Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes - Bettina Reiter - E-Book

Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes E-Book

Bettina Reiter

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Beschreibung

Annie träumt davon, das desolate Schmuckgeschäft ihres verstorbenen Großvaters zu übernehmen. In der Realität zahlt sie jedoch die Schulden ihres Vaters zurück und bestreitet mit zwei Putz-Jobs ihren Lebensunterhalt. Sie ahnt nicht, dass der amerikanische Unternehmer Jack Flatley ein Auge auf ihr Geschäft geworfen hat und zudem ganz St. Agnes zu einem Hotspot machen will. Doch Jack hat die Rechnung ohne die Bewohner von St. Agnes gemacht, denn diese rufen einen haarsträubenden Plan ins Leben, um ihr idyllisches Küstendorf zu retten. Zwar will Annie weder damit noch mit Jack etwas zu tun haben, steckt jedoch bald tiefer in dieser Sache drin, als ihr lieb ist …

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Ein fast perfekter

Sommer in St. Agnes

Cornwall-Roman

 

Bettina Reiter

Teil 1aus der Buch-Reihe

Liebesromanzen in St. Agnes/Cornwall

© Bettina Reiter, April 2018

Lektorat: Edwin Sametz, Titelbildgestaltung: © Bettina Reiter

Titelbild-Motive: Fotolia: © graphixchon/Fotolia.com

Canva.com - @lenkax, @billionphotos, @friesartstudio, @patriotstudio,

@elmuza, @anes-design

Weitere Grafiken/Buch: Canva.com - @chemwifi

Website der Autorin: www.bettina-reiter-autorin.com

Impressum: Bettina Reiter, Dorfstr. 22, A-6382 Kirchdorf

Alle Rechte liegen bei der Autorin.

Sämtliche Texte sowie das Cover sind urheberrechtlich geschützt.

Eine Nutzung in jeglicher Form (Fotokopie, Mikrofilm, Verbreitung, Textauszug,

Vervielfältigung oder anderes) ist ohne die schriftliche Genehmigung des

Rechteinhabers/Urhebers nicht zulässig.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden

und sofern reale Örtlichkeiten (Lokale usw.) vorkommen, sind die

Szenen sowie die dort handelnden Personen ebenfalls frei erfunden.

 

Inhaltsverzeichnis

 

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Epilog

News

Danksagung

Weitere Veröffentlichungen

Leben ist das, was dir passiert,

während du damit beschäftigt bist,

andere Pläne zu machen.

 

John Lennon

 

Für meine Tochter

 

 

Special thanks to the Breakers Beach Café, the St. Agnes Hotel, the St. Agnes Bakery and Ian Lewis Photography for the nice support. Likewise for the pictures.

Liebe Leserinnen und Leser,

 

anlässlich des Buches habe ich Kontakt zu Personen aufgenommen, die zu einigen realen Schauplätzen gehören (Breakers Beach Café usw.). Alle waren sehr hilfsbereit und haben mir sogar Bilder gesendet. Für mich war es etwas Besonderes, mit Menschen zu sprechen, die tatsächlich in St. Agnes wohnen. Obwohl meine Geschichte und die darin handelnden Personen fiktiv und frei erfunden sind, wurde vieles für mich dadurch noch persönlicher.

 

Übrigens ist das kleine Küstendorf ein Ort, den ich nur eine Sommer-Buchlänge besuchen wollte. Doch dann bin ich im Winter noch einmal hingereist und habe auch den Herbst sowie Frühling dort verbracht. Nun gibt es also vier Teile und ich hoffe sehr, dass Ihnen Annies, Emmas und Maggies Geschichten ein paar schöne Lesestunden bereiten, denn wie lautet mein Rezept für einen unterhaltsamen Liebesroman: Man nehme eine Geschichte, würze sie mit Menschen unterschiedlicher Charaktere, hier eine Prise Humor, da eine Prise Ernsthaftigkeit und über alles streut man die ganz große Liebe.

 

Tja, so die Absicht und natürlich hoffe ich sehr, dass Ihnen die Reise nach St. Agnes gefallen wird. Ein wundervolles Küstendorf in Cornwall, das es mir sofort angetan hat. Bereits als ich den Namen las, wusste ich: das ist es! Als ich die Bilder sah, fühlte ich mich bestätigt. Manchmal ist das Bauchgefühl eben goldrichtig, denn St. Agnes ist wie geschaffen für Annie und umgekehrt.

 

Sie und viele andere Menschen - die sich in meiner Geschichte tummeln - sind mir wirklich ans Herz gewachsen. Selbstredend, dass ich inzwischen zur Clique gehöre (Sie werden bald alle kennenlernen) und es fiel mir schwer, St. Agnes wieder zu verlassen. Doch weil ich dafür bekannt bin, dass ich mich gern verplaudere sobald es um meine Bücher geht (meine Freunde könnten ein Lied davon singen ;-), überlasse ich Sie nun meiner Geschichte und hoffe, dass mein Rezept auch für Sie die richtige Mischung hat. Und jetzt entführe ich Sie nach St. Agnes in den Urlaub. Zumindest gedanklich.

 

Viel Vergnügen wünscht Ihnen von Herzen,

Ihre Bettina Reiter.

 

P.S.: Falls Sie einen Lieblingssatz in meinem Buch finden oder eine Stelle, die Ihnen gut gefällt, dann schreiben Sie mir, denn ich würde diesen Ausschnitt/die Passage gerne auf meiner Instagram-Seite veröffentlichen. Danke, ich freue mich schon darauf!

 

Meine Website:

http://www.bettina-reiter-autorin.com

 

 

 

 

Prolog

Ende Juli 1997, St. Agnes/Cornwall

 

Annie stand neben ihrem Großvater am Werktisch. Wann immer es ging, besuchte sie ihn in seinem Geschäft am Fuße der Küstenstraße. Randalls Silbermine hieß der kleine Laden. In den vielen Vitrinen glänzte und funkelte es. Meistens fertigte ihr Grandpa Silberschmuck an, weil er das Metall lieber mochte als Gold, obwohl er ebenfalls damit arbeitete. Je nachdem, was die Kunden wollten, zu denen viele Einheimische gehörten, die sich nicht selten nur bei ihm trafen, um einen Kaffee zu trinken. Ihr Grandpa war sehr beliebt in St. Agnes, doch niemand liebte ihn so sehr wie sie, davon war Annie überzeugt. Hoffentlich lebte er ewig. So wie sein Schmuck.

„Was ist das für ein Stein, Grandpa?“, fragte Annie

„Ein Mondstein.“ Er hielt ihn ins Sonnenlicht, das durch das dreieckige Fenster fiel. Der weiße Stein schimmerte bläulich, bei der nächsten Bewegung zeigten sich alle Farben des Regenbogens. Annie hatte noch nie einen schöneren Stein gesehen. „Wie der Name schon sagt“, hob ihr Großvater zu einer Erklärung an, „hat er eine tiefe Verbindung zum Mond und fördert unsere Intuition. Außerdem steht der Stein für Glück, hilft uns bei Ängsten und einem Neubeginn.“

„Intui… was?“, wiederholte Annie. Ein seltsames Wort.

„Wie soll ich das bloß einer Zehnjährigen erklären?“ Ihr einundsechzigjähriger Grandpa lachte und legte den Mondstein neben das Medaillon, an dem er gerade arbeitete. Seine Hände zitterten leicht. Er hatte schlohweißes Haar, tiefe Falten um die grünen Augen, einen ziemlich dicken Bauch und trug eine Brille mit Silberrand. Außerdem war er kleiner als jeder Mann, den Annie kannte. Dafür war sein Herz umso größer. „Nun ja“, fuhr er fort, „Intuition …“ Sein wettergegerbtes Gesicht erhellte sich. „Was sagen dir die Äpfel auf meinem Tisch?“ Er deutete zum geflochtenen Körbchen, das prallgefüllt war.

„Dass du heute einen Apfel essen wirst“, antwortete Annie wie aus der Pistole geschossen.

„Siehst du“, freute sich ihr Grandpa mit gutmütigem Lächeln, „du ahnst es. Das nennt man Intuition.“

„Du isst jeden Tag einen Apfel. Also weiß ich es ja.“

„Das war nur ein Beispiel.“ Er stupste sie an die Nase. „Aus dir wird sicher eine Wissenschaftlerin, so viel wie du hinterfragst.“ Herzlich lachte er auf. Annie schaute besorgt auf sein gelbes Gebiss, das ihm schon einige Male beim Lachen aus dem Mund gefallen war.

„Ich möchte keine Wissenschaftlerin werden“, stellte Annie klar. „Lieber will ich so sein wie du.“

„Das ehrt mich, mein Schatz.“ Er zog sie in seine Arme und drückte sie an sich. „Wenn du groß bist, solltest du jedoch so sein, wie du bist.“

„Kann ich wenigstens das machen, was du tust?“ Sie kuschelte sich an sein Flanellhemd mit dem Karomuster. Seit sie ihn kannte, trug er solche Hemden in allen Farben.

„Es würde mich sogar unendlich stolz machen, wenn du eines Tages mein Geschäft übernimmst.“ Plötzlich klang seine Stimme, als hätte er Schnupfen.

„Das mache ich, versprochen.“ Annie schaute zu ihm hoch. Seine Augen waren nass. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Oder war er traurig, weil sie ihre Zwillingsschwester nicht in ihre Pläne einbezogen hatte? „Sandy und ich werden zu Cornwalls berühmtesten Schmuckmacherinnen, Grandpa“, versicherte sie sogleich.

