Weil wir die Wahrheit kennen - Bettina Reiter - E-Book

Weil wir die Wahrheit kennen E-Book

Bettina Reiter

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Beschreibung

Frankreich, 1743: Henriettes Ehe wird von der ständigen Angst vor ihrem Mann Philippe bestimmt, gleichzeitig kann sie ihre große Liebe Luc nicht vergessen. Als sie schließlich hinter das fatale Familiengeheimnis kommt, ändert die Wahrheit jedoch alles und stürzt sie in tiefe Verzweiflung, denn Luc hat längst ein neues Leben begonnen. Eines, in dem Henriette keine Rolle mehr spielt …

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Seitenzahl: 498

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Bettina Reiter

Weil wir die Wahrheit kennen

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

2. Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Epilog

Anmerkungen der Autorin

Impressum neobooks

Vorwort

© Bettina Reiter

Lektorat: Edwin Sametz

Titelbilder: Fotolia:

© kharchenkoirina/Fotolia.com, Pixabay: _marcel_heim

Titelbildgestaltung: © Bettina Reiter

Innenseiten Grafikbilder: Pixabay: GDJ, susannp4, rebeccaread

Website der Autorin: www.bettinareiter.at

Alle Rechte liegen bei der Autorin.

Sämtliche Texte sowie das Cover sind urheberrechtlich geschützt.

Eine Nutzung in jeglicher Form (Fotokopie, Mikrofilm, Verbreitung, Textauszug, Vervielfältigung oder anderes)

ist ohne die schriftliche Genehmigung des Rechteinhabers/Urhebers nicht zulässig und daher strafbar!

2. Teil

-la foi, l’espérance, l’amour-

Glaube, Hoffnung, Liebe

Liebe Leserinnen und Leser,

ich freue mich sehr darüber, dass sie Henriette und Luc,

deren große Liebe im ersten Teil „Denn ich darf dich nicht lieben“

so abrupt endete, erneut begleiten.

Aber dazu müssen wir ins Jahr 1743 zurückreisen.

Es ist ein kalter Wintertag …

1. Kapitel

10. Dezember 1743

Federartig fiel Schnee auf den Park und die weißen Platten der zugefrorenen Teiche. Böiger Wind wehte über die Landschaft und fegte die Last von den dürren Bäumen. Die weitverzweigten Äste hoben sich dunkel ab und machten einen traurigen Eindruck. Ein Gefühl, das Henriette nur allzu gut kannte.

Seit Wochen befand sie sich im Château de Saint-Cloud, ihrem neuen Zuhause. Ihr künftiger Schwiegervater hatte sich bisher rührend um sie gekümmert und gab ihretwegen heute sogar ein Diner. Ein großes Entgegenkommen in Anbetracht seiner Menschenscheu.

Auch ihre Mutter war eingeladen. Die Einzige, über deren Besuch sich Henriette freute. Alle anderen konnten ihr gestohlen bleiben. Vor allem Françoise, Charlotte und Louis. Erst recht Philippe, der heute Morgen überraschend von der Front zurückgekehrt war. Allerdings hatte er sich bisher nicht bei ihr blicken lassen.

Wie schön wäre es gewesen, wenn es nur eine kurze Begegnung bei der Trauung gegeben hätte! Danach würde er aufbrechen und wenig später vielleicht die Mitteilung eintreffen, dass er gefallen sei. Es war böse, ja verwerflich. Doch je näher der Tag rückte, desto größer wurde ihr Grauen. Vor allem, wenn sie an die Hochzeitsnacht dachte. Hoffentlich blieb ihr das erspart.

Wenigstens hatte sie sich ansonsten einigermaßen eingelebt und bewohnte diese Suite, die ihr auch nach der Heirat zur Verfügung stehen würde. Fünf Räume waren gegen Süden ausgerichtet, mit Blick auf den Park, der sich über einige Hundert Hektar erstreckte. Wie üblich waren die Gärten in stufenartige Terrassen gegliedert, die zur Seine hinunterführten. Der Fluss schien sie überallhin zu begleiten und schenkte ihr etwas Vertrautheit.

Ansonsten gab es viele Brunnen, Teiche und Statuen, eine Orangerie an der Rückseite des Schlosses und den ´Pavillon de Breteuilˋ, den sie aufgrund der Schneemassen bisher nicht besichtigen konnte. Eine breite Allee führte auf das u-förmige Château zu, das sich westlich von Paris befand. Im linken Flügel waren die Appartements untergebracht, im rechten nahm die ´Galerie d’Apollonˋ den meisten Raum ein. Daneben gab es noch Salons, in denen Sammlungen von Bergkristallen, Achaten und feinstem Porzellan ausgestellt waren. Letzteres stammte in Überzahl aus der Weichporzellanmanufaktur Saint-Cloud. Der Duc hatte ihr alles geduldig gezeigt. Mit einer Begeisterung, die man ihm gar nicht zugetraut hätte. Inzwischen wusste sie etwas über die ´Shoki-Imariˋ-Ausführung oder blaue Lambrequien-Motive. Jedoch hatte sie irgendwann nicht mehr richtig zugehört, weil ihr der Kopf schwirrte und ihre Augen von der Vielfalt der Zwiebelmuster, Blumenmotive oder Hafenansichten schier überfordert waren. Allerdings hatte er ihr am Schluss Meißner Porzellanfiguren und Meißner Geschirr gezeigt. Sie war sehr angetan gewesen. Stolz hatte der Duc dann erzählt, dass er an der Manufaktur Saint-Cloud beteiligt war und die dortigen Arbeiten jenen aus Meißen sehr nahe kämen, die jedoch in der Porzellanherstellung ihre Konkurrenz weit hinter sich ließen. Umso mehr versuchten viele Manufakturen dem Geheimnis der Meißner Perfektion auf die Schliche zu kommen.

