnung Unterdorf war etwas irreführend. Gleich vom Bach aus ging es wieder den nächsten Hügel hinauf. Weil das Dorf aber nun mal um die Kirche herum entstanden war, hatten sich die Bezeichnungen Ober- und Unterdorf, mit dem Disselbach als Trennung, eingebürgert. Ihr Zuhause, die Schule, befand sich gleich neben der Kirche unweit des Baches, quasi auf neutralem Boden. Vor dem Krieg hatte es genug junge Burschen gegeben, dass regelmäßig Fußballspiele zwischen den inoffiziellen Ortsteilen ausgetragen werden konnten. Damals bestanden ernstzunehmende Rivalitäten zwischen den Mannschaften – inklusive Schlägereien. Der Krieg hatte die Disselbacher von diesem Unfug kuriert. Durch die Verluste waren nicht mehr genug junge Männer übrig, um zwei Mannschaften zu bilden.

Fräulein Schneebach befand sich an einer der erhöhten Stellen, das Dorf breitete sich zu ihrer Rechten entlang der Hügelflanke aus. Einige enge Gassen führten durch die verwinkelt aneinander gebauten Häuser und Bauernhöfe. Je weiter man zum Dorfrand kam, desto vereinzelter standen die Bauernhöfe und Gebäude. Allen Häusern gemein war, dass sie aus dem Bruchsandstein des alten Steinbruchs erbaut waren, der an der Straße in Richtung Bitburg lag.

Anfang der Zwanzigerjahre war sie zuletzt in der alten Heimat Königsberg gewesen, als ihre Eltern schnell nacheinander an der Spanischen Grippe gestorben waren. Sie machte sich keine großen Illusionen, Königsberg war wohl unwiederbringlich verloren. Diese traurige Tatsache trug dazu bei, dass sie die Disselbacher nun endgültig als ihre Ersatzfamilie betrachtete. Sie selbst stellte vermutlich am ehesten so etwas wie eine gestrenge Großtante dar, die dafür Sorge trug, dass alles in geregelten Bahnen verlief. Fräulein Schneebach schüttelte den Kopf über sich selbst.

Sie passierte den aufgelassenen Steinbruch. Es gab einen neuen, den das Fräulein auf der anderen Seite des Dorfes sehen konnte. Infolge des Krieges ruhten aber dort derzeit alle Arbeiten. Zur Linken, auf gleicher Höhe, lag der Disselbacher Forst.

Die Eifler waren klassische Selbstversorger. Im Frieden gaben die Gärten und Äcker genügend Ertrag für ein auskömmliches Leben her. Auf den Feldern und Wiesen entlang des Weges herrschte reges Treiben. Überall waren Leute bei der Arbeit. Nach den langen Jahren des Krieges reichte es nun wieder dazu aus, dass trotz der allgemeinen Mangellage niemand hungern musste. Das Landleben bot trotz der Abgeschiedenheit eindeutig seine Vorteile. Vor dem Krieg hatte es die roten Postbusse gegeben, mit denen das Fräulein hin und wieder zum Einkaufen nach Bitburg oder Kyllburg fahren konnte. Bitburg lag in Trümmern, und um Kyllburg hatte es ebenfalls heftige Kämpfe gegeben. Bis regelmäßige Busse die Eifel wieder mit der Welt verbanden, würde vermutlich noch etwas Zeit ins Land gehen.

Das Ende ihres Spaziergangs führte das Fräulein, wie so oft, zur Schmiede von Karl Bermes, die am oberen Rand des Dorfes lag. Karl war vor zehn Jahren der Lieblingsschüler des Fräuleins gewesen. Genau genommen hatte es in all den Jahren, in denen sie in Disselbach unterrichten durfte, keinen besseren Schüler als ihn gegeben. Viele andere Jungs und Mädchen konnte sie ebenfalls umfassend mit »Sehr gut« benoten, niemand besaß jedoch die Auffassungsgabe Karls. Das Fräulein redete jahrelang geduldig auf Karls Vater ein, damit der seinen Sprössling auf das Gymnasium nach Bitburg schickte. Sie bot sogar an, das Schulgeld zur Hälfte zu übernehmen. Josef Bermes ließ sich jedoch nicht erweichen. Karl stand seiner Meinung nach in der langen Tradition der Dorfschmiede von Disselbach. Kein Bermes kam jemals auf die Idee, einen anderen Beruf zu ergreifen, und damit basta. Karl fügte sich diesem Machtspruch. Zum Leidwesen des Fräuleins hinkte sein Ehrgeiz seiner Intelligenz mit erheblichem Abstand hinterher.

Wie die übrigen Jungen seines Jahrgangs musste Karl nach der Lehre bei seinem Vater in den frühen Vierzigerjahren zur Wehrmacht einrücken. Während des Krieges hörte sie wenig von ihm, bis er dann vor fünf Monaten aus der amerikanischen Gefangenschaft heimkehrte. Seine beiden älteren Brüder Manfred und Heinrich fielen 1942 in Afrika und 1944 in Russland. Die Gesundheit seines Vaters erlaubte es diesem mittlerweile nicht mehr, von früh bis spät in der Schmiede zu stehen. Deshalb hatte Karl vor einiger Zeit den Betrieb vorläufig übernommen. Sein Vater blieb offiziell der Meister in der Schmiede, weil derzeit keine Meisterkurse angeboten wurden. Allerdings leistete Karl die Arbeit allein. Trotz der nachvollziehbaren Umstände sah Fräulein Schneebach dies als Verschwendung von Ressourcen und Talent an. Leider fehlte es Karl eben am Streben nach Höherem. Nun, da er der letzte überlebende Sohn war, gab es aber wohl für ihn ohnehin keine Alternative mehr zur Schmiede.

Trotzdem ließ das Fräulein es sich nicht nehmen, weiter an Karls Bildung zu arbeiten. Es machte einfach Spaß, mit ihm über Gott und die Welt zu diskutieren. Karl besaß zu allem eine Meinung und erfasste Zusammenhänge, die anderen verborgen blieben. Davon abgesehen sah sie gerne zu, wenn Karl Stahl in seiner Esse erhitzte, um ihm anschließend eine Form zu geben. Das musste man ihm lassen, bei aller Intelligenz war er zudem ein sehr fähiger Huf- und auch Kunstschmied. Das tröstete das Fräulein ein wenig, wurden so doch nicht alle seine Talente verschwendet.

