Ein fast perfekter Winter in St. Agnes - Bettina Reiter - E-Book

Ein fast perfekter Winter in St. Agnes E-Book

Bettina Reiter

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Beschreibung

„Emma tu dies, Emma tu das“, und Emma tut es. Das ist die bittere Bilanz der einunddreißigjährigen Konditorin Emma Sinclair, die sich von Kindheit an wie ein Fremdkörper in ihrer Familie fühlt. Bis ihr eines Tages ein Zufall zu Hilfe kommt, der ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt und sie ins beschauliche Küstendorf St. Agnes verschlägt. Dort steht sie aber nicht nur vor ihrer größten Herausforderung, sondern muss sich gegen eine folgenschwere Intrige behaupten. Gleichzeitig verliert sie ihr Herz ausgerechnet an den Mann, der im Dorf als Casanova bekannt ist …

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Ein fast perfekter

Winter in St. Agnes

Cornwall-Roman

 

Bettina Reiter

Teil 2aus der Buch-Reihe

Liebesromanzen in St. Agnes/Cornwall

© Bettina Reiter, November 2018

Lektorat: Edwin Sametz, Titelbildgestaltung: © Bettina Reiter

Titelbild-Motive: Adobe Stock: @Vector Nazmul - stock.adobe.com, @SerPhoto - stock.adobe.com

Canva.com: @lenkax, @kirstypargeter, @wirakorn-deelerts-images, @euaprendinainternet

Pixabay.com: @Sangeeth_n, @Larisa-K

Weitere Grafiken/Buch: Canva.com - @lutberbel

Website der Autorin: www.bettina-reiter-autorin.com

Impressum: Bettina Reiter, Dorfstr. 22, A-6382 Kirchdorf

Alle Rechte liegen bei der Autorin.

Sämtliche Texte sowie das Cover sind urheberrechtlich geschützt.

Eine Nutzung in jeglicher Form (Fotokopie, Mikrofilm, Verbreitung, Textauszug,

Vervielfältigung oder anderes) ist ohne die schriftliche Genehmigung des

Rechteinhabers/Urhebers nicht zulässig.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden

und sofern reale Örtlichkeiten (Lokale usw.) vorkommen, sind die

Szenen sowie die dort handelnden Personen ebenfalls frei erfunden.

 

Inhaltsverzeichnis

 

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog

News

Danksagung

Weitere Veröffentlichungen

Um die Schönheit einer Schneeflocke

erfassen zu können, muss man

die Kälte in Kauf nehmen.

 

Aristoteles

 

Für meinen Sohn

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Many thanks to Gill (st-agnes.com) for the nice support and the great Christmas-Impressions of St. Agnes. It was wonderful to be there in my thoughts.

Liebe Leserinnen und Leser,

 

nun ist es soweit und ich reise neuerlich mit Ihnen nach St. Agnes. In dieses wundervolle Küstendorf, dem ein ganz eigener Zauber innewohnt. Ich persönlich habe mich sehr gefreut, mit einer neuen Geschichte an jenen Ort zurückzukehren, in dem ich mich so wohlfühle.

 

Von ganzem Herzen wünsche ich Ihnen schöne Lesestunden und entführe Sie jetzt nach St. Agnes in den Winterurlaub (okay, ein bisschen Frühling, Sommer und Herbst sind auch dabei ;-).

 

Viel Vergnügen wünscht Ihnen von Herzen,

Ihre Bettina Reiter.

 

P.S.: Falls Sie einen Lieblingssatz in meinem Buch finden oder eine Stelle, die Ihnen gut gefällt, dann schreiben Sie mir, denn ich würde diesen Ausschnitt/die Passage gerne auf meiner Instagram-Seite veröffentlichen. Danke, ich freue mich schon darauf!

 

Meine Website:

http://www.bettina-reiter-autorin.com

 

 

 

 

Prolog

19. Dezember 1995, London

 

Emma konnte die alte Eiche vor ihrem Elternhaus bereits von weitem sehen, als sie die verschneite Straße in Greenwich entlangschritt. Fahles Sonnenlicht fiel auf die knorrigverzweigten Äste und ließ die Schneekristalle schimmern, als hätte jemand einen Eimer voller Glitzer über den Baum gestreut. In Emmas Fantasie hatte die Eiche ohnehin Zauberkräfte und oft stellte sie sich vor, dass Elfen darin wohnten und jeden Wunsch erfüllen konnten.

Je näher Emma der Eiche kam, desto mehr kribbelte es in ihr. Zu sehr hoffte sie, dass heuer alles anders werden würde. Deshalb nahm sie den Polizeiwagen nur am Rande wahr, der vom Grundstück ihres Elternhauses fuhr. Viel wichtiger war ihr neunter Geburtstag und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ein Geschenk von ihren Eltern. So, wie es bei ihren Schwestern Tiffany und Kim der Fall war, deren Geburtstage sogar gefeiert wurden. Sie bekam bisher stets nur den doofen Spruch zu hören: In einigen Tagen ist Weihnachten, da gibt es ohnehin Geschenke.

Aber Emma wollte nicht auf Weihnachten warten, sondern zu ihrem Geburtstag etwas bekommen. Ein Tag, dem sie förmlich entgegenfieberte. Außerdem könnte sie endlich in der Klasse erzählen, was sich ihre Eltern für sie hatten einfallen lassen. So wie es die Schulkameraden oder ihre besten Freunde Linda und Grant taten.

„Du bist spät dran!“, begrüßte die Mutter sie, kaum, dass Emma die Küche betreten hatte. „Außerdem hast du noch deine Stiefel an. Zieh sie sofort aus. Ich habe gerade alles durchgewischt.“ Emma zögerte und schaute ihrer Mom dabei zu, wie sie im Topf rührte. Es gab Kartoffelsuppe. Ob die Torte im Kühlschrank war? Für Kim und Tiff gab es immer eine. „Wird’s bald, Emma. Ich habe nicht ewig Zeit und muss gleich in der Innenstadt sein. Deine Tante Camilla veranstaltet eine Lesung und kann jeden Zuhörer brauchen. Tiff und Kim kommen später mit Dad heim. Bis dahin bist du allein. Also kümmere dich in der Zwischenzeit um die Hausaufgaben und mach niemandem die Tür auf, verstanden?“ Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch. „Es schleicht sich allerhand Gesindel in Greenwich herum.“

„War die Polizei deshalb da?“

„Du hast sie gesehen?“ Ihre Mutter wirkte plötzlich hektisch. „Nein“, dementierte sie sogleich. „Das hatte einen anderen Grund. Und jetzt mach was ich dir gesagt habe.“

Emma stand weiterhin wie angenagelt vor ihrer Mutter. Gleich würde sie lachen und sie in die Arme nehmen, um ihr zu gratulieren. Sie konnte unmöglich vergessen haben wie schlecht es ihr beim letzten Geburtstag gegangen war. Immerhin hatte sie wie ein Schlosshund geweint.

Oder war das Geschenk in ihrem Zimmer versteckt?

Flugs eilte Emma zur Schuhanrichte und schlüpfte aus den Stiefeln. Wenige Sekunden darauf landete der pinke Schulranzen daneben. „Ich gehe auf mein Zimmer“, rief sie der Mutter durch die halboffene Tür zu und war bereits bei der Treppe.

„In fünf Minuten wird gegessen“, kam es zurück. „Ach ja: Happy Birthday.“

Ihre Mom hatte es nicht vergessen!

Übermütig hopste Emma die Treppen hoch und kaum in ihrem kleinen Zimmer angelangt, ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. Die weißen Stores vor dem gekippten Fenster blähten sich. Der Quilt auf dem Bett zeigte keine einzige Falte, die darauf schließen ließ, dass etwas darunter versteckt war. Vielleicht würde sie in den Schubladen fündig?

Emma öffnete eine nach der anderen und verdrängte die aufkommende Enttäuschung. Noch hatte sie nicht alles abgesucht! Aber weder im Kleiderschrank noch unter dem Bett oder hinter ihrem schneeweißen Lieblingsbären fand sie ein Geschenk. Als die Mutter zum Essen rief, trottete Emma hinunter und setzte sich an den Tisch, der sich neben der offenen Küche befand.

„Ich muss mich umziehen. Kann ich mich auf dich verlassen?“ Ihre Mom stellte den dampfenden Teller vor Emma hin.

„Ja.“ Missmutig griff Emma zum Löffel. „Bekomme ich … ähm … nachher mein Geschenk?“ Sie dachte an die Eiche. An die Elfen …

„Ach, Emma, bald ist Weihnachten. Da gibt es genug Geschenke.“

„Ich habe aber heute Geburtstag!“, begehrte Emma auf und ließ den Löffel los, der dumpf auf dem Tisch aufschlug. „Kim und Tiff kriegen jedes Jahr etwas. Warum ich nicht?“

„Du und deine dumme Eifersucht“, fuhr die Mutter auf. „Was ist schon ein Geburtstag? Außerdem gibt es nichts, worüber du dich beklagen könntest. Wir tun alles für euch, also hör auf so undankbar zu sein und nimm dir ein Beispiel an deinen Schwestern. Die dramatisieren nicht laufend jede Kleinigkeit.“ Ihre Mom rollte unwillig mit den Augen. „Vielleicht solltest du deine Nase nicht ständig in Bücher stecken. Das Leben ist nämlich keine deiner Fantasiewelten. Davon abgesehen ist dein Dad ohnehin sauer, dass du mir ständig das Leben schwer machst. Also reiß dich gefälligst zusammen. Es gibt Menschen mit wirklichen Problemen.“

Damit ließ die Mutter sie allein.

Emma starrte auf die Suppe, in die hin und wieder eine Träne platschte.

Sie hasste Kartoffelsuppe! Vor allem hasste sie Weihnachten, weil dieses blöde Fest an allem schuld war. Aber Hauptsache, Jesus wurde gefeiert. Da kamen sogar drei Könige mit Geschenken vorbei.