Doch bei all der Ablenkung in den letzten Wochen war sie in Gedanken ständig in Paris gewesen. Bei Luc und dieser Unbekannten. Die Klinge steckte noch immer tief in ihrem Herzen und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Ihre Welt war zusammengestürzt. Mit ihr der Glaube an die Liebe. Aber sie musste lernen damit umzugehen. Hieß es nicht: aus den Augen, aus dem Sinn? Vielleicht half die Zeit, um Luc vergessen zu können. Auch der Ortswechsel würde sein Übriges tun, denn hier verband sie nichts mit ihm. Keine Erinnerungen wie auf Schloss Ussé oder vor allem jene in ihrem Elternhaus. Sogar das Medaillon hatte sie nicht mitgenommen. Nichts sollte an ihn erinnern. Das würde es einfacher machen, ihn aus dem Leben zu streichen. So zumindest die Theorie. In der Praxis sah es leider anders aus und Henriette hoffte, dass ihr Liebeskummer irgendwann vorbeigehen würde. Dieser Schmerz, die Enttäuschung und ihre Eifersucht. Dass sie den eigenen Bruder liebte, war dagegen völlig in den Hintergrund getreten. Sie wollte sich nicht mehr dafür schämen müssen, ansonsten wäre sie ganz und gar an der Situation zerbrochen.

Langsam kroch die Dämmerung heran. Es wurde Zeit sich umzuziehen. Wenig begeistert zog Henriette an der Glocke. Gleich darauf erschien Benedikta, die Henriette herbegleitet hatte. Es war der Wunsch der Mutter gewesen, damit sie sich leichter einlebte. Leider wollte das Dienstmädchen bald nach Toulouse gehen, um ihre große Liebe zu heiraten. Manche schienen das Glück gepachtet zu haben.

„Sind Mutter und Louis schon hinuntergegangen?“, erkundigte sich Henriette, während ihr Benedikta aus dem Kleid half.

„Ja, Mademoiselle de Conti. Der Duc wollte allen vor dem Abendessen die Porzellansammlung zeigen.“

„Aha.“ Plötzlich stutzte Henriette. „Riechst du das?“

Benedikta hob mit fragendem Blick ihre Nase schnuppernd in die Höhe. „Was meint Ihr?“

„Es stinkt nach …“, sie versuchte den Geruch einzuordnen, „Fisch.“

„Ich bin vorhin in der Küche gewesen.“ Benediktas Gesicht wurde rot. „Die Köchin hat gerade Fisch gebraten. Es tut mir leid, Mademoiselle.“

„Schon gut. Du kannst ja nichts dafür.“

Benedikta nahm das rosenholzfarbene Moirékleid und den elfenbeinfarbenen Unterrock vom Himmelbett. Es war ein Präsent des Ducs gewesen, der damit einen sehr guten Geschmack bewies. Das Kleid hatte eine Rosenborte am Saum und Tüllstickereispitze an den Ärmeln, der Ausschnitt war mit einer Rüsche verziert.

„Ihr seht bleich aus in letzter Zeit, Mademoiselle“, meinte Benedikta nach einigen Minuten des Schweigens.

„Kein Wunder. Seit Tagen ist mir ständig flau im Magen.“ Henriette hob die Arme, damit Benedikta den Unterrock an der Taille befestigen konnte.

„Ihr esst wie ein Spatz, seid blass und Euch ist übel. Von Eurem Geruchssinn ganz zu schweigen. Man könnte meinen, dass Ihr schwanger wärt. Aber noch seid Ihr ja nicht verheiratet.“

Im selben Moment erstarrte Henriette. „Was redest du da?“ Die Nacht mit Luc!

Alles hatte sie sich ausgemalt, nur nicht die Möglichkeit, dass die Liebesnacht Folgen haben könnte! Entsetzen machte sich in ihr breit, als sie fieberhaft nachrechnete, wann sie die letzte Monatsblutung gehabt hatte. Es musste Anfang Oktober gewesen sein! „Ich habe mir vermutlich eine Magenverstimmung eingefangen“, krächzte sie und konnte an nichts anderes mehr denken als daran, dass sie womöglich von Luc schwanger war. Von dem Mann, den sie vergessen wollte, indem sie jede Verbindung abbrach. Und nun das! Es gab auf dieser Welt wohl kein stärkeres Band zwischen zwei Menschen als ein Kind.

„Was ist mit Euch?“ Benedikta hielt sie an der Schulter fest. „Ihr taumelt.“

„Das geht gleich vorüber“, versicherte Henriette den Tränen nahe. „Geh, Bendedikta. Ich muss einen Moment für mich alleine sein.“

„Aber ich kann Euch unmöglich in diesem Zustand …“

„Geh, habe ich gesagt!“, wurde Henriette unbeherrscht, was sie sofort bereute, doch sie war zu aufgebracht, um die Worte zurückzunehmen. In ihrem Kopf war ein heilloses Durcheinander und sie nahm nur am Rande wahr, dass Benedikta ihr Schlafzimmer verließ.