Das große, zweiflügelige Scheunentor der Schmiede stand bei dem schönen Wetter offen. Heraus klang das helle Klirren von dünnem Metall, das bearbeitet wurde. Abgesehen von einem kleinen Kabuff an der rechten Wand bestand das Innere der Werkstatt aus einem einzigen großen Raum. Durch das Tor konnte man auch sperrige Gerätschaften wie einen Heuwagen zum Reparieren hineinfahren. Gleich links befand sich die schwarz gefärbte, geräumige Esse. Rings herum an den Wänden hingen unzählige Werkzeuge und Hilfsmittel, die die Lehrerin immer ein wenig an die Geräte einer Folterkammer erinnerten. An der gegenüberliegenden Seite des Tores standen einige stabile Stahlgestelle. Darin fanden sich alle möglichen runden und eckigen Stahlstäbe in verschiedenen Abmaßen. Sie zog die Nase kraus, wie üblich lag ein leichter Schwefelgeruch in der Luft. Karl arbeitete am Amboss vor der Esse, er hämmerte auf etwas ein, das sie nicht erkennen konnte. Das Fräulein umrundete den Bereich in einem großzügigen Bogen. In der Schmiedewerkstatt bestand stets die Gefahr, dass bei der Bearbeitung von Stahl und Eisen Funken sprühten, die unschöne Löcher in die Kleidung brannten.

Gut zwei Meter vom Amboss entfernt befand sich eine Werkbank, auf der diverse Gerätschaften wie Hämmer, Zangen oder Feilen verstreut herumlagen. Karls Ordnungsliebe ließ, genau wie sein Streben nach Höherem, sehr zu wünschen übrig. Die Preußin im Fräulein schauderte es jedes Mal bei dem Anblick.

Der junge Schmied sah kurz auf, um der Lehrerin zuzunicken. Gewohnheitsmäßig nahm sie auf dem Stuhl Platz, der gleich neben der Werkbank für sie bereitstand. Karl arbeitete ungerührt weiter an einer Sense, wie sie nun sehen konnte. Sie musste sich eingestehen, es gab unangenehmere Anblicke als das Spiel der Muskeln des jungen Schmiedes in seinem kurzärmeligen Hemd. Als eine Frau von Anfang fünfzig stand das Fräulein natürlich über allen romantischen Anwandlungen. Die hoch aufgeschossene Gestalt Karls mit den schmalen Hüften, den ausgeprägten Armen und Schultern ließ ihre Fantasie dennoch ein wenig ins Kraut schießen. Dazu kam das volle schwarze Haar, das allen Versuchen, es mit Haarwasser zu glätten, widerstand. Von der langen, geraden Nase tropfte der Schweiß. Ein Bildhauer hätte sicher sein Vergnügen an Karl gefunden. Fräulein Schneebach jedenfalls gefiel, was sie sah.

»Kaffee?«

Derart in Gedanken versunken, bemerkte die Lehrerin gar nicht, dass Karl die Sense an der Werkbank abgestellt hatte.

»Aber gerne.«

Mit dem Kaffee gab es einen weiteren Grund dafür, dass sie die Schmiede regelmäßig besuchte. Bei Karl kochte stets eine Kanne echten Bohnenkaffees vor sich hin. Vermutlich wurde der auf geheimen Pfaden schwarz aus Belgien geschmuggelt oder stammte aus anderen nicht ganz legalen Quellen. Die zwielichtige Herkunft tat dem Geschmack keinen Abbruch, das Fräulein fragte nicht groß nach, woher der Kaffee stammte. Sämtliche Ersatzkaffees der Kriegs- und Nachkriegszeit aus Bucheckern oder Eicheln waren ein absoluter Graus für sie. Eine der wichtigsten Lektionen der letzten Jahre lautete, man stellte besser keine dummen Fragen.

Karl legte den Hammer auf den Amboss und verschwand wortlos im Kabuff. Darin befand sich ein Kanonenofen, auf dem meist eine Kaffeekanne köchelte. Mit zwei dampfenden Tassen kehrte Karl wenig später zurück. Beide tranken den Kaffee schwarz. Dankbar nahm das Fräulein ihre Tasse entgegen.

»Wie ist deine Auftragslage?«, fragte sie.

»Seit vorgestern hat sich daran nichts geändert, Fräulein Schneebach.«

»Ach, nicht?«

Das war eines der Probleme mit der Langeweile in den Ferien. Während der Schulzeit besuchte das Fräulein Karl vielleicht alle zwei bis drei Wochen, in den Ferien geschah das eben öfter. Große Neuigkeiten hielten sich in einem Dorf wie Disselbach in Grenzen. Genüsslich nahm das Fräulein einen ersten Schluck. Immerhin hatte sie Neuigkeiten.

»Hast du gehört, die Franzosen wollen am 30. August den nördlichen Teil ihrer Besatzungszone, sprich uns, zu einem neuen Land machen? Rheinland-Pfalz, was ist das denn für ein merkwürdiger Name? Das Rheinland ist seit hundertdreißig Jahren preußisch, die Pfalz bayrisch. Es könnte schwierig sein, in Deutschland größere Gegensätze zu finden.«

Karl schüttelte den Kopf, ohne etwas zu sagen.

Das Fräulein ereiferte sich weiter: »Wozu soll das denn gut sein? Wer braucht denn ein neues Land? Das ist garantiert wieder nur so ein Versuch der Franzosen, einen Teil von Deutschland abzutrennen. Die haben das immer wieder versucht. Dieses neue Fantasieland ist am Ende nichts anderes als ein neuer Puffer zu Frankreich.«

Karl nahm den Hammer und fügte ihn dem Chaos auf der Werkbank hinzu.