Blöder Geburtstag!

Betrübt trug Emma den vollen Teller in die Küche und sah die Mutter wegfahren. Das Funkeln der Eiche war erloschen. Schiefergrau hing der Himmel über dem Baum. Unzählige Schneeflocken wirbelten herab. Emma wünschte sich eine von ihnen zu sein. Irgendwann tauten sie und verschwanden für immer. Als wären sie nie da gewesen. Genauso fühlte sie sich.

Als wäre sie nicht vorhanden.

Deshalb würde es keinen interessieren, wenn sie die Hausaufgaben nicht machte. Wieso sollte sie? Trotz guter Noten lobte der Vater ständig ihre Schwestern. Sogar Tiff, die in Mathe eine Niete und in Deutsch eine Doppelniete war. Dennoch bekam sie vorne und hinten alles hineingestopft. Da musste sogar Kim manchmal zurückstecken, was Emma jedoch nicht leidtat. Wenn es darauf ankam, stand die jüngste der Familie stets auf Tiffs Seite.

„Hast du deine Hausaufgaben gemacht?“, war das erste, das Emma auch heute von ihrem Dad hörte, als er mit ihren Schwestern zur Tür hereinkam. Tiffs und Kims Wangen waren gerötet. Sie rochen nach frischer Luft und etwas Süßem. Kandierte Äpfel? „Sag schon.“ Er zog sich die Jacke aus und hängte sie an die Garderobe.

„Ja, habe ich“, schwindelte Emma. Die waren garantiert eislaufen gewesen!

„Hol die Schlittschuhe aus dem Auto“, bat der Vater Kim, als hätte er Emmas Gegenwart bereits vergessen, die sich bestätigt fühlte. Verletzt und traurig. Ständig unternahmen sie etwas ohne sie. Nur wenn ihre Mutter dabei war, fuhren sie manchmal mit der ganzen Familie aus.

„Alles Gute zum Geburtstag“, wisperte Kim im Vorbeigehen. So leise, als hätte sie Angst, dass es irgendjemand mitbekommen könnte. Lächelnd schaute Emma ihr nach, bis ihr Blick auf Tiff fiel, die Kim erst aus den Augen ließ, nachdem die Haustür hinter ihr zugefallen war.

„Was hat sie zu dir gesagt?“, wollte Tiff prompt wissen. Sie trug einen nagelneuen Wintermantel. Himmelblau, mit abgesteppten Nähten und Goldknöpfen. Den hatte Emma vor einiger Zeit auf dem Weg zur Schule in einem Schaufenster gesehen. Leider hatte sie sich förmlich die Nase am Glas plattgedrückt, was Tiff nicht entgangen war. Jetzt lief sie mit dem Mantel herum, während Emma wie üblich in die Röhre schaute.

„Das geht dich nichts an“, antwortete Emma.

„Sag mal, wie redest du mit deiner Schwester?“ Ihr Vater hob drohend den Zeigefinger. „Sie hat dir eine einfache Frage gestellt. Statt höflich zu antworten, fährst du sie an. Du hast eine Woche Hausarrest.“ Triumphierend stand Tiff da und knöpfte sich den Mantel auf. Emma hätte ihr die Goldknöpfe am liebsten einzeln ausgerissen. Mitsamt ihrem blonden Engelshaar. „Nicht schon wieder!“, schimpfte ihr Dad erneut. Unterschwellig war Musik zu hören. Wie jeden Tag um diese Zeit. Ihre alte Nachbarin, Mrs. Bing, hörte eine Stunde lang dasselbe Lied. Bei weit geöffnetem Fenster. Sommer wie Winter. „Irgendwann flippe ich aus! Ich kann dieses My Way nicht mehr hören.“

Er ging ins Wohnzimmer.

„Was hast du eigentlich zum Geburtstag bekommen?“ Tiff schälte sich aus ihrem Mantel und grinste. „Oh je, ich habe völlig vergessen, dass du jedes Jahr leer ausgehst.“

Ihr Spott tat weh, obwohl Emma längst daran gewöhnt sein müsste. „Lass mich in Ruhe.“

„Gern. Du bist sowieso eine blöde Kuh. Keiner mag dich. An deiner Stelle würde ich abhauen. Mom und Dad wären bestimmt froh darüber.“

Emma ließ den Kopf hängen. Es war immer dasselbe. Tiff schaffte es, sie zum Weinen zu bringen. Oder so weit, dass sie kein Wort mehr herausbrachte. Im Grunde hatte sie ja recht. Niemandem würde sie fehlen. Ein Gedanke, der Emma durch ihre gesamte Kindheit begleitete.

Sie blieb ein Fremdkörper in dieser Familie und fragte sich mit zunehmendem Alter, ob sie adoptiert worden war. Wer wusste es schon? Doch den Mumm, direkt nachzufragen, hatte sie nicht. Sonst würde es erneut heißen, dass sie aus allem ein Problem mache. Außerdem war ihr Vater mit den Jahren zunehmend weniger zuhause, wodurch sie nicht ständig seiner Nörgelei ausgesetzt war.

Mit einer kleinen Konditorei im Herzen Londons hatte seine kometenhafte Karriere begonnen. Als Emma zwölf war, besaß er bereits zig Filialen in ganz Großbritannien. Wenn er müde heimkam, zog er sich meistens in sein Büro unter dem Dach zurück und wollte nichts von den Problemen hören, mit denen sich die Mutter herumschlagen musste. Selbstredend, dass meistens Emma der Stein des Anstoßes war. Tiff ließ sich nämlich immer wildere Geschichten einfallen, um ihr den schwarzen Peter zuzuschieben. Nicht selten erfand sie sogar Sachen, um sie vor den Eltern in Ungnade fallen zu lassen. Wie unter anderem die dreiste Lüge, dass Emma Drogen nehmen würde.

Ihr Vater war außer sich gewesen, weil er um seinen guten Ruf fürchtete. Nichts hasste er mehr als negative Publicity. Natürlich hatte Emma die haltlose Beschuldigung dementiert. Mit dem Ergebnis, dass sie vom Vater das schwarze Schaf der Familie genannt wurde. Sie war es wohl auch und wurde allmählich schweigsamer, bis sie sich überhaupt nicht mehr zur Wehr setzte.

Ihr einziger Halt war ihre Tante Camilla, zu der sie sich als Jugendliche oft flüchtete. Sie besaß eine Bücherei. Die Schwester ihres Dads war nett, weshalb Emma mit sechzehn bei ihr im Laden jobbte. Manchmal kam ihre Mutter vorbei, um sich ein Buch zu kaufen. Bei dieser Gelegenheit erteilte sie der Tante oft Ratschläge. Insbesondere, wie sie sich endlich den Mann fürs Leben angeln oder das Geschäft modernisieren könne. Dabei war es gerade das altwürdige Ambiente der Bücherei, das Emma über alles liebte. Ihrer Tante ging es scheinbar ähnlich, weil sie nichts Wesentliches veränderte und mit einer Engelsgeduld darüber hinwegsah, wenn sich Emmas Mom besonders an Weihnachten über zu viel Dekoration im Buchladen mokierte.

In dieser Angelegenheit waren sich Emma und ihre Mom jedoch ausnahmsweise einig. Wer brauchte Weihnachtsdeko? Oder Weihnachten an sich? Kein Mensch!

Selbstredend, dass die Geschichte Wie der Grinch Weihnachten gestohlen hat von Kindesbeinen an zu Emmas Lieblingsbüchern gehörte. Oft las sie ihrem Bären namens Grinch daraus vor. Diese Zeiten waren zwar irgendwann vorbei, Emmas Abneigung blieb jedoch. Insbesondere, da es im Buchladen überall glitzerte und funkelte.

Wo war eine Müllhalde, wenn man sie brauchte? Und dann dieses Gedudel. Ob beim Einkaufen oder in den Straßen, überall wurde Weihnachten besungen. Kitschiger ging es nicht mehr! Dennoch war ihre Tante mittendrin statt nur dabei. Sie, die ansonsten lieber Bücher für sich sprechen ließ und unter dem Jahr auf jeglichen Ramsch verzichtete.

Gelinde gesagt zeigte sich ihre Tante entsetzt, als sie hinter Emmas Anti-Weihnachts-Haltung kam. Vermutlich drängte sie ihr deswegen eine rote Kugel mit einer Masche auf. Angeblich hing Camilla daran, da sie sie von ihrem ersten selbstverdienten Geld gekauft hatte. Mit den Worten: „Es kommt der Tag, an dem du den Zauber von Weihnachten fühlen wirst“, überreichte sie Emma das geschmacklose Ding. Nur mit Mühe widerstand diese dem Drang, die Kugel augenblicklich fallen zu lassen. Ob es an Camillas feierlicher Miene lag? Am sentimentalen Ausdruck in ihren Augen? Oder an der Liebe zur Tante? Jedenfalls wäre die Kugel ohne diese Gründe im Nirwana gelandet. So hortete Emma sie jedoch und verabscheute Weihnachten weiterhin mit großer Leidenschaft.

Abgesehen von vielen Tiefpunkten gab es allerdings auch Höhen. Wenigstens durfte Emma ihren Traumberuf erlernen und ließ sich zur Konditorin ausbilden. Ein Wunsch, den sie bereits in jungen Jahren hegte, da der Vater manchmal die ganze Familie mit in den Laden genommen hatte. Während Kim und Tiff im Gastraum herumtobten, hatte sich Emma meistens in die Küche verzogen und den Angestellten über die Schulter geschaut. Was sie aus einem Klumpen Teig herstellten, faszinierte sie so sehr, dass sie ihnen nacheifern wollte. Aber vielleicht spielte auch ein Funke Hoffnung mit, dass der Vater stolz sein würde auf sie. Immerhin trat sie als Einzige in seine Fußstapfen. Doch vor anderen hob er stets Kim hervor, die Ärztin werden wollte. Oder Tiff, deren Interesse im Modedesign lag. Emma blieb weiterhin unsichtbar. Ganz so, als wäre sie nie geboren worden.

Eine Schneeflocke eben …

Kapitel 1

19. Dezember 2017, London, 22 Jahre später

 

Emma war völlig nassgeschwitzt, obwohl das beschlagene Fenster in der Backstube sperrangelweit offenstand. Hin und wieder verirrten sich Schneeflocken herein und tauten auf dem glänzenden Edelstahl der hypermodernen Gastronomieküche. Sie war mit den besten Geräten ausgestattet. Allein die Spülmaschine hatte ein Heidengeld gekostet, die just in diesem Augenblick piepste.

Seufzend warf Emma den Lappen neben das verkrustete Backblech und öffnete die Maschine. Heißer Dampf quoll ihr entgegen. Ähnlich fühlte sich Emmas Innerstes an, während sie zur alten Bahnhofsuhr über der Schwingtür blickte. Fast zehn Uhr! Seit knapp vierzehn Stunden arbeitete sie und ein Ende war nicht in Sicht.

Erschöpft stellte sie sich zum Fenster und machte einen tiefen Atemzug. Dabei glaubte sie den Duft von gebrannten Mandeln wahrzunehmen. Hörte lautes Lachen und fröhliche Stimmen durch die Carnaby Street hallen, in der sich die Konditorei befand.

Viele Menschen schlenderten an den hellerleuchteten Schaufenstern vorbei. Zur Weihnachtszeit war das Einkaufsviertel ein Besuchermagnet. Vor allem Touristen wurden mit vorweihnachtlichen Rabatten hergelockt. Von der Dekoration ganz zu schweigen. Wie in einem geschmacklosen Film schwebten riesige Leuchttafeln über der schneebedeckten Straße. Joy, Hope, Love …

„Hast du nichts zu tun?“, vernahm sie plötzlich Tiffanys keifende Stimme.

Unwillig drehte sich Emma um und fror auf einmal.

Wie mondän ihre dreiunddreißigjährige Schwester im schwarzen Etuikleid aussah! Als wäre sie einem Filmklassiker entstiegen. Neben ihr konnte man sich nur wie das Aschenputtel fühlen.

„Schau dich um und frag mich noch einmal“, piepste Emma. In Tiffs Gegenwart versagte ihr ständig die Stimme. Dabei würde es unheimlich guttun, mal auf den Tisch zu hauen und ihr die Meinung ins perfekt geschminkte Gesicht zu brüllen. Etwas, das sich Emma tausendmal vorgestellt und genauso oft verworfen hatte. Im Wissen, dass sie gegen Tiff nur verlieren konnte. „Hast du dir schon Gedanken wegen meinen Arbeitszeiten gemacht?“, schob Emma mit dünner Stimme nach. Vor einigen Tagen hatte sie sich nach wochenlangem Anlauf dazu durchgerungen, um Stundenreduzierung zu bitten. Sie sah ihren Mann Brandon kaum noch. So konnte es nicht weitergehen, denn ein Privatleben kannte Emma mittlerweile nur noch vom Hörensagen. „Du weißt schon, wegen Brandon und so.“

„Da er ständig auf Geschäftsreise ist, wird er dich nicht sonderlich vermissen. Deswegen sollten wir dieses Gespräch vertagen. Wenigstens bis nach den Feiertagen. Du siehst ja selbst was Tag für Tag los ist. Die Leute rennen uns die Bude ein.“ Tiff blickte in den kleinen Spiegel neben der Schwingtür und fuhr sich ordnend über das hochgesteckte blonde Haar. An ihren Ohren glänzten auffallende Strass-Ohrringe - sofern es Strass war. Von solchen Dingen hatte Emma keine Ahnung. „Ich habe ein Date mit einem Wirtschaftsmogul und mache jetzt Feierabend.“ Mit einem zufriedenen Lächeln auf den rotschimmernden Lippen wandte sie sich Emma zu. „Der Typ ist zwar steinalt, doch sein Geld macht ihn um einiges jünger.“

„Aber hier steht jede Menge dreckiges Geschirr.“ Emma blickte sich vielsagend in der Backstube um. „Soll ich das wieder alleine spülen?“

„Die Küche ist dein Ressort“, verkündete Tiff ungerührt und schaute sich auf die rotlackierten spitzen Nägel. Sobald einer abbrach, kreischte sie wie eine Tobsüchtige. Das tat sie ebenso mit den Angestellten und Emma, als wären sie alle reihenweise abgebrochene Nägel. Tiff konnte sich nur schwer beherrschen. Besonders an hektischen Tagen. „Übrigens habe ich im Gastraum nicht alles geschafft. Erledige du den Rest, wenn du schon dabei bist.“ Hoch erhobenen Hauptes eilte Tiff auf ihren schwarzen Stilettos aus der Backstube.

Emma starrte auf die heftig schwingende Tür. Hörte das pfeifende Geräusch, das sie verursachte, und sank auf den Hocker vor dem Arbeitstisch, auf dem ein paar misslungene Marzipan-Rosen lagen.

Misslungen!

Genauso fühlte sich ihr Leben an, denn nichts hatte sich geändert. Mit Ausnahme dessen, dass sie inzwischen alles stillschweigend über sich ergehen ließ. Ob es tatsächlich das Los des typischen Sandwichkindes war, dass man ganz unten auf der Liste stand? Aber selbst wenn nicht, sie war das familiäre Schlusslicht. Viel zu feige, um sich aufzulehnen. Sie, Emma, das Arbeitstier. Emma, die Komplizierte. Emma, die es nie so weit bringen würde wie ihre Schwestern.

Tiff war als Erstgeborene scheinbar etwas Besonderes. Sie führte die Geschäfte, seitdem sich ihr Dad vor einem Jahr zur Ruhe gesetzt hatte. Ausgerechnet ihr vertraute er seine Ladenkette an. Für Emma unfassbar. All die Jahre hatte sie sich förmlich abgestrampelt und ihr Können unter Beweis gestellt. Aber um den Vater stolz zu machen würden hundert Jahre nicht reichen.

Dabei hatte sie im Gegensatz zu Tiff das Geschäft von der Pike auf gelernt. Ihre Schwester hingegen war Quereinsteigerin, nachdem sie ihren Haute Couture Laden in den Sand gesetzt hatte. Tolle Voraussetzungen! Doch der Vater hielt an seiner Entscheidung fest.

Und Kim? Sie war drei Jahre jünger, somit das Nesthäkchen. Ebenfalls ein Status, der ihr gewisse Vorteile verschaffte. Ferner hatte sie als einzige studiert, durfte sogar eine Klasse überspringen und arbeitete mittlerweile tatsächlich als Ärztin. Nebenbei hatte sie sich den begehrtesten Londoner Junggesellen geangelt und Dylan vor fünf Jahr geheiratet. Von ihrer Traumhochzeit hatten die Leute lange geschwärmt. Von der feudalen Villa taten sie es noch immer, obwohl im Grunde der Vater diesen Prunkbau finanziert hatte.

Brandons und ihr bescheidenes Häuschen hätte ein paar Mal in Kims Villa Platz gehabt. Zumal sie sich jeden Cent vom Mund absparen mussten. Zwar hatte ihnen der Vater ein wenig unter die Arme gegriffen, aber im Vergleich zu ihren Schwestern war die Summe lachhaft gewesen. Nicht, dass es Emma ums Geld ging. Letztendlich ließ sich jedoch selbst damit ermessen wie viel ein Mensch wert war. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Selbstredend, dass auch ihre Hochzeit nur im engsten Kreis stattfand. Daran knabberte Emma jedoch keineswegs, da sie ohnehin kein Brimborium gewollt hätte. Nur einen Wunsch äußerte sie: Dass ihr Dad sie wie Kim zum Altar geleitet. Er tat es natürlich nicht.

Genauso wenig gestand er ihr Wochen danach beim Ball der Töchter den Tochter-Vater-Tanz zu. Bei Kim und Tiff sah es natürlich anders aus. Doch nach dem Tanz mit ihren Schwestern klagte er plötzlich über Schmerzen in den Beinen …

Mit Tränen in den Augen fuhr sich Emma über die heiße Stirn. Es war verletzend und tat weh. Immer wieder. Als würde eine tiefe Wunde nicht heilen.

„Happy Birthday, Süße.“

Erschrocken schaute Emma zum Fenster. Als sie ihre besten Freunde Linda und Grant erblickte, war es um ihre Fassung geschehen. Sie schluchzte auf, während die beiden wie Diebe in die Backstube kletterten und sie in die Arme nahmen.

„Was ist los?“, fragte Linda sanft und löste sich fast gleichzeitig mit Grant von Emma. Forschend blickte sie ihr in die Augen. „Deine Eltern?“

„Wer sonst?“, erboste sich Grant, lehnte sich an den Arbeitstisch und nahm seine beschlagene Nickelbrille ab. Linda blieb in der Hocke und legte ihre kalten Hände auf Emmas. „Pünktlich zum Geburtstag kommt alles hoch. Haben sich Claire und Ben wieder nicht bei dir gemeldet?“

„Nein“, erwiderte Emma schniefend. Flugs erhob sich Linda, kramte in ihrer Lederhandtasche und reichte ihr ein Taschentuch. Ihre Freundin war stets für alle Eventualitäten gerüstet. Kein Wunder, in ihrer Tasche sah es aus wie in einem Tante-Emma-Laden. Sogar Schokolade fand sich manchmal in den Untiefen, seit Jahren abgelaufen. Im Beruf hingegen war sie extrem organisiert und fiel durch ihre schillernde Erscheinung auf. Großgewachsen, grellrotes raspelkurzes Haar und meist androgyn gekleidet. Nebenbei hatte sie eine Vorliebe für bunten Nagellack und eine ausgeprägte Abneigung gegen Jeans, womit sie ohnehin durchs allgemeine Raster fiel. „Ich habe sowieso nicht damit gerechnet.“ Schon lange gratulierten ihr die Eltern nicht mehr.

„Und ob du das getan hast“, widersprach Grant. „Alle Jahre wieder wartest du darauf.“ Er kratzte sich am blanken Hinterkopf. Unter seinem Haarausfall litt er fast genauso wie unter der Verkrümmung seiner Wirbelsäule. Das Handicap hatte ihm als Jugendlicher viel Häme beschert. Schlimmer waren jedoch die Schmerzen. Grant scheute dennoch jeden Arzt. Dabei redeten Linda und Emma seit geraumer Zeit mit Engelszungen auf ihn ein. Erfolglos. Lieber quälte er sich weiterhin, statt sich behandeln zu lassen. „Tut mir leid für dich, Emma.“ Grant legte die Brille und seinen roten Schal auf den Arbeitstisch. Am Schulterbereich seines kobaltblauen Parkas zeichneten sich dunkle Flecken ab.

„Mir tut es leid. Ihr müsst euch ständig mein Jammern anhören.“ Herzhaft schnäuzte sich Emma, bevor sie das zerknüllte Tuch in die Tasche ihrer Schürze steckte. „Ich wüsste zu gerne, wieso dieser Unterschied gemacht wird.“ Manchmal hasste sie sich regelrecht dafür, dass sie dem Ganzen so viel Raum zugestand. Außerdem war jede Träne eine zu viel. Vergeudete Energie. Trotzdem konnte sie nicht anders. Insbesondere an Geburtstagen oder an Weihnachten.

„Im Gegensatz zu Tiff bist du grundehrlich, liebenswürdig und hast ein großes Herz“, ergriff Grant erneut das Wort. „Kim kenne ich zu wenig, aber sie kann dir dahingehend sicher ebenfalls nicht das Wasser reichen. Demzufolge gibt es einen riesigen Unterschied zwischen euch.“

„Grant hat recht“, sagte Linda und lächelte aufmunternd. „Doch statt Trübsal zu blasen, sollten wir lieber feiern gehen.“ Sie trug eine beige Baskenmütze mit aufgenähten Blumen an der linken Seite und einen dazu passenden Kurzmantel. Wie üblich sehr geschmackvoll. Aber an einer Frau wie ihr sah alles gut aus. Sogar bei ihrem ausgeleierten Wintermantel wäre das der Fall. „Deswegen sind wir schließlich gekommen.“

„Ist Brandon eigentlich von seiner Geschäftsreise zurück?“ Mit gequältem Gesicht streckte sich Grant durch und wirkte plötzlich seltsam.

„Er kommt morgen.“ Emmas Stimmung sank endgültig auf den Tiefpunkt. Seit vier Jahren waren Brandon und sie ein Ehepaar. Zwischenzeitlich mehr auf dem Papier als in Wirklichkeit. Anfangs hatte er oft wegen ihres Arbeitspensums gemeckert. Das hörte in den letzten Monaten auf. Vielmehr zeigte Brandon sogar Verständnis. Vermutlich, weil er befördert worden war. Das bedingte jedoch etliche Geschäftsreisen, weshalb er ebenfalls häufig durch Abwesenheit glänzte. Somit waren sie beruflich ähnlich eingespannt. Über kurz oder lang würden sie sich auseinanderleben! „Ich schätze, wir feiern morgen ein bisschen“, machte sie sich selbst Mut.

„Du schätzt?“, hakte Linda nach. „Hat sich Brandon nicht gemeldet?“

Emma schüttelte den Kopf. „Er wird viel zu tun haben.“

„Und wenn schon! Brandon weiß schließlich wie viel dir der Tag bedeutet.“

„Vielleicht sollte ich damit aufhören, meinen Geburtstag so wichtig zu nehmen“, ließ Emma verlauten. „Oder mich selbst. Immerhin bin ich einunddreißig und kein kleines Kind mehr.“

„Mag sein, aber uns alle prägt die Kindheit“, erwiderte Linda. „Du hast mir oft unsagbar leidgetan.“

Emma schaute zu ihr hoch. „Trotzdem sollte ich endlich darüber hinwegkommen.“

„Ist das deine oder Brandons Meinung?“ Linda strich sich einige Strähnen aus der Stirn. Sie und Brandon hatten nie das beste Verhältnis gehabt. Ihre Freundin hielt ihn für oberflächlich, dennoch versuchte sie sich mit ihm zu arrangieren, sofern sie aufeinandertrafen.

„Du kennst Brandon nicht so gut wie ich, Linda.“ Abrupt erhob sich Emma und trat vor den Spiegel. „Außerdem hat er es nicht einfach mit mir …“

„Hör endlich damit auf, dich runterzumachen.“ Linda trat hinter Emma und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Du hast so wenig Selbstbewusstsein, dass es wehtut.“

Eingehend betrachtete sich Emma. Ihr langes schwarzes Haar trug sie wie üblich zu einem Dutt. Hinzu kam ihre fahle Gesichtsfarbe. Kein Wunder, sie kam kaum an die frische Luft. Infolgedessen nicht zum Shoppen. Das Geld war ohnehin knapp - die Auswahl in ihrem Kleiderschrank ebenso. Deshalb trug sie seit Jahren dasselbe: Weite Jeans, weite T-Shirts, noch weitere Pullis und flache Schuhe. Für ihre Arbeit genau das Richtige. Zumal die vorgeschriebene Rüschenschürze ohnehin viel verdeckte. Wobei das gute Stück lediglich Restware aus dem früheren Bestand war. Somit ziemlich altmodisch mit dem Familienemblem auf der Brusttasche. By Eclaires stand in grüner Schrift darauf. Der Vater hatte seine Ladenkette in Form dieses Wortspieles nach ihrer Mutter Claire benannt.

„Ich dachte immer, dass alles gut wird, sobald ich verheiratet bin“, bekannte Emma. „Dass ich nur den einen Menschen brauche, um mit der Vergangenheit abzuschließen. Schließlich will ich einfach nur geliebt werden, was Brandon sicher tut. Dennoch kommt alles ständig wie ein Bumerang zurück. Das ist schwierig für meinen Mann. Noch dazu bin ich ein Workaholic und sehe dementsprechend aus.“

„Was du jederzeit ändern kannst“, wandte Grant ein. „Nimm deinen Geburtstag zum Anlass und fang ein neues Leben an. Befrei dich von der Sklaverei, die du Arbeit nennst und kehr allen den Rücken, die dich seit Jahren piesacken oder nicht einmal davor zurückschrecken …“ Er brach ab.

Prüfend musterte Emma sein finsteres Gesicht im Spiegel, bevor sie sich zu ihm umwandte. „Die nicht einmal wovor zurückschrecken, Grant?“ Ihre Freunde senkten beinahe gleichzeitig den Kopf. „Was ist hier los?“

Ein Ruck ging durch Lindas Gestalt, ehe sie den Kopf hob. „Brandon betrügt dich.“

Drei Worte. Nur geflüstert. Trotzdem fühlten sie sich an, als hätte soeben eine Bombe eingeschlagen und einen tiefen Krater in Emmas Herzen hinterlassen.

„Spinnst du komplett?“, unterstellte sie ihrer Freundin mit krächzender Stimme. „Wie kommst du auf diesen Blödsinn?“

„Sorry, ich hätte das nicht sagen sollen.“

„Aber du hast es getan!“ Emma trat vor Linda. „Woher hast du diesen Humbug?“

„Aufgeschnappt“, behauptete ihre Freundin mit unsicherem Blick zu Grant.

„Von wem? Tiffany? Oder Kim? Erzählen meine Schwestern diese Lügen herum?“

„Sie tun nichts dergleichen und damit sollten wir das Thema beenden. Vor allem an deinem Geburtstag.“ Linda strich sich glättend über den Mantel. „Himmel, ich könnte mich ohrfeigen, dass ich etwas gesagt habe!“

„Zu spät. Also rede bitte Klartext mit mir.“ Emma spürte, dass sie zitterte. „Wer verbreitet solche Märchen, zum Teufel?“

„Emma … ich habe Brandon selbst gesehen. Er ist in der Stadt.“ Linda hatte plötzlich Tränen in den Augen. „Vor einigen Stunden machte ich Weihnachtseinkäufe“, fuhr sie fort. „Er hat einen Ring bei einem der teuersten Juweliere gekauft.“

„Schön. Ich habe Geburtstag“, warf Emma ein und fragte sich, woher er das Geld haben sollte. War er hinter ihr Notfallkonto gekommen? Nein, das würde er weder angreifen noch war er berechtigt etwas abzuheben. Allein aus diesem Grund musste es sich um eine Verwechslung handeln. Oder hatte er sich Geld geliehen? Um ihr heuer eine besondere Überraschung zu bereiten. Womöglich musste er einiges organisieren, weshalb er seine Rückkehr geheim hielt.

„Hast du in den letzten Monaten Rosen bekommen? Oder einen roten Kapuzenmantel?“, hielt Linda an ihrer hanebüchenen Behauptung fest. „Der Typ ist so dämlich und kauft in meinem Viertel ein!“, redete sie sich plötzlich in Rage, als hätte sie geradezu auf diesen Einsatz gewartet. „Obwohl er weiß, dass ich dort lebe und arbeite. Außerdem übernachtet er im nobelsten Hotel. Das weiß ich aus erster Hand, weil ich ihm gefolgt bin. Und da ich den Concierge kenne, erfuhr ich, dass Brandon wiederholt mit seiner Frau ein Zimmer genommen hat. Immer dann, wenn er angeblich auf Geschäftsreise ist.“

„Du musst dich irren.“ Emmas Beine wurden weich. Hastig zog sie den Hocker zu sich und nahm bebend Platz. „Brandon würde mir das nie antun. Er weiß wie sehr ich ihn liebe.“

„Bevor Linda ihn zum ersten Mal in der Stadt gesehen hat“, sprang Grant ihrer Freundin zur Seite, „kamen uns bereits Gerüchte zu Ohren. Wir hielten sie für Nonsens. Man weiß ja, wie viel aufgebauscht wird. Umso schlimmer, dass die Leute nicht gelogen haben.“

„Stopp!“, rief Emma mit Wut im Bauch aus. „Was reimt ihr euch da zusammen? Es kann jeder gewesen sein, der Brandon ähnlich sieht. Oder hast du ihn zur Rede gestellt, Linda?“

Atemlos starrte sie auf deren blasse Lippen.

„Ich habe ihn nur von weitem beobachtet. Aber da ist die Sache mit dem Hotel …“

„Wofür es sicher eine plausible Erklärung gibt - und bevor ich nicht mit Brandon gesprochen habe, glaube ich keinem ein Wort. Selbst euch nicht!“, griff Emma sie an, weil sie sich selbst angegriffen fühlte. Und das auch noch von ihren besten Freunden! „Sobald Brandon sämtliche Vorwürfe aus der Welt geschafft hat, könnt ihr euch übrigens bei uns entschuldigen!“

„Ich weiß, was ich gesehen habe. Und du weißt, wo du mich findest, wenn du mich brauchst“, blieb Linda uneinsichtig. „Trotz allem bin ich froh, dass es endlich raus ist. Es fühlte sich schäbig an, dich im Ungewissen zu lassen.“

„Schäbig? Was denkst du wie es mir geht?“, fuhr Emma endgültig aus der Haut. „Dabei habe ich geglaubt, dass ich mich wenigstens auf euch verlassen kann. Doch ihr seid dieselben Lügner wie alle anderen! Vielen Dank, dass ihr meinen Geburtstag restlos ruiniert habt.“

„Das wollten wir zuletzt, aber du hast auf die Wahrheit bestanden“, verteidigte sich Linda ruhiger als zuvor, während Emma sie am liebsten zur Vernunft geschüttelt hätte. „Wir kennen uns jahrzehntelang und waren immer ehrlich zueinander. Natürlich ist es nicht der günstigste Augenblick, doch den gibt es ohnehin nicht für eine Nachricht wie diese. Und ich wäre sowieso bald geplatzt. Dazu bist du mir viel zu wichtig.“ Grant nickte beinahe zu jedem Wort. „Das mit Brandon ist …“

„Hör auf, Linda!“, unterbrach Emma sie. Ihre Freunde verschwammen hinter einem Tränenschleier. „Ich will nichts mehr davon hören. Und jetzt geht bitte! Ich möchte alleine sein.“

 

 

 

 

Vom Wind aufgescheucht wirbelten dicke Schneeflocken vor den beleuchteten Fenstern herab. Es war beinahe, als würden sie zum Lied tanzen, das aus einem Lokal drang, an dem Emma vorbeieilte. Louis Armstrongs What A Wonderful World schwebte durch die fast menschenleere Straße und schien sie regelrecht zu verfolgen. Zu allem Überfluss stapfte unweit von ihr ein engumschlungenes Pärchen durch den Schnee, der in den bunten Lichtern der Stadt regelrecht funkelte. Und als befände sie sich mitten in einer Filmszene, küsste sich das Paar plötzlich vor einem Schaufenster.

Kurz stockte Emmas Gang, ehe sie schneller weiterging und in eine Gasse bog. Hier war es schemenhafter, weshalb sie ihren Tränen freien Lauf ließ. Nein, es war keine wundervolle Welt, denn sie fühlte sich einsamer als je zuvor. Erst recht, nachdem sie endlich auf der Aussichtsplattform stand. Von hier oben hatte man einen beeindruckenden Blick über London. Allerdings fehlte Emma momentan die Freude, um das zu genießen. Dazu beschäftigte sie die Sache mit Brandon viel zu sehr.

War sie seinetwegen hergekommen? Weil sie den Ort mit ihrem Mann verband? Aber warum sollte sie? Es war Ewigkeiten her, seitdem sie zuletzt hier gewesen waren. Zumal ihre einstige Überraschung ohnehin in die Hose ging, denn der stadtbekannte Love-Place hatte auf Brandon eher eine gegenteilige Wirkung gehabt. Ganze zehn Minuten hielt er es aus, ehe er heimwollte. Ein Fußballspiel war wichtiger gewesen. Dabei hatte sie sich den Abend so romantisch ausgemalt.

Emma lehnte ihre Tasche an die Mauer, richtete sich auf und fixierte das The Shard. Es galt als das höchste Gebäude Londons und ragte wie eine nach oben schmaler werdende Säule aus Stahl und Glas in den Nachthimmel. Die Spitze leuchtete. Das tat sie im Dezember traditionell bis nach Mitternacht alle dreißig Minuten. Es sah aus, als stünde ein riesiger Weihnachtsbaum mitten in London.

Gequält zog sie den Mantel enger. Beim Ausatmen drang Nebel aus ihrem Mund. Es war empfindlich kalt im Gegensatz zur Backstube. Trotzdem stand sie lieber hier. Im Laden hätte sie es keine Sekunde länger ausgehalten. Dafür herrschte zu viel Chaos in ihr. Ein solches hatte sie auch hinterlassen und nicht wie üblich aufgeräumt. Außerdem: Warum sollte sie ständig den Schlussdienst übernehmen, während sich ihre Schwester irgendwo amüsierte? Heute mit diesem Mann, morgen mit jenem. Tiff genoss ihr Single-Leben in vollen Zügen, wobei sie vermutlich unzufriedener war, als sie tat. Immerhin war Kim schwanger. Ihr Dad freute sich wie ein Verrückter auf sein erstes Enkelkind. Damit rückte die Jüngste unter ihnen auf Platz eins, was Tiff sicherlich ein Dorn im Auge war.

Ein ewiger Konkurrenzkampf, der Emma ermüdete, und im Grunde war sie nicht besser. Seit Jahren versuchte sie mit den Schwestern mitzuhalten. Damit musste endlich Schluss sein!

Das hieß jedoch, Ordnung in ihr Leben zu bringen. Darüber nachzudenken wie ihre Zukunft aussehen sollte. Aber vor allem musste sie mit Brandon reden, den sie vor dem Verlassen des Ladens ein paar Mal erfolglos angerufen hatte. Umso mehr sehnte sie seinen Rückruf herbei, denn je mehr Zeit verging, desto mehr nagten Lindas und Grants Anschuldigungen wie Ratten an ihr.

Nein, sie durfte sich nicht hineinsteigern! Spätestens morgen würden sie darüber lachen. Eine wohltuende Überlegung. Leider prallte sie heftig gegen das Bild in ihrem Kopf: Ständig sah sie ein Hotelbett vor sich, auf dem sich Brandon mit irgendeiner Frau wälzte …

Verdrossen besann sich Emma auf ihre Tasche, bückte sich und zog die Sektflasche heraus. Kaum geöffnet, trank sie einige Schlucke. Sie hatte den Sekt im Geschäft mitgehen lassen. Einfach so. Ohne jemanden zu fragen wie sonst. Draufgängerisch nannte man so was wohl, wobei es sich tatsächlich besser anfühlte, als ständig zu kuschen. Emma tu dies, Emma tu das. Und Emma tat es. Sogar die Angestellten wälzten gerne Arbeiten auf sie ab. Tja, wen wunderte es? Sie selbst hatte das all die Jahre mit sich machen lassen.

„Bevor Sie erschrecken: Ich bin kein Serienmörder!“

Mit der Flasche in der Hand wirbelte Emma herum und spürte wie Sekt über ihre Hand rieselte.

„Warum sollte ich das denken?“, erkundigte sie sich mutiger als sie war und musterte den Mann im schalen Schein der Außenlampe. Das Haar hatte er zu einem lockeren Dutt zusammengebunden und wirkte eher wie ein Model als ein Unhold. „Wie es aussieht, haben wir denselben Friseur“, entfuhr es Emma, bevor sie sich beherrschen konnte. Aber ein Witz lockerte die Situation bestimmt auf. Nebenbei hatte sie Lust über die Stränge zu schlagen, aus der eigenen Haut zu schlüpfen und Grenzen niederzutrampeln. Das Diebesgut in ihrer Hand war ein erster Schritt gewesen, um aus ihrem Mausloch zu kriechen. Außerdem lockerte der ungewohnte Alkohol ihre Zunge.

„Hauptsache praktisch.“ Ein Lächeln glitt über sein bis dahin ernstes Gesicht. „Man kann nicht ständig wie aus dem Ei gepellt aussehen.“

„Danke für das Kompliment“, fühlte sich Emma betroffen, wandte sich zur Stadt und hörte ihn näherkommen. Vielleicht hielt er ein Messer in der erhobenen Hand … nun jagten doch kalte Schauer über ihren Rücken.

„So war das nicht gemeint“, versicherte er und lehnte sich in einigem Abstand ans Eisengeländer. „Äußerlichkeiten sind nicht alles.“

„Und das aus dem Mund eines Mannes.“ Emma genehmigte sich erneut ein paar Schlucke, ehe sie ihm die Flasche hinhielt. „Möchten Sie auch?“

„Nein, danke. Ich bleibe lieber nüchtern.“

Emma riskierte einen längeren Blick zu ihm. „Klingt, als hätten Sie eine harte Zeit hinter sich.“

„Kann man so sagen“, murmelte der Unbekannte. „Ich habe einiges falsch gemacht in meinem Leben. Und gerade, als ich alles richtig machen wollte, hat es mir das Schicksal so richtig gezeigt.“ Er lachte leise. „Hört sich extrem nach Selbstmitleid an, nicht wahr?“

„Manchmal darf man sich selbst bemitleiden, glauben Sie mir.“ Plötzlich läutete ihr Handy. Emma stellte hastig die Flasche ab und zog ihr Gerät aus der Manteltasche. Brandons Name leuchtete auf dem Display. Mit zitternden Fingern nahm sie den Anruf entgegen. „Hallo?“

„Hi, du hast versucht mich zu erreichen. Ist etwas passiert?“

„Ich wollte nur wissen, wann du zurückkommst“, stammelte Emma und verschob ein klärendes Gespräch. Morgen war auch noch ein Tag und sie wollte ihm dabei in die Augen sehen. Außerdem war sie nicht allein. Kurz schielte sie zum Unbekannten und drehte ihm den Rücken zu. „Liebst du mich, Brandon?“, flüsterte sie ins Handy.

„Natürlich, was für eine Frage“, versicherte er zu ihrer Erleichterung. „Leider war ich bis vor zehn Minuten in einem Meeting. Harte Sache, kann ich nur sagen und …“

Brandons Stimme trat auf einmal in den Hintergrund. Dafür schallte die unverkennbare Melodie von Big Ben umso lauter aus dem Handy. Danach folgte der Glockenschlag. Es war ein Uhr nachts, doch Emma fühlte sich, als wäre soeben die Zeit stehengeblieben. Brandon war tatsächlich in London und die harte Sache konnte sie sich lebhaft vorstellen!

„Wo bist du nochmal genau?“, fragte sie mit letzter Kraft.

„In Liverpool, das weißt du doch“, kam es unsicher zurück. Er schien seinen fatalen Fehler selbst bemerkt zu haben. „Leider werde ich es morgen nicht schaffen. Wir haben jede Menge zu tun.“

Wie dreist er weiterlog!

Emma hatte tausend Schimpfwörter auf der Zunge. Statt sie ins Handy zu brüllen, unterbrach sie die Verbindung und ließ das Gerät sinken. Tränen brannten in ihren Augen, als sie erneut auf die Stadt blickte. In Richtung jenes Viertels, wo Linda lebte und sich Brandon gerade mit irgendeinem Flittchen amüsierte. Dieser Fiesling!

„Schlechte Nachrichten?“, brachte sich der Unbekannte in ihr Gedächtnis zurück.

Emma ließ das Handy in die Manteltasche gleiten. Dass Brandon nicht einmal zurückrief, zeigte deutlich wie egal sie ihm war. Er hatte ja sogar ihren Geburtstag vergessen! „Wenn ein Mann behauptet, dass er geschäftlich fort ist, sich jedoch in London aufhält, welchen Schluss ziehen Sie daraus?“

„Dass er Sie betrügt“, kam die umgehende Antwort.

„Danke für Ihre Ehrlichkeit.“

„Ich zähle nur eins und eins zusammen.“ Er schwieg kurz. „Ihr Freund?“

„Mein Ehemann.“ Emma griff nach der Flasche und trank ausgiebig. Aber um sich zu betäuben würde sie Hochprozentiges brauchen. „Sind Sie aus London?“ Fest umklammerte sie die Flasche. Momentan ihr einziger Halt.

„Nein. Ich wollte mir ein paar schöne Tage machen.“

„Hat ja super geklappt“, lästerte Emma, obwohl sie das nicht wollte. „Sie stehen neben einer Frau, die Lust hat, sich sinnlos zu betrinken. Nebenbei lädt sie ihren ganzen Frust bei Ihnen ab und hat keine Hemmungen Sie vom Dach zu stoßen. Weil Sie zu einer Gattung gehören, von der sie die Nase gestrichen voll hat.“

„Frauen können mir ebenfalls gestohlen bleiben“, konterte er. „Also halten Sie sich gut fest. Womöglich stürzen Sie vor mir in die Tiefe.“

„Darauf trinke ich.“ Emma hob die Flasche in die Höhe, dann rieselte das Kribbelwasser ihre Kehle hinunter. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus. „Sind Sie mit dem Auto da?“, kam ihr plötzlich eine Idee, während sie sich die Flasche an die Brust drückte.

„Ja, warum fragen Sie?“

„Leihen Sie es mir?“, bat Emma.

„Bestimmt nicht. Sie haben getrunken.“

„Dann fahren Sie mich. Ich zahle natürlich.“

Der Unbekannte begradigte sich. „Wollen Sie zu ihm?“

Emma nickte und fuhr sich tastend über den Dutt.

„Ich brauche Gewissheit“, flüsterte sie. „Und muss mit eigenen Augen sehen, dass es so ist. Sonst erzählt er mir wer-weiß-was und ich dumme Pute wäre imstande ihm zu glauben. Weil ich leider Gottes so gemacht bin. Bloß keine Konfrontation und immer schön kuschen, um die Harmonie nicht zu zerstören. Dabei sollte ich endlich aufwachen. Denn niemand weiß besser als ich, dass das Gute nicht immer siegt. So wie die Hoffnung manchmal schon gestorben ist, bevor man sie fühlt.“

Er räusperte sich. „Ich will mich nicht in Ihr Leben einmischen, aber gelegentlich sollte man eine Nacht darüber schlafen, um klarer zu sehen.“

„Irrtum. Manches wird selbst nach tausend Stunden Schlaf nicht klarer.“ Emmas Schultern sanken herab. „Wollen oder können Sie mir nicht helfen?“

„Beides.“

„Wieso?“

„Hallo? Wir kennen uns erst seit zehn Minuten! Haben Sie keine Freunde?“

„Natürlich, aber sehen Sie einen von ihnen?“, keifte Emma. „Momentan sind Sie mein einziger und könnten ruhig für mich da sein.“

Ein genervtes Seufzen war die Antwort. „Wissen Sie denn, wo er ist?“, schob er wenig begeistert nach.

„Ich nicht. Jemand anders schon …“

 

 

 

 

„Als würden wir einen Verbrecher observieren!“, schimpfte der Unbekannte, nachdem sie unweit vom Noblesse-Hotelgeparkt hatten. Das Gebläse lief auf Hochtouren.

„Das tun wir ja“, antwortete Emma abwesend. „Wir observieren meinen künftigen Ex-Mann.“ Sie hielt die inzwischen leere Sektflasche fest, als wäre sie ein Rettungsanker. Der Anruf bei Linda hatte sie jede Menge Mut gekostet. Sie abzuwimmeln noch viel mehr, denn sie wollte sofort zu ihr. Doch Emma brauchte keine Zeugen und niemanden, der ihr zu Hilfe eilte. Da musste sie alleine durch. Allerdings war ihre Theorie ein Ponyhof gegen die praktische Absicht, Brandon zu stellen. Kein Wunder, dass sie den Sekt förmlich in sich hineingeschüttet hatte. Nun plagte sie sich mit den Nebenwirkungen herum. Vorhin hatte sie Schluckauf gehabt, jetzt stellte sich Kopfschmerz ein. „Dafür wird er büßen, das schwöre ich Ihnen.“ Zwar zählte der Unbekannte ebenfalls zu einem Zeugen, aber im besten Fall würden sie sich nach diesem Einsatz nie wiedersehen.

„Noch fehlen Ihnen die Beweise.“ Natürlich half diese Spezies im Notfall zusammen! „Er könnte den Fernseher angehabt haben. Schon mal daran gedacht?“

„Oder er betrügt mich schlicht und ergreifend“, stellte Emma fest und hörte selbst, dass sie ihre Zunge nicht mehr ganz unter Kontrolle hatte. „Heuchelt mir Verständnis für meine Arbeit vor, um freie Bahn zu haben. Von wegen, er hat so viel zu tun und weiß nun wie es mir geht.“

„Sie sind betrunken und obwohl ich mich ungern wiederhole: Gehen Sie lieber ins Bett. Morgen sieht die Welt sicher anders aus. Abgesehen von Ihrem Kater.“

„Der ist im Augenblick mein geringstes Problem.“ Emmas Blick heftete sich auf die Leuchtreklame. Das grelle Licht schmerzte in ihren Augen wie der Gedanke an Brandons möglichen Betrug ihr Herz verletzte. Aber tat sie tatsächlich das Richtige? Hatte der Mann womöglich recht und sie sollte lieber nach Hause fahren? Andererseits hätte sie morgen keinen Mumm mehr, um sich der Situation zu stellen. Weil sie um des lieben Friedens willen seit jeher Scheuklappen bevorzugte.

Konnte es sein, dass sie deshalb viele Zeichen übersehen hatte?

Im Grunde lebten Brandon und sie wie Geschwister zusammen. Von fehlenden Zärtlichkeiten gänzlich zu schweigen. Das schloss auch den Sex ein. Kam es doch dazu, glich es eher einer Pflicht als einer Kür. Eigentlich von beiden Seiten, wenn sie es genau betrachtete. Meistens war sie von der Arbeit ohnehin so kaputt, dass sie sogar froh war, wenn er sich danach zur Seite drehte und einschlief.

„Worauf habe ich mich bloß eingelassen“, verschaffte sich ihre neue Bekanntschaft Luft. Dabei rieb er seine Hände aneinander. „Sollen wir die ganze Nacht in dieser Kälte warten oder wie haben Sie sich das vorgestellt, Sherlock?“

„Keine Ahnung, Watson.“ Trotz der ernsten Situation musste sie lachen. „Aber ich habe nicht vor, mir in Ihrem Auto den Allerwertesten abzufrieren.“

„Sondern?“

„Ich werde ins Hotel gehen und nach Brandons Zimmernummer fragen.“ Nur der Gedanke daran, dass er tatsächlich eine hatte, verstärkte ihr Kopfweh.

„Die man Ihnen natürlich sofort gibt.“

„Habe ich schon erwähnt, dass ich Sarkasmus hasse?“, ärgerte sie sich. Schon wieder wurde sie von seiner Vernunft gestoppt, obwohl sie erneut Fahrt aufgenommen hatte.

„Und ich hasse Aktionen wie diese. Eigentlich wollte ich mir einen schönen letzten Abend machen, ehe ich heimfahre. Ich kam nämlich nach London, um in Ruhe über mein Leben nachdenken. Nun befinde ich mich mitten in Ihrem, nebst einem Ehe-Krimi, der mich absolut nichts angeht.“

„In London müssen Sie mit allem rechnen und …“ Emma unterbrach sich, weil sie auf ein Pärchen aufmerksam wurde, das Arm in Arm auf den Hotel-Eingang zu schlenderte. Die Frau wurde vom Licht erfasst. Sie trug einen roten Mantel mit Kapuze über dem Kopf. Emma starrte auf ihren Rücken.

Waren das nicht dieselben wie vorhin auf der Straße?

In der nächsten Sekunde küssten sie sich hingebungsvoll. Wie hypnotisiert starrte Emma zu ihnen und hatte das untrügliche Gefühl, dass sie Brandon gerade auf frischer Tat ertappte. Beinahe mechanisch öffnete sie die Tür und stieg aus. Ihre Beine schienen mit Blei gefüllt, als sie auf das Pärchen zuging. Der Mann fuhr mit seinen Händen zärtlich über die Schultern der Frau. Sein Goldring blitzte auf. Vielleicht täuschte sie sich doch …

„Ich liebe dich“, hörte Emma ihn sagen. Es war unverkennbar Brandons Stimme! Und weil ihn das Licht nun ebenfalls erfasste, bekam sie sein Gesicht gratis dazu. „Deshalb werde ich morgen mit Emma reden. Nach unserem Telefonat ist sie ohnehin im Bilde. Sogar sie wird kapiert haben, was Sache ist.“

„Wie recht du hast“, entfuhr es Emma, deren Herz raste wie sie am ganzen Körper zitterte. Voller Wut und Enttäuschung über einen Betrug, für den sie keine Worte fand. „Was bist du bloß für ein Widerling!“ Die Frau schien einen Stock verschluckt zu haben und ehe Emma sie aufhalten konnte, hetzte sie auf den Eingang zu. „Wer ist diese Schlampe? Und seit wann läuft das schon zwischen euch?“

„Angie ist eine Kollegin“, bekannte er sofort Farbe. „Es ist einfach so passiert.“

„Einfach so?“, wiederholte Emma und begann zu schluchzen, obwohl sie sich vorgenommen hatte, ihm die Stirn zu bieten. „Was habe ich falsch gemacht?“

„Nichts … aber ich … Herrgott, schau dich an, Emma. Du läufst herum wie der letzte Penner. Außerdem müssen wir jeden Cent dreimal umdrehen. Dabei hast du einen stinkreichen Vater. Ich halte dieses Leben einfach nicht mehr aus.“

„Vielleicht hätten wir mehr Geld, wenn du nicht alles für deine Geliebte verschleudern würdest“, brüllte Emma, weil sie sich nicht mehr im Griff hatte. Sie fühlte sich verraten. So unendlich verraten. „Heute Rosen und morgen ein Ring. Dazu dieses Hotel. Wovon bezahlst du den Luxus?“

„Lass das meine Sorge sein, und jetzt sollten wir die Unterhaltung beenden. Du wirkst angetrunken. Wir reden morgen darüber. In aller Ruhe.“

„Morgen wirst du deine Sachen packen!“ Emma zog sich den Ehering vom Finger und schleuderte ihn Brandon vor die Füße. Das billige Blech hatte ohnehin keinen Wert. Jetzt noch weniger als zuvor. „Aber nicht in aller Ruhe, sondern in Windeseile. Ich will dich nicht mehr im Haus haben.“

„Das wird schwierig.“ Sein überheblicher Blick brachte sie endgültig zur Weißglut. „Oder hast du vergessen, auf wen der Kaufvertrag läuft? Demnach solltest du packen“

„Dad hat Geld in unser Haus investiert. Ich zahle von Anfang an die Raten. Dein Beitrag beläuft sich damit auf null. Kaufvertrag hin oder her, willst du dich tatsächlich mit uns anlegen?“

„Mit uns?“, spottete er. „Wach endlich auf, Emma. Dein Vater schert sich keinen Deut um dich!“ Es war, als hätte ihr Brandon einen weiteren Fausthieb verpasst. „Und um es mit mir alleine aufzunehmen reicht dein Mut nicht. Das wissen wir beide. Ergo: Du warst die längste Zeit in diesem Haus, kapiert?“

„Allmählich regen Sie mich auf“, hörte Emma jemanden hinter sich sagen und erinnerte sich wieder an den Unbekannten. Mit wütender Miene trat er an ihre Seite. „Haben Sie es so nötig, Ihre Frau fertig zu machen? Nach allem was Sie ihr angetan haben? Davon abgesehen bin ich Zeuge Ihres Seitensprungs, was ich jederzeit beschwören kann. Vor Gericht stehen Ihre Karten somit schlecht, das prophezeie ich Ihnen.“

„Sagt wer?“ Brandon verengte die Augen. „Etwa Emmas Lover?“, unterstellte er ihnen mit dem nächsten Atemzug. „Demnach sind meine Frau und ich quitt.“

„Gar nichts sind wir“, fauchte Emma. „Ich weiß nicht einmal wie der Typ heißt. Aber er hat mehr Stil als du.“ Wie recht Linda hatte. Brandon war ein Aas!

„Schön.“ Ihr Mann schlug den Jackenkragen hoch. „Dasselbe gilt für Angie. Du reichst nicht im Entferntesten an ihre Klasse heran, Emma. Und jetzt leb wohl.“ Er wollte sich abwenden, doch als wäre ihm etwas eingefallen, drehte er sich neuerlich zu ihr. „Ich habe dich gemocht, das ist die Wahrheit“, sagte er und hatte alles Beißende in der Stimme verloren. „Aber Liebe war es nie, sondern nur dein Name. Hätte ich Chancen bei einer deiner Schwestern gehabt, wärst du nie meine Frau geworden. Dennoch gebe ich dir einen guten Rat: Blättere hin und wieder in einem Modekatalog. Auf Dauer genügt keinem Mann nur eine nette Frau, die du ohne Zweifel bist.“ Damit drehte er sich um und eilte zum Eingang.

Emma starrte auf seine Fußspuren im Schnee. Gedemütigt bis ins Mark.

„Soll ich Sie nach Hause bringen?“, erkundigte sich der Unbekannte mit sanfter Stimme.

„Ich habe kein Zuhause mehr.“ Emma setzte sich in Bewegung. Ahnungslos darüber, wohin sie gehen sollte. „Danke, dass Sie mich hergebracht haben.“ Auf einmal strauchelte sie und spürte seine kräftigen Hände an ihren Armen, was einen Sturz verhinderte.

Kurz blickten sie sich an, bevor er sie losließ.

„Mein Magen knurrt“, murmelte er. „Sollen wir etwas essen gehen?“

„Ist das Ihr Ernst?“

„Wie gesagt: Ich habe Hunger.“

„Und Sie denken, dass es mir auch so geht?“

„Eher nicht?“

„Erraten!“

„Trotzdem, geben Sie sich einen Ruck.“

Unter Tränen betastete Emma ihren Dutt. „Eigentlich sollten Sie froh sein, mich loszuwerden. Ich stehe kurz vor einem Heulkrampf. Möchten Sie sich das wirklich antun?“

„Wieso nicht? Sie sind momentan genauso einsam wie ich“, erwiderte er. „Deshalb wäre ich ziemlich dumm, wenn ich Sie gehen ließe, Sherlock. Also, sind Sie dabei?“

„Okay“, gab sie sich geschlagen.

Kurz danach aßen sie einen Burger bei einem Imbiss-Stand. Einige Männer lungerten in der Nähe herum. Alleine hätte sich Emma gefürchtet, doch die Gegenwart des Unbekannten nahm ihr jegliche Angst. Nebenbei verfügte dieser Mann über einen gesegneten Appetit. Nach zwei Minuten war sein Burger Geschichte. Im Gegensatz zu Emmas. Schließlich reichte sie dem Fremden ihren angebissenen, den er ebenfalls hastig verspeiste, als hätte er noch nichts gegessen. Emma hingegen trank schluchzend ein großes Glas Cola und fühlte sie sich allmählich ernüchtert - in jeglicher Hinsicht.

Leider katapultierte sie das umgehend in eine noch rauere Wirklichkeit zurück, die sich anfühlte, als würde jemand mit kalten Nadeln über ihre Haut fahren. Nun war sie wieder Single und auf sich allein gestellt. Das machte ihr eine Heidenangst. Desgleichen hallte Brandons Feststellung in ihr nach, wie wenig feminin sie sei. Sicher, es war nicht aus der Luft gegriffen, trotzdem schmerzte es. Insbesondere die Tatsache, dass sie ständig nur letzte Wahl war. Egal für wen.

Abwesend blickte Emma zu einer Gruppe junger Frauen. Plaudernd gingen sie an ihnen vorbei. Als eine von ihnen dem Unbekannten verheißungsvolle Blicke zuwarf, konzentrierte sie sich jedoch auf ihr Gegenüber. „Sie erinnern mich an jemanden“, stellte sie fest. Gleichzeitig wurde Emma bewusst, dass er sogar im flackernden Neonlicht ziemlich attraktiv war. Blondes Haar, hellblaue Augen, ein markantes Gesicht und eine energische Nase. Der Dreitagesbart unterstrich seine Männlichkeit, gleichzeitig hatte er etwas Jugendliches an sich.

„Lassen Sie mich raten“, meinte er mit sauertöpfischer Miene. „An Brad Pitt?“ Er wischte sich mit der Serviette über den Mund, nachdem er den Pappteller von sich geschoben hatte, auf dem ausgequetschte Ketchup-Päckchen lagen.

„Normalerweise würde ich Sie spätestens jetzt für ziemlich arrogant halten“, beanstandete Emma, „allerdings ist der Vergleich nicht schlecht. Doch den meine ich nicht.“

„Gut. Bei mir zuhause wird das nämlich ständig behauptet. Allerdings lautet der genaue Wortlaut: Brad-Pitt-für-Arme. Ich kann es nicht mehr hören.“

„Fühlen Sie sich etwa nicht geschmeichelt?“ Sie grinste, ohne, dass sie es wollte.

Er zerknüllte die Serviette und warf sie auf den Pappteller. „Sie haben ja keine Ahnung. Aber ich bin neugierig. An wen erinnere ich Sie?“

„Jetzt weiß ich es“, rief Emma aus, „an Rúrik Gíslason.“

„Wer soll das sein?“ Er wirkte nicht gerade glücklich. „Eine Comic-Figur?“

„Ein isländischer Fußballer.“

„Sie machen sich etwas aus diesem Sport?“ Wieder dieses spöttische Lächeln! Es hatte was.

„So ähnlich“, räumte Emma ein. „Manche Spieler stechen einem regelrecht ins Auge und manchmal nehme ich durchaus eine Modezeitschrift in die Hand. Auch wenn Brandon das Gegenteil behauptet.“ Nur die Erwähnung seines Namens stieß ihr das Cola sauer auf.

„Sie erinnern mich übrigens auch an jemanden“, behauptete der Unbekannte.

„Lassen Sie mich raten“, tat es ihm Emma nach und versuchte ein ähnliches Gesicht zu machen wie er zuvor. Allerdings bedurfte es wenig Mühe, weil sie an Brandons Vorwürfe denken musste. War sie tatsächlich so unsexy? „An ein Walross?“

Sein Lachen hatte etwas Ansteckendes.

„Weit daneben. Ich würde sagen …“ Er studierte sie so intensiv, dass ihr heiß wurde. Das war bestimmt die nächste Nachwirkung vom Sekt! „Sandra Bullock. Dieselben rehbraunen Augen, eine ähnliche Haarfarbe und Sie haben dieses verschmitzte Etwas.“

„Damit kann ich gut leben“, stellte Emma erfreut fest. Ob dieser Mann ehrlich war oder nicht, sein Kompliment ging ihr runter wie Öl und hob ihre Laune. Ebenso, wie es das anschließende Schlendern durch die Straßen tat, obwohl sie kein Wort sprachen. Trotzdem war es kein angespanntes Schweigen. Vielmehr genoss Emma die Stille. Ihre gemeinsamen Schritte - gedämpft vom Schnee, der wie eine Sahnehaube auf Bäumen und Bänken lag. Auch die frische Winterluft tat gut. Sogar die üppige Weihnachtsbeleuchtung störte sie weniger als sonst.

„Möchten Sie eigentlich gar nicht wissen wie ich heiße?“, fragte er plötzlich, als sie in die Regent Street einbogen und Richtung Piccadilly Circus spazierten.

„Nein“, entschied Emma. „Sie kamen aus dem Nichts und werden bald dorthin zurückkehren. Ich schätze, wir werden uns nicht wiedersehen.“

„Stimmt.“

Erneut schwiegen sie. Emma mit dem plötzlichen Gefühl, als wären Tage vergangen und nicht erst wenige Stunden, seitdem sich ihre Welt völlig verändert hatte. So, als hätte jemand ein T-Shirt zerschnitten und nun musste sie zusehen wie sie es am besten tragen konnte. „Haben Sie jemals einer Frau wehgetan?“, erkundigte sie sich und nagte an ihrer Unterlippe. „Sind Sie verheiratet?“

„Das war ich und ja, es gibt viele, denen ich übel mitgespielt habe.“ Sie ahnte, dass er trotz seiner Aussage an eine bestimmte Frau dachte. „Annie war so eine. Sie ist toll und ich hatte sie gern.“ Sofort kam ihr Brandon in den Sinn. „Nun ja, in Sachen Beziehung habe ich nicht gerade die besten Vorbilder, wobei jeder für sich selbst verantwortlich ist. Aber meine Eltern führen eine ziemlich miese Ehe. Dad hat ständig andere Frauen, was er gut zu vertuschen weiß.“ Er seufzte. „Ich ließ es ebenfalls ziemlich krachen, bis Annie und ich ein Paar wurden. Doch ich merkte schnell, dass ich für Kompromisse noch nicht bereit war. Trotz unserer Beziehung zog ich mein Ding durch. Eigentlich ein Indiz, dass es nicht die wahre Liebe ist. Dann begegnete ich Trish und betrog Annie mit ihr.“ Emma empfand sofort Mitleid mit dieser Annie. „Zu meiner Ehrenrettung muss ich allerdings sagen, dass ich wirklich in Trish verliebt gewesen bin. Dennoch machte ich Annie nicht nur an meinem Junggesellenabend Avancen, da ich … ach, lassen wir das. Jedenfalls habe ich Trish geheiratet, kurz danach ließen wir uns wieder scheiden. In den folgenden Monaten stürzte ich mich in zahllose Abenteuer und habe sogar bei der Arbeit getrunken. Bis ich vor kurzem eine Abmahnung erhielt. Jemand hat mich angeschwärzt. Anfangs war ich ziemlich sauer. Mittlerweile bin ich froh darüber, weil es ein Weckruf war.“

„Wieso ist Ihre Ehe in die Brüche gegangen? Haben Sie Trish ebenfalls betrogen?“

„Ich war nicht immer ein Schwein. Obwohl ich alles dafür getan habe, um dafür gehalten zu werden“, blockte er ab und blieb stehen. Emma tat es ebenso.

Es war seltsam, zu einem beinahe Wildfremden aufzublicken. Mit ihm in der nicht spürbaren Kälte zu stehen. Das sanfte Licht des Schaufensters floss über sein Gesicht. Berührte seine Lippen und ließ seine Augen glänzen. Etwas Geheimnisvolles stand darin, aber auch Traurigkeit. Lag es daran, dass ihm Emma in diesem Augenblick näher war als irgendeinem anderen Menschen auf der Welt?

Auf einmal berührte seine Hand ihr Kinn.

Erneut verlor sie sich in diesen unergründlichen Augen, bis er das Gesicht beugte. Emma hielt den Atem an. Gleichzeitig klopfte ihr Herz schneller. Dann küsste er sie mit einer berührenden Sanftheit. Seine Lippen waren weich und zärtlich. In seinen Armen fühlte sie sich wie eine Kostbarkeit. Genauso berührte er sie. Doch zu ihrem Bedauern ließ er plötzlich von ihr ab, hielt sie aber dennoch fest. Sie spürte seinen Atem auf ihrem Mund. Bemerkte sein Lächeln, ehe er sich räusperte und sie losließ. Im nächsten Moment winkte er ein Taxi heran, das sofort an den Straßenrand rollte.

Zuvorkommend öffnete er die Tür. „Leben Sie wohl“, raunte er.

„Sie auch.“ Emma blickte ihn an, bevor sie sich ins Taxi setzte. Das Leder knirschte, als sie sich zurücklehnte. „Danke für diesen unvergesslichen Abend.“

Er lächelte neuerlich, ehe er die Tür schloss.

Das Taxi fuhr an. Emma drehte sich um. Unbeweglich stand der Mann inmitten des Schneegestöbers und sie glaubte seinen Blick auf sich zu spüren. Kurz erwog sie, den Chauffeur anhalten zu lassen. Weil sie nicht wollte, dass der Abend so endete. Oder dass der Unbekannte einer bleiben würde.

In der nächsten Sekunde schalt sie sich eine Närrin. Dieser Mann hatte sie getröstet. Ihr geholfen und sie aus der Laune eines Augenblickes heraus geküsst. Auf den Trümmern ihres Lebens. Diese galt es zu beseitigen, statt irgendeinem Zauber hinterherzulaufen, den dieser Abend jedoch zweifelsohne gehabt hatte.

 

Kapitel 2

 

„Wie romantisch!“, rief Linda aus und stellte klirrend ihre Kaffeetasse auf den Unterteller. „Und du hast wirklich keine Ahnung wer der Typ ist?“

Emma zuckte mit den Achseln. „Nein. Aber dieser Mann ist im Augenblick meine geringste Sorge“, schwindelte sie, obwohl sie ständig an die vergangenen Stunden denken musste. Mitsamt der Frage, ob das tatsächlich passiert war. „Immerhin steht mir eine Scheidung bevor und wenn ich Brandon richtig verstanden habe, gibt es einen Rosenkrieg.“

„Na ja, wie ein Häufchen Elend wirkst du nicht gerade auf mich.“ Linda schob den kleinen runden Spiegel zu sich und griff nach dem Lipgloss neben der Blumenvase mit den Plastikrosen. Grant hatte sie ihr vor Jahren zum Geburtstag geschenkt. Die roten Blüten waren vom Sonnenlicht ausgeblichen und staubig wie der Rest ihrer Wohnung. Lindas Perfektion hörte nicht nur am Reißverschluss ihrer Tasche auf, sondern auch an der Türschwelle. Sie war keine geborene Hausfrau und schenkte diesem Teil ihres Lebens nur wenig Aufmerksamkeit. Ganz nach dem Credo: Es wäre schade um die vergeudete Zeit. „Aber du wirst es schon schaffen.“

„Mir graut bereits jetzt davor“, bekannte Emma. „Allein der Gedanke, dass ich zu einem Anwalt muss. Dabei habe ich mir mein Leben anders vorgestellt.“

„Schätzchen, du hast es dir schöngeredet. Wie so einiges in den vergangenen Jahren.“ Gekonnt zog Linda ihre Lippen nach, die schimmerten wie ihre Augenlider und Wangen. Ein hübsches Make-up. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Emma kramte in ihrer Erinnerung, wann sie