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Das Leben ist wie Fahrrad fahren. Du fällst nicht, solange du in die Pedale trittst …
Lana Donati liebt ihre kleine Heimatstadt in Yorkshire – und das charmante Restaurant, das sie zusammen mit ihrem Bruder führt. Doch leider bleiben die Gäste aus, immer seltener verirren sich Touristen in die idyllische Gegend. Ein Plan muss her! Als Lana erfährt, dass die Route der diesjährigen Tour de France in der Nähe vorbeiführen könnte, macht sie sich voller Tatendrang daran, ihr kleines Städtchen so attraktiv wie möglich zu gestalten. Dabei kann Lana sich nicht nur auf ihre lustigen, leicht schrägen Freunde verlassen – auch Stewart, der ziemlich heiße Exprofiradler, bietet sein Hilfe an und schleicht sich schon bald immer öfter in Lanas Gedanken …
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Seitenzahl: 545
Veröffentlichungsjahr: 2019
Buch
Lana Donati liebt ihre kleine Heimatstadt in Yorkshire – und das charmante Restaurant, das sie zusammen mit ihrem Bruder führt. Doch leider bleiben die Gäste aus, immer seltener verirren sich Touristen in die idyllische Gegend. Ein Plan muss her! Als Lana erfährt, dass die Route der diesjährigen Tour de France in der Nähe vorbeiführen könnte, macht sie sich voller Tatendrang daran, ihr kleines Städtchen so attraktiv wie möglich zu gestalten. Dabei kann Lana sich nicht nur auf ihre lustigen, leicht schrägen Freunde verlassen – auch Stewart, der ziemlich heiße Exprofiradler, bietet sein Hilfe an und schleicht sich schon bald immer öfter in Lanas Gedanken …
Autorin
Mary Jayne Baker wuchs in West Yorkshire auf, lebte nach ihrem Universitätsabschluss in Englischer Literatur aber auch einige Zeit in London, bevor sie mit ihrem persönlichen Märchenprinzen wieder in die Heimat ging. Wenn sie nicht gerade schreibt, sieht man sie für gewöhnlich mit Stricknadel oder einem Glas Wein in der Hand. Sie arbeitet als Grafikdesignerin für ein englisches Magazin, träumt aber eigentlich davon, Leuchtturmwärterin zu sein.
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Mary Jayne Baker
Ein Fahrrad für zwei
ROMAN
Deutsch von Christoph Göhler
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »A Bicycle Made For Two« bei Mirror Books, an imprint of Trinity Mirror plc, London.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2018 by Mary Jayne Baker
Published by Arrangement with Lisa Firth
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion: Ulrike Nikel
Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München
Umschlagmotive: iStock.com/chuwy; solmariart/Shutterstock.com; Favoritbuero
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
LH ∙ Herstellung: sam
ISBN978-3-641-23383-9V002
www.blanvalet.de
Für meine nette, liebe Familie, die Firths, die mich stets unterstützt haben: Opa Eric und Oma Maura, Mum Sandra und meine freche kleine Schwester Erica. Danke für alles.
Kapitel 1
Meine Freitagabende waren einfach nicht wie die von anderen Mädchen, schoss es mir durch den Kopf, während ich das schwarze Mieder schnürte.
Gerade als ich meinen Vorbau unter dem Leder verstaut hatte, schob Tom seinen Kopf durch die Tür meines Zimmers.
»Bist du endlich fertig? Deine Schicht hat vor fünf Minuten angefangen.«
Erschrocken zuckte ich zusammen. »Mann, kannst du nicht anklopfen? Ich hätte splitterfasernackt hier stehen können.«
»Superidee, wir sollten echt was Neues ausprobieren, um den Laden in Schwung zu bringen. So eine kleine Stripeinlage als Amuse gueule, als kleinen Gruß aus der Küche, wie es in den Nobelrestaurants immer heißt. Bestimmt locken wir damit jede Menge zusätzliche Gäste an. Auch junge Typen, die wir bislang weniger zu sehen kriegen.«
»Dad wird begeistert sein, wenn du ihm das erläuterst. Ich freue mich jetzt schon auf seine Miene.«
»Beeil dich«, drängte mein Bruder mich, nachdem er auf seine Uhr gesehen hatte. »Ich muss nach unten in die Küche, damit Deano in die Pause kann. Sonst geht unsere Primadonna wieder auf wie ein Soufflé.«
Seufzend stopfte ich meine dunkelbraunen Locken unter die biedere Waschweiberhaube, die eigentlich nicht zu meinem recht offenherzigen Mieder passte, aber angeblich hatten mittelalterliche Schankmädchen original so ausgesehen. Behauptete unser Vater zumindest.
Was Deano anging, hatte Tom leider Gottes recht. Seit Dad zu krank war, um sich um sein Restaurant zu kümmern, kam es einem vor, als würden wir nur noch um unseren launischen Koch herumtanzen, der sich wie eine Diva aufspielte. Dad meinte zwar, eine solche Exzentrik sei Ausdruck von wahrem Talent, Tom hingegen hielt es für ein Zeichen von Beschränktheit und betrachtete Deano als angeberischen Schwachkopf.
Rasch zog ich den Rock über, schnürte die Lederstiefel und richtete mich auf, um mich mit geheimem Grausen im Spiegel zu betrachten.
»Na schön, ich bin so weit.«
»Hey, unten wartet übrigens eine nette Überraschung auf dich.« Tom grinste mich im Spiegel an. »Mr. Quetschflasche. Ich dachte, ich überlasse ihn dir, bestimmt willst du ihm irgendeine Vorzugsbehandlung zukommen lassen.«
»Harper Brady? Hier?«
»Exakt. Ich kann’s kaum erwarten, das Dad zu erzählen.«
»Nicht heute Abend, Tom«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Er ist nicht gut drauf.«
Mein Bruder zog die Stirn in Falten. »Schlechter Nachmittag?«
»Kann man so sagen. Gerry ist bei ihm.«
»Okay, wenn wir den Laden abschließen, löse ich Gerry ab.« Er tätschelte meinen Arm. »Dann hast du mal Pause von Dad, du siehst ohnehin fix und fertig aus.«
»Bin ich auch. Manchmal ist es doch von Vorteil, einen Bruder zu haben«, witzelte ich und puffte ihn freundschaftlich in die Rippen. »Und was will Brady hier? Ich hätte gedacht, in einem Schuppen wie unserem würde er nicht mal tot gesehen werden wollen.«
Tom zuckte die Schultern. »Vielleicht will er sich zur Abwechslung mal unter den Pöbel mischen. Egal, auf alle Fälle sollten wir uns von ihm ein Foto mit Autogramm geben lassen, das wir hinter die Bar hängen können. Wäre immerhin eine Superwerbung.«
Ich zog gelangweilt einen Mundwinkel hoch. »Frag ihn selbst, denn ich werde bestimmt nicht sein Groupie spielen.«
»Jetzt tu nicht so. Du hättest dir vor Begeisterung fast in die Hose gemacht, als letztes Jahr dieser Bursche aus der Boyband reinmarschiert kam.«
»Das war was anderes«, beschied ich ihn pikiert und gab mir alle Mühe, cool zu wirken. »Der Typ war für mich ein Jugendidol, vor Jahren war seine Band voll angesagt.«
»Komm Lana, ein Jugendidol, dem du sofort auf den Schoß hüpfen wolltest.«
»Gar nicht. Und jetzt Klappe.«
»Trotzdem.« Toms Blick verlor sich. »Ich wette, Harper Brady ist der berühmteste Promi, der je bei uns war. Kein Vergleich mit diesem Schmierenkomödianten aus der Daily Soap.«
Tom konnte sich den Mund fusselig reden – Harper Brady ging mir so was von am Arsch vorbei.
»Gütiger Gott«, stöhnte ich dramatisch. »Hoffentlich erwartet er keine Sonderbehandlung. Ich bekomme bei Promis die Krätze. Wenn er was anderes bestellen will als das, was auf der Karte steht, kann er das persönlich mit Deano ausmachen, und dann werden wir ja sehen, ob er schneller ist als eine fliegende Bratpfanne.«
Ungeachtet meines demonstrativen Desinteresses musste ich Tom recht geben: Harper Brady war eine ziemlich große Nummer. Sicher, ab und zu kamen Schauspieler aus irgendwelchen Vorabendserien vorbei oder abgehalfterte Popstars, die ihre Neugier zu uns trieb, in dieses skurrile, in einer gottverlassenen Ecke der Yorkshire Dales gelegene, auf Mittelalterschenke getrimmte Lokal, dessen Aushängeschild trotz Deanos manchmal gewagten Kreationen für die Tageskarte deftige Sachen wie Schlachtplatten und Wildgerichte sowie gewürztes Met vom Fass waren.
Nachdem sie ihren Spaß gehabt hatten, rauschten die Gäste wieder ab in ihre kultigen Fresstempel mit den winzigen Portionen, wo sie allen erzählten, was für ein kurioses, hinterwäldlerisches Erlebnis das gewesen sei. Uns störte das nicht. Schließlich brachte uns selbst der Besuch eines zweit- oder drittrangigen Prominenten mehrere Wochen lang zusätzlichen Umsatz.
Und jetzt Harper Brady, der echt First Class war, erste Sahne sozusagen.
Allerdings stammte er aus der Gegend, und seine Familie gehörte zur Lokalprominenz. Harpers Mutter Sonia hatte sich in den Neunzigern ein Design für eine auf dem Kopf stehende Ketchupflasche aus Plastik patentieren lassen und sich damit eine goldene Nase verdient. Ein beachtliches Vermögen, das nach ihrem frühen Tod an ihren einzigen Sohn gefallen war.
Eine Weile hatte Harper als Jetsetplayboy die Puppen tanzen lassen, doch bevor er sein Erbe auf diese Weise durchbringen konnte, hatte ihn das Leben als Gentlemanmüßiggänger gelangweilt, und er beschloss, sein Geld lieber für Schauspielunterricht auszugeben, um, so hoffte er, sich beim Fernsehen einen Namen zu machen.
Falls es so etwas wie göttliche Gerechtigkeit gäbe, wäre dies das Ende der Geschichte gewesen. Ein paar Schauspiellehrer hätten dank der Quetschflaschenmillionen in Saus und Braus gelebt, und Harper Brady, verhätschelter Nutznießer eines Treuhandfonds, der sich dank der vielen Schmarotzer irgendwann in Luft aufgelöst hätte, wäre gezwungen gewesen, wie jeder Normalbürger von neun bis fünf im Büro zu hocken.
Aber nein. Einer extrem ärgerlichen Laune des Schicksals verdankte er es, dass man in ihm tatsächlich einen verflucht guten Schauspieler erkannte. Jetzt war er doppelt so reich wie zuvor und immer noch genauso gut aussehend, sodass Legionen von Fans dahinschmolzen wie Butter in der Sonne, wenn sie abends vor dem Fernsehseher mit ihm lebten und litten.
Insgeheim nahm ich mir in einem Anfall von Missgunst vor, ihn auf sein Essen warten zu lassen.
Als ich den Gastraum betrat, entdeckte ich Harper sogleich weit vorne in der Warteschlange. Er trug einen Designeranzug mit Krawatte, Weste und was weiß ich und sah lächerlich overdressed aus. Alles an ihm war top, wenngleich das lange, flachsblonde Haar so gegelt war, als wäre er ein verschollen gegangenes Mitglied der Boygroup One Direction. Was ich ein bisschen übertrieben und albern fand.
Neben ihm stand ein attraktiver, leicht zerzaust wirkender, also ungegelter junger Mann, mit dem er sich unterhielt. Ob die beiden gemeinsam gekommen waren oder nur zufällig ins Gespräch kamen, konnte ich leider nicht feststellen. Wie auch immer: Sie zogen eindeutig die Blicke der übrigen Gäste auf sich. Woraufhin Harper, dem das nicht entging, sogleich Posen einnahm, als wäre er bei einem Fotoshooting. Hingegen hatte er nicht einmal ein klitzekleines freundliches Lächeln für seine Bewunderer, wie mir auffiel. Eher schaute er über sie hinweg.
Dieser eitle Fatzke wurde mir immer unsympathischer.
Gerade deswegen empfing ich das Paar mittleren Alters ganz vorn in der Schlange besonders entgegenkommend.
»Willkommen im Here be Flagons. Sagen Sie mir bitte, unter welchem Namen Sie reserviert haben?«
»Das ist er, ganz bestimmt«, flüsterte die Frau unter dem schreiend lila Hut ihrem Mann zu. »Glaub mir, ich bin mir ganz sicher.«
Ich räusperte mich vernehmlich, um sie auf mich aufmerksam zu machen. Keine Reaktion.
»Ist wirklich nett, wenn ein Star auch kleinere Lokale besucht«, erwiderte ihr Göttergatte leise.
»Verzeihen Sie«, setzte ich neu an. »Hinter Ihnen wartet eine ganze Reihe von Gästen, wenn Sie also bitte …«
»Ja, ja, Liebes.« Die Frau senkte die Stimme, beugte sich vertraulich vor und hüllte mich in eine Wolke von Maiglöckchenduft. »Ich weiß nicht, ob es Ihnen schon aufgefallen ist – hinter uns steht Harper Brady.«
»Ich habe es bemerkt. Wenn Sie mir jetzt Ihren Namen nennen würden, damit ich Sie zu Ihrem Tisch führen kann.«
Die Frau tat, als hätte sie keine Ohren, und wandte sich erneut an ihren Mann. »Ich frage ihn, ob ich ein Foto mit ihm machen darf«, wisperte sie aufgeregt.
»Mach nur, mach nur«, spornte ihr Mann sie unter kräftigem Nicken an.
»Ich tu’s. Ich tu’s wirklich.« Die Frau kicherte. »Soll ich?«
»Ja, mach nur«, wiederholte ihr Ehemann und lächelte mich entschuldigend an. »Die paar Minuten kann die junge Dame bestimmt warten.«
Inzwischen war bereits unwilliges Gemurmel zu hören, denn die anderen Wartenden schienen weniger begeistert von Harper Bradys Anblick.
»Also ehrlich gesagt …«, begann ich unschlüssig, doch die Frau hatte sich längst zu Harper umgedreht.
»Ach Mr. Brady, sind Sie das wirklich?«, seufzte sie und verdrehte die Augen in geheuchelter Überraschung.
Verärgert, weil er aus dem Gespräch gerissen wurde, drehte Harper sich um. »Nein, in Wahrheit bin ich Abe Froman, der Würstchenkönig aus Chicago.«
Die Frau strahlte ihn weiter an, ohne den Sarkasmus in seiner Stimme zu bemerken. »Mein Mann und ich sind Riesenfans von Ihnen«, sprudelte es aus ihr heraus. »Wir haben jeden Film von Ihnen gesehen. Jeden einzelnen, selbst damals, als noch kein Mensch Sie kannte.«
Harpers Gesicht verdüsterte sich. Ganz offensichtlich missfiel ihm der Gedanke, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der er kein berühmter Megastar gewesen war.
»Würde es Sie sehr stören, wenn ich ein Foto mit Ihnen machen würde?«, plapperte die Frau nichtsahnend weiter. »Das werden mir meine Freundinnen nie glauben.«
»Ein Selfie?« Harper zog verächtlich einen Mundwinkel hoch. »Tut mir leid, so etwas mache ich grundsätzlich nicht.«
Die Gesichtszüge der Frau entgleisten. »Dann vielleicht … ein Autogramm?«
Verärgert senkte der Schauspieler die Stimme. »Hören Sie, Gnädigste, ich bin hier, weil ich mit ein paar Freunden einen netten Abend verbringen möchte. Ich schätze es nicht, wenn ich aus einem Gespräch gerissen werde – und schon gar nicht von einem fetten, abgehalfterten Hutständer. Wie wäre es mit etwas Respekt meiner Privatsphäre gegenüber?« Er wurde lauter, damit ihn ja keiner – und ich erst recht nicht – überhörte. »Ich verstehe nicht, wie die Angestellten hier es zulassen können, dass ihre Gäste derart belästigt werden. Unglaublich.«
Die Frau sackte in sich zusammen. »Verzeihung«, murmelte sie. »Ich dachte, es würde Sie nicht stören.«
»Das tut es sehr wohl.«
Da Harper den Eindruck erweckte, als würde er noch mehr ausgewählte Beleidigungen ausbrüten, die seinem Hutständervergleich nicht nachstanden, kam ich hinter meinem Pult hervor, um die Situation zu entschärfen.
»Folgen Sie mir«, erklärte ich der Frau und ihrem Mann mit fester Stimme, ohne sie nochmals nach einer Reservierung zu fragen.
Verlegen und tief verletzt tappten die beiden hinter mir her an einen freien Tisch, wo ich ihnen die Weinkarte in die Hand drückte und Jasmine zuwinkte, damit sie sich um das unglückselige Paar kümmerte.
Unsere hübsche Kellnerin im Teeniealter kam sofort angetänzelt, und einmal mehr bewunderte ich, dass angesichts ihrer schmalen Hüfte, die sie gekonnt zu schwingen verstand, selbst eine mittelalterliche Schankmaid aussah, als würde sie sich auf einem Catwalk produzieren.
»Übernimm das bitte, du bekommst zur Entschädigung eine Flasche Wein nach Wahl«, murmelte ich ihr zu. »Mein Vater springt im Dreieck, wenn er das hier erfährt.«
»Geht in Ordnung.«
Jasmine ging, um die Bestellung des Paares aufzunehmen, und ich kehrte an den Empfang zurück. Das breite Lächeln, das ich für Harper Brady aufsetzte, war alles andere als warm und freundlich, sondern dürfte eher gewirkt haben, als würde ich feindselig die Zähne blecken.
»Willkommen im Here be Flagons. Sagen Sie mir bitte, unter welchem Namen Sie reserviert haben?«
Harper tat so, als hätte er nichts gehört, und redete weiter auf den Mann mit den sandblonden Wuschellocken ein.
Ich beugte mich über das Pult und tippte ihm ärgerlich auf die Schulter. »Es warten noch mehr Gäste, wenn Sie also bitte meine Frage beantworten könnten …«
Harper drehte sich überrascht zu mir um. »Verzeihung, was haben Sie gesagt?«
»Unter welchem Namen Sie reserviert haben, wollte ich wissen. Damit ich Sie an Ihren Tisch bringen lassen kann.«
»Ist das Ihr Ernst? Sie fragen mich nach meinem Namen?« Er lachte kurz auf, verdrehte die Augen und streckte mir sein Gesicht entgegen. »Reicht das?«
Scheinbar gelangweilt starrte ich ihn an. »Wenn Sie keine Reservierung haben, kann ich leider nichts für Sie tun. Wir sind heute Abend komplett ausgebucht.«
»Sie machen Witze, oder? Ich stehe seit einer Viertelstunde hier in dieser dämlichen Schlange«, empörte er sich.
Allmählich bekam ich Spaß an der Sache und spielte immer überzeugender den erbarmungslosen Türsteher mit Machogehabe. Resolut verschränkte ich die Arme.
»Tut mir leid, Kumpel. Keine Reservierung, kein Einlass.« Nach einer Sekunde Pause fügte ich hinzu: »Für Sie setze ich meinen Job nicht aufs Spiel.«
Volltreffer. Das wollte ich immer schon mal zu so einem widerlich arroganten Gecken wie Harper Brady sagen, der sich weiß Gott ein bisschen viel auf seinen Promistatus einbildete.
»Hören Sie, ich habe keine Zeit für diese unsägliche Wichtigtuerei. Ich bin hier mit meiner Agentin verabredet. Ich muss …« Er holte tief Luft und senkte die Stimme. »Kommen Sie, tun Sie nicht so, als wüssten Sie nicht, wer ich bin. Sie wissen es ganz genau.«
Meine Miene blieb eisern. »Ich versichere Ihnen, dass ich das nicht tue.«
Ungläubig glotzte er mich an. »Sie wollen mich wohl verarschen. Haben Sie Stitch nicht gesehen? Oder die Chester Files?«
Er spulte eine ganze Litanei von Fernsehfilmtiteln ab, aber ich zeigte mich unbeeindruckt.
»Nein. Sind das Filme?«
Der Anblick seines offen stehenden Mundes war es wert, den PR-Bonus eines prominenten Gastes zu verlieren. Die Mundwinkel des niedlichen Freundes zuckten verräterisch.
»Vielleicht kann ich die Sache klären, bevor wir hier alle verhungern«, mischte er sich ein.
Er schob Harper zur Seite, stützte sich mit einem Arm auf mein Pult und schenkte mir ein hinreißendes Lächeln. Prompt schmolz ich dahin und erwiderte es. Harper kippte fast aus den Latschen, schien es nicht fassen zu können, dass der Charme seines Begleiters Wunder bewirkte, wo er mit seinem Promigetue gescheitert war.
»Wir haben online reserviert«, sagte er. »Unter dem Namen meines Freundes.«
»Und der wäre?«
»Sag ihn ihr«, forderte er Harper auf.
»Na schön. Harper Brady«, antwortete der Schauspieler sichtlich beleidigt und beobachtete mich argwöhnisch, ob mir der Name etwas sagte.
Ich ließ ihn zappeln.
»Ja, richtig, wir haben hier eine Buchung für Brady.« Geschäftig fuhr ich mit dem Finger über die Reservierungsliste. »Könnte ich vielleicht einen Ausweis sehen? Tut mir leid, wir sind komplett ausgebucht, und deshalb muss ich übervorsichtig sein, dass ich nicht einen Tisch an jemanden vergebe, der sich unter falschem Namen reingeschmuggelt hat.«
Vollkommener Quatsch, das merkte er auch, aber ich amüsierte mich viel zu sehr, um mit dieser Scharade aufzuhören.
»Mein Gott! Sind wir hier im Savoy?« Harper zückte die Brieftasche und zeigte mir seinen Führerschein. »Das ist vollkommen lächerlich. Ich werde mich beim Manager dieses Ladens beschweren.«
»Weil ich meine Arbeit tue?«
Der Form halber warf ich einen Blick auf den Führerschein und strich den Namen von der Liste.
»Nein, weil Sie unhöflich sind und Ihre Gäste schikanieren. Und ich mache keine Witze, lassen Sie sich das gesagt sein.«
Noch während er mich runterputzte, blieb sein Blick auf dem eindrucksvollen Ausschnitt meines Ledermieders kleben, der kaum etwas der Fantasie überließ. Er war sich nicht mal zu blöde, mich in seinem selbstgerechten Zorn zu begaffen.
»Raus mit der Sprache, wie heißt der Manager? Ich werde ihm eine Mail wegen Ihres skandalösen Verhaltens schreiben.« Er feixte hämisch. »Und dann viel Spaß auf dem Arbeitsamt, Schätzchen.«
»Es ist eine Frau. Und sie heißt Lana Donati.«
»Sehr gut. Und wie heißen Sie?«
»Lana Donati.«
Der Freund überspielte seinen Lachanfall eilig mit einem Husten. Harper nahm seinen Führerschein, warf mir einen letzten wütenden Blick zu und stakste zu seinem Tisch.
»Sie waren ganz schön gemein zu ihm«, sagte sein Freund. »Trotzdem war es zum Brüllen komisch.«
»Ich konnte nicht anders, nachdem ich mitbekommen habe, wie rüde er die Dame mit Hut behandelt hat. Das war echt unterste Schublade.«
Der Blondgelockte lächelte. »Sie wissen also sehr wohl, wer er ist.«
»Bitte nicht verraten, okay?«, erwiderte ich grinsend.
Er kniff seine Lippen zusammen und fuhr mit einem Zeigefinger darüber. »Keine Silbe, großes Ehrenwort.«
»Und in welcher Beziehung stehen Sie zu diesem Rüpel?« Mein Auge wanderte über den athletischen Körper und die breite Brust. »Sind Sie etwa sein Bodyguard?«
»Nein, zu meinem Leidwesen ist er mein Cousin.« Er streckte lächelnd die Hand aus. »Stewart McLean.«
Nachdenklich ergriff ich sie. »Ach, richtig.« Irgendwoher kannte ich den Namen. »Ein Familientreffen?«
»Nein, eher ein Meeting wegen einer Recherche. Harper soll demnächst die Hauptrolle in einem Dreiteiler spielen, in dem es auch um ein Radrennen geht, deshalb hängen wir seit ein paar Tagen andauernd zusammen herum.«
»Sie fahren Rennen?«
»Gelegentlich. Jedenfalls werde ich im Abspann als Berater erwähnt, das ist immerhin ziemlich cool, oder?« Er schaute über die Schulter auf die Schlange hinter ihm. »Ich bitte um Entschuldigung, dass ich den ganzen Betrieb aufhalte.«
Zwar trat er auf die Seite, damit ich die anderen Wartenden abfertigen konnte, setzte sich allerdings nicht zu seinem Cousin. Vielleicht weil bereits jemand anders bei ihm Platz genommen hatte? Es war die Blondine mit dem Riesenbusen und dem fast durchsichtigen Kleid, die seit mindestens einer halben Stunde allein an der Bar gesessen hatte. Wenngleich der Mann ein ungehobelter Klotz war, mangelte es ihm offenbar nicht an Gesellschaft.
Nachdem ich die letzte Reservierung kontrolliert hatte, wandte ich mich an Stewart. »Also. Hört sich so an, als wären Sie bald ein Star.«
»Keine Autogramme bitte.« Mit einem ironischen Lachen warf er die Haare nach hinten. »Und Sie managen tatsächlich das Restaurant, Lana?«
»Eigentlich gehört es mir sogar – na schön, meiner Familie. Mein Dad kaufte es, als er aus Italien kam, und hat es in das hier verwandelt.«
Mein Arm schwenkte über den von Kerzen erhellten Raum, der mit Eberköpfen, nachgemachten Hellebarden und Fantasiewappen gepflastert war und wo im Hintergrund Dads Lieblings-CD: Renaissance des Cembalos, in Endlosschleife lief. Es war der LSD-Horrortrip eines Altenglischprofessors.
»Originell ist es, das muss man ihm lassen.« Stewart folgte meinem Blick und ließ das Ambiente auf sich wirken. »Doch warum Mittelalter? Nicht dass Ihnen das Kostüm nicht steht, wohlgemerkt, bloß ist das alles nicht ein bisschen too much?« Er hielt inne. »Und dann der Name: Here be Flagons … Ernsthaft?«
»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen«, gab ich schulterzuckend zurück »Das ist eben das Verständnis meines Vaters von Humor – irgendwie hatte er die fixe Idee, diesen Kalauer zum Motto seines Restaurants zu machen.«
Alles hatte damit angefangen, dass er auf einer nachgemachten mittelalterlichen Landkarte den Spruch Here be Dragons – Hier gibt es Drachen – entdeckte, mit dem einst unbekannte Gewässer gekennzeichnet wurden, und hatte das so komisch gefunden, dass er es in Here be Flagons – Hier gibt es Trinkkannen – abgeändert hatte.
»Arbeitet er heute Abend?«, fragte Stewart. »Ein Italiener mit einer Vorliebe fürs Mittelalter und Kalauer – das klingt nach jemandem, den ich unbedingt kennenlernen sollte.«
Verlegen blickte ich zur Seite. »Nein, heute Abend nicht. Es geht ihm nicht gut.«
»Ach, schade. Vielleicht ein andermal.«
»Nein, ich meine, es geht ihm nie wirklich gut – es geht ihm richtig schlecht.« Ich hatte keine Ahnung, warum ich das diesem Fremden erzählte. Die Worte schienen einfach aus meinem Mund zu purzeln. »Er hat Krebs. Einen richtig fiesen Dreckskrebs im Endstadium.«
»O Gott.« Mitleid drückte sich auf Stewarts Gesicht aus. »Das tut mir leid, Lana.«
»Sie können ja nichts dafür, oder?«
Er sah mich verdattert an. »Eigentlich nicht. Das sagt man nur so, wenn man …«
»Wenn man nicht weiß, was man sonst sagen soll«, beendete ich den Satz für ihn. »Entschuldigung, ich wollte nicht unhöflich sein. Ich inhaliere seit Jahren Suppendampf, das hat meinem Humor eine surreale Note gegeben. Falls ich Sie damit in Verlegenheit gebracht haben sollte, reduzieren Sie einfach das Trinkgeld.«
Er brach in ein befreiendes Lachen aus. »Nein, keine Sorge, dafür finde ich Sie viel zu nett. Sie sind ziemlich schräg, das gefällt mir.«
»Welch ein Kompliment, vielen Dank«, erwiderte ich amüsiert.
»Keine Ursache, das sind begehrte Eigenschaften bei einer Schankmaid. Sie verleihen ihr eine Aura von weltläufiger Unberechenbarkeit, die einen ständig nach dem Portemonnaie schauen lässt.«
Ich lachte. »Wenn das eine Anmache war, sollten Sie noch daran feilen.«
»War es nicht.«
Errötend fragte ich mich, ob ich den Flirt falsch eingeschätzt hatte.
»Klar, war lediglich ein Witz.«
»Aber jetzt kommt eine ernst gemeinte Anmache: Würdest du mit mir irgendwann etwas trinken gehen?«
»Äh ja. Klingt gut«, sagte ich und wurde der Hitze nach zu urteilen, die in meine Wangen stieg, bestimmt rot.
»Wann würde es dir passen? Nächste Woche?«
»Donnerstag wäre super. Da ist hier nicht viel los, sodass ich früher wegkann.«
»Bestens, dann hole ich dich um acht ab?«
»Perfekt.«
»Weißt du, zum ersten Mal heute Abend bin ich froh, dass Harper mich bequatscht hat, ihn zu begleiten.« Stewart seufzte theatralisch. »Ich sollte lieber zu ihm gehen, bevor ihn diese Gottesanbeterin zwischen ihren Schenkeln zerquetscht. Wir sehen uns, Lana.«
Kapitel 2
»Autsch!«, sagte ich, als mir eine Viertelstunde später jemand gegen den Arm boxte.
»Was war los, während ich in der Küche war?«, erkundigte sich Tom.
Ich nickte zu Stewart hinüber, der inzwischen an Harpers Tisch saß.
»Erst habe ich mich mit einem berühmten Schauspieler beziehungsweise Ketchupplayboy angelegt, dann war der hübsche Blonde da drüben davon so beeindruckt, dass er mich um ein Date gebeten hat. Er heißt Stewart und ist sein Cousin.«
»Das gibt’s doch nicht, echt jetzt?« Tom war völlig perplex. »Wie denn das?«
»Vielleicht findet er mich ja nett, selbst wenn mein lieber Bruder das für kaum möglich hält.«
»Quatsch. Der Typ ist bestimmt auf Drogen«, meinte Tom geringschätzig und musterte Stewart genauer. »Eindeutig. Der schluckt hundertpro jeden Tag zwanzig Ketamin, das sieht man auf den ersten Blick.«
»Du bist bloß eifersüchtig, weil niemand dich um ein Date bittet.«
Tom plusterte sich auf. »Lass dir gesagt sein, dass ich, just bevor du deine Schicht angetreten hast, angemacht wurde. Von einem muskelbepackten Feuerwehrmann mit einem Bauch wie eine Grillpfanne und einer dieser scharfen Kinnspalten, die dich heiß und markig aussehen lassen.«
»Tolle Eroberung. Und wo ist er jetzt?«
»Ich habe ihn abblitzen lassen, versteht sich. Glaubst du etwa, dass ich all das«, seine Hand strich über seinen schlaksigen Körper, »an den erstbesten Schlauchschwenker verschwende?« Er nickte zu Harper hinüber. »Und wie ist Mr. Quetschflasche so?«
»Bescheiden. Zurückhaltend. Ein reizender Gesprächspartner.«
»Im Ernst?«
»Natürlich nicht. Er ist ein Arsch.«
»Und wer ist die Botoxprinzessin an seiner Seite?«
»Keine Ahnung, die saß schon an der Bar, als er hereinkam«, antwortete ich. »Er sagte etwas von seiner Agentin.«
Mein Bruder schnaubte verächtlich. »Wenn die seine Agentin ist, bin ich sein Stuntdouble.«
»Ein bisschen viel Silikon für eine Theateragentin, oder?« Ich sah, wie sich die Frau Harper an den Hals warf und ihm etwas ins Ohr gurrte. »Und ein bisschen … übergriffig.«
Toms Smartphone summte, und er zog es aus seiner Tasche, wischte übers Display.
»Ich glaube es nicht«, zischte er und starrte ungläubig auf den Bildschirm. »Dieses Arschloch!«
»Wer?« Vergeblich versuchte ich über seine Schulter einen Blick auf das Handy zu erhaschen.
»Harper Brady!« Er hielt mir das Gerät hin. »Er hat uns tatsächlich nur einen einzigen mickrigen Punkt bei TripAdvisor gegeben. Ich habe eben ein Google-Alert bekommen.«
»Verfluchter Dreck!« Am liebsten wäre ich Harper an die Gurgel gegangen. »Wie hat er das angestellt? Seit er hier angekommen ist, hat er ihre Zunge im Ohr.«
»Offenbar hat er die Beurteilung ins Handy getippt, während sie ihm den Gehörgang ausgeschleckt hat.« Tom überflog den Text. »Lange Wartezeiten, unfreundliche Bedienung, historisch fehlerhaftes Dekor. Essen bestenfalls mittelmäßig. Reine Zeitverschwendung. Der Henker soll ihn holen. Er hat sein Essen noch nicht mal bekommen. Na warte, gleich kriegst du deine Antwort.«
Ich legte die Hand auf seinen Arm. »Nicht, Tommy. Warte, bis du dich abgeregt hast. Wenn du überreagierst, machst du alles noch schlimmer.«
»Keine Sorge, ich werde mich zurückhalten.« Er begann auf sein Handy einzutippen. »Moment: Zechpreller schreibt man mit Doppel-L, oder?«
»Ernsthaft, Tom! Lass es gut sein.«
»Okay, okay, kleiner Scherz.« Er legte das Smartphone beiseite. »Ich warte bis morgen. Vielleicht biete ich ihm einen Gutschein oder so an. Er wird ihn nicht annehmen, doch dann weiß immerhin jeder, der seine Kritik verfolgt, dass wir uns bemüht haben.«
»Ja, das ist gut, fände Dad sicherlich auch.«
Jemand tippte mich an. Es war Jasmine, die mich verzweifelt ansah und nervös von einem Fuß auf den anderen trat.
»Was ist los, Schätzchen?«, fragte ich. »Hackt Deano wieder auf dir rum?«
»Noch nicht.« Sie schaute über ihre Schulter zu Harpers Tisch. »Es geht um diese Leute da. Der Mann sagt, er sei Veganer.«
»Warum überrascht mich das nicht?«, stöhnte Tom.
»Und hast du ihm die veganen Gerichte auf der Karte gezeigt?«, hakte ich nach. »Nicht dass er die nicht selber finden könnte, wozu er vermutlich zu sehr mit fleischlichen Genüssen anderer Art beschäftigt zu sein scheint.«
»Schon«, gab das Mädchen verlegen zurück und scharrte mit den Schuhen auf dem Boden herum. »Ich habe sie ihm vorgelesen, aber …«
»Mein Gott, Jaz, halt endlich die Füße still, du siehst aus, als müsstest du aufs Klo. Raus mit der Sprache, was ist los?«
»Er behauptet, er sei eine besondere Art von Veganer. Ein Ökoveganer. Er isst ausschließlich Gemüse aus ökologischem Anbau oder so und am liebsten roh. Und als ich ihm sagte, ich wisse nicht, ob wir was für ihn hätten, wollte er sofort meine Chefin sprechen.«
»Himmel«, murmelte ich. »Warum ausgerechnet heute Abend? Warum muss es ausgerechnet heute Abend sein? Zum ersten Mal seit über einem Jahr ziehe ich einen Kerl an Land, und er taucht ausgerechnet mit dem Ernährungsapostel aus der Hölle auf.«
»Soll ich das übernehmen?«, bot Tom sich an.
»Nein, das würde lediglich damit enden, dass du ihn wegen seiner Beurteilung zur Schnecke machst«, widersprach ich mit einem Blick auf Harper, der mich überheblich musterte. »Außerdem habe ich den Eindruck, dass er mich an seinem Tisch sehen will.«
Mit einem eisigen Lächeln ging ich zu ihm hinüber. »Gibt es ein Problem, Sir?«
»Und ob es ein Problem gibt«, fauchte er mich an. »Ihre Speisekarte – kannst du mal kurz mein Ohr in Frieden lassen, Claudia – , Ihre Speisekarte ist das verfluchte Problem. Kann es wirklich sein, dass nichts von dem Zeug aus biologischem Anbau stammt?«
»Reicht es nicht, dass alle Produkte aus der Region kommen und wir sämtliche Zutaten von Farmen in der Umgebung beziehen?«
»Ich habe nicht gefragt, ob sie regional sind, sondern ob sie biologisch sind.« Er verschränkte die Arme. »Ich kann nichts essen, was konventionell angebaut wurde. Das jagt meinen Blutdruck hoch.«
Mein Blick fiel auf die fast leere Flasche Champagner. Offenbar wirkte sich der nicht auf seinen Blutdruck aus.
»Wir tun natürlich unser Bestes, um auf verschiedene Ernährungsgewohnheiten Rücksicht zu nehmen, so spezielle Wünsche hätten Sie allerdings vorher telefonisch durchgeben müssen«, erklärte ich ihm mit mühsam gewahrter Geduld.
»Wie bitte? Ich wäre im Traum nicht auf die Idee gekommen, dass man vorab anrufen muss, wenn man Biogemüse essen will. Das sollte inzwischen eigentlich in allen Restaurants Standard sein.« Überheblich zog er die Oberlippe hoch. »In allen anständigen Restaurants.«
»Wir sind hier nicht in London, Mr. Brady. Wir servieren gesundes Essen, zubereitet nach traditionellen, teilweise jahrhundertealten Rezepten, und unsere Gäste schätzen das.«
»Leider ist es nicht das, was dieser Gast mag, Herzchen. Also: Kriegen Sie das auf die Reihe?«
Stewart schüttelte den Kopf. »Mein Gott, Harper, nimm einfach die Suppe. Wenn sie aus regionalen Produkten besteht, sollte das schließlich reichen.«
»Gesund ist sie deshalb noch lange nicht«, verkündete der Ketchupmillionär und Gesundheitsapostel. »Ich möchte mich nicht schleichend mit Kunstdünger vergiften, vielen Dank.«
Stewart lächelte bedauernd. »Tut mir wirklich leid, Lana. Bring ihm einfach die Suppe.«
»Auf keinen Fall. Ich bestehe auf ökologischem Gemüse, oder ich gehe.«
»Du nimmst die Suppe«, beharrte Stewart energisch. »Oder du kannst allein für deine Rolle recherchieren.«
»Nein, kein Problem.« Ich rang mir ein strahlendes Lächeln ab. »Wir werden bestimmt etwas für Sie finden. Ich spreche mit dem Koch.«
In der klinisch sauberen Edelstahlküche rührte Deano gerade in einem Kanincheneintopf. Seine stacheligen, scharlachrot gefärbten Haare leuchteten dämonisch im gleißenden Neonlicht. Er summte leise kichernd Fetzen von Weihnachtsliedern vor sich hin – nur eine seiner vielen Macken, die uns rätseln ließen, ob er wirklich ganz bei Trost war. Immerhin hatten wir Mai!
Als er mich hereinkommen hörte, drehte er sich sofort um. »Hey, Lana-Banana! Stets eine Freude, nie eine Last.«
Dann hob er mich an den Hüften hoch und pflanzte einen fetten Kuss auf meine Lippen.
»Pfui Teufel«, würgte ich, sobald ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. »Lass das, Deano! Wie oft soll ich dir das noch sagen: Zum einen ist es ein absolutes No-go, seinen Boss abzuküssen, und zum anderen mag ich es nicht. Nicht im Geringsten. Du erinnerst dich hoffentlich an unser kleines Gespräch?«
Achselzuckend wandte er sich wieder seinem Stew zu. »Du willst Italienerin sein? Ich dachte, ihr seid ein leidenschaftliches und offenherziges Volk.«
»Ich bin zur Hälfte Italienerin, meine andere Hälfte ist englisch, was bedeutet, dass ich zu einem reservierten und verklemmten Volk gehöre, das sich seine Leidenschaft für fünf Minuten in der Missionarsstellung am Samstagabend aufspart.«
»Da sprichst du allein für dich selbst.«
Ich wippte auf den Zehenspitzen und wappnete mich für ein Attentat auf unsere Diva.
»Deano …«, säuselte ich so einschmeichelnd wie möglich.
»Ja?«
»Könntest du eventuell einen Sonderwunsch erfüllen?«
Er drehte sich missbilligend zu mir um. »Nein, kann ich nicht. Ich habe in einer Stunde Feierabend.«
»Bitte. Mir zuliebe. Wenn du das für mich machst, bekommst du heute Abend sämtliche Trinkgelder.«
»Hm. Worum geht’s denn?«
Ich kniff die Augen zu, damit ich sein Gesicht nicht sehen musste.
»Um einen Gast, der Ökoveganer ist. Leider sitzt er draußen.«
Wie erwartet ballte sich auf Deanos Gesicht ein Gewitter aus Grauen und Abscheu zusammen.
»Und was soll das?«, fragte er drohend.
Sein Arm schwenkte hilflos über seine handverlesenen Zutaten und die blubbernden Töpfe, als wäre der bloße Gedanke, dass jemand dieses wunderbare Essen verschmähte, eine kulinarische Blasphemie.
»Keine Ahnung, irgendein Quatsch von wegen Kunstdünger und Blutdruck. Vegan reicht ihm nicht, er will ausschließlich etwas aus ökologischem Anbau.«
»Er will meinen Hirsch nicht? Ich habe ihn in Rotwein eingelegt. Rotwein, Lana!«
Beschwichtigend tätschelte ich seinen Arm. »Das weiß ich ja«, sagte ich in der unendlich sanften Stimmlage, die ich dann einsetzte, wenn er kurz vor der Explosion stand. »Es wird immer Banausen geben, die große Kunst nicht zu schätzen wissen. Du bist der Vincent van Gogh der Küche, das steht fest. Ich wette, wenn du nicht mehr lebst, wird sich jemand mit deinem Rezept für Kaninchenstew eine goldene Nase verdienen.«
»Und ich habe in Honig gebratene Ochsensteaks auf der Karte und außerdem meine Rosmarinsteckrübensuppe, die hat mich Stunden gekostet«, jammerte er gekränkt weiter. »Was stört ihn an der Suppe? Die ist vegan und köstlich, und ich habe Stunden dafür gebraucht.«
»Ist sie denn bio?«
»Woher soll ich das wissen? Sie ist köstlich, das reicht mir.«
Ich seufzte. »Kannst du wirklich nichts machen? Es ist dieser Ketchupheini, Harper Brady. Er hat uns bereits auf TripAdvisor in die Pfanne gehauen. Ein winziges Sternchen hat er uns gegeben, so eine Frechheit. Ein weiterer Tweet könnte uns vollends ins Aus katapultieren.«
»Und wenn er der Papst wäre, da setze ich mich drauf.« Deanos Stimme wurde von Sekunde zu Sekunde schriller. »Er kann gerne herkommen und mir erklären, was für ein Problem er mit meiner köstlichen Suppe hat, oder er kann mich an meinem cul lecken.«
»Komm schon, Deano, jetzt mach nicht auf französischen Maître de Cuisine.« Der beschwichtigende Tonfall war vergessen. »Dein Job ist es in erster Linie, diese Schwachköpfe da draußen mit Spanferkel, Ochsensteaks und Gemüsesuppe zu beglücken. Also spiel dich nicht auf, in Ordnung?«
»Ich spiele mich nicht auf, ich habe Ideale, die ich nicht verraten will.«
»Zwei Jahre Berufsfachschule und gleich hältst du dich für Paul Bocuse oder zumindest für Gordon Ramsay«, schimpfte ich. »Steig von deinem hohen Ross herunter und tu es mir zuliebe. Brady bringt mir sonst noch den ganzen Laden durcheinander mit seinem miesen Benehmen, er will uns eindeutig eins reinwürgen. Der Abend war auch ohne weiteren Terz beschissen genug.«
Deanos Miene wurde weicher. »Es geht Phil schlechter, stimmt’s?«
»Ja. Ich war fast die ganze Nacht wach und bin fix und fertig.«
Mitleidig musterte er mein Gesicht und krempelte die Ärmel hoch.
»Na schön, Lana, weil du es bist. Ich schicke die Kleine mit dem Motorroller in den Hofladen, dann ist sie in fünf Minuten zurück. Bestimmt kann ich ein Quinoa Surprise oder irgendwas in der Richtung zusammenrühren.«
Endlich eine gute Nachricht.
Erleichtert atmete ich auf. »Du bist ein Goldstück. Ich sage Jasmine Bescheid.«
»Darf ich dich danach zur Belohnung abknutschen?«
»Nein. Aber du darfst mir drei Monate lang jeden zweiten Samstag einen Klaps auf den Po geben.«
Grinsend streckte er mir die Hand hin. »Abgemacht.«
Es wurde ein Erfolg.
Harper verschlang die von Deano gezauberte Quinoa-Bohnen-Pfanne mit sichtlicher Wonne, obwohl man den Eindruck haben konnte, dass das Gericht womöglich ein wenig trocken war, zumindest wenn man nach den Mengen Schampus ging, die er dazu kippte. Wie auch immer, er schien zufrieden zu sein.
Was sich allein daran zeigte, dass er noch an seinen Tisch saß, als die anderen Gäste längst den Heimweg angetreten hatten.
Das blonde Gift klebte nach wie vor kichernd an seiner Seite und hatte, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, höchstwahrscheinlich unter dem Tisch die Hand in seiner Hose. Stewart hockte desinteressiert daneben und blätterte in einem Buch.
Inzwischen war es elf, Sperrstunde bei uns. Ein Gähnen unterdrückend, kam ich hinter der Bar hervor und trat an Harpers Tisch. »Kann ich Ihnen die Rechnung bringen?«
»Nein, lieber noch eine Flasche«, lallte der Superstar mit schwerer Zunge – er klang definitiv nicht so, als bräuchte er noch mehr Champagner.
»Tut mir leid, die Bar ist geschlossen. Ich könnte Ihnen einen Kaffee bringen, wenn Sie möchten. Vielleicht einen Espresso?«
Bevor der bis Oberkante abgefüllte Harper protestieren konnte, kam Stewart ihm zuvor.
»Danke, Lana. Die Rechnung bitte«, sagte er und wandte sich an seinen Cousin. »Vergiss nicht, du musst morgen drehen.«
Ich ging zur Kasse, tippte die einzelnen Posten ein und servierte die Rechnung auf einem kleinen Tablett. Normalerweise legte ich ein After Eight dazu, doch ich fand, dass dieser ungehobelte Promi eine solch freundliche Geste nicht verdient hatte. Und mochte er sich noch so sehr wie King Kong fühlen – es war mein Restaurant, und ich war die Königin der After Eights. Eher würde ich sterben, als ihn das vergessen zu lassen.
»Na schön, dann los«, brummte Harper, nachdem sie gezahlt hatten, und stand schwankend auf.
»Bis nächste Woche, Lana«, rief Stewart mir zu und steckte sein Buch ein.
Harper starrte seinen Cousin an. »Das ist nicht dein Ernst, Stew. Du hast ein Date mit dieser Bedienung?« Er musterte mich abschätzig. »Du hättest wenigstens die Dünnere nehmen können.«
»Die Dünnere ist sechzehn, Mr. Brady«, wies ich ihn zurecht.
»Scheiße, ist sie nicht, oder?« Er sah mich gereizt an. »So was kann ins Auge gehen. Diese Kids sollten den Ausweis vorzeigen müssen, bevor sie Make-up kaufen dürfen.«
Die blonde Claudia lachte und wühlte ihr Gesicht in seine Halsbeuge.
»Du bist lustig«, hörte ich sie flüstern.
»Außerdem möchte ich Sie darauf hinweisen«, belehrte ich ihn streng, »dass ich nicht einfach eine Bedienung, sondern Miteigentümerin dieses Lokals bin.« Mit diesen Worten stolzierte ich zur Tür. »Gute Nacht, Sir.« Dann reckte ich den Daumen hoch und fügte sarkastisch hinzu. »Ach ja, und vielen Dank für den einen Stern!«
Sobald sie weg waren, sperrte ich ab und schleppte mich erschöpft nach oben. Harpers Tisch ließ ich so, wie er war: übersät mit leeren Flaschen, schmutzigen Gläsern und Trinkbechern, aber das hatte Zeit bis morgen, ich würde es nach dem Einfetten der mittelalterlichen Laute an der Wand und dem Polieren der Ritterrüstung, beides selbstredend billige Imitate, erledigen.
Leise klopfte ich an Dads Zimmertür, und eine Sekunde später schaute Toms Kopf heraus.
»Ist er wach?«, flüsterte ich.
»Halb. Ich habe ihm gerade die letzte Dosis gegeben.«
Vorsichtig schob ich die Tür auf. Dad lehnte mit schweren Lidern in einem Kissenstapel. Das Buch, aus dem Tom ihm vorgelesen hatte, lag aufgeschlagen am Fußende. Er lächelte schläfrig, als er mich erkannte, und winkte mich näher. Ich ließ mich auf den Stuhl neben seinem Bett sinken und nahm seine ausgestreckte Hand.
»Na, mein Mädchen, kümmerst du dich gut ums Geschäft?«, stammelte er leicht verwaschen, woran die Morphinkeule schuld war.
»Versteht sich wohl von selbst, oder?«, antwortete ich betont munter. »Es läuft richtig gut, Dad. Wir waren ausgebucht. Und haben drei Flaschen Champagner verkauft.«
»Aha.« Er atmete zufrieden auf. »Und wie geht es meiner Lana?«
Ich lächelte. »Sollte es mir zu denken geben, dass du das nicht als Erstes fragst?«
»Vergiss es. Du bist sowieso zu schlau, um mir zu sagen, wie du dich wirklich fühlst.« Er gähnte und stieß ein kurzes Lachen aus. »Genauso schlau wie deine Mutter früher. Zu schlau.«
»Hattest du heute Spaß mit Gerry?«, erkundigte ich mich, um das Thema zu wechseln.
»Ich weiß nicht, ob es für ihn besonders spaßig war, für mich war es schön, ihn zu sehen. Er meinte, ich schulde ihm ein Pint im Sooty Fox, wenn ich wieder besser drauf bin. Ich glaube, er will aus meinen Erinnerungslücken Kapital schlagen.«
Tom lachte. »Das zeugt von einem echten Yorkshire-Mann. Solange du noch jemandem ein Bier schuldest, wird es dir nie an Gesellschaft mangeln, Dad.«
»Und gibt es neuen Klatsch aus dem Restaurant für euren alten Herrn? Mir fehlen die Menschen, das ganze Drum und Dran, die Atmosphäre …«
Solange Dad unter Drogen stand, wollte ich ihm nichts von dem Fiasko mit Harper Bradys TripAdvisor-Beurteilung erzählen, vielleicht morgen früh, wenn er klarer war und mit Glück sogar darüber lachen würde. Also schüttelte ich den Kopf.
»Nichts Besonderes, außer dass Deano zwischendurch mal wieder ausgetickt ist«, erzählte ich ihm. »Er musste für einen besonders heiklen Gast, einen kompromisslosen Veganer und Biofreak dazu, extra ökologisch unbedenkliches Gemüse beschaffen und daraus ein Gericht zaubern. Ich hatte Angst, dass er an die Decke gehen würde, wenn er hört, dass jemand seinen köstlichen marinierten Hirsch verschmäht.«
»Mit Recht«, bekräftigte Dad. »Ein talentierter Bursche. Ich war früher genauso wie er.«
Resigniert hob ich die Arme. »Für einen Geisteskranken, der eigentlich eingewiesen gehört, schlägt er sich nicht übel.«
Tom zwinkerte mir zu. »Den wahren Klatsch verschweigt sie dir, Dad. Frag sie mal nach Stewart.«
Dad runzelte die Stirn, sodass sie aussah wie ein zerknittertes Stück Papier. »Stewart? Wer ist Stewart?«
»Einfach jemand, den ich heute Abend kennengelernt habe. Wir haben uns für nächste Woche verabredet«, erklärte ich errötend und warf Tom einen bitterbösen Blick zu.
»Zu einem Rendezvous?«
»Ja, heute nennt man das Date.«
»Hoffentlich verschreckst du ihn nicht mit deinem Sarkasmus.«
»Seit du nicht mehr unten bist, flirtet sie wie eine Geisteskranke drauflos, Dad«, gab mein Bruder erneut seinen Senf hinzu. »Klimpert bei allen Gästen mit den Wimpern, nur damit sie mehr Trinkgeld kassiert als ich.«
Ich sah, wie mein Vater das Gesicht verzog und kurz die Augen zukniff – offenbar hatte er trotz des Morphiums Schmerzen, spielte es jedoch herunter, als ich ihn danach fragte.
»Halb so wild. Er mag also meine Lana, dieser Stewart?«
»Ja, sieht so aus. Zumindest hoffe ich es.«
»Dann musst du ihn mir vorstellen.«
»Dafür ist es noch ein bisschen früh, finde ich.«
»Du hast wohl Angst, ich könnte ihn verschrecken, wie?«
»Nein, darum geht es nicht.« Ich tätschelte seine Hand. »Weißt du, erstens kenne ich ihn kaum, und zweitens möchte ich nicht, dass du ihn nach Strich und Faden in die Mangel nimmst, um rauszufinden, was für Absichten er hat.«
»Ich werde mich benehmen.« Inzwischen waren ihm die Augen halb zugefallen. »Jedenfalls bin ich froh, dass du einen netten Jungen kennengelernt hast. Das habe ich mir immer gewünscht: einen netten Jungen, der auf dich aufpasst.«
Genervt verdrehte ich die Augen. »Mach dir keine Sorgen, ich komme prima alleine zurecht.«
»Weiß ich. Trotzdem ist es besser, wenn da jemand ist, der sich um dich kümmert und um den du dich kümmern kannst.«
Er seufzte, und ich wusste, dass er gerade an meine Mutter dachte, die inzwischen seit beinahe zwanzig Jahren nicht mehr lebte. Für mich war sie letztlich bloß noch ein Schatten aus meiner frühen Kindheit, Dad hingegen spürte den Schmerz bis heute.
»Das gilt auch für dich, Tomasso«, wandte er sich jetzt seinem Sohn zu. »Wann findest du endlich einen netten Jungen?«
Tom verzog das Gesicht. »Musst du mich so nennen? Tomasso, niemand heißt so!«
»Pah! Deine Mutter wollte dich Thomas nennen, aber das habe ich nicht zugelassen. Mir lag daran, dir einen Namen aus der alten Heimat zu geben, damit du deine Herkunft nicht vergisst.«
»Wenn dir Italien so am Herzen liegt, dann hättest du eigentlich aus lauter Sentimentalität eine stinknormale italienische Trattoria eröffnen sollen, statt so einen albernen Mummenschanz zu veranstalten«, widersprach Tom und deutete anklagend auf sein Mittelalterkostüm, das er noch nicht ausgezogen hatte.
Dad richtete einen zittrigen Finger auf ihn. »Lenk nicht vom Thema ab. Du hoffst, dass ich eingeschlafen bin, bevor du antworten musst, richtig?«
Mein Bruder grinste. »Vielleicht.«
»Na, womöglich hast du Glück.« Dad gähnte. »Geht ins Bett, Kinder. Ihr habt morgen wieder einen anstrengenden Tag.« Verwirrt sah er mich an. »Morgen ist doch Freitag, oder?«
»Samstag, Dad«, korrigierte ich ihn liebevoll und betrachtete ihn wehmütig.
Es fiel mir schwer, ihn so zu sehen, denn durch die Medikamente hatte mein Vater jedes Zeitgefühl verloren. Außerdem war er mittlerweile durch die Krankheit so sehr verändert, dass man in dem eingefallenen, schmerzzerfurchten Gesicht nicht mehr den kräftigen, energiegeladenen Mann erkannte, der er einmal gewesen war. Ich blinzelte eine Träne weg und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Du schläfst jetzt, okay?«, flüsterte ich. »Vielleicht gehen wir morgen früh an die frische Luft, wenn du dich stark genug fühlst. Ich hab dich lieb, Papa.«
Er lächelte. »Ich mag es, wenn du mich so nennst.«
»Weiß ich, dann Gute Nacht.«
Ich ging aus dem Zimmer und zog leise die Tür zu, Tom folgte mir ein paar Sekunden später. Sein Lächeln war wie ausgelöscht, er wirkte müde und bekümmert. Instinktiv schmiegte ich mich an ihn und brach an seiner Schulter in Tränen aus.
»O Gott, ich wünschte, wir könnten es beenden«, flüsterte ich. »Er hat schlimmere Schmerzen, als er uns wissen lässt.«
Tom nickte. »Ich weiß, Kleines, ich wünsche mir dasselbe.«
Kapitel 3
»Und ich sehe ganz sicher okay aus?«
Ich renkte mir halb den Hals aus, weil ich im Spiegel meinen Rücken zu betrachten versuchte.
»Zum zweihundertneuntenmal, Lana, du siehst gut aus«, versicherte Tom.
»O Gott, gut? Bloß gut? Gut heißt nicht gut, es heißt beschissen, das weiß doch jeder. So was sagt man, wenn man überspielen will, dass jemand Hüften wie ein Dockarbeiter und einen Arsch wie ein Brauereigaul hat.«
»Hör zu, ich bin dein Bruder. Glaubst du nicht, ich wäre der Erste, der dich damit aufziehen würde, wenn du so einen Arsch hättest?«
»Hm. Auch wieder wahr.« Ich zog mein Trägertop etwas nach oben, um meinen üppigen Ausschnitt zu verkleinern. »Große Busen sind ein Albtraum. Damit sehen selbst absolut seriöse Tops aus wie Fetischklamotten. Ich verstehe nicht, was manche Typen daran finden.«
»Dito«, gab mein Bruder vage zurück und nährte damit meine Selbstzweifel eher, als dass er sie ausräumte.
Unschlüssig zupfte ich weiter an meinem Top herum. »Weißt du, ich möchte weder verklemmt wirken wie ein Mauerblümchen oder verzweifelt, als hätte ich Torschlusspanik. Und noch weniger will ich aufgebrezelt daherkommen wie eine Tusse oder gar wie eine Schlampe«, suchte ich tausend Stolperfallen, die mein Date ruinieren könnten.
Mein Bruder verlor die Geduld. »Hör auf, du siehst gut aus, und damit basta. An deinem Arsch, deinem Busen und deinen Hüften ist nichts auszusetzen, und das Verhältnis von Stoff und nackter Haut passt ebenfalls. Was also soll das Theater?« Er stand von der Bettkante auf und schob mich sanft in Richtung Tür. »Und jetzt zisch ab, ich muss mich für meine Schicht umziehen. Entspann dich und genieß den Abend, okay?«
»Ja, ich versuche mein Bestes«, versprach ich und holte tief Luft. »Entschuldige. Ich will es einfach nicht vermasseln.«
»Himmel, du musst echt scharf auf ihn sein, so nervös habe ich dich noch nie erlebt.«
Meine Augen wurden groß. »Was, merkt man mir das etwa an? Du hast geschworen, dass ich nicht verzweifelt aussehe.«
Tom stöhnte. »Geht das etwa wieder los.«
Ich zuckte zusammen, weil in diesem Moment das Schnarren der Klingel anzeigte, dass jemand unten an der Treppe zu unserer Wohnung wartete.
»Das ist er«, hauchte ich. »Was soll ich jetzt machen?«
»Runtergehen.«
»Hoffentlich schaffe ich das, ohne ohnmächtig zu werden.« Ich drückte seinen Arm. »Wir sehen uns im nächsten Leben, Tommy.«
»Viel Spaß!«, rief er mir grinsend nach, während ich nach unten ging.
Stewart erwartete mich mit einem warmen Lächeln an der Treppe.
»Hi«, tat ich betont locker und cool. »Also, da bist du …«
»Sieht so aus.« Er beugte sich vor und küsste mich auf die Wange. »Schön, dich wiederzusehen, Lana. Gut siehst du aus, toll.«
»Danke, ich gebe das Kompliment zurück«
Sein Outfit war gleichermaßen smart wie casual und ziemlich sexy. Er trug ein gut geschnittenes Sakko über einem knappen grauen T-Shirt, und ich musste mir Mühe geben, die Konturen seines athletischen Oberkörpers unter dem eng anliegenden Baumwollfetzen nicht allzu aufdringlich anzustarren.
»Also, äh, möchtest du kurz mit nach oben kommen?«, fragte ich und kämpfte dabei das Prickeln nieder, das sein Kuss in meinem Bauch ausgelöst hatte.
»Wenn du versprichst, dass du mich danach noch respektierst.«
Ich entspannte mich ein wenig. »Um meinen Dad kennenzulernen, du Schwerenöter. Er hat gefragt, ob wir kurz bei ihm vorbeischauen, bevor wir losziehen.«
»Ach so, ist okay.«
»Entschuldige, dass ich dich damit so überfalle«, sagte ich auf dem Weg nach oben. »Aber du weißt ja, seine Krankheit …, da wollte ich ihm den Gefallen tun.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Lana, das ist für mich total in Ordnung.«
»Er freut sich bestimmt, es schien ihm irgendwie wichtig zu sein. Inzwischen kommt er kaum noch aus der Wohnung, weißt du.«
Dad war hellwach, saß im Bett und löste das Kreuzworträtsel im Guardian, während die untergehende Sonne durch die Fenster strömte. Ich war froh, dass Stewart ihn an einem seiner besseren Abende kennenlernte.
Bereits in den ersten Monaten nach der Diagnose, als er noch voll im Restaurant mitarbeitete, hatten Tom und ich das erste Aufflackern der Schmerzen bemerkt. Zunächst kamen sie vereinzelt und in großen Abständen: ein kurzes Verziehen des Gesichts, ein Innehalten, ein Abstützen an der Arbeitsfläche, um das Gleichgewicht wiederzufinden, doch mit der Zeit steigerten sich Häufigkeit und Intensität der Attacken, bis sie zu einem Dauerzustand wurden. Mittlerweile lebte er seit sieben Jahren mit dem Krebs und baute immer mehr ab.
Jetzt allerdings, als ich Stewart zu ihm ins Zimmer führte, bemühte er sich nach Kräften, noch einmal den guten, alten leutseligen Phil heraufzubeschwören.
»Äh«, machte ich mich bemerkbar, mehr sagte ich nicht.
»Dir fehlen die Worte? Das ist ja mal was Neues.« Dad legte das Kreuzworträtsel beiseite und nickte Stewart zu. »Eine schüchterne kleine Blume, meine Lana, wie es aussieht. Aber man muss sich hüten, alles zu glauben, denn manchmal trügt der Schein.«
Ich rang mir ein schwaches Lächeln ab. »Bring mich nicht in Verlegenheit, du Spaßvogel.«
»Wer, ich? Nie!«, empörte sich Dad in gespieltem Ernst und bekreuzigte sich.
Mein Date fand das offenbar komisch. »Stewart McLean«, sagte er und streckte die Hand aus. »Schön, Sie kennenzulernen, Sir.«
Mein Vater schüttelte Stewarts Hand. »Phil reicht völlig. Und jetzt setzen Sie sich, junger Mann. Meine Tochter hat mir erklärt, ich soll Sie bezüglich Ihrer Absichten«, er warf mir einen verschwörerischen Blick zu, »in die Mangel nehmen. Hast du es nicht so ausgedrückt, Lana?«
Na toll, hatte ich es nicht geahnt! Unsicher schaute ich zu Stewart, der irritiert wirkte.
»Stewart McLean.« Dad sah ihn nachdenklich an. »Ich kenne den Namen irgendwoher. Kommen Sie aus Egglethwaite?«
»Nein, ich lebe etwa zehn Meilen von hier in Richtung Halifax.«
»Und was tun Sie so?«
»Ich bin Radrennfahrer.«
»Radrennfahrer …« Dad blinzelte kurz, dann fiel der Groschen. »Sie sind derjenige, der letztes Jahr einen neuen Rekord bei der Etape du Dales aufgestellt hat, richtig?«
»Stimmt, das war ich«, räumte Stewart leicht verlegen ein.
Während ich nicht mal eine Speiche von einer Nabe unterscheiden konnte, war mein Vater ein großer Radsportfan und deshalb von seinem Besucher sichtlich beeindruckt.
»Also, das nenne ich einen Zufall. Ich habe gerade über Sie gelesen.« Dad blätterte mit zittriger Hand in seiner Zeitung. »Die Top Ten der Athleten, die man im Auge behalten sollte, und Nummer sechs sind Sie.« Er nickte Stewart aufmunternd zu. »Sehr gut.«
»Heißt das, ich habe Ihren Segen, wenn ich Ihre Tochter ausführe?«, erkundigte sich die Nummer sechs der Bestenliste.
»Den Segen muss sie Ihnen selbst geben, tut mir leid. Sie ist nämlich ziemlich erwachsen und verbittet es sich, dass ich ihr reinrede.« Er wandte sich an mich. »Wohin geht ihr, Lana?«
»Ich dachte an den Pub.«
Dad wedelte wegwerfend mit der Hand. »Der Fox ist kein Ort für ein romantisches Date. Vielleicht solltet ihr lieber wohin gehen, wo ihr allein seid.«
O Gott. Auf diese Weise, mit demselben belustigten Zucken seiner Lippen, hatte er mich schon als Teenager vor meinen Freunden bloßgestellt. Na ja, schön für ihn, dass es noch etwas gab, das ihm eine diebische Freude bereitete, dachte ich mit einem Anflug von Sarkasmus.
»Am Fox ist nichts verkehrt«, widersprach ich und fügte süffisant hinzu: »Immerhin können wir dort Dart spielen, falls uns der Gesprächsstoff ausgeht.«
»Es wird immer schlimmer mit dir, Mädchen. Mir blutet jede Faser meines romantischen italienischen Herzens«, seufzte Dad theatralisch und gab mir mit einem Kopfnicken zu verstehen, näher heranzukommen. »Geh mit ihm zum Pagans’ Rock«, flüsterte er, als ich mich zu ihm beugte. »Da oben kann man die Sterne sehen.«
»Pagans’ Rock? Das ist ein ziemlich langer Weg, Dad.«
»Umso besser. So spät am Abend habt ihr ihn bestimmt für euch allein. Du kannst ja etwas Champagner aus der Bar mitnehmen, wenn du magst.«
»Und ihn mir hinterher vom Lohn abziehen lassen, meinst du?«
Er zuckte mit den Achseln. »Selbstverständlich. Geld wächst schließlich nicht auf Bäumen.«
»Ist dir das zu weit?«, fragte ich Stewart. »Es geht eine gute Meile hügelaufwärts, dafür ist der Ausblick wirklich grandios.«
Verdattert sah er mich an. »Äh, Verzeihung, wohin wollen wir?«
»Zu einem Aussichtspunkt hier in der Nähe, dem Lieblingsfleck meines Vaters. Jugendreminiszenzen. Was meinst du? Vielleicht sollte man einen so schönen Abend wirklich nicht drinnen vergeuden.«
»Viel Spaß«, rief Dad uns nach, als wir aufbrachen. »Bis elf bist du zurück, Lana.«
»Ich bin keine sechzehn mehr, Dad«, erinnerte ich ihn.
»Na schön, dann bis Mitternacht.«
Stewart folgte mir sichtlich amüsiert nach unten.
»Er passt immer noch auf dich auf, wie?«
»Ach, ich weiß nicht. Mag sein, dass er ein typisch italienischer Papa ist, aber eher denke ich, er tut nur so und zieht mich auf. Jedenfalls mag er dich, das habe ich gemerkt.«
»Er ist ein netter Dad und ein tapferer Mann, so wie er seine Krankheit überspielt. Hat er starke Schmerzen?«
»Ununterbrochen, ohne Morphium geht gar nichts mehr«, erklärte ich so nüchtern wie möglich. »Ich bin froh, dass du ihn an einem Tag wie heute kennengelernt hast.«
»Was ist heute anders?«
»Inzwischen ist er phasenweise völlig weggetreten durch die hochdosierten Schmerzmittel. Das eben hingegen war der alte Phil Donati. Leider bekommen wir ihn nicht mehr oft so zu sehen.«
Wir machten einen kurzen Abstecher an die Bar, wo heute Debbie, unserer zweite Kellnerin, Dienst hatte. Ich nahm eine Flasche Champagner aus dem Kühlschrank und reichte sie Stewart, während ich zwei Gläser in meiner Handtasche verstaute. Dann gingen wir nach draußen und spazierten über das Kopfsteinpflaster der Hauptstraße in Richtung Ortsrand.
»So, du bist also ein hoffnungsvoller Radrennfahrer«, sagte ich, um ein Gespräch in Gang zu bringen. »Mein alter Herr jedenfalls war schwer beeindruckt.«
»Na ja, ich stehe noch am Anfang«, erwiderte er. »Immerhin kann ich inzwischen davon leben.«
»Noch ein Promigast für unsere Sammlung. Das muss ich meinem Bruder erzählen, der wird ausflippen.«
»Also, ich weiß nicht. Ein Prominenter in der Familie reicht, zumal Harper diesen Titel für sich beansprucht.«
»Mhm. Und ich wette, das lässt er dich keine Sekunde vergessen.«
Stewart verzog das Gesicht. »Ach ja, ich muss mich für ihn noch entschuldigen. Ich weiß nicht, warum er an diesem Abend absolut unausstehlich war. Hoffentlich hat er euch keinen allzu großen Ärger mit seinem Ökoveganerquatsch bereitet.«
»Das war halb so wild, schlimmer war sein arschiges Posting auf TripAdvisor – darauf hätten wir weiß Gott verzichten können. So was kann für einen kleinen Laden wie unseren ruinös sein.«
»Hat er dort tatsächlich eine Bewertung eingestellt?«
»O ja. Mit einem einzigen Stern, und zwar bevor er das Essen überhaupt bestellt hatte. So ein Mistkerl.«
Stewart sah mich betreten an. »Das tut mir schrecklich leid, manchmal ist Harpers Benehmen echt völlig daneben. Ich werde ihn zu bewegen versuchen, dass er diese Kritik zurückzieht.«
»Danke, das ist nett.« Ich kramte in meiner Handtasche und reichte ihm ein kleines quadratisches Päckchen. »Für dich, du hast es verdient.«
Er betrachtete es stirnrunzelnd. »Was ist da drin?«
»After Eight, nette Gäste bekommen es mit der Rechnung. Verrate es lieber nicht deinem Cousin, sonst arriviere ich am Ende zu seiner Todfeindin.«
»Klar«, versprach er und zwinkerte mir zu. »Das bleibt unser Geheimnis, und die«, er deutete auf die After Eight, »die verputzen wir später gemeinsam.«
Mittlerweile hatten wir die Holyfield-Farm erreicht, den letzten Außenposten der Zivilisation, und spazierten den Waldweg hinauf zum Pagans’ Rock. Die Sonne versank eben hinter dem Horizont und inszenierte am Himmel ein flammendes Farbspektakel in allen Tönen von Orange, Rot und Gold.
Stewart ging dicht neben mir, und irgendwann berührten sich zufällig unsere Finger.
Es war wie ein winziger Stromschlag, und unwillkürlich zog ich meine Hand zurück.
»Entschuldige.«
Jetzt griff er gezielt nach meiner Hand und verschränkte seine Finger mit meinen. Mein Magen begann zu flattern, als ich den erregenden, lange vermissten Druck von Haut auf Haut spürte. Stewarts Daumenspitze zog leichte Kreise auf meinem Fingerrücken, während wir Hand in Hand weitergingen.
»Das ist schön«, flüsterte er.
»Ja.« Das Wort kam als Seufzer über meine Lippen, obwohl ich nicht so recht wusste, ob er unsere Berührung oder den grandiosen Abendhimmel gemeint hatte.
»Übrigens finde ich es sehr angenehm, dich zur Abwechslung mal nicht im Ledermieder und mit Haube zu sehen«, sagte er mit liebevollem Spott, während sein Blick wohlgefällig meine dunkelbraunen Haare streifte, die mir offen bis über die Schultern fielen. »Wobei du, wie ich zugeben muss, den Wäscherinnenlook total rockst. Trotzdem bist du mir in der Normalversion lieber«, flüsterte er und drückte wie zur Bekräftigung meine Finger.
»Von hier aus wird’s anstrengend«, lenkte ich verlegen ab. »Es geht nämlich ziemlich steil nach oben«, sagte ich, als wir uns der Wiese unterhalb des Pagans’ Rock näherten. »Ich hoffe, du schaffst das.«
»Nicht dein Ernst, oder? Das überhaupt anzuzweifeln ist eine Beleidigung für jeden Leistungssportler«, grinste er und musterte geringschätzig den Anstieg, der es durchaus in sich hatte. »Was erwartet uns eigentlich da oben?«
»Du wirst schon sehen.«
Nachdem wir teilweise auf allen vieren die Wiese hochgekrabbelt waren, mussten wir erst mal schwer atmend verschnaufen, sogar der Leistungssportler. Doch es war die Mühe wert gewesen. Auch Stewart war beeindruckt und sah sich fast ehrfürchtig um.
»Nie zuvor habe ich von diesem Ort gehört«, wunderte er sich. »Die Aussicht ist echt spektakulär.«
»Pagan’s Rock kennen nur die wenigsten, es ist sozusagen ein Geheimtipp für Insider. Fremde kommen so gut wie nie hierher.«
Ein riesiger, flacher Fels ragte über die von Bäumen umstandene Kuppe hinaus, auf der wir uns befanden. Tief unter uns sahen wir die Bögen des alten Eisenbahnviadukts von Egglethwaite, das sich in der vom Sonnenuntergang erleuchteten Fläche des Speichersees spiegelte. Dahinter stieg ein Hochmoor auf, das in der letzten Glut des Tages zu erröten schien.
Dad hatte recht: Was Romantik anging, war Pagans’ Rock nicht zu schlagen.
Als junger Mann hatte mein Vater seine Angebetete, meine Mum, hierhergebracht, und noch heute konnte man auf dem Stein unter Hunderten von Inschriften irgendwo ihre Initialen finden. Kitschig, und dennoch hatte ich plötzlich einen Kloß im Hals.
»Besser als der Pub, oder?«, wandte ich mich an Stewart, nachdem wir den Ausblick eine Weile schweigend in uns aufgenommen hatten.
»Allerdings«, stimmte er mir zu und nickte zu dem Viadukt hin. »Ist die Strecke noch in Betrieb?«
»Nein, sie wurde in den Sechzigern stillgelegt. Lediglich der Viadukt wurde verschont. Beeindruckendes altes Ding, nicht wahr?«
»Ja, es hat was Monumentales. Trotzdem ist mir heute Abend deine Gesellschaft wichtiger.« Er deutete zu dem flachen Felsen mit den Inschriften hinüber. »Wollen wir dort hinauf?«
Seite an Seite kletterten wir auf das felsige Plateau und machten es uns nebeneinander bequem, um unseren Champagner zu trinken. Stewart entkorkte die Flasche, die infolge des Durchrüttelns beim Aufstieg gewaltig knallte, und ich kramte die Gläser aus meiner Tasche. Nachdem er uns eingeschenkt hatte, legte er einen Arm um meine Schultern und hielt mich fest. Sehr fest.
Was sehr angenehm war in dieser schwindelerregenden Höhe. Als Kind hatte ich mich immer gefürchtet, so nah am Abgrund zu sitzen. Gehalten von Stewarts kräftigem Arm hingegen, fühlte ich mich absolut sicher. So sicher, dass ich mich wohlig an ihn kuschelte. Und noch wohler wurde mir, als seine Finger zärtlich die nackte Haut meines Armes zu streicheln begannen und mich ein begehrliches Prickeln durchlief.
»Ist dir kalt?«, raunte er, als er mein leichtes Zittern spürte. »Du kannst meine Jacke umhängen.«
»Schon okay, ich bin lediglich ein bisschen kitzlig.«
Stewart grinste. »Eines Tages wirst du bereuen, dass du mir das verraten hast, das kann ich dir versprechen.«
»Es fühlt sich gut an«, murmelte ich und ließ meinen Kopf an seine Schulter sinken. »Hör nicht auf.«