»Fräulein Schneebach, wenn ich bedenke, was wir in zwei Kriegen so alles in Frankreich angestellt haben, kann ich verstehen, wenn die Franzosen auf Sicherheit bedacht sind. Wie Sie wissen, war ich eine Weile am Atlantikwall stationiert. Dort bin ich gelegentlich im Hinterland der Küste gewesen. Wir Deutsche sind da nicht eben beliebt, und was soll ich sagen, die Leute haben recht. Wir haben deren Land erobert und mit Bunkern zugepflastert. Wie würde Ihnen so etwas gefallen?«

Die Lehrerin wollte Karl etwas zur langen Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich erzählen. Sie entschied sich jedoch zunächst für einen weiteren Schluck Kaffee, bevor der kalt wurde. Kaum hatte sie die Tasse an die Lippen gesetzt, gab es draußen einen gewaltigen Donnerschlag. Vor Schreck landete der Kaffee zu einem großen Teil auf ihrem hellblauen Sommerkleid.

»Verflixt!« Hektisch wischte sie an dem braunen Fleck herum. Dann sah sie auf. »Was ist das gewesen?«

Karl sah mit gerunzelter Stirn zur Tür hinaus. »Vermutlich nichts Gutes.«

Er stellte seine Tasse auf den Amboss. Das Fräulein folgte ihm nach draußen. Sie mussten einige Schritte um das Gebäude herum gehen, ehe sie eine schmale Rauchsäule entdeckten, die aus dem nahen Wald aufstieg. Karl schirmte seine Augen gegen die Sonne ab, um besser sehen zu können. »Da ist wirklich etwas in die Luft geflogen.«

Fräulein Schneebach hörte nicht richtig zu, weil sie mit dem Taschentuch an ihrem Kleid herumwischte. Dieser Fleck würde sicher nicht einfach so herausgehen. Und das bei der aktuell katastrophalen Versorgungslage für Bekleidung. »Was hast du gesagt?«

»Drüben im Wald ist etwas explodiert, ein Blindgänger oder eine Mine, irgendetwas Größeres auf jeden Fall.«

»Das kann eigentlich nicht sein, die Franzosen haben im letzten Herbst doch überall deutsche Gefangene mit diesen Sonden herumgeschickt, nachdem das Munitionsdepot explodiert ist. Es sollte also alles geräumt worden sein.«

»Irgendetwas wird immer übersehen, wir sollten nachschauen, was da passiert ist.«

Die Lehrerin war hin und her gerissen, eigentlich musste das Kleid schnellstmöglich eingeweicht werden. Ihre Neugier gewann jedoch die Oberhand. »Dann lass uns gehen.«

Karl grinste. »Nein, wir fahren.«

Er verschwand wieder in der Schmiede, um gleich darauf mit seinem Motorrad zu erscheinen. Es handelte sich um eine Militärmaschine, die in einer der Reichsarbeitsdienstbaracken im Wald beim Rückzug der Wehrmacht vergessen worden war. Karls Vater hatte die Maschine entdeckt und in der Schmiede versteckt. Nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft hatte Karl das Motorrad wieder flott gemacht und mit knallroter Farbe lackiert, weil davon genug in der Schmiede übrig war. Wenn Karl damit unterwegs war, sah es immer wie ein Feuerwehreinsatz aus.

Er trat neben das Motorrad und betätigte mit einem kräftigen Tritt den Schalter. Mit dem rechten Bein schwang er sich in den Ledersattel. Einladend wies er auf den etwas erhöhten zweiten Sitz hinter sich. »Wenn ich bitten darf?«

»Ich soll mich da hinter dich setzen? Bist du noch bei Trost? Was sollen denn die Leute denken?«

Karl grinste erneut. »Was die Leute denken, weiß ich nicht. Falls Sie nicht zu Fuß zum Wald gehen wollen, wird es nicht anders funktionieren.«

Fräulein Schneebach gab es auf, den Kaffeefleck weiterzuverreiben.

»Wie kommt man denn da rauf?« Das Fräulein maß selbst mit hohen Schuhen höchstens ein Meter sechzig.

Karl zeigte hinter sich. »Da sind zwei Rasten, Sie treten auf eine davon, halten sich an mir fest und setzen sich hin, es ist ganz einfach.«

»Jaja, ganz einfach«, brummte die Lehrerin.

Es war dann aber tatsächlich ganz einfach. Schließlich fand sich das Fräulein erfolgreich platziert hinter Karls breitem Rücken wieder.

»Festhalten«, sagte der und donnerte los.

Die Lehrerin klammerte sich an Karl fest, es gab unangenehmere Erfahrungen. Außerdem war der Tag nun zumindest nicht mehr langweilig.

-2-

Karl gab Gas. Der Effekt hielt sich bei der Militär-BMW allerdings in Grenzen. Das Motorrad hatte zur Standardausrüstung der Wehrmacht gehört. Beim Militär kam es nicht so sehr auf die Geschwindigkeit an, vielmehr auf Zugkraft und Zuverlässigkeit. Der große Vorteil der BMW bestand sowieso in ihrer Geländegängigkeit. Karl hatte es ausprobiert, man kam wirklich überall durch, egal wie unwegsam oder nass das Gelände sein mochte. Für die Eifel und ihre mehr oder weniger gut befestigten Straßen eine wirklich optimale Eigenschaft.

Die Explosion konnte nicht allzu weit weg von den Baracken erfolgt sein, die sich auf einer gerodeten Lichtung im Wald befanden. Das gute Dutzend Gebäude war Mitte der Dreißigerjahre im Disselbacher Forst vom Reichsarbeitsdienst errichtet worden. Bis zum Krieg wurden dort Arbeitsmänner untergebracht, die am Westwall werkelten und in den Dörfern der Südeifel an der Flurbereinigung beteiligt waren. Zu Beginn des Krieges zog die Wehrmacht in das Lager ein, bis der Frankreich-Feldzug begann. Danach wurden die Gebäude vom Militär der Bitburger Kaserne sporadisch als Zwischenlager genutzt. Zum Ende des Krieges hin erschienen erneut Einheiten der Wehrmacht, um sich für die Ardennenoffensive zu rüsten.