Henriette schluchzte auf und eilte wie ein gefangenes Tier vom Schlafzimmer zum Salon hinüber. Wütend schob sie einen der vergoldeten Stühle weg und stützte sich mit den Handflächen auf dem dunklen Edelholztisch auf. Als sie hochblickte, schaute sie geradewegs zu einer der Ahnenbüsten, denen man überall im Schloss begegnete. Sie zeigten die Herzöge von Orléans. Mit rätselhaftem Lächeln starrten sie ins Leere. „Was gafft ihr so?“, zischte sie und war sich der irrwitzigen Situation bewusst. „Habt ihr noch nie eine Schwangere gesehen?“ Das leere Lächeln blieb. Ein höhnisches Lächeln! Henriette konnte den Anblick nicht länger ertragen.

Im Kabinett nebenan blieb sie wie betäubt vor einem der drei riesigen Fenster stehen und schaute auf die Winterlandschaft hinaus. Dabei legte sie die Hände an die kalte Glasscheibe, die sofort beschlug. Tränen rollten über ihre Wangen. „Oh Herr, das kannst du mir nicht auch noch antun“, wisperte sie und sank kraftlos auf den Stuhl hinter dem Sekretär. Abwesend ließ sie ihren Blick durch das Zimmer schweifen. In der Glasvitrine staubte ein verblasster blauer Aquamarin vor sich hin. Davor lag ein roter Gobelinteppich, die Wände waren mit Fresken und überdimensionalen Gemälden von Nocret geschmückt. Alles hier war luxuriös. Ohne Zweifel, sie würde zumindest finanziell ein sorgenfreies Leben führen, doch was war mit dem Rest? Sie musste in ein paar Tagen einen Mann heiraten, den sie nicht wollte. Noch dazu war sie womöglich schwanger von einem Mann, den sie nicht haben durfte. Und dass sie ein Kind erwartete, davon war sie überzeugt. Nie war ihre Menstruation unpünktlich gekommen. Nun waren zwei Monate vergangen, in denen sie ausgeblieben war. Unweigerlich musste sie an Diana denken. An ihre Aussage, dass Mütter einen siebten Sinn hätten. Ja, etwas wuchs in ihr heran. Es sprach einfach zu viel dafür.

Unter jeder anderen Bedingung hätte sie sich auf ein Kind gefreut, aber Lucs? Erneut schluchzte sie, weil sie keine Ahnung hatte, wie es weitergehen sollte. Noch dazu ließ sich eine Sache nicht mehr beiseite wischen: Der Vater ihres Kindes war ihr eigener Bruder!

„Bist du fertig?“ Die Mutter stand plötzlich in der offenen Tür. „Ist etwas mit dir?“

„Meine erste Begegnung mit Philippe steht bevor“, antwortete Henriette und musste ihre Tränen nicht verbergen. „Ich bin froh, wenn ich sie hinter mir habe.“ Mit dem Ärmel wischte sie sich über die Augen.

„Das wird schon.“ Wenn du wüsstest! „Schließlich bin ich ja auch noch da.“

„Am liebsten würde ich in meinem Appartement bleiben. Es geht mir ohnehin nicht gut.“

„Das kannst du dem Duc nicht antun. Außerdem solltest du etwas essen. Deine Blässe will mir gar nicht gefallen.“

„Benedikta kann mir etwas auf mein Zimmer bringen.“

„Kind“, die Mutter kam näher, „Philippe wird das nicht gutheißen. Willst du gleich am ersten Tag seinen Unmut wecken? Es wäre besser, sich mit ihm zu arrangieren.“ Sie strich ihr über die Arme.

„Wir mögen uns ohnehin nicht. Wem soll ich also etwas vorheucheln?“ Henriette schluckte die neuerlichen Tränen hinunter und blickte in das bittende Gesicht der Mutter. „Gut, lass es uns hinter uns bringen.“ Sie hatte keine Kraft für eine Diskussion und brauchte jetzt all ihre Energie, um mit dieser schrecklichen Wendung klarzukommen. Aber im Grunde hatte sie keine Wahl: Sie musste zu einer Engelmacherin, denn dieses Kind konnte sie unmöglich bekommen. Schon allein wegen Luc. Jeden Tag würde die bloße Anwesenheit des Kindes genügen, um an ihn erinnert zu werden. Das wäre unerträglich. „Lass uns gehen“, sagte sie zu ihrer Mutter und eilte an ihr vorbei. Schon als Henriette die Stufen hinunterschritt, hörte sie lautes Stimmengewirr. Am liebsten hätte sie umgedreht.

„Wie schön Ihr ausseht, Henriette. Das Kleid steht Euch ausgezeichnet“, wurde sie vom Duc vor dem Esszimmer begrüßt, der mit erwartungsvoller Miene eine einladende Geste machte. „Ich war so frei und habe weitere Gäste eingeladen.“

Konnte dieser Tag noch schlimmer werden? Am Ende wartete Luc auf sie, mitsamt der Unbekannten. Allein der Gedanke genügte, um wieder zornig zu werden und gleichzeitig gegen das schnelle Schlagen ihres Herzens anzukämpfen. Verdammt, wie konnte er ihr das antun?