„Schmuckdesignerinnen“, verbesserte er sie und blickte aus dem Fenster. Von hier aus hatte man einen weiten Blick auf die Bucht und die Klippen. „Deine Schwester wird aber vermutlich eine Surfschule eröffnen. Irgendwann wächst sie sowieso mit dem Brett zusammen.“

Annie stellte sich das bildlich vor. „Geht das denn?“

Lachend küsste er sie auf die Stirn. „Das war nur eine Metapher.“ Auch das zeichnete ihren Grandpa aus. Er kannte Worte, die diese Welt mit Sicherheit noch nie gehört hatte. Annie sparte sich jedoch eine genaue Nachfrage, weil es sich wahnsinnig kompliziert anhörte. „Ich möchte dir gerne etwas zeigen, Kleines. Ein Versteck, das nur deine Grandma kannte“, wurde er plötzlich ernst und ließ sie los. Sie trat einen Schritt zurück. Ihr Großvater erhob sich, schob den Sessel weg und bückte sich ächzend unter den Werktisch hinein. Annie setzte sich auf den Boden und schaute gespannt zu, wie er ein loses Dielenbrett anhob. Eine kleine Holzkiste mit einem Herzschloss kam zum Vorschein, die er herausnahm und vor sie hinstellte. Neugierig blickte Annie darauf und fragte sich, was sich darin befand. Vielleicht ein Schatz?

Ihr Grandpa zog die Schublade neben sich auf, holte einen roten Schlüssel heraus und kurz darauf entfernte er das Schloss. Als er den Deckel des Kästchens öffnete, hielt Annie die Luft an - um sie gleich darauf förmlich aus sich heraus zu pusten.

„Da ist ja gar nichts drin“, stellte sie enttäuscht fest.

„Richtig. Trotzdem ist sie wertvoller als alles andere. Das gilt ebenso für das Herzschloss. Weißt du, beide Dinge haben eine große Bedeutung für mich.“ Sein Blick wurde abwesend, als wäre er auf einmal woanders. „Vor vielen Jahren besuchte ich einen Markt in Redruth. Bei einem Stand sah ich auf einmal etwas leuchten, das mich förmlich angezogen hat. Es war dieses Herzschloss.“ Mit seiner von Adern durchfurchten Hand glitt er vorsichtig darüber, als hätte er Angst, es kaputt zu machen. „Die Verkäuferin behauptete, dass das Herzschloss magische Kräfte hat und ich kaufte es, obwohl ich nie an so was geglaubt habe. Bis ich mich umdrehte, und es mir aus der Hand fiel. Eine junge Frau mit blonden Zöpfen hob es auf. Es war deine Großmutter, Olivia, in die ich mich sofort verliebte.“ Annie hörte diese Geschichte zum ersten Mal. Wie verzaubert saß sie da und dachte an Grimms Märchenbuch, aus dem ihr die Mutter manchmal vorlas. „Daraufhin schrieb ich deiner Grandma einige Briefe, die sie in diesem Kästchen aufbewahrte. Wie einen Schatz, den man hüten muss.“ Er wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Augen. „Du hast sie nie kennengelernt, das ist wirklich schade. Deine Granny war eine wundervolle Frau, die mir die schönste Zeit meines Lebens geschenkt hat.“

Annie schaute auf die Kiste. „Wo sind die Briefe?“

Er seufzte. „Olivia wollte sie bei sich haben, als sie uns für immer ver…, ach, lassen wir das. Für solche Dinge bist du noch zu klein. Jedenfalls ist das Kästchen leer und wartet darauf, dass es erneut gefüllt wird. Vielleicht liegt irgendwann wieder ein Brief darin. Für dich und Sandy, der ich das Versteck natürlich ebenfalls zeigen werde.“

„Ein Brief?“ Mit großen Augen schaute Annie ihn an. „Nur für uns?“

„Ja, Kleines, nur für euch, und bevor du fragst: Ich verrate dir nicht, warum, wieso, weshalb und überhaupt. Manches muss man erwarten können. Und falls es dich tröstet: Ich habe selbst keine Ahnung, was ich euch schreiben werde. Nur, dass ich es mache, ist so sicher wie das Amen im Gebet.“ Stürmisch umarmte sie ihn. Lachend drückte er sie an sich, bis sie schließlich das Kästchen versperrten und ins Versteck zurückstellten. Danach arbeitete ihr Grandpa wieder am Medaillon weiter.

Fasziniert schaute Annie ihm dabei zu, wie er den Stein in die erhabene Fassung einsetzte, die von Muschelornamenten umgeben war. Nachdem er das Medaillon neben den Brennofen gelegt hatte, kümmerte er sich um den Silberring, den Minnie bei ihm bestellt hatte. Ein ovaler blauer Saphir bildete den Mittelpunkt. Rundherum setzte er blätterförmig Zirkonia-Steine. Dabei schaute er ständig auf seine antike Armbanduhr mit dem beigen Gehäuse und dem braunen Lederband. Ob er sie gleich nach Hause schicken würde? Eigentlich hätte sie sich längst um ihre Hausaufgaben kümmern müssen, doch die konnten warten. Zur Not würde sie morgen vor der Schule von Lance abschreiben. Das taten sie und ihre beste Freundin Josie öfter.

„Sollen wir ein Eis essen gehen?“, erkundigte sich ihr Grandpa und betrachtete grimmig sein Werk. „Mit viel Schokolade? Das ist gut für die Nerven. Zumindest für meine. Minnie hat meinen gesamten Entwurf eingestampft und nun mache ich einen Null-acht-fünfzehn-Ring. Aber der Kunde ist König. Also, Eis und Schokolade?“

„Au ja!“ Annie klatschte in die Hände und spazierte kurz danach mit ihrem Großvater entlang der Quay Road zum Breakers Beach Café hinunter. Die Trevaunance Bucht war gut besucht. Am Strand und im Wasser tummelten sich viele Touristen und Einheimische. Weiter draußen einige Surfer. Unter ihnen befand sich ihre Zwillingsschwester Sandy, die so viel mehr Mut hatte als Annie. Ihre Schwester kletterte auf die höchsten Bäume, während sie von unten dabei zusah, und um Sandy bangte. Auch vom Karussellfahren vor einigen Tagen hatte ihre Zwillingsschwester nicht genug bekommen können. Annie hingegen hatte sich nach nur einer Fahrt vor allen Leuten übergeben. Roger aus der Nebenklasse machte sich seitdem ständig darüber lustig!

„Wie schön, unser Tisch ist frei“, meinte ihr Grandpa, als sie das Breakers betreten hatten. Meistens saßen sie am ersten Tisch vor dem großen Fenster. Von hier aus konnte man den Strand und das Meer sehen. Heute wirkte es türkisblau und ruhiger als sonst. Das würde Sandy weniger gefallen, die keine Ahnung hatte, was sie versäumte. Ein Eis war allemal besser, als von Wellen verfolgt zu werden und wie üblich ließ es sich Annie schmecken. Ihr Grandpa trank einen Cappuccino und schaute aus dem Fenster. Er wirkte bedrückt. Sicher vermisste er ihre Grandma. Das sagte zumindest Annies Mom häufig, die ihn ständig einlud. Zum Essen, zu Ausflügen oder sonstigem. Er wohnte neben ihnen, im kleinen Cottage, in dem ihre Mom und deren Bruder Jeremy aufgewachsen waren.

Nachdem Annie aufgegessen hatte, bezahlte ihr Grandpa und sie verließen das Café. Die Sonne hämmerte regelrecht gegen die Mauern der Häuser, als sie wieder zum Geschäft hochgingen. Wie meistens am Nachmittag setzten sie sich auf die Bank, die er an den Stamm des Apfelbaumes gezimmert hatte, dessen Äste sich über die Fassade seines Ladens hochschlängelten. Den Baum hatte ihr Grandpa selbst gepflanzt. Cornish Gilliflower, die Sorte mochte er am liebsten und verschenkte gern welche an seine Kunden.

„In einem Monat habt ihr Geburtstag“, erinnerte der Großvater sie unnötigerweise an das Ereignis des Jahres. Annie zählte bereits die Tage. Sandy und sie hatten die Einladungen schon vor zwei Wochen ausgeteilt. Ihre Mom wollte wieder ihren legendären Käsekuchen machen und nur beim Gedanken daran lief Annie das Wasser im Mund zusammen. „Ich bin gespannt, wie euch mein Geschenk gefällt.“.

„Was ist es denn?“ Annie blinzelte gegen die Sonne an und schaute zu ihm auf. Witzig. Sie spiegelte sich in seinen Brillengläsern. Ihr langes dunkelblondes Haar wehte im Wind und die Schmetterlingsärmel ihres geblümten Sommerkleides flatterten, als wären es Flügel.

„Das werdet ihr Mädels früh genug sehen.“ Er stupste erneut mit dem Zeigefinger an ihre Nase, bevor sie sich an ihn kuschelte. Lächelnd legte er seinen Arm um sie. In seiner Nähe fühlte sie sich, als könnte ihr nichts passieren. „Jetzt solltest du aber lieber nach Hause gehen und deine Hausaufgaben machen, sonst schimpft mich deine Mom.“

„Muss das sein?“, maulte Annie.

„Keine Widerrede“, blieb er dabei, wenngleich mit nachgiebigem Ton. „Wir sehen uns ja abends zur Party.“ Plötzlich grinste er. „Ein wenig mehr Ehrgeiz würde dir wirklich nicht schaden. Schon komisch, wie unterschiedlich ihr Schwestern seid.“ Sandy war Klassenbeste und schien fürs Lernen geboren zu sein. Annie indessen mühte sich mit schlechten Noten ab, und zog ständig den Tadel von Mrs. Wilde auf sich. Die Lehrerin schien sich ohnehin auf sie eingeschossen zu haben. Bloß, weil sie ein bisschen fauler war als die anderen und Mathe hasste wie Minnies Weihnachtskekse, die nach Lakritze schmeckten. Noch dazu hatten sie Annie einen Milchzahn gekostet, so hart waren diese Dinger. Seitdem machte sie einen großen Bogen um Minnies Stahlkekse.

Bei den Hausaufgaben ging das leider nicht so einfach und nur eine halbe Stunde später brütete Annie am Esszimmertisch neben Sandy über unlösbare Rechnungen. Wer brauchte Divisionen? Wenigstens war auf Sandy Verlass, von der sie abschreiben konnte, nachdem diese mit sämtlichen Erklärungsversuchen scheiterte. Sie war eben kein Genie wie ihre Schwester, trotzdem hingen sie aneinander wie Pech und Schwefel. Oft wusste die eine sofort, was die andere sagen wollte. Sogar in Gestik und Mimik waren sie eins. Nur ihre Gehirne schienen unterschiedlich zu arbeiten …

Nachdem sie endlich fertig waren, spielten sie mit ihren Barbies in Annies Zimmer. Durch das offene Fenster hörte man Meeresrauschen. Deswegen beschlossen sie, an den Strand zu gehen, um Muscheln zu sammeln. Ihre Mom war zu beschäftigt mit den Party-Vorbereitungen, um es ihr auf die Nase zu binden, und ihr Dad noch nicht zuhause. Als Baumeister hatte er immer viel zu tun, was ihnen in Situationen wie diesen gelegen kam. Er war ziemlich streng. Trotzdem redete er nicht stundenlang auf sie ein, wie es ihre Mom tat, wenn sie etwas angestellt hatten. Ihr Vater begnügte sich mit ein paar knappen Worten - die es allerdings in sich hatten. Auf der anderen Seite tobte er oft mit ihnen herum, zeigte ihnen bei vielen Wanderungen ihre Heimat und erzählte gerne Spukgeschichten. Wenn sie danach nicht einschlafen konnten, freute er sich wie ein kleiner Junge, dem ein besonders guter Streich gelungen war.

„Oh, wie schön!“, rief Sandy aus und bückte sich nach einer weißen Jakobsmuschel, ohne Annies Hand loszulassen. Als sich ihre Schwester wieder aufrichtete, tat sie so, als würde sie wie eine feine Dame einen winzigen Fächer halten. „Es ist fürchterlich heiß, findet Ihr nicht auch, Prinzessin Annie?“ Ihr beider Lachen hallte über die Bucht, bis sie ihre Mutter entdeckten, die vor dem Cottage stand. Mit den Händen in die Hüften gestemmt, und dem Vater neben sich. Ahnend, was das hieß, liefen Annie und Sandy schnurstracks nach Hause. Natürlich erhielten sie den üblichen Vortrag von wegen, dass Eltern immer wissen müssten, wo ihre Kinder seien. Als wären sie erst fünf! Dementsprechend schlechtgelaunt legten sie danach die Muschel in eins der Gläser auf der Küchenfensterbank, wie im ganzen Haus ähnliche standen, die sie mit Sand, Muscheln und Seesternen gefüllt hatten.

Nur eine halbe Stunde später wurden Annie und Sandy von der Clique ihrer Eltern geherzt, was sie mehr oder weniger über sich ergehen ließen. Aber sie mochten Minnie und ihren Mann Duncan oder Harold mit seiner Frau Harriet. Deren zwölfjähriger Sohn Mason schwamm hingegen ganz unten auf ihrer Beliebtheitsskala. Zumal er ihnen in einem unbeobachteten Moment die Zunge herausstreckte. Fast zeitgleich zeigten Annie und Sandy ihm den Mittelfinger. Angeblich war das etwas ganz Schlimmes. Es musste stimmen, weil Mason sie empört anblickte. Ähnlich wie ihr Onkel Jeremy. Er war Pfarrer und vor kurzem hierher versetzt worden.

Auch Annies Grandpa kam kurz danach, gefolgt von Hermes und dessen Ehefrau Beth. Beide waren sehr nett, wobei Hermes sowieso aussah wie der Weihnachtsmann. Heute jedoch wie ein braungebrannter, denn das Paar war gerade in Thailand gewesen.

Annie mochte solche Abende, weil sogar ihr Dad mehr sprach als sonst. Außerdem gab es jede Menge Süßigkeiten, bei denen sie allerdings schnell zugreifen mussten, weil Minnie ordentlich zulangte. Ihr Bauchumfang war dem des Großvaters ähnlich, der sich angeregt mit Harold unterhielt. Dessen Antiquitätenladen befand sich direkt neben Minnies Souvenirgeschäft am Town Hill.

Nachdem die Gäste versorgt waren, holte die Mutter ihr erstes selbstgemaltes Aquarell-Bild, um es mit gespanntem Blick zu präsentieren. Alle klatschten begeistert und überhäuften sie mit Komplimenten. Nur Annies Dad lächelte müde, während er an seiner Zigarette zog.

Annies Mom stellte das Bild mit betrübter Miene beiseite und machte sich am Plattenspieler zu schaffen. Als die ersten Töne erklangen, drehte sie sich erwartungsvoll um und fuhr sich glättend über das gelbe ärmellose Kittelkleid, das sie oft trug. „Wie lange ist es her, Joseph? Drei, vier Jahre?“ Ein verträumter Ausdruck lag in ihrem Gesicht. Das war immer so, wenn sie sich die Lieder der Band Chicago anhörte. „Erinnerst du dich? Im Greek Theatre hat die Luft förmlich gebrannt. Es war ein wundervolles Konzert in Los Angeles.“ Vor einigen Jahren waren Annies Eltern extra deswegen dorthin geflogen und hatten ein paar Tage Urlaub drangehängt. Seitdem hörte Annies Mom manche Lieder rauf und runter. Will You Still Love Me - das gerade lief - und Hard To Say I’m Sorry. Annie konnte die Texte inzwischen fehlerfrei mitsingen. Da sollte Mrs. Wilde noch einmal sagen, sie könne sich nichts merken! „Tanz mit mir, Joseph“, bat die Mutter und nahm seine Hände, um ihn zu sich hochzuziehen. Annies Dad schüttelte jedoch den Kopf. Enttäuscht ließ sie ihn los und setzte sich neben Minnie, die ihr aufmunternd zulächelte. Irgendwie waren plötzlich alle komisch. Vielleicht bekam Sandy deswegen Bauchschmerzen und ging früh ins Bett. Annie hielt es noch ein Weilchen aus, bis auch sie um neun in ihr Zimmer ging.

Kaum im Bett, schlief sie sofort ein, wurde aber irgendwann durch ein Geräusch munter. Müde öffnete sie die Lider. Schemenhaft waren die Straßenlaternen des Dorfes hinter den luftigen Vorhängen zu erkennen. Von unten erklang leises Murmeln. Da, schon wieder! Annie horchte angestrengt, bis ihr bewusstwurde, dass ihre Schwester im angrenzenden Zimmer weinte. Schnell sprang sie aus dem Bett, lief zu ihr hinüber und schaltete das Licht ein. Sandy lag im Bett, die Decke halb auf dem Boden. Das Haar war nass, als würde sie fürchterlich schwitzen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht blickte sie Annie an und hielt sich die Hände an den Bauch. Immer wieder krümmte sie sich zusammen.

„Was ist mit dir?“, rief Annie aus, die sich hilflos fühlte. Gleichzeitig kroch Panik in ihr hoch.

„Mein Bauch tut so weh. Hol bitte Mom und Dad!“

Annie nickte und lief nach unten. Bei ihrem Eintreten verstummten sofort sämtliche Gespräche. Erst jetzt merkte Annie, dass sie weinte und stammelte mehr, als dass sie sprach. Aber kaum zum Ende gekommen, hasteten ihre Mom und ihr Dad nach oben. Annies Grandpa folgte ihnen. Dann ging alles ganz schnell. Im Nu war ein Krankenwagen da. Zeitgleich verließ die Clique das Haus. Kurz danach brachen ihre Eltern zum Krankenhaus auf. Nur Annies Großvater blieb da, an den sich Annie die ganze Zeit über klammerte. Irgendwann schlief sie schließlich erschöpft an seiner Brust ein. Bis sie neuerlich aus dem Schlaf gerissen wurde.

Als Erstes nahm Annie das heftige Zittern ihres Grandpas wahr. Sein schnelles Atmen, als bekäme er kaum Luft, und sein Blick war seltsam starr. Angstvoll löste sich Annie von ihm und bemerkte ihre Mom, die am Türrahmen lehnte. Wachsbleich und weinend. Der Vater stand daneben. Mit rotgeweinten Augen. Er hob die Hand, als ob er ihre Mutter berühren wollte. Doch sie machte eine abwehrende Geste, ehe sie schluchzend nach oben lief …

 

Kapitel 1

Mitte April 2016, 19 Jahre später

 

„Willst du dich ins Grab trinken, Dad? Dann mach nur so weiter!“ Annie stand zitternd vor ihrem Vater, der mit unbeteiligtem Blick in seinem Fernsehstuhl saß. Vor ihm auf dem Glastisch standen leere Bierflaschen und eine halbvolle Schnapsflasche. Zornig zog Annie ihre Jeansjacke mit den bunten Buttons am Revers aus, warf sie auf den ovalen Esstisch nahe der Küchentür und stellte sich demonstrativ vor ihn hin.

„Geh mir aus dem Bild“, lallte er und machte eine Bewegung, als würde er eine lästige Fliege verscheuchen. „Und verschon mich mit deinen Vorwürfen.“

„Ist das der Dank dafür, dass ich deinetwegen meine Zukunftspläne aufgegeben habe?“, erboste sich Annie und machte keine Anstalten, seiner Aufforderung nachzukommen. „Hast du eigentlich irgendeine Ahnung, wie sehr ich darunter leide? Seitdem ich ein kleines Mädchen war, habe ich davon geträumt, Großvaters Geschäft weiterzuführen. Jetzt stehe ich vor dem Nichts, und muss zusehen, wie ich unseren Lebensunterhalt bestreite.“

„Keiner hat gesagt, dass du das tun musst.“

„Ach ja? Wer von uns beiden hat denn horrende Schulden gemacht?“

„Du kannst jederzeit gehen, wenn es dir nicht passt.“

„Sicher“, erwiderte Annie höhnisch, „und kaum bin ich fort, rufst du mich wieder an und drohst damit, dich umzubringen.“

„Meine Art von Humor solltest du inzwischen kennen.“

„Das ist nicht witzig, Dad!“ Sein Anblick war kaum zu ertragen. Abgemagert saß er vor ihr und wirkte dem Tod näher als dem Leben. Die grauen Haare waren fettig und hatten schon lange keinen Friseur mehr gesehen. Ein ungepflegter Bart wucherte am Kinn und an den Wangen, seine braunen Augen lagen in tiefen Höhlen, die Tränensäcke quollen hervor und tiefe Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben. Noch dazu stank er nach billigem Schnaps. Als wäre seine Alkoholsucht nicht genug, rauchte er wie ein Schlot. Auch jetzt hätte man die Luft im Wohnzimmer schneiden können, und wie üblich schwammen aufgeweichte Stumpen in der halbvollen Kaffeetasse vor sich hin.

„Reiß dich endlich zusammen, Dad!“, herrschte Annie ihn an, weil sie dieses Dahinvegetieren nicht mehr aushielt. „Ich hätte ebenfalls jeden erdenklichen Grund zu trinken, aber mache ich es? Nein! Weil Alkohol nicht die Lösung ist, sondern ein weiteres Problem. Eins, das alles nur verschlimmert.“

„Die Menschen sind verschieden.“ Er neigte sich etwas zur Seite. „Außerdem ist dieses Scheißleben im Suff leichter zu ertragen. Und jetzt lass mich gefälligst in Ruhe. Ich will den Film schauen.“

Annie wandte sich zum Fernseher und blickte auf die heile Welt, die über den Bildschirm flimmerte. Früher hatte der Vater nie verstanden, warum Annies Mutter für Romanzen schwärmte. Seitdem sie nicht mehr da war, schien er anders zu denken, und versäumte keinen einzigen Film.

„So kann es nicht weitergehen, Dad“, sagte Annie leise, als sie ihn wieder in Augenschein nahm. Wie üblich reagierte er nicht und sie war es leid, ihm ständig ins Gewissen reden zu müssen. Deshalb verzog sie sich in die Küche und bereitete das Abendessen vor. Spiegelei mit Spinat. Ein dürftiges Essen, doch leider mussten sie jeden Cent umdrehen. Zwar hatte sie zwei Putz-Jobs, aber der Verdienst war lediglich ein müdes Lächeln wert, weil kaum etwas übrigblieb. Immerhin musste sie die Wettschulden des Vaters abstottern, der zu allem Überfluss das Wenige versoff, das sie mühsam verdiente. Nicht, dass er Zugang zum Konto hätte oder in St. Agnes etwas zu trinken bekam, trotzdem schaffte er es immer wieder, den Karren noch tiefer in den Dreck zu ziehen. Wetten konnte man auch übers Internet. Deswegen versteckte Annie neuerdings das Modem, sodass ihm der Zugang fehlte. Sein Handy lag ohnehin mit leerem Akku in einer Schublade, wobei es sogar aufgeladen keine Gefahr bedeutet hätte. Es handelte sich um ein prähistorisches Modell, das ausschließlich zum Telefonieren gebaut wurde. Wo er sich den Alkohol besorgte, blieb Annie jedoch ein Rätsel. Wenigstens war in letzter Zeit nichts mehr zum Schuldenberg dazugekommen.

Missmutig schob Annie die Schublade mit der Hüfte zu und zerstampfte den gefrorenen Spinat im kleinen Topf. Dann legte sie den Kochlöffel neben den Herd, holte das Haargummi aus ihrer Jeans und verknotete damit ihr langes Haar im Nacken. Ob sie nachher joggen gehen sollte? Obwohl ihr nach dem anstrengenden Arbeitstag die Lust dazu fehlte, musste sie sich auspowern, sonst würde sie allmählich verrückt werden. Davon abgesehen täte ihr etwas Sport gut, weil sie sich Kummerspeck zugelegt hatte. Leider war ihr innerer Schweinehund noch nie so stur gewesen. Ohnehin hatte sie kaum Zeit für irgendwelche Hobbys. Dabei hatte sie früher gern fotografiert oder gelesen und zählte zu den Stammgästen in der örtlichen Bücherei. Mrs. Wilde würde vor Freude im Dreieck springen, dass sie freiwillig ein Buch in die Hand nahm. Tja, sobald man etwas nicht mehr tun musste, machte es eben Spaß.

„Es tut mir leid, Annie“, ertönte plötzlich die heisere Stimme des Vaters hinter ihr. „Aber du hast keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man alles verloren hat.“

„Oh doch, Dad, das kann ich bestens nachempfinden.“ Annies Groll wuchs wieder.

„Ach ja?“, begehrte er auf, „hat dich auch die Liebe deines Lebens verlassen?“ Ihr Vater hatte wohl Roger Sanders vergessen! „Deine Mutter war alles für mich. Nichts wollte ich mehr, als mit ihr alt werden. In guten wie in schlechten Zeiten. Aber sie musste sich ja unbedingt als Malerin selbst verwirklichen.“

„Du hast ihre Kunst nie ernst genommen. Dabei ist Mom wirklich talentiert.“ Derzeit stellte sie in einer renommierten Galerie in New York aus. Das wusste Annie von ihrem Onkel Jeremy, der regelmäßig Kontakt zu ihrer Mutter hatte. Sie hingegen war froh, wenn sie nichts von ihr hörte, da sie sich im Stich gelassen fühlte. Deswegen mied sie ihr einstiges Atelier unter dem Dach und nahm selten einen Anruf an, wenn sich ihre Mom meldete. Tat sie es doch, verliefen die Gespräche ziemlich einsilbig. Annie hatte ihr wenig zu sagen, denn die Mutter lebte ihren Traum, sie hingegen war in der Hölle gelandet. Mit diesen und weiteren Vorwürfen endeten die Telefonate meistens, was sie mitunter traurig machte, da sie ihre Mutter andererseits vermisste. Aber sie als Schuldige zu sehen war im Augenblick erträglicher.

„Ja, ja, hilf nur zu Mary. Wie alle im Ort.“

„Bloß, weil ich ihr Talent sehe, heißt das noch lange nicht, dass ich mich auf Moms Seite stelle.“ Annie schob Pfanne nebst Topf von den Herdplatten und schaltete sie aus, bevor sie sich umdrehte. Der Vater lehnte am abgewetterten Türrahmen und hatte sichtlich Mühe, das Gleichgewicht zu halten. „Auch im Ort stellt sich keiner auf Mutters Seite. Das bildest du dir ein“, sagte sie betont sanft. In diesem Zustand konnte man ohnehin kaum vernünftig mit ihm reden.

„Das bildest du dir ein“, äffte er Annie nach und lachte spöttisch auf. „Denselben Wortlaut hast du vor zwei Jahren benutzt.“

„Weil ich nicht einmal im Traum gedacht hätte …“ Annie hob hilflos die Arme und erinnerte sich daran zurück, als ihr Vater völlig aufgebracht vom Gerücht erzählte, dass ihre Mom eine Affäre habe. Mit Kurt, einem Aktmodell! Ausgerechnet sie, die völlig in ihrem Dasein als Mutter und Hausfrau aufgegangen war. Doch das war ein Trugschluss gewesen. In Wahrheit musste sie schon lange mit ihrem Leben gehadert haben. Wie sonst ließ sich diese Hals-über-Kopf-Liebe erklären? Kaum aufgeflogen, hatte ihre Mutter die Koffer gepackt und war mit ihrem halb so alten Lover nach Amerika geflogen, um dort ein neues Leben zu beginnen. Vor einigen Monaten reichte sie schließlich die Scheidung ein. Der endgültige Todesstoß für ihren Dad. Bis dahin hatte er sicherlich gehofft, dass sie zurückkommen würde. „Mom hat sich die Entscheidung sicher nicht leicht gemacht“, versuchte Annie eine Erklärung, die selbst in ihren Ohren nach lapidarem Trost klang. Aber wenn es half, damit sich der Vater besser fühlte …

„Von wegen! Innerhalb von einer halben Stunde hat sie unser ganzes Leben auf den Kopf gestellt“, wurde er lauter. „Kurt, der dreißigjährige Muskelprotz. Kurt, der Frauenversteher und Kurt, der Kunstkenner. Noch dazu ist der Typ lediglich ein Jahr älter als du! Hätte ich ihr doch niemals den Gutschein für diesen Malkurs geschenkt. Dann wäre Mary noch hier und unser Leben würde in geordneten Bahnen verlaufen.“

Annie seufzte. Ihre Mutter war damals regelrecht aufgeblüht, nachdem der Malkurs in der Nachbargemeinde begonnen hatte. Fälschlicherweise war sie der Meinung gewesen, dass ihr plötzlicher Enthusiasmus daher rühren würde, dass sie sich endlich vom Vater ernst genommen fühlte. Bis dahin hatte er ihre kleinen Ausstellungen im Ort oder in der Umgebung eher amüsiert zur Kenntnis genommen und ihre Kunst als lächerliches Hobby abgetan. „Mom war schlichtweg unglücklich. Wir haben es bloß beide nicht gemerkt.“ Zum ersten Mal rief sich Annie bewusst vor Augen, dass nicht nur die Mutter Fehler gemacht hatte, und dachte an ihre Kindheit. An die vielen Situationen, in denen ihr Mom traurig gewirkt hatte, weil der Vater ihr keine Beachtung schenkte. In derselben Sekunde schob Annie die Erinnerungen jedoch weit von sich. Fehlte noch, dass sie Mitleid mit ihr bekam oder Verständnis entwickelte. Immerhin ging es ihrer Mom im Gegensatz zu ihnen blendend.

„Deine Mutter war glücklich!“, beharrte der Vater. „Bis ihr dieser schleimige Adonis schöne Augen machte.“

Annie lehnte sich an die Arbeitsfläche und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ihr seid nicht die Einzigen, die sich scheiden lassen, Dad.“

„Siehst du, und das ist mein nächstes Problem. Wozu die Eile?“ Davon konnte wirklich keine Rede sein! „Soll sie sich meinetwegen austoben, so lange sie zu mir zurückkommt. Aber was, wenn sie diesen Kurt heiraten will?“ Er klang so verletzt, dass Annies Herz überfloss vor Mitleid. „Entschuldige, schon wieder belaste ich dich mit meinem Kram.“ Er wischte sich mit dem Handrücken über die hohe Stirn. „Du mühst dich ab und ich bemitleide mich selbst.“

„Schon gut, Dad.“

„Nein, nichts ist gut! Meine Tochter geht putzen, statt dass sie das Geschäft ihres Großvaters weiterführt.“ Er musterte sie. „Und wenn ich dir in die Augen sehe, erkenne ich dieselbe Traurigkeit wie bei Mary.“ Als könnte er ihrem Blick nicht länger standhalten, fixierte er seine Hauspantoffeln, die einige Brandflecke aufwiesen. „Es ist nicht einfach, eigene Fehler zuzugeben und in meinem Fall reden wir von vielen. Mein größter war, dass ich zu wenig auf deine Mutter eingegangen bin. Aber jetzt ist es zu spät. Andererseits kann sie froh sein, dass sie mich los ist. Ich bringe allen nur Unglück.“

Sämtliche Alarmglocken schrillten in Annie und nackte Angst erfasste sie.

„Dad, du drohst jetzt nicht wieder damit, dass du dich …“

„Keine Sorge“, unterbrach er sie, „wenn ich mich erhängen will, sage ich dir vorher nicht mehr Bescheid.“

„Wie beruhigend.“ Annie schüttelte den Kopf.

„Du solltest endlich dein eigenes Leben führen“, sagte er plötzlich leise.

„Das mache ich doch.“

„Nichts tust du, Annie. Glaubst du, ich weiß nicht, welche Opfer du bringst? Ich könnte mich ohrfeigen, dass ich dir das antue. Aber ich kann nicht aus meiner Haut.“

Natürlich hätte sie gehen können, doch was dann? Sie war die Einzige, die ihm Halt geben konnte und fühlte sich für ihn verantwortlich.

„Jede Nacht wünsche ich mir, dass ich das Rad der Zeit zurückdrehen könnte“, gab der Vater zu. Diese Offenheit war neu für Annie. Damit schuf er eine Nähe, die sie lange nicht mehr hatten. „Jede verdammte Nacht, wenn ich im Bett liege und auf die leere Seite starre.“ Er hatte Tränen in den Augen. „Mary hat mich oft zur Weißglut gebracht mit ihrem Schnarchen, dem ständigen Aufstehen mitten in der Nacht, weil sie aufs Klo musste - oder mit ihrer Schlaflosigkeit. Aber genau das vermisse ich.“

Annie trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die knöchrige Schulter. „Du musst sie endlich loslassen, Dad, bevor es zu spät ist. Ich will dich nicht auch noch verlieren.“

„Keine Angst, das wirst du nicht“, versprach er und lächelte zaghaft.

„Doch, Dad.“ Sein leidvolles Gesicht verschwamm vor Annies Augen. „Jeden Tag verliere ich dich ein bisschen mehr. Darum bitte ich dich inständig, einen Entzug zu machen.“ Es war ausgesprochen, bevor Annie darüber nachdenken konnte. Im Nu verfinsterte sich seine Miene. Gleichzeitig schob er ihre Hand weg. Sie hätte es besser wissen müssen. Bei diesem Thema machte er stets dicht.

„Ich bin kein kleiner Junge mehr, sondern dein Vater. Davon abgesehen habe ich mein Trinkverhalten im Griff und könnte jederzeit damit aufhören. Ich will aber nicht. Jedenfalls nicht heute.“ Er machte kehrt und wankte ins Wohnzimmer zurück. Annie blickte ihm nach und gratulierte sich innerlich für ihre Feinfühligkeit. Da waren sie sich endlich seit Langem wieder nahe und sie tat nichts Besseres, als alles zu vermasseln!

 

 

 

 

Jack hatte das Gefühl, auf dem Mars gelandet zu sein. Zumindest erinnerte ihn die Eintönigkeit dieses Landstrichs stark daran. Fehlten lediglich Krater, dann wäre es perfekt.

„Und? Wird das heute noch etwas, Michael?“, fragte er seinen Assistenten, der bei der offenen Motorhaube der Luxuslimousine stand, aus der bis vor kurzem Rauch gestiegen war.

„Bin ich Mechaniker?“, kam es unmutig zurück. Michael hatte die Ärmel seines edlen Designerhemdes zurückgerollt. Grob wischte er sich über die Stirn und hinterließ Motorschmiere darauf - oder was immer das war. Jack hatte keine Ahnung. Für solche Dinge gab es reihenweise Laufburschen in ihrer Firma.

„Das ist nicht das, was ich hören wollte“, schimpfte Jack mit Blick auf seine zwölfjährige Tochter Leni, die lässig an der Limousine lehnte und aufs Handy starrte. Dabei sausten ihre Daumen so schnell über die Tasten, dass er kaum folgen konnte. „Mach endlich das Ding aus, Leni!“

„Null Bock“, erwiderte sie ohne hochzublicken.

„Könntest du bitte in ganzen Sätzen mit mir sprechen?“ Wie er das hasste. Ihre Generation kürzte alles ab. Außerdem trafen sich die jungen Leute nur noch virtuell im Netz. Sport hieß für sie Surfen - und zwar im Internet - und Gefühle wurden über Emojis ausgedrückt.

„Scheiße, die Internetverbindung ist unterbrochen“, entfuhr es Leni, die kurz hochblickte. Vermutlich auf der Suche nach einem Sendemast.

„Wie wäre es, wenn du mir zur Abwechslung so viel Aufmerksamkeit schenken würdest wie deinem Handy?“ Jack fuhr sich unwirsch durch das Haar.

„Wozu?“ War das ihr Ernst? „Ich wollte ohnehin nicht mit nach England.“ Seine Tochter zog einen Schmollmund. „Wann gibt es eigentlich etwas zu essen?“

Jack war durch und durch ein hartgesottener Geschäftsmann. Allerdings musste er zugeben, dass ein Zwanzig-Stunden-Tag nicht halb so anstrengend war wie seine pubertierende Tochter. „Sieht es für dich irgendwie danach aus, als ob es in der Nähe ein Restaurant geben würde?“ Er machte eine ausladende Handbewegung.

„Hinter dir ist doch ein Hotel, oder?“

Jack wandte sich kurz um.

„Diese Baracke nennst du Hotel?“ Das desolate vierstöckige Haus wirkte wie ein Überbleibsel aus irgendeinem Krieg. Lose Kabel hingen aus der Mauer, wo vermutlich irgendwann Freilampen angebracht gewesen waren. Über dem abgewetterten Eingang hing ein windschiefes Schild mit der Aufschrift Last Inn. Letzte Einkehr, letztes Gasthaus - das glaubte Jack unbenommen, da es außer diesem Haus weit und breit nichts gab als kornische Natur, wohin das Auge reichte. „In einer Stunde sind wir im Fünf-Sterne-Hotel. Deshalb ist dieses vorsintflutliche Etwas keine Option für uns, Leni.“

„Ach, Dad, mir knurrt der Magen und ich bin müde.“

„Ich glaube sowieso nicht, dass wir mit der Limousine heute noch irgendwohin kommen“, ließ Michael verlauten. Jack und er waren vierzig Jahre alt und hatten gemeinsam studiert. Ein schlauer Bursche mit dem Handicap, dass er klang, als wäre er von Geburt an mit Zigarren gefüttert und mit Whiskey ruhiggestellt worden. Dabei mochte Michael weder das eine noch das andere, sondern war bei einer Mandeloperation in jungen Jahren an den Stimmbändern verletzt worden. „Wir sitzen hier fest, da ist nichts mehr zu machen, denn um unser Problem zu lösen, fehlt mir das nötige Know-how.“

„Dann müssen wir eine Werkstatt anrufen.“ Jack nahm seine spiegelverglaste Brille ab und schob sie in die Innentasche seiner dunkelblauen Anzugjacke.

Michael blickte auf die goldene Armbanduhr. „Das kannst du vergessen. Es ist fast sieben. Die sind bestimmt alle im Feierabend.“ Auch er ließ den Blick kurz durch die Gegend schweifen. „Es ist ohnehin fraglich, ob es in der Nähe eine Werkstatt gibt. Deshalb sollten wir im Hotel einchecken.“

„Das ist nicht dein Ernst“, regte sich Jack auf. „Außerdem bezahle ich dich dafür, dass du Lösungen findest, und nicht beim ersten Widerstand einknickst.“

„Wir können gerne zu Fuß gehen, eine Bushaltestelle suchen oder uns ein Taxi rufen. Aber ich bin ehrlich gesagt ebenfalls zu müde, um hier dumm rumzustehen.“ Michael rollte die Ärmel hinunter. Er genoss eine gewisse Narrenfreiheit, da er auch Jacks bester Freund war. „Der Flug hat mich ziemlich geschlaucht. Also lass uns hierbleiben und das Beste daraus machen. Hauptsache, wir haben ein Dach über dem Kopf.“

„Mich kriegen auch keine zehn Pferde mehr von hier weg“, mischte sich zu allem Überfluss Leni ein, die ihrer Mutter mit den langen brünetten Zöpfen, der Stupsnase und ihrer Vorliebe für grelle Farben sehr ähnlich war. Sogar das kleine Muttermal über dem rechten Auge hatte sie mit Carol gemeinsam und nur wenige Zentimeter, dann würde Leni dieselbe Körpergröße haben. Innerhalb eines Jahres war seine Tochter extrem in die Höhe geschossen. „Außerdem hängt mein Magen schon durch.“

„Könntest du dich gewählter ausdrücken?“, rügte Jack sie.

„DN.“ Sie rollte mit den Augen.

„Darf man fragen, was das heißen soll?“ Jack bemerkte, dass Michael grinste. „Gut, wenn es mir meine Tochter nicht sagen möchte, erkläre du es mir.“

„Du nervst.“

„Dir ist schon klar, dass du mit deinem Chef sprichst?“

„Wieso? Du wolltest, dass ich Lenis Aussage übersetze.“ Michael warf die Motorhaube zu.

„Super, Michael“, erboste sich Leni, „musst du alles verraten?“

Jacks Freund grinste. „Dafür werde ich bezahlt. Was ist jetzt, Jack? Glaubst du, dass du eine Nacht in dem Hotel überstehen kannst?“

Sein Freund wusste, dass er viel von Ordnung und Sauberkeit hielt. Er war eben ein ästhetischer Mensch mit gewissen Prinzipien. Egal, in welcher Beziehung. „Meinetwegen“, stimmte Jack zu, da sie in der Tat auf die Schnelle keine andere Wahl hatten. Aber kaum im Last Inn, bereute er seine Entscheidung sofort. In der Lobby standen ausrangierte Armsessel herum, die sicher vom Flohmarkt stammten. Vor der Rezeption verstaubte ein Servierwagen mit dreckigem Geschirr. Wenigstens war die junge Dame freundlich, die ihnen drei Einzelzimmer zuwies.

Im übrigen Hotel sah es nicht viel besser aus. In den langen Gängen mit dem Teppich in verschiedenen Rottönen - was schrecklich zusammengeflickt aussah - funktionierte nur jede dritte Lampe. Der Lift war außer Betrieb und allerorts standen verdorrte Blumen.

Nachdem Leni und Michael in ihre Zimmer verschwunden waren, betrat Jack seins, das direkt neben dem seiner Tochter lag. Obwohl er auf alles gefasst war, traf ihn beinahe der Schlag. Der Raum war potthässlich mit den uralten Möbeln. Die ockerfarbenen Vorhänge waren eine Qual für seine sensiblen Augen, die rosafarbene Bettwäsche eine Zumutung für jeden gestandenen Mann. Von den vielen Flecken ganz abgesehen, die sich auch im blauen Sofa und dem aschgrauen Teppich zeigten. Leider ging der Wahnsinn weiter, denn das Bad hätte ohne weiteres als Dixi-Klo durchgehen können. Die weißen Standardfliesen waren ein Mekka für Schimmel und überall lagen Haare. Die Klospülung war ein Witz, denn die paar Tropfen beförderten höchstens eine tote Mücke in den Abfluss. Eine Klobürste gab es nicht, genauso wenig wie einen Duschvorhang. Das Waschbecken brach beinahe aus der Verankerung und der Spiegel war voller Schlieren.

Plötzlich hatte Jack das Gefühl zu ersticken, riss die Balkontür auf und trat hinaus. Mit skeptischem Blick auf den knarrenden Holzboden und in Gedanken bei seiner Arbeit, die unter keinem guten Stern begann. Dabei hatte er alles minuziös geplant und sein erstes Geschäft wäre vermutlich bereits unter Dach und Fach.

Hoffentlich sprang Hermes Winter nicht ab, dessen Villa er kaufen wollte, um sie anschließend abreißen zu lassen. Das Grundstück war ein optimaler Standort für ein Luxushotel. Danach waren Büro- und teure Wohnkomplexe an der Reihe, je höher desto besser. Dazu würde er in St. Agnes leerstehende Gebäude aufkaufen, wofür sie in Amerika bereits eine Liste erstellt hatten. Darunter auch das kleine Geschäft an der Küstenstraße, in dem ein Casino entstehen sollte. Auf dieses Projekt freute er sich besonders.

Jack spürte ein Kribbeln im Bauch. Wie immer, wenn er vor neuen Herausforderungen stand. Ja, so liefen lukrative Geschäfte ab. Man erwarb günstigen Besitz und stampfte ein Luxusgebäude nach dem anderen aus dem Boden. Ein paar VIPs, die sich den Urlaub teuer bezahlen ließen, einige Events und schon hatte man einen Hot-Spot wie Saint Tropez oder Cannes. Dadurch schnellten die Grundstückspreise in die Höhe und letztendlich fuhr ihre Firma satte Gewinne ein, sobald sie die Liegenschaften wieder verkauften. Auch in Wales und Yorkshire hatten sie ähnliche Projekte ins Auge gefasst. Aber eins nach dem anderen. Zuerst war St. Agnes dran und es wäre doch gelacht, wenn man aus diesem popligen Dörfchen keine Goldgrube machen könnte!

 

 

 

 

Annie starrte auf das keltische Grabkreuz und dachte an jene zwei Menschen, die hier ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Ihr Grandpa und Sandy. Letztendlich war ihre Schwester an einem Blinddarmdurchbruch gestorben.

Ihr Grandpa hatte es ihr damals gesagt. Er war es auch gewesen, der sie fest in seinen Armen hielt, weil sie wild um sich geschlagen hatte. Zu unglaublich war es gewesen, dass Sandy nie wieder kommen würde.

In den Tagen danach hatte Annie dennoch im Schuppen auf sie gewartet. Stundenlang, denn dort lehnte ihr Surfbrett. Nachts war sie oft in Sandys Zimmer geschlichen, hatte deren Lieblingspyjama angezogen und sich in ihr Bett gelegt. Einmal hatte die Mutter sie dabei erwischt und einen hysterischen Anfall bekommen. Damals wusste Annie nicht, weshalb. Heute war ihr klar, dass es ein Schock für ihre Mom gewesen sein musste. Als wäre Sandy zurückgekehrt …

Es war schwierig gewesen, damit umzugehen. Für sie alle, denn die Mutter schaffte es anfangs nicht, Annie den nötigen Halt zu geben. Ihr Dad war ohnehin nie ein Mann vieler Worte gewesen. Irgendwann kehrte jedoch der Alltag ein und mittlerweile erinnerte sich Annie an die schönen Dinge. An den Spaß, den sie bei den traditionellen Festen gehabt hatten. Ob beim Bolster Festival, dem St. Agnes Victorian Street Fayre oder dem Fest der Heiligen Agnes. Auch jedes einzelne Muschelglas war noch da. So wie in Sandys Kinderzimmer alles unverändert blieb, die immer ein Teil von ihr sein würde.

Sandy fehlte ihr unbändig. Ebenso wie ihr Grandpa, der vor einigen Jahren an Krebs gestorben war. Nun hatte Annie sein Geschäft alleine geerbt. Leider war es in keinem guten Zustand und ziemlich renovierungsbedürftig. Aber ihr fehlten die Mittel, um sich dem anzunehmen, obwohl sie jahrelang jeden Cent beiseitegelegt und sogar an den Wochenenden gekellnert hatte. Leider war alles den Wettschulden zum Opfer gefallen, und als hätte das Pech bei ihr angedockt, verlor sie vor kurzem sogar ihren Job bei einem Juwelier. Er musste Konkurs anmelden.

Weil der Arbeitsmarkt in St. Agnes derzeit nicht viel hergab, hatte sie in der Not zwei Putz-Jobs angenommen. Nicht gerade ihr Traum, aber sie musste nehmen, was sie kriegen konnte, denn das Geschäft des Großvaters diente als Sicherheit für den Kredit, der sich zurzeit auf über zwanzigtausend Pfund belief. Ihr Erspartes war nur ein Tropfen auf dem heißen Stein gewesen. Weit hatte sie es wirklich nicht gebracht und gab ein trauriges Bild ab. Eine neunundzwanzigjähre Schmuckdesignerin, die putzen ging, statt das Lebenswerk des Großvaters weiterzuführen.

Seufzend blickte Annie zur Trevaunance Bucht hinunter. Auch ihr Elternhaus auf der Anhöhe und das Cottage ihres Grandpas - das mittlerweile andere Eigentümer hatte - konnte sie von hier sehen. Ihre Mom hatte es verkauft, um sich damit den Start in Amerika zu finanzieren. Jeremy war ziemlich sauer gewesen, da er sehr an seinem Elternhaus hing. Ihrem Onkel waren jedoch die Hände gebunden, weil er sich den Erbteil bereits als junger Student auszahlen lassen hatte. Mit dem Geld bereiste er die ganze Welt, hatte vermutlich nichts ausgelassen und schlug irgendwann den kirchlichen Weg ein. In Tibet habe er plötzlich seine Berufung gespürt, meinte er einmal. Und da er ein Diener Gottes war, hatte er sich natürlich längst mit Annies Mom ausgesöhnt.

Kinder spielten vor dem kleinen Cottage, das im Abendrot lag. Wie die wilden Klippen und das Meer. Der übliche Wind herrschte vor und gab Annie das Gefühl, wieder frei atmen zu können. Im Elternhaus hatte sie es nicht mehr ausgehalten, da ihr Vater nach dem Abendessen weitertrank. Als sie ihm das Bier wegnehmen wollte, beschimpfte er sie, weshalb sie die Flucht ergriff. Mit dem alten Damenrad ihrer Mutter war sie losgefahren und fand sich nun am Friedhof wieder. Ein Ort, an dem sie jene Ruhe fand, die sie dringend brauchte. Nie zuvor hatte sie sich jedoch mehr gewünscht, Sandy oder ihren Grandpa bei sich zu haben. Die Situation wuchs ihr allmählich über den Kopf. Nicht nur finanziell, vor allem die Eskapaden des Vaters setzten ihr zu. So sehr, dass sie sich zum ersten Mal weit weg von St. Agnes wünschte …

Mit brennenden Augen schaute Annie zu den Schiffen, die weit draußen wie kleine Punkte im Wasser trieben. Eigentlich lebte sie ja gerne hier an der Nordküste Cornwalls. Die Grafschaft konnte herrisch sein, mild und rau, still und voller Geheimnisse - aber vor allem war Cornwall malerisch. Besonders im Spätsommer. Diese Jahreszeit liebte Annie am meisten. Lebhafte bunte Farben beherrschten die Küste und das Hinterland. Das Meer wurde stürmischer, die Luft klarer. Das Licht schien anders. Der Himmel intensiver, das Meer tiefgründiger. Herrliche Heide- und Stechginsterteppiche färbten die Plateaus gelb-violett. Cornwall - und vor allem St. Agnes - waren unvergleichlich, trotzdem war Annie unglücklich.

Schniefend ging sie in die Hocke und ordnete die mitgebrachten Tulpen in der Vase. Eine Weile starrte sie auf die blassrosa Blüten, bis sie sich erhob und zum Fahrrad ging, das an der Bank lehnte. Zwar hatte sie keine Lust nach Hause zu fahren, aber bald würde es dunkel werden und davor graute ihr. So beschaulich St. Agnes war, vor Übergriffen konnte man nirgends sicher sein. Allerdings schrieb Annie ihre Angst eher dem Umstand zu, dass sie sich ständig Medical Detectives im Fernsehen anschaute. Eine Serie über Morde und deren Aufklärung.

Hastig stieg Annie auf das beige Rad, dessen Lenker sie mit einigen Glitzersteinen verziert hatte, und schob es zur Straße. Nachdem sie aufgestiegen war, radelte sie los. Ein kurzer, steiler Anstieg folgte, der sie heftig keuchen ließ. Wieder nahm sie sich vor, mehr Sport zu treiben. Als die Straße abschüssiger wurde, vergaß Annie den Vorsatz wieder und fuhr an den kleinen Läden und Cafés vorbei. Einige Menschen standen auf den Gehsteigen, die ihr zuwinkten. Man kannte sich in diesem Küstendorf, das an der Hauptstraße zwischen Perranporth und Redruth lag.

„Annie-Schätzchen, so spät noch unterwegs?“ Auch Hermes winkte ihr zu, der gerade aus dem Melodys kam. Das Café war sein Stammlokal.

„Ich bin auf dem Nachhauseweg“, erklärte sie und bremste ab, als sie ihn erreicht hatte. „Und du? Hast du dich mit der Clique getroffen?“

„Erraten.“ Hermes lächelte.

„Und jetzt suchst du deine Rentiere, um heimzukommen, Santa Claus?“, zog sie ihn auf. Im Wissen, dass sich Hermes seit jeher königlich darüber amüsierte, dass sie ihn als Kind mit dem Weihnachtsmann verglichen hatte. Mittlerweile war sein Rauschebart gänzlich weiß und er strahlte die Weisheit des Alters aus.

„Irrtum. Ich darf auf Minnies Besen heimfliegen“, konterte er lachend.

Annie schaute zum Café. „Wenn sie das gehört hat, kannst du dich warm anziehen. Am Ende drückt sie dir ihre gefürchteten Stahlkekse aufs Auge.“

Erneut lachte er auf. „Keine Angst, heute hat die Gute ihre Ohren nicht überall. Minnie unterhält sich gerade mit Rose Grant. Die beiden sind neuerdings so.“ Er hob die Hand, wobei er Zeige- und Mittelfinger überkreuzte.

„Meinst du etwa Hokuspokus-Rose, die aus dem Kaffeesatz liest?“, fragte Annie lächelnd. Unter diesem Spitznamen kannte man die Fünfzigjährige im ganzen Ort. Vor einem Jahr war sie nach St. Agnes gezogen und Annie sah sie bislang nur von Weitem. Allein das Erscheinungsbild genügte jedoch, um sich nachhaltig im Gedächtnis einzubrennen. Von Roses Tick - sie sei eine weiße Hexe mit hellseherischen Fähigkeiten - ganz zu schweigen.

„Genau die. Allerdings ist Rose, abgesehen von ihrem Spleen, sehr nett und wenn Minnie sie akzeptiert, muss sie in Ordnung sein. Du kennst unsere neugierige Nase ja. Jedes neue Gesicht wird auf Herz und Nieren geprüft.“ Ernster werdend musterte er Annie. „Du siehst allerdings nicht aus, als würde dich das sonderlich interessieren. Gibt es Ärger mit deinem Dad?“ Nicht einmal Hermes hatte noch Kontakt mit ihm. Das galt ebenso für den Rest der Clique. Sie alle wollten ihrem Dad beistehen, der sie jedoch ersatzlos aus seinem Leben gestrichen hatte.

„Das Übliche“, wich Annie aus, denn sie wollte nicht jammern. Ohnehin gab es nichts Neues zu erzählen und ihre Sorgen musste sie nicht ständig vor allen breittreten. Egal, wie sehr sie die Clique mochte. Ihr einziger Ansprechpartner war Jeremy, der als Gemeindepfarrer sowieso für seine Schäfchen da sein musste. Noch dazu durfte er nichts ausplaudern. „Und bei dir? Fährst du wieder weg?“ Hermes reiste Ende April gerne irgendwohin, seitdem er Witwer war.

Gerade, als er antworten wollte, läutete sein Handy. Ungelenk holte er es aus der Seitentasche seiner braunen Cordhose. „Hallo?“, meldete er sich und wandte Annie den Rücken zu. „Nein, das ist kein Problem.“ Er horchte kurz zu. „Morgen Nachmittag? Meinetwegen. Aber ich habe nicht zugesagt. Ja, ja, hetzen Sie mich nicht, sonst können Sie es gleich vergessen.“ Erneut war er still. Dabei nickte er ein paar Mal. „Hören Sie, das können wir morgen besprechen. Ich bin gerade auf dem Weg zur Kirche. Bis dann.“ Mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht wandte er sich wieder Annie zu und steckte das Handy ein.

„Alles in Ordnung?“, forschte sie nach. „Soll ich vielleicht morgen nach meiner Schicht zu dir kommen?“

„Warum? Du hast erst gestern bei mir geputzt.“

„Ich dachte nur. Immerhin bekommst du Besuch.“ Ihre zweite Putzstelle hatte sie bei Hermes, der sie vermutlich eher aus Mitleid eingestellt hatte, als dass er tatsächlich jemanden brauchte. „Ich könnte einen Kuchen backen oder dir anderweitig helfen.“

„Nein“, kam es hastig zurück. „Das schaffe ich schon.“ Plötzlich schien er nervös. „Annie, ich bin sehr zufrieden mit deiner Leistung. Nichts desto trotz hoffe ich, dass du über kurz oder lang eine angemessenere Stelle findest.“

„Willst du mir etwas Bestimmtes damit sagen?“, wurde ihr angst und bange.

„Ich denke nur an deine Zukunft, Kleines. Und jetzt muss ich los. Ein alter Mann wie ich braucht seinen Schlaf. Wir sehen uns übermorgen.“

„Natürlich. Ich werde pünktlich bei dir sein.“

Sein Grinsen nahm ihr die Furcht, dass sich etwas über ihrem Kopf zusammenbraute. „Ich weiß. Wie immer auf die letzte Sekunde.“ Hermes zwinkerte ihr zu, dann eilte er zum Parkplatz auf der anderen Straßenseite. Annie blickte ihm kurz nach, bevor sie wieder emsig in die Pedale trat.

Zuhause angekommen stellte sie das Rad in den Schuppen und schaute zum Surfbrett, das vor sich hin rottete. Seufzend verharrte sie kurz. Dann schloss sie die Tür hinter sich, eilte zum Hauseingang und warf einen schnellen Blick zur Bucht hinunter. Hinter den Fenstern des Breakers Beach Café brannte Licht, da es mittlerweile dämmrig war. Ob Roger die Frechheit besaß und mit seiner Trish sogar in ihrem Stammlokal verkehrte? Ihr Ex wusste, wie viel ihr dieser Ort bedeutete, der mit unzähligen wunderbaren Erinnerungen gespickt war. Häufig waren sie dort gewesen, obwohl Roger lieber auf seinem Fahrrad saß, als in einem Lokal. Oder er pumpte im Fitness-Studio seine Muskeln auf, die er regelmäßig auf dem Tennisplatz spielen ließ. Wer brauchte ein T-Shirt, wenn man mit nacktem Oberkörper auf dem Platz glänzen konnte? All das, und vieles mehr, hatte er lieber getan, statt sich mit ihr einen malerischen Sonnenuntergang oder das Sternenzelt bei klarem Nachthimmel anzusehen. Ließ er sich dennoch dazu überreden, zerstörte er nicht selten die Stimmung, indem er die Sache mit dem Karussell aufwärmte oder sie wegen ihrer Unsportlichkeit aufzog.

Nein, romantisch war Roger nie gewesen. Zumindest nicht während ihrer Beziehung. Seitdem Trish und er ein Paar waren, hatte er sich scheinbar geändert und tat mit dieser dummen Pute alles, was er bislang verpönte. Das Schlimmste war jedoch, dass Annie nach wie vor an Liebeskummer litt. Immerhin war er der erste Mann gewesen, mit dem sie sich alles hätte vorstellen können. Leider entpuppte sich Roger als totaler Mistkerl. Monatelang hatte er sie mit Trish betrogen. So einem trauerte man nicht nach, so einem wünschte man höchstens die Pest an den Hals. Dennoch tat es weh. Sehr sogar …

 

 

 

 

Am nächsten Morgen fühlte sich Annie an einen Film erinnert: Und täglich grüßt das Murmeltier. Zum einen hatte sie sich wegen Roger die halbe Nacht um die Ohren geschlagen, zum anderen suchte sie gerade das Cottage nach Bier und Schnapsflaschen ab. Eine tägliche Routine, da sich ihr Dad immer wieder neue Verstecke einfallen ließ. Ob im Wohnzimmer-Kamin oder in diversen Schubladen, in leeren Aftershave-Flaschen oder hinter der Heizanlage, sie wurde meistens fündig. Auch vorhin hatte sie eine Schnapsflasche in einem seiner Winterstiefel entdeckt. Vielleicht sollte sie sich das Suchen abgewöhnen, denn er würde trotzdem sturzbetrunken sein, wenn sie nach Dienstschluss heimkam.

Helfen konnte sie ihm ohnehin nicht, solange er es nicht zuließ oder von selbst einsah, was er sich damit antat. Ein Arzt hatte ihr sogar knallhart geraten, ihn links liegen zu lassen. Erst wenn er ganz unten angekommen sei, würde er vielleicht zur Besinnung kommen. Ein nachvollziehbarer Ratschlag, der momentan jedoch keine Option war.

Ein Blick zur Wohnzimmeruhr zeigte Annie, dass sie sich sputen musste. Schnell eilte sie in die Diele, nahm ihre braune Korbtasche sowie den Schlüssel vom Haken, versperrte das Haus und lief zum Auto. Kurz darauf war sie unterwegs und ärgerte sich, dass sie ihre Jeansjacke vergessen hatte, denn die Morgentemperaturen waren ziemlich frisch. Deshalb stellte sie die Heizung bis zum Anschlag und freute sich bereits jetzt auf den Dienstschluss. Obwohl die Arbeit an sich in Ordnung war. Die Kollegen ebenfalls. Bis auf eine, die es mit dem Putzen nicht so genau nahm. Mit ihrem Chef wurde Annie auch nicht warm. Harry hatte einen lauten Kommandoton und ließ jeden deutlich spüren, dass er von ihm bezahlt wurde.

Das Last Inn war ein Drei-Sterne-Hotel und lag etwas außerhalb von St. Agnes. Gott sei Dank funktionierte die alte Rostlaube ihrer Eltern tadellos, was Annie eine gewisse Freiheit schenkte.

„Was soll das denn?“, entfuhr es ihr, als sie den Wagen zu den Parkplätzen hinter dem Hotel lenkte. Irgendein Vollidiot hatte eine weiße Luxuslimousine auf ihrem Platz abgestellt und besetzte sogar den zweiten dahinter. Dabei parkte hier ausschließlich das Personal. Typisch VIP. Die glaubten alle, ihnen würde die Welt gehören!

Verärgert manövrierte Annie ihren roten Alfa in die winzige Lücke zwischen der Limousine und Harrys Geländewagen, was ihr erst nach einigen Anläufen gelang. Als ihr Auto endlich stand, war sie völlig durchgeschwitzt. Nicht nur, weil sie Einparken hasste, sondern weil sie inzwischen vor Wut kochte wie ein Dampfkessel.

„Na warte“, zischte sie, „wenn mir dieser Typ unterkommt …“ Sie schnappte ihre Korbtasche vom Beifahrersitz und öffnete die Tür. Im selben Moment ertönte ein Knall, der sie zusammenfahren ließ. Entsetzt starrte sie zur Limousine - die plötzlich näher war als in ihrer Erinnerung - und zwängte sich wie in Zeitlupe aus dem Auto.

Einige Kratzer und eine tiefe Beule an der Limousinen-Tür schienen sie förmlich anzugrinsen. Dabei fragte sich Annie in Sekundenschnelle, wie viel eine Reparatur kosten würde. Die Versicherung würde jedenfalls nicht zahlen. Vor kurzem hatte Annie sie der Geldnot wegen gekündigt …

„Herrgott, kann man in dieser Pampa nicht einmal in Ruhe telefonieren?“, ertönte plötzlich eine dunkle Stimme, ehe ein Mann auf der anderen Seite ausstieg und im Nu bei Annie war. Mit wichtiger Miene und einem goldenen Handy in der gepflegten Hand besah er sich den Schaden, der zu auffällig war, um ihn nicht auf den ersten Blick zu sehen. Dann richtete sich der Unbekannte zu seiner vollen Größe auf. Er überragte Annie um einen Kopf.

Zugegeben, ein äußerst attraktiver Mann. Seine markanten Gesichtszüge und der Dreitagesbart erinnerten Annie an den Schauspieler Scott Eastwood. Auch das volle schwarze Haar, die muskulöse Figur und die stahlblauen Augen waren nicht von schlechten Eltern. Allerdings hätte nicht einmal der beste Hollywood-Schauspieler ein so bitterböses Gesicht hinbekommen. „Können Sie nicht aufpassen?“, fuhr der Fremde sie an.

„Es tut mir leid“, sagte Annie kleinlaut. „Ich habe Ihre Limousine völlig übersehen.“

„Sicher“, kam es von oben herab, „der Wagen ist ja nur knappe fünf Meter lang.“

„Haben Sie das sarkastisch gemeint?“

Er zog die rechte Augenbraue hoch. „Wie kommen Sie denn darauf?“

„Hören Sie, das Ganze ist mir furchtbar peinlich“, blieb Annie freundlich, obwohl es erneut in ihr zu brodeln begann.

„Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt?“, pflaumte er sie weiter an. „Das Wort peinlich steht bei mir nämlich ganz unten auf der Liste. Da liegen mir ganz andere Worte auf der Zunge.“

In dieser Hinsicht ging es Annie ähnlich, denn dieser Mann war die pure Überheblichkeit in Person. Obendrein schien er sein Aftershave bis zum Abwinken zu benutzen. Der süße Geruch erinnerte sie stark an Roger, was sie ihrem Gegenüber ebenfalls negativ auslegte. Doch sie musste sich zusammenreißen. Es wäre wenig hilfreich, wenn sie sich diesen Mann zum Feind machte. „Vermutlich war ich in Gedanken woanders.“

„Wo denn? Bei Ihrer nächsten Maniküre?“

„Sehe ich so aus, als ob ich mir das leisten könnte?“, wurde Annie ebenfalls patzig und vergaß ihre guten Vorsätze. Alles musste sie sich von diesem Wichtigtuer nicht gefallen lassen. „Oder wirke ich auf Sie, als hätte ich genug Geld, um für den Schaden aufzukommen?“

„Wozu gibt es Versicherungen?“

„Um die Leute auszunehmen. Sehen Sie, die Haftplicht war extrem teuer. Deswegen habe ich sie gekündigt und suche gerade nach einem neuen Versicherungsunternehmen, das für kleine Leute wie mich ein Herz hat.“

„Was?“, brauste er auf und musterte sie wie eine Fata Morgana. „Sie sind nicht versichert?“

„Exakt.“

„Das ist eine Straftat! Sind in dieser Gegend alle so kriminell und naiv wie Sie?“

„Ich habe es nicht nötig, mich von Ihnen beleidigen zu lassen!“

„Das war keine Beleidigung, sondern eine Feststellung.“ Seine Augen funkelten zornig, während er das Handy auf das Limousinen-Dach legte und sich herrisch durch das dichte Haar fuhr, bevor er seine Hände in die Taschen der dunkelblauen Stoffhose schob, die sicher nicht von der Stange kam. Genauso wenig wie das weiße Hemd und die blaue Krawatte mit so vielen Punkten, dass einem regelrecht schwindlig werden konnte.

„Nur zu Ihrer Information: Mein Auto hat auch einiges abgekriegt.“ Annie versuchte möglichst selbstsicher zu klingen, was ihr aber nur bedingt gelang, weil die eventuellen Reparaturkosten wie ein Damoklesschwert über ihr hingen. Abgesehen von diesem Möchtegern-Eastwood, über den sie sich stundenlang hätte aufregen können.

„Das wird ja immer besser! Sonst noch was?“

Annie nickte. „Unter uns gesagt: So wie Sie parkt doch kein Mensch“, ging sie vollends in die Offensive und schmetterte ihre Autotür zu. Dann steckte sie den Schlüssel ins Schloss.

„Nicht einmal Zentralverriegelung hat Ihre Karre“, vernahm Annie ihren Gegner. „Aus welchem Jahrhundert stammt der Wagen denn?“