Nach dem Krieg stand das Lager eine Weile leer. Da es keine Behörden mehr gab, die kontrollierten, wurden die Baracken von den Disselbachern geplündert. Alles, was ansatzweise einen Wert besaß, verschwand in den Scheunen oder auf den Dachböden des Dorfes. Irgendwann erschienen französische Soldaten, um die ersten Flüchtlinge einzuquartieren. Aus den anfänglichen zwei Familien wurden beständig mehr. Manche wurden von den Franzosen dorthin gebracht, andere tauchten einfach so auf. Es entwickelte sich ein ständiges Kommen und Gehen.

Die Disselbacher betrachteten ihre unerwarteten neuen Nachbarn mit wenig Begeisterung. Die Flüchtlinge waren praktisch mittellos, die Dörfler selbst hatten genug Mühe, über die Runden zu kommen. Deshalb hielten sich das Mitleid und die Hilfsbereitschaft den Fremden gegenüber in Grenzen. Den meisten Einheimischen wäre es am liebsten gewesen, das Lager würde sich in Luft auflösen. Nach seiner Rückkehr hatte Karl von den Nachbarn öfter als einmal gehört, es sei das Beste, das Lager in Flammen aufgehen zu lassen, um das Problem zu beseitigen. Es traute sich nur niemand, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen.

Die französischen Behörden hingegen sahen das Lager eher als Segen an, es hatte für sie den großen Vorteil, dass keine Flüchtlinge zwangsweise bei den Leuten im Dorf einquartiert werden mussten. Sie waren froh über solche unzerstörten Gebäude, die so schön überschaubar zu versorgen waren. Ansonsten wussten sie kaum, wo sie all die vielen Menschen unterbringen sollten, die weiterhin im steten Strom aus den Ostprovinzen des Reiches in ihrer Zone eintrafen. So wenig den Einheimischen diese Umstände gefielen, ihnen fehlten schlicht die Möglichkeiten, etwas dagegen zu unternehmen. In anderen Dörfern ließen sich die Besatzer auch vom heftigen Protest der Einheimischen nicht davon abhalten, leer stehende Häuser zu beschlagnahmen.

Karl näherte sich dem Wald, indem er um den Teich herumfuhr, der den direkten Weg zu der rauchenden Stelle blockierte. Dort hatte ein weiterer großer Schuppen des Arbeitsdienstes gestanden. Nach dem Krieg nutzten die Franzosen den Schuppen, um darin die in der Gegend eingesammelte Munition sowie Granaten und Bomben zu deponieren. Im Herbst 1945 hatte es eine gewaltige Explosion gegeben. Zwei Wachsoldaten kamen bei dem Unglück ums Leben. In Disselbach gingen lediglich einige Scheiben zu Bruch. Davon abgesehen bildete sich durch die Explosion ein tiefer Krater in der Wiese. Gleich neben dieser Stelle floss der Disselbach vom Hügel in das flache Tal, in dem sich das Dorf ausbreitete. Der Bach wurde in den großen Trichter abgelenkt, in der Folge bildete sich ein kleiner See. Bisher war noch niemand dazu gekommen, den Teich wieder zuzuschütten.

Das Fräulein hinter Karl gab glucksende Geräusche von sich, es klang, als gefiele ihr die Fahrt.

Aus dem Lager strebten Neugierige zur Explosionsstelle. Um als Erster vor Ort zu sein, nutzte Karl den Vorteil, dass er motorisiert war. Er fuhr so schnell es ging quer über die Wiese. Hinter ihm hüpfte die Lehrerin quiekend auf und ab, hilfesuchend klammerte sie sich fester an Karl.

Am Rand des Waldes schaltete er herunter, um die Bäume vorsichtig umfahren zu können. Nach wenigen Metern waren sie angekommen. Vor einem zweigeteilten Gebüsch klaffte ein Loch im Boden. Gleich davor brachte Karl das Motorrad zum Stehen. Er wartete, bis das Fräulein von der Maschine geklettert war, ehe er sich selbst aus dem Sitz schwang. Die Wangen der Lehrerin leuchteten rot.

»Das nächste Mal fährst du nicht so schnell, ich bin das nicht gewöhnt. Das schaukelt …«

Sie verstummte, ihr Blick wanderte an Karls Schulter vorbei zum Gebüsch, ihre Augenbrauen schnellten in die Höhe. »Oh!«

Karl drehte sich um. Zuerst sah er nur einige blutige Fleischstücke, die im arg mitgenommenen Buschwerk hingen. Weiter unten lag der Torso eines Menschen halb im Krater der Explosion. Im Krieg waren von Bomben zerfetzte Körper zu einer traurigen Gewohnheit geworden. Diesen hier hatte es recht gründlich zerlegt. Das Fräulein besaß leider nicht die gleiche Gelassenheit beim Anblick der Leiche.

»Oh!«, wiederholte sie und beugte sich zur Seite, würgend gab sie ihr Mittagessen wieder von sich. Karl war hin und her gerissen, ob er ihr helfen sollte, hielt sich dann doch zurück. Es war seiner alten Lehrerin bestimmt peinlich genug, dass er sie so sah.

Stattdessen trat er näher an den Krater. Die Leiche bot in der Tat keinen schönen Anblick. Etwa ab dem Bauchnabel bestand der Oberkörper nur noch aus einer undefinierbaren Fleischmasse. Die Arme waren an den Ellbogen abgerissen, der Kopf hing lediglich an einzelnen Sehnen und Muskelfasern. Das Gesicht existierte nicht mehr, die Haare mochten dunkel gewesen sein, das meiste davon war sowieso verbrannt. Der Mann musste unmittelbar neben dem Sprengsatz gestanden haben, als es geknallt hatte. Die Beine, die weniger von der Sprengladung abbekommen hatten, steckten in weiten, blauen Arbeitshosen. Das machte eine Identifizierung schwierig, solche Hosen trugen die meisten Männer des Dorfes. Ähnliches galt für die derben Arbeitsschuhe. Karl wunderte sich, dass am rechten Fuß die Socke fehlte.

Das Fräulein tauchte neben ihm auf, sie benutzte das mit Kaffee bekleckerte Taschentuch, um sich den Mund abzuwischen.

»Das tut mir wirklich leid. Ich habe eigentlich genug Leichen in meinem Leben gesehen, aber keine davon ist in einem solchen Zustand gewesen.«

»An so etwas gewöhnt man sich leider im Krieg.« Karl beugte sich nach vorne, um besser in den flachen Krater blicken zu können.

»Hast du eine Idee, wer das sein könnte?«

Karl schüttelte den Kopf. »Nein, von der Kleidung her ist es eher jemand aus dem Dorf als aus dem Lager.«

»Schau in seinen Hosentaschen nach, ob du etwas findest.«

Karl sah erstaunt zur Lehrerin. »Ist das Ihr Ernst?«

»Wieso? Wenn es tatsächlich jemand aus Disselbach ist, müssen wir herausfinden, um wen es sich handelt, wegen der Angehörigen.«

Ein gewichtiges Argument. Vorsichtig griff er in die linke Hosentasche des Toten. Tatsächlich, seine Fingerspitzen berührten ein Stück Papier. Ganz langsam, so als könnte es sich sonst auflösen, zog er es hervor. Es handelte sich um einen der Ersatzausweise der Besatzungsmacht aus schäbigem Karton. Karls Finger begannen zu zittern, als er den Namen darauf las.

Das Fräulein bemerkte seine Reaktion. »Karl, was ist los, wer ist es?«

Der hielt ihr wortlos den Ausweis hin.

»Werner Schomer.« Sie schlug die Hand vor den Mund.

Sowohl Karl als auch die Lehrerin kannten Werner Schomer mehr als nur gut. Karl und Werner waren in ihrer Kinder- und Jugendzeit die besten Freunde gewesen. Die komplette Schulzeit von der ersten bis zur achten Klasse verbrachten sie nebeneinander in der Disselbacher Dorfschule. Sehr zum Leidwesen des Fräuleins. Da, wo Karl die Freude ihres Lehrerinnendaseins gewesen war, trampelte Werner gnadenlos auf ihrem Nervenkostüm herum. Alle Versuche, die beiden auseinanderzusetzen, fruchteten nicht. Nach solchen Aktionen wurden die Leistungen Karls regelmäßig schlechter. Deshalb gab sie es irgendwann auf und versuchte, Werner und seine Streiche soweit es eben ging zu ignorieren.

Karl starrte auf den Ausweis. Werner hatte im Krieg mit Sicherheit regelmäßig in gefährlichen Situationen gesteckt und diese überlebt. Und alles nur, um dann hier zu Hause im Disselbacher Forst auf eine Mine zu treten?

Er drückte den Ausweis der sichtlich erschütterten Lehrerin in die Hand, um sich die Details genauer anzusehen. Wieso gab es überhaupt einen Krater bei einer Mine? Die normalen Personenminen der Wehrmacht waren so konstruiert, dass sie nach der Auslösung gut anderthalb Meter in die Luft geschleudert wurden. Dort explodierten sie dann und verteilten einen Hagel aus Stahlteilen. Die Dinger funktionierten effektiv und tödlich, große Krater bildeten sich da nicht. Anders sah das bei den Anti-Panzerminen aus. Allerdings wurde zum Auslösen einer Panzermine ein entsprechendes Gewicht von mehreren Hundert Kilogramm benötigt. Werner war zwar kompakt und durchtrainiert gewesen, das Gewicht eines Panzers brachte er aber definitiv nicht auf die Waage. Vom Waldrand ließen sich die Geräusche von sich nähernden Menschen vernehmen.

»Da kommen Leute«, informierte ihn das Fräulein.

Karl versuchte umso intensiver zu verstehen, was hier geschehen sein mochte. Gleich würde es hier unübersichtlich werden. Er schuldete es Werner, sein Bestes zu geben.

Die Explosion musste sich in zirka einem Meter Höhe ereignet haben. Dort konnte man den größten Schaden an den Büschen und Bäumen erkennen. Werner wies die übelsten Verletzungen oberhalb der Gürtellinie auf. Diese Umstände machten eine platzierte Sprengladung am wahrscheinlichsten. Das ergab jedoch keinen Sinn, so etwas Auffälliges wäre den Suchtrupps im letzten Jahr garantiert nicht entgangen.

Karls Blick blieb an einem verbogenen Stück Blech hängen, das etwa zwei Meter entfernt in einem Baum steckte. Daran baumelte ein kurzes Stück Draht. Um zu dem Baum zu gelangen, musste er über das linke Bein Werners hinweg am Kraterrand entlangsteigen. Ein Blick nach unten ergab ein weiteres merkwürdiges Detail. Die am Fuß fehlende Socke lag zerfetzt mitten im flachen Krater, er bückte sich, um sie aufzuheben.

»Fräulein Schneebach, das ist seltsam.«

Mehr konnte er nicht sagen, weil es um sie herum plötzlich vor Menschen wimmelte. Die Leute aus dem Lager fluteten die Unglücksstelle regelrecht. Schnell bildete sich ein unregelmäßiger Ring aus etwa fünfzig Neugierigen um Karl, das Fräulein sowie die Leiche im Krater. Ein Mann um die fünfzig trat zur Lehrerin.

»Fräulein Schneebach? Was machen Sie denn hier, und was um alles in der Welt ist hier geschehen?«

»Guten Tag, Herr Globkow, Ich hoffe, Sie sind wohlauf.« Sie schien den Mann gut zu kennen.

Wegen eines kleinen Auftrags vor einigen Wochen wusste Karl, dass der Mann als eine Art Vorsteher für das Lager fungierte. Karls Kontakte zu den Menschen im Lager blieben sporadisch. Hin und wieder ergab sich eine kleinere Reparatur, wie etwa das Schweißen eines Stahlrings an einem Handwagenrad. Die Kunden kamen in solchen Fällen eher zu ihm in die Schmiede als er zu ihnen. Bei der Bezahlung musste er sich meistens auf später vertrösten lassen oder sich mit leeren Versprechungen begnügen. Er sah zum Fräulein, die gerade erklärend zum Krater zeigte.