„Überraschung“, rief Jeanne aus, als Henriette das Esszimmer betrat.

„Wie … wie schön dich zu sehen.“ Sie stotterte wie ein kleines Kind. „Das ist wirklich eine wundervolle Überraschung“, fügte sie hinzu, weil ihre Freundin ein enttäuschtes Gesicht machte. Vermutlich glaubte sie, dass ihre Worte geheuchelt waren, da sie obendrein kaum ein Lächeln zustande brachte. Doch Henriette hatte das Gefühl, als könnte ihr jeder ansehen, was sich in ihrem Inneren abspielte. Andererseits schickte Jeanne der Himmel. Wenn ihr jemand helfen konnte, war sie es. Immerhin kannte sie Gott und die Welt, vielleicht auch eine gewissenhafte Engelmacherin.

Louis nickte Henriette zu. Die Großtante und Charlotte würdigten sie hingegen keines Blickes. Philippe wirkte streng und zugeknöpft. Nur die kleine Maria kicherte unbekümmert und schäkerte mit Charles, der Henriette ein Lächeln sandte.

„Ihr seht nicht gerade erfreut aus“, stellte der Duc zu allem Überfluss fest. „Dabei habe ich von Eurer Mutter erfahren, wie eng Ihr mit Jeanne befreundet seid. Deswegen dachte ich, dass es eine nette Überraschung wäre.“

„Dem ist auch so, werter Duc.“ Henriette warf ihm und Jeanne einen entschuldigenden Blick zu. „Leider habe ich starke Kopfschmerzen und mir ist etwas übel.“ Das war zumindest nicht ganz gelogen. „Deshalb bin ich etwas neben mir. Aber ich bin Euch sehr dankbar, dass Ihr meine Freundin eingeladen habt. Wirklich.“

Zufrieden lächelte er. Jeanne indes musterte sie skeptisch.

„Oh, was für ein schönes Geschirr.“ Die Mutter trat zum festlich gedeckten Tisch, auf dem ein schwerer Silberkerzenleuchter stand und begutachtete unter Françoises pikiertem Blick das Porzellan. Die violetten Teller waren im Stil des Shoki-Imari, mit japanischen Frauenfiguren, filigranen Goldeinfassungen und Blumenmotiven. Das restliche Geschirr war weiß und wirkte leicht durchscheinend. Die Vasen mit schillernden Pfauenfedern leuchteten in einem erfrischenden Kobaltblau mit goldenen Borten an der Oberseite und am verschnörkelten Fuß.

„Wir verwenden es nur bei speziellen Anlässen.“ Der Duc blickte auffordernd zu seinem Sohn, der sich erst jetzt von seinem Stuhl erhob. Henriette wollte keine Begrüßung, schon gar keinen Handkuss oder sich mit ihm unterhalten. Sie musste mit Jeanne reden. Auf der Stelle!

Leider war sie gezwungen, die Prozedur über sich ergehen zu lassen. Dann teilte ihnen der Duc die Plätze zu und sie setzten sich. Er und sein Sohn saßen am jeweiligen Ende der Tafel. Neben Jeanne befand sich ein verwaistes Gedeck, auch der Stuhl blieb leer. Wurde noch jemand erwartet?

„Entschuldigt meine Verspätung.“

Pierres und Henriettes Blicke trafen sich. Auf seinem Haar tauten Schneeflocken, die Wangen waren tiefrot und er sah durchgefroren aus. Der Duc erhob sich und hieß ihn willkommen. Wäre Henriette nicht schon schlecht gewesen, hätte ihr Magen in diesem Augenblick lauthals rebelliert. Was machte Jeannes Leibarzt hier?

Pierre nickte ihr zu, sie nickte zurück. War es Jeannes absurde Idee gewesen oder hatte er sich aufgedrängt, damit er ihr die Meinung sagen konnte? Um ihr die Abscheu ins Gesicht zu schleudern, die er auf Étiolles gezeigt, aber nicht laut ausgesprochen hatte. Oh wie sie es satthatte, dieses ständige Gefühl sich rechtfertigen zu müssen!

Louis blickte mit verengten Augen zu Jeanne. „Darf man fragen, weshalb Euer Leibarzt hier ist? Krank seht Ihr jedenfalls nicht aus. Oder ist Euch ein Mann zu wenig, Madame?“ Er hätte genauso gut das Wort Dirne verwenden können, doch Jeanne lächelte unbekümmert und legte ihre Hand begütigend auf Charles’, der zornig zu Louis schaute.

„Für Euch Jeanne, werter Prinz. Schließlich sind wir eine große glückliche Familie.“ Pierre setzte sich neben sie. „Zu der übrigens auch mein Leibarzt gehört.“ Henriette bewunderte sie für diese Ruhe, denn ihr lagen ganz andere Worte auf der Zunge.

Louis faltete die Serviette auseinander und legte sie sich auf den Schoß. „Gibt es im Wald von Sénart eigentlich noch einen Platz, an dem Ihr nicht gewesen seid?“

„Nicht einen einzigen. Ich war sehr fleißig“, konterte Jeanne. „Aber jeder braucht eine Auszeit, insbesondere mein Mann. Er hat in den letzten Wochen eindeutig zu viel gearbeitet. Umso mehr habe ich mich über die Einladung des Herzogs gefreut.“ Charles erwiderte zwar ihr Lächeln, doch es hatte an Herzenswärme verloren. „Besonders, nachdem ich erfahren habe, dass Ihr auch dabei seid, Louis.“

„Wieso? Soll ich Eure Kutsche übermalen?“

„Kann mir mal einer sagen, worüber Ihr sprecht?“, regte sich die Großtante auf.

„Fragt Louis“, zog sich Jeanne aus der Affäre. „Er wird es Euch sicher gern erklären.“ Abwartend schaute sie zu Louis, doch er schwieg und merkte nicht, dass Charles ihn nachdenklich musterte.

„Ich für meinen Teil habe Hunger“, sagte der Duc. „Tragt die Speisen auf.“ Er nickte den Dienstmädchen zu, die sofort hinauseilten.

„Wie ich hörte, hast du meiner Zukünftigen ein Geschenk gemacht, Vater“, warf Philippe ein, der einen dunkelblauen Brokatanzug mit bestickten Silberknöpfen trug. Dazu ein weißes Hemd. Das schüttere Haar war unter einer Perücke versteckt.

„Ist das verboten?“

„Ein Kleid ist etwas zu persönlich, findest du nicht?“

Der Duc wirkte zerknirscht. „Leider bin ich etwas eingerostet im Umgang mit Frauen. Aber jede freut sich über Schmuck oder Kleider. Zumindest war es bei deiner Mutter so.“

„Womit Ihr richtig liegt“, pflichtete Henriette ihm bei. „Ich finde die Robe wunderschön.“

„Du wirst ihr nichts mehr schenken, verstanden?“, fuhr Philippe plötzlich auf. „Und Ihr, Henriette, werdet nichts mehr von ihm annehmen.“ Das war ja die Höhe! Was glaubte dieser Mann denn, wer er war?

„Eine Ehefrau ist keine Sklavin. Außerdem finde ich es achtlos, wie Ihr mit Eurem Vater redet“, stellte sich Henriette auf die Seite des Ducs.

„Daran werdet Ihr Euch gewöhnen müssen“, gab Philippe launig von sich.

„In der Tat“, bestätigte der Duc. „Mein Sohn hält nicht viel von Respekt.“

„Könnt ihr das nicht untereinander austragen?“ Françoise zog die Augenbrauen zusammen. „Und du reiß dich gefälligst zusammen, Philippe. Solltest du meinen Jungen noch einmal beleidigen, lernst du mich kennen.“ Einen solchen Einsatz hätte sich Diana bestimmt auch gewünscht und obwohl seit ihrem Tod viele Monate ins Land gezogen waren, gab Henriette nach wie vor Françoise die Schuld daran. Noch dazu fragte sie sich in stillen Stunden, was Diana ihr hätte sagen wollen.

Die zwei Dienstmädchen trugen die Speisen auf und hoben Henriette aus ihren düsteren Gedanken. Fischgeruch breitete sich aus. Zu allem Überfluss schöpfte eines der Mädchen ihren Teller voll, als würde es lange nichts mehr zu essen geben. Die Forelle starrte Henriette aus leeren Augen an, ganz so wie die Ahnenbüsten. Ihr drehten sich die Gedärme um. Nicht lange und sie würde sich an Ort und Stelle übergeben. Schnell presste sie sich die Serviette auf den Mund, doch das war nur eine notdürftige Barriere.

„Ich bin untröstlich, Herzog“, nuschelte Henriette, „aber meine Schmerzen sind kaum auszuhalten. Noch dazu macht mir mein Magen erheblich zu schaffen.“

„Soll ich dich auf dein Zimmer begleiten?“, kam Jeanne ihr sofort zu Hilfe.

„Würdet Ihr das tun, Madame?“ Der Duc wechselte einen besorgten Blick mit Jeanne, bevor er sich an Pierre wandte. „Könntet Ihr Euch meiner Schwiegertochter ebenfalls annehmen?“

„Sofern es Mademoiselle de Conti erlaubt.“ Pierre legte das Besteck beiseite. Sein Teller war noch unberührt, während es sich Charlotte als Einzige schmecken ließ. Nicht einmal die Großtante hatte einen Bissen gegessen, sondern starrte Henriette argwöhnisch an.

„Ich brauche Eure Hilfe nicht, Pierre. Genießt lieber das Essen. Meine Kopfschmerzen gehen bestimmt bald vorbei“, wimmelte Henriette ihn ab. „Jeannes Angebot nehme ich jedoch gerne an.“

„Ich kann Euch hochbringen“, mischte sich zu allem Überfluss Philippe ein und wollte sie mit seiner blutleeren Hand am Arm berühren. Henriette schoss in die Höhe und würgte. Sofort war Jeanne bei ihr und gemeinsam verließen sie das Esszimmer.

„Leg dich auf das Bett“, ordnete Jeanne an, als sie endlich im Schlafzimmer waren. Henriette kam der Aufforderung umgehend nach. „Unser Wiedersehen habe ich mir anders vorgestellt.“ Ihre Freundin zog ihr die Schuhe aus und stellte sie neben das Bett. Dann legte sie prüfend die Hand auf Henriettes Stirn, bevor sie fürsorglich die Tagesdecke über sie breitete. „Fieber scheinst du keines zu haben, aber hast du tatsächlich Kopfschmerzen? Oder schlägt dir die bevorstehende Hochzeit auf den Magen?“

„Ich bin schwanger“, platzte Henriette mit der Neuigkeit heraus, weil sie dem Druck nicht länger standhielt. Sie musste ihn loswerden. Die Last teilen, jemand anderem aufbürden, wie auch immer. Hauptsache, dass sie damit nicht länger alleine war, ansonsten hätte sie vermutlich in der nächsten Sekunde zum Messer gegriffen.

Jeanne pfiff leise durch die Zähne. „Das ging ja schnell. Dabei hat der Duc erzählt, dass Philippe erst seit heute Morgen zurück ist.“ Es hätte sicherlich ein Witz sein sollen, doch nicht einmal Jeanne lachte. Henriette zerknüllte die Serviette in ihrer Hand.

„Philippe ist nicht der Vater, das ist ja das Problem.“ Die Übelkeit ließ langsam nach.

„Henriette! Du Teufelsweib“, rief Jeanne mit schmunzelnder Strenge aus. „Ausgerechnet du lachst dir einen anderen an?“

„Das ist nicht lustig.“ Sie legte sich die Hände auf den Bauch. Eine selbstverständliche Geste, die jetzt eine gänzlich andere Bedeutung bekam. Schnell streckte sie ihre Arme neben dem Körper aus. Fehlte noch, dass sie Gefühle entwickelte!

„Natürlich ist es nicht zum Lachen“, lenkte ihre Freundin sofort ein. „Aber bisher nahm ich an, dass Luc die Liebe deines Lebens ist.“ Nachdenklich schweifte Jeannes Blick ab, bis sie Henriette mit betroffener Miene wieder in Augenschein nahm. „Ist er am Ende der Vater?“, flüsterte sie und wandte kurz ihren Kopf zur Tür.

„Ja.“ Ein einziges Wort, das die Macht hatte, sie zum Weinen zu bringen.

„Was wirst du jetzt tun?“ Fürsorglich wischte Jeanne ihr mit der Hand über die Wangen und machte den Anschein, als hätte sie am liebsten mitgeweint. „Und wann ist es passiert?“

„Im Oktober“, erwiderte Henriette schniefend. „Ich bin keineswegs stolz darauf, aber es ist nun mal geschehen. Weil ich Luc vertraut und geliebt habe. Was ihn dazu bewog, weiß ich nicht.“

„Auch Liebe?“

„Liebe“, stieß Henriette verächtlich aus. „Diesmal wollte ich mit ihm gehen und habe es ihm gesagt. Er schob jedoch faule Ausreden vor, um mich davon abzubringen. Noch dazu hat er behauptet, dass er abreisen müsste. Vom Duc erfuhr ich allerdings, dass er Wochen später noch immer in Paris war. Er hat ihn Anfang November gesehen. Mit einer anderen Frau. Gemeinsam verließen sie das Cafe Procope.“

„War die Frau schön?“

„Was soll denn diese dumme Frage?“, wurde Henriette zornig, weil sie wieder von Eifersucht geplagt wurde.

„Ich höre gerne Komplimente, du kennst mich.“

„Was hast du damit …“ Henriette blickte in das lächelnde Gesicht ihrer Freundin. „Du warst das?“

„Ich vermute schon. Charles und ich haben uns Anfang November mit Luc im Procope getroffen. Während Charles bezahlte, verließ ich gemeinsam mit Luc das Cafe. Von weitem habe ich Charlotte gesehen, mich aber sofort abgewandt. Seit dem Ball auf Schloss Ussé kann ich diese Frau nicht ausstehen. Sie war übrigens in Begleitung eines unbekannten Mannes. Erst seit heute weiß ich, dass es der Duc war.“

„Hast du einen großen Hut getragen?“ Brauchte sie tatsächlich noch eine Bestätigung?

„Einen sehr großen.“ Jeanne strich ihr über die Stirn. „Himmel, was muss dir durch den Kopf gegangen sein? Aber bei allem, was mir heilig ist, kann ich dir versichern, dass Luc nicht besser ausgesehen hat als du jetzt. Er wirkte ruhelos und bemitleidenswert unglücklich.“

Henriette war zwar erleichtert und doch blieb die Bitterkeit. Früher oder später würde es eine andere Frau in seinem Leben geben. Dass es diesmal nur blinder Alarm gewesen war, machte es kaum besser. „Tatsache ist, dass ich ihn seit dieser Nacht nicht mehr gesehen habe. Bis zuletzt hoffte ich, dass er es sich anders überlegen und mich holen würde. Leider umsonst.“

„Vielleicht wollte er dich schützen. Oder Luc ist selbst verunsichert. Immerhin hast du seinen Vorschlag damals abgelehnt und wir wissen beide, was du dir danach selbst angetan hast. Solche Gefühle zuzulassen ist eine Sache, damit zu leben eine völlig andere. Luc hat womöglich Angst, dass du es eines Tages bereuen könntest und wenn wir ehrlich sind, müsstet ihr viel aufgeben. Wärst du tatsächlich dazu imstande?“

„In jener Nacht war ich es auf jeden Fall.“

„Und in der nächsten? Oder am Morgen danach? Jahre später?“

„Niemand kann in die Zukunft sehen.“

„Ich kenne da zwar jemanden“, sie lächelte vielsagend, „aber ich stimme dir zu. In der Regel kann das keiner von uns. Doch so wie ich Luc kennengelernt habe, schätze ich ihn als sehr ehrlich ein. Ich denke, du tust ihm unrecht. Er hat sich diese Entscheidung sicher nicht leicht gemacht.“

„Und wenn schon. Es ist ohnehin zu spät.“

„Du könntest ihm schreiben.“

„Bist du verrückt? Ich dränge mich sicher nicht auf. Schließlich ist Luc gegangen, nicht ich. Damit hat er eine Entscheidung gefällt.“

„Weshalb bist du so stur?“, stocherte Jeanne in ihrer Wunde herum.

„Das solltest du lieber Luc fragen.“

„Ich frage aber dich.“ Ihre Freundin machte ein resigniertes Gesicht. „Wenn man etwas will, muss man darum kämpfen. Bloß, weil er an diesem Abend gegangen ist, heißt das nicht, dass er inzwischen nicht auch anders darüber denkt. Du hast deine Meinung ja ebenfalls geändert. Deswegen rate ich dir, einen Schritt auf ihn zuzugehen. Womöglich hadert er exakt in diesem Moment damit, dass du so schnell aufgegeben hast.“ Sie wirkte traurig, als beträfe sie die Sache selbst. „Allerdings solltest du nur auf ihn zugehen, wenn du dir absolut sicher bist. Alles andere wäre fatal. Für dich und für ihn. Außerdem kennst du Luc und solltest ihn einschätzen können, schließlich ist er kein Unbekannter.“

„Stimmt. Er ist mein Bruder.“ Egal wie oft sie es noch aussprechen würde, es fühlte sich nach wie vor fremd an. „Diese Nacht war so selbstverständlich, als wäre es anders. Und nun das. Ich stehe vor dem Scherbenhaufen meines Lebens und weiß weder ein noch aus.“

„Möchtest du das Kind?“

„Diese Frage stellt sich nicht, Jeanne. Die logische Konsequenz ist eine Abtreibung, so hart es klingt. Kennst du eine Engelmacherin?“

„Versündige dich nicht“, entfuhr es ihrer Freundin, die sich bekreuzigte. „So ähnlich habe ich einst gedacht und es bitter bereut.“

„Du kannst meine Situation nicht mit deiner vergleichen.“

„Oh doch, das kann ich. Ein Kind ist ein Kind, egal wie es gezeugt wurde. Deswegen will ich nichts mehr von einer Engelmacherin hören.“ Sie schaute erneut zur Tür. „Glaub mir, das würdest du dir nie verzeihen. Es muss eine andere Lösung geben.“

„Welche denn? Soll ich Philippe das Kind unterschieben und so tun, als würde es früher auf die Welt kommen?“

„Das wäre zumindest ein Ansatz.“

„Unmöglich! Das würde bedeuten, dass ich mit ihm schlafen müsste.“

„Das wird dir ohnehin nicht erspart bleiben.“

„Danke für deinen Zuspruch.“

„Ich sage nur, wie es ist.“

„Aber was, wenn er nach der Trauung sofort aufbrechen muss? Ich kann das Kind ja schlecht aus der Ferne empfangen.“

„Dann müsst ihr die Hochzeitsnacht eben vorziehen.“

„Bist du verrückt? Ich bin froh um jeden Aufschub! Dieser Mann ist mir nicht geheuer.“

„Pst, nicht so laut“, tadelte Jeanne, erhob sich und wanderte durch das Schlafzimmer. Ihr leuchtend rotes Kleid hatte etwas Mahnendes. „Lass mich eine Nacht darüber schlafen. Morgen habe ich bestimmt eine Idee.“ Der Taftstoff raschelte über den Eichenboden, als sie näherkam. „Wenn die Umstände mit Luc anders wären, würdest du das Kind bekommen wollen?“

„Ja“, antwortete Henriette ohne zu überlegen.

„Dann kämpf wenigstens um das kleine Wesen in dir.“

„Eigentlich wollte ich Luc vergessen.“

„Warum? Weil die Nacht schlimm war? Oder war sie das Gegenteil? Denk daran zurück, was er gesagt hat. Wie er dich berührte, was du gefühlt hast. Egal wie die Umstände sind, in jener Nacht habt ihr beide nach den Sternen gegriffen und zeugtet euer Kind. Ein Kind der Liebe. Gibt es ein wertvolleres Gottesgeschenk?“ Jeanne setzte sich zu Henriette und nahm ihre Hand. „Willst du diese Erinnerung tatsächlich vergessen?“

„Scheinbar vergisst du immer wieder, dass Luc und ich Geschwister sind.“

Plötzlich hatte Jeanne Tränen in den Augen. „Was, wenn ihr keine Geschwister wärt?“

„Deine rhetorischen Fragen bringen mich nicht weiter, denn ich muss in der Realität entscheiden und nicht unter dem Aspekt was-wäre-wenn.“

„Eben. Die Realität.“ Sie drückte Henriettes Hand. „Du bist schwanger und das ist real. Alles andere wird sich weisen. Jetzt gilt es die richtige Entscheidung zu fällen.“ Jeanne ließ sie los und erhob sich. „Denk darüber nach, was dir das Kind bedeutet. Nicht darüber, was du für den Vater empfindest oder wer er ist. Letztendlich geht es nur um das neue Leben in dir und um die Frage: Liebst du es oder hasst du es?“

Reflexartig legte sich Henriette die Hände auf den Bauch. „Natürlich hasse ich es nicht!“

„Dann gibt es auch keinen Grund, über eine Engelmacherin nachzudenken. Doch jeden erdenklichen, um dein Kind zu schützen. Du wirst Mutter. Das bedeutet Verantwortung, aber auch ein großes Glück. Und jetzt lasse ich dich in Ruhe, denn die Entscheidung musst du alleine treffen. Dabei kann dir niemand helfen. Wenn du es jedoch behalten willst, schwöre ich dir, dass ich alles tun werde, damit euch nichts und niemand trennt.“

„Das klingt, als hättest du schon einen Plan.“

„Keinen ausgereiften, aber ich bin für meinen Einfallsreichtum bekannt.“ Nun lächelte sie wieder. „Gemeinsam schaffen wir das.“

Fröhliche Musik ertönte aus dem Nebenraum des verwaisten Esszimmers, das Jeanne kurz darauf betrat. Ihr Magen knurrte. Gottlob hatte niemand die Teller weggeräumt. Ihr eigener stand unberührt an seinem Platz, sie ging hin und begann mit den Händen zu essen. In der Not taten es auch kalte Kartoffeln, blanchierte Tomaten und Karotten. Den Fisch rührte sie jedoch nicht an. Als Kind wäre sie beinahe an einer Gräte erstickt.

„Da bist du ja endlich!“

Fast hätte sie den kostbaren Teller fallen gelassen. „Musst du mich so erschrecken, Charles?“, schimpfte sie mit vollem Mund.

„Hast du Hunger?“

„Nein, ich esse aus purer Langeweile.“ In letzter Zeit stritten sie sich ständig, weil sie sich oft über Kleinigkeiten aufregte und Charles so lange provozierte, bis er sich verletzt von ihr abwandte. Es tat weh, aber wie es hieß, kränkelte die Mailly. Man sprach sogar davon, dass ihr Leben in Gefahr sei. Den Tod wünschte sie der Mätresse en tritre keineswegs, so kaltherzig war sie nicht. Hätte sie freiwillig das Lager geräumt, wäre es ihr lieber gewesen. Denn darauf zu warten, dass die Konkurrentin starb, ängstigte sie vor sich selbst. Vielleicht würde sich das Schicksal eines Tages dafür rächen? Auch für ihre Gemeinheiten Charles gegenüber. Nach und nach entzog sie diesem wunderbaren Mann ihre Zuneigung. Doch so würde ihm die Trennung leichter fallen.

„Wie geht es Henriette?“

„Besser.“

Jemand gab gerade ein Stück auf dem Clavichord zum Besten.

„Die anderen sind im Musikzimmer“, klärte Charles sie überflüssigerweise auf und erinnerte sie der Miene nach an Luc. „Philippe spielt mit Charlotte Karten.“

„Ist Pierre auch drüben?“ Sie biss von der Kartoffel.

„Er hat sich zurückgezogen.“ Charles vergrub seine Hände in den Hosentaschen.

„Jetzt schon?“

„Ihm war nicht nach Gesellschaft.“

Die Kartoffel brach auseinander und fiel auf den Teller. „Ich muss kurz zu ihm.“ Eilig stellte sie den Teller auf den Tisch. Gleichzeitig erschienen die Hausangestellten. Zwei pausbäckige Mädchen, die wie Zwillinge aussahen. Blonde Strähnen blitzten unter den weißen Hauben hervor, sie hatten markante Nasen, einen breiten Mund und wulstige Lippen. Wären sie nicht weiß gewesen, hätte man sie der Merkmale wegen für dunkelhäutige Mädchen halten können.

Die Hausangestellten lächelten schüchtern und stapelten das Geschirr aufeinander.

„Was willst du bei Pierre?“, hakte Charles nach. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht jeden ihrer Schritte zu kontrollieren. Vermutlich ahnte er längst, dass ihr Verhalten mit einem anderen Mann zu tun hatte.

„Das geht dich nichts an.“ Sie ging an ihm vorbei.

„Du kannst mich nicht einfach so stehen lassen.“ Charles folgte ihr zur Treppe. „Also gib mir bitte eine Antwort.“

„Was willst du denn hören? Dass ich mit Pierre schlafe?“ Zornig drehte sie sich um und hielt sich am Geländer fest. „Ich sorge mich um Henriette und möchte Pierres Rat. Das ist alles.“

„Bist du sicher?“

„Natürlich.“

„Mir will aber die seltsame Anspielung des Prinzen nicht aus dem Kopf.“

„Er mag mich nicht. Deshalb schikaniert er mich laufend.“

„Woher kommt seine Abneigung?“ Charles fuhr sich über den Schnauzbart.

„Der Prinz ist kein einfacher Mensch. Frag Henriette, sie hat auch ihre Schwierigkeiten mit ihm, dabei ist sie seine Schwester.“

„Stimmt. Sie hat ihm ziemlich finstere Blicke zugeworfen, was auf Gegenseitigkeit beruhte.“ Endlich schien er sich zu beruhigen.

„Na siehst du, und jetzt muss ich zu Pierre, ehe er ins Bett geht. Wir sehen uns später, Charles.“