»Nachdem wir die Explosion gehört haben, bin ich mit unserem Dorfschmied Karl Bermes auf dessen Motorrad hergekommen. Wie es scheint, ist jemand aus dem Dorf auf eine vergessene Mine getreten.«

Karl unterließ es, seine eigenen Vermutungen zum Hergang des Unglücks mitzuteilen. Er wollte niemanden unnötig verunsichern. Globkow sah sich den Toten nun seinerseits genauer an. Abgesehen von seinem bleicher werdenden Gesicht behielt er seine Nerven im Griff.

»Das ist eine üble Sache. Die Kinder aus unserem Lager spielen oft im Wald. Ich dachte, es gab letztes Jahr eine Räumung von Bomben und Munition.«

»Das dachte ich auch, allem Anschein nach ist etwas übersehen worden.«

Dem Fräulein fiel der Kaffeefleck wieder ein, mit der linken Hand versuchte sie die dunkle Stelle abzudecken.

»Was sollen wir denn jetzt tun?« Sie sah zu Karl.

Globkow war schneller. »Wir müssen den französischen Behörden Bescheid geben, dann wird man sehen.«

Dem hatte Karl nichts hinzuzufügen. Er ärgerte sich nur, dass er sich das Stück Blech im Baum nicht näher anschauen konnte. Jetzt wollte er die Aufmerksamkeit der Neuankömmlinge nicht darauf lenken.

Erneut gab es Aufregung, die Männer der Freiwilligen Feuerwehr Disselbachs trafen ein. Sechs Mann mühten sich mit der großen, vierrädrigen Handkarre ab, auf der sich Handspritzen und Eimer türmten. Dahinter folgten sieben weitere, ältere Männer, die keuchten und sich den Schweiß von den Gesichtern wischten. Der Krieg hatte viele der jungen Feuerwehrmänner des Dorfes in Gräber überall in Europa verteilt. Eigentlich gehörte Karl ebenfalls der Feuerwehr an, daran hatte er überhaupt nicht gedacht. Angeführt wurden die Männer von Jakob Weber, dem Hauptmann der Truppe und unmittelbaren Nachbarn Karls, sowie dem Ortsbürgermeister Valentin Neuerburg. Augenblicklich übernahm der das Kommando.

»Was ist hier geschehen?«, rief er in die versammelte Runde, als gälte es, auf der Stelle einen Schuldigen zu finden. Fräulein Schneebach fasste erneut zusammen, was sie wusste. Neuerburg riskierte einen Blick auf die Leiche, drehte sich aber schnell wieder weg.

»Werner Schomer? Haben wir nicht bereits genug unserer jungen Männer im Krieg verloren?«

Eins musste Karl ihm lassen, es klang so, als verabscheute der Ortsbürgermeister den Krieg und seine Folgen wirklich zutiefst. Karl hatte in einem Buch einmal etwas über ein Chamäleon gelesen, das sein Äußeres der Umgebung anpassen konnte. Daran fühlte er sich beim Bürgermeister gelegentlich erinnert. Er kannte den Ortsbürgermeister aus seiner Kindheit und Jugend eigentlich nur als glühenden Nazi. Disselbach war zwar zu klein für Ortsgruppen oder sonstige Organisationen gewesen, das hinderte Neuerburg jedoch nicht daran, bei jeder sich bietenden Gelegenheit in einer braunen SA-Uniform durch die Gegend zu stolzieren und gewichtige Reden zu schwingen. Gleich nach dem verlorenen Krieg gehörte er dann zu der erstaunlich großen Anzahl von Männern, die sich nicht mehr so recht daran erinnern konnten, was sie in den vorangegangenen zwölf Jahren getan oder gesagt hatten.

In einem kleinen Dorf wie Disselbach bildete eine gute Nachbarschaft eine der wichtigsten Grundlagen überhaupt. Da man in der Eifel von außerhalb keine große Unterstützung egal wofür erwarten durfte, musste man in der Regel auf die Nachbarn zurückgreifen, wenn einmal dringend Hilfe benötigt wurde. Einer der vielen Verhaltensgrundsätze, die Karl von seinem Vater von klein auf eingetrichtert wurden, lautete: »In der Nachbarschaft fängt man keinen Streit an.« Dieser Grundsatz führte dazu, dass Leute wie Neuerburg nicht zu befürchten brauchten, von ihren Nachbarn angeschwärzt zu werden.

So etwas wie ein Gewissen schienen Männer wie er ohnehin nicht zu besitzen. Dafür war er sehr von seiner Wichtigkeit überzeugt. Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass Valentin Neuerburg großes Sendungsbewusstsein besaß. Egal ob ein Kaiser, ein Führer oder irgendwelche Franzosen das Sagen hatten, jemand wie er arrangierte sich immer mit den Gegebenheiten. Gab es Aufgaben im Sinn der Obrigkeit zu übernehmen, war er der Erste, der sich vordrängelte. In der Zeit, die Karl unfreiwillig in der großen weiten Welt verbracht hatte, musste er lernen, dass solche Männer durchaus gebraucht wurden. Die meisten Leute blieben lieber passiv und liefen in die Richtung, die ihnen Lautsprecher wie Valentin vorgaben. Irgendjemand musste die Anweisungen von oben interpretieren und vor Ort umsetzen. Neuerburg übernahm nur zu gerne diese Verantwortung, es brauchte ihm nur später niemand mit den Konsequenzen seines Handelns zu kommen.

Der Bürgermeister drehte sich zu Karl um.

»Karl, du fährst mit deinem Motorrad zum Bahnhof nach Kyllburg, dort müsste es ein funktionierendes Telefon geben. Von da aus rufst du in Bitburg an, die werden bestimmt jemanden schicken.«

Die Anweisung passte Karl nicht in den Kram, er wollte lieber das Blech im Baum näher in Augenschein nehmen. Leider handelte es sich jedoch um eine sinnvolle Order. Im ganzen Dorf gab es niemanden, der ein Telefon besaß. Theoretisch war da Post-Theo, der die Poststelle in Disselbach innehatte. Bis Ende 1944 war die Poststelle die Anlaufstelle im Dorf gewesen, wenn jemand telefonieren musste oder, was noch viel seltener geschah, ein Telefonat erwartete. Wegen dieses Anschlusses fiel während des Krieges die unangenehme Aufgabe, die jeweilige Familie darüber in Kenntnis zu setzen, dass ein Sohn oder Ehemann gefallen war, in Theos Zuständigkeit. Als die Front im Frühjahr 1945 über Disselbach rollte, wurde die Telefonleitung gekappt und bis jetzt nicht wiederhergestellt.

Wollte man derzeit telefonieren, war der Bahnhof in Kyllburg die sicherste Anlaufstelle. Karl war der Einzige, der über ein funktionstüchtiges Motorrad verfügte. Also machte es keinen großen Sinn, lange zu lamentieren. Er sah zum Fräulein, die ihn mit zusammengekniffenen Augen betrachtete.

»Nun mach dich schon auf den Weg. Es wäre nett, wenn du heute Abend bei mir in der Schule vorbeikommen könntest. Ich würde gerne mit dir reden.«

Karl nickte nur und ging zu seiner Maschine. Es galt nun, alles, was in seiner Macht stand, zu tun, um herauszufinden, was zu dieser Katastrophe geführt hatte. Eines wusste er sicher, wäre es umgekehrt und er läge jetzt da als Hackfleischklumpen, Werner würde niemals ruhen, bevor er herausgefunden hätte, was geschehen war.

Um ihn herum wurde es voller. Weitere Bewohner Disselbachs drängten heran. Die beiden Häuptlinge Globkow und Neuerburg versuchten gemeinsam, Ordnung in das sich anbahnende Chaos zu bringen.

Globkow hob die Hände.

»Nun denn, liebe Freunde, da wir jetzt wissen, dass es sich um einen fürchterlichen Unglücksfall handelt, bitte ich euch, geht zurück ins Lager.«

Karl wartete nicht ab, was Neuerburg mitzuteilen hatte. Er gab Gas und verschwand in der blauen Wolke, die aus seinem Auspuff quoll.

-3-

Am späten Nachmittag verstaute Karl das Motorrad in der großen Transportholzkiste der Amerikaner, die er in der Kaserne in Bitburg ergattert hatte. Um die Kiste herum befanden sich drei Stahlbänder, die er mit der Kiste vernietet hatte. Die Tür der Kiste war ebenfalls verstärkt und mit zwei massiven Schlössern gesichert. Vor dem Krieg hätte er die Maschine bedenkenlos nachts draußen auf dem Hof stehen lassen können. Heutzutage besaß ein Motorrad einen viel zu großen Wert, als dass man keine Sicherungsmaßnahmen ergreifen müsste. So langsam würde er jedoch Fahrten ins Blaue ein wenig einschränken müssen, seine Benzinvorräte gingen zur Neige. Nachschub gab es nicht einfach so.

Am kleinen Bahnhof in Kyllburg dauerte es eine Weile, bis er telefonieren konnte. Zuerst musste er den Bahnhofsvorsteher davon überzeugen, dass es sich wirklich um einen Notfall handelte. Nach einigem Hin und Her durfte er endlich das Bahntelefon benutzen. Danach dauerte es erneut, bis er in der Kommandantur jemanden am Rohr hatte, der genug Deutsch verstand, um zu erfassen, worum es ging. Die Franzosen gingen scheinbar davon aus, dass alle Deutschen französisch sprachen. Mit den paar Brocken, die Karl am Atlantikwall aufgeschnappt hatte, kam er jedenfalls nicht weiter. Am Ende erklärte der Mann ihm hörbar gelangweilt, es würde sich jemand um den Fall kümmern.

Weil er gelauscht hatte, wollte der Bahnhofsvorsteher dann ganz genau wissen, was es mit der Explosion auf sich hatte. Nach einer gefühlten Ewigkeit konnte Karl sich wieder auf den Heimweg machen. Entweder verging die Zeit bei der Bahn langsamer als anderswo oder die Franzosen reagierten schneller als gedacht. Jedenfalls standen bereits einige Militär-Lkw an der Unglücksstelle, als Karl zurückkehrte. Der Zugang zum Wald wurde nun durch einen Posten gesichert, der Karl weder verstehen noch durchlassen wollte. Frustriert fuhr er zur Schmiede zurück.

Er schloss die Schmiede ab und begab sich ins Haus, um mit seinen Eltern zu Abend zu essen. Werners Tod hatte sich mittlerweile bis zu ihnen herumgesprochen. Karls Mutter Martha empfing ihn mit rot geweinten Augen. Werner war jahrelang ständig bei ihnen ein und aus gegangen, er war fast so etwas wie ein Familienmitglied gewesen. Karl schluckte den Kloß im Hals hinunter. Nachmittags waren alle Gefühle noch vom Schock überdeckt worden. Erst jetzt drang die ganze Tragweite des Geschehenen zu ihm durch. Werner war tot, gestorben unter höchst merkwürdigen Umständen.

Nach einem weitgehend stummen Essen nahm Karl seine Jacke vom Haken.

»Ich besuche Fräulein Schneebach, um zu hören, was es heute Mittag noch gegeben hat.«

Bei seinem Vater erntete er eine finstere Miene. »Was du nur immer mit der alten Jungfer hast.«

Aufgrund des seinerzeit ständigen Drängens der Lehrerin nach einer höheren Schulbildung für seinen Sohn war Bermes senior nicht gut auf sie zu sprechen.

Karl lächelte.

»Du musst dir keine Sorgen machen, ich werde das Fräulein garantiert nicht heiraten, obwohl sie mit ihrer Pension ja eine gute Partie wäre.«

Sein Vater murmelte unwirsch vor sich hin, seine Mutter schüttelte nur den Kopf.

Karl trat zur Tür hinaus. Der Weg ins Dorf führte über die gepflasterte Straße genau auf den Weberhof zu. Jakob Weber war nicht nur der Chef der Feuerwehr und der unmittelbare Nachbar der Familie Bermes, er besaß zudem einen der größten Bauernhöfe des Dorfes. Das Gebäude bestand wie bei vielen anderen Bauernhöfen dieser Gegend aus einer lang gestreckten Einheit aus Wohn- und Wirtschaftstrakt. Links kam das für die Eifel große Wohnhaus, direkt daran angebaut folgte der Stall, und als Abschluss gab es rechts die geräumige Scheune für Heu und Stroh. Vor dem Übergang zum Stall stand, seit Karl denken konnte, eine massive Holzbank. Es wunderte ihn nicht, Jakob dort mit überschlagenen Beinen sitzend vorzufinden. Von dieser Bank hatte man um diese Jahreszeit einen wunderbaren Blick auf den Sonnenuntergang hinter dem Disselbacher Forst und ebenso auf die Schmiede. Der kleine, gedrungene Mann mit der Glatze winkte ihm zu, mit der linken Hand klopfte er auf die freie Stelle neben sich.

»Guten Abend, Karl, Zeit für ein Schwätzchen?«

Karl wusste, dass die aus dicken Brettern gebaute Bank zwar unbequem aussah, man jedoch ausgesprochen gut darauf saß. Dass Jakob Gesprächsbedarf hatte, verstand Karl, er wollte aber zum Fräulein, bevor es dunkel wurde.

»Nein, tut mir leid, Jakob, ich muss zur Schule.«

»Ach so«, Jakob nickte wissend. »Es ist nie zu spät für etwas Nachhilfe, was?« Er grinste.

Karl lächelte zurück. »Genau, leider ist das Thema heute nicht besonders erfreulich.«

Jakob wurde ernst.

»Wie konnte das passieren, Karl? Es ist alles mehrfach geräumt worden letztes Jahr.«

»Jakob, sei mir nicht böse, wir unterhalten uns die Tage.«

Jakob hob erneut die Hand zum Gruß. »Bis die Tage.«

Karl wusste, dass ein solches Gespräch eher früher als später stattfinden würde, Jakob legte Wert darauf, stets gut informiert zu sein.

Sein Weg führte ihn quer durchs Dorf zur Schule. Überall standen die Leute vor der Tür oder saßen auf Bänken, das Vorgefallene beschäftigte die Disselbacher. Abgesehen von den gelegentlichen Zankereien mit Bewohnern des Lagers verlief das Dorfleben nach dem Krieg wieder in ruhigen Bahnen. Vor dem Krieg war es ab und an vorgekommen, dass sich ein Arbeiter im derzeit stillgelegten Steinbruch verletzte. Ein Disselbacher, der bei einer Sprengung ums Leben kam, bedeutete eine echte Sensation. Mehrmals musste Karl kurz anhalten, um zu berichten, was er über den Vorfall wusste. Dass es bei ihm Informationen aus erster Hand gab, wussten inzwischen alle.

Er machte zudem den Umweg zu Werners Haus im Unterdorf. Es war tatsächlich Werners eigener Bauernhof. Seine Mutter hatte die Geburt ihres Sohnes nicht überlebt, der Vater war darüber in tiefe Traurigkeit verfallen und heiratete nicht wieder. Deshalb gab es keine weiteren Geschwister. Der alte Schomer grübelte viel und litt, ganz im Gegensatz zu seinem Sohn, immer wieder unter Phasen lähmender Schwermut. Kurz nachdem Werner zur Wehrmacht eingezogen worden war, wurde die Einsamkeit zu viel für ihn. Er nahm sich einen Strick und hängte sich im Kuhstall auf. Der Bauernhof stand dann die letzten Kriegsjahre leer, das Vieh wurde verkauft. Die Nachbarn hielten alles so gut wie möglich in Schuss. Im Gegensatz zu Karl kehrte Werner bereits kurz nach Ende des Krieges ins Dorf zurück. Seitdem hatte er allein auf dem Hof gelebt.

Nach seiner eigenen Rückkehr im Frühling 1946 stattete Karl Werner regelmäßig Besuche ab. Der früher so übersprudelnde Werner blieb meistens so einsilbig, wie es sein Vater immer gewesen war. Die tiefe Freundschaft, die sie einst verband, hatte auf Erneuerung gewartet. Dieses Kapitel konnte er nun schließen.

Vor Werners Hof stand ein amerikanischer Jeep mit französischen Kennzeichen. Darin saßen zwei Soldaten, die Karl mit Handbewegungen zu verstehen gaben, er solle weitergehen. Immerhin achtete jemand auf das Eigentum Werners. Was jetzt wohl aus dem Bauernhof werden würde?

Aufgrund seiner Umwege und der vielen Gespräche dauerte es nicht die üblichen zehn Minuten, sondern fast eine Stunde, bis Karl vor der großen Holztür der Schule stand. Mit Schwung betätigte er den eisernen Klopfer. Über ihm wurde ein Fenster geöffnet, das Fräulein erschien.

»Na endlich! Ich weiß ja, dass die Straßen in Disselbach keine Namen tragen, den Weg zu mir solltest du allerdings kennen«, rief sie ziemlich unfreundlich von oben.

Karl war sich seiner Schuld bewusst, Geduld gehörte nicht zu den herausragenden Charaktereigenschaften der Lehrerin.

»Die Türen sind offen, komm rauf.«

Karl trat ein, er musste durch einen Vorraum, der am einzigen, großen Klassenzimmer vorbeiführte, hindurch. Durch eine offen stehende Tür warf er einen kurzen Blick auf die Bänke, in denen er mit Werner seine Schulzeit verbracht hatte. Die acht Jahre der Volksschule hatten Karl wenig gefordert. Werners Streiche sorgten wenigstens für Ablenkung. Nach der Schule waren Werner und er nicht mehr ganz so eng gewesen. Selbst in einem überschaubaren Dorf wie Disselbach liefen die Lebenswege auseinander. Karl begann seine Ausbildung in der Schmiede. Werner arbeitete tagsüber, ohne Lehre, als Arbeiter im Steinbruch, abends half er seinem Vater bei der Landwirtschaft. Beide mussten sie Knochenarbeit verrichten. Freundschaften gestalteten sich schwierig, wenn man abends nur noch seine Ruhe haben wollte. Erst als sie gemeinsam zur Wehrmacht eingezogen wurden, vertiefte sich ihre Freundschaft kurzfristig wieder.

»Wo bleibst du denn, Karl?«, erklang es ungeduldig vom Treppenhaus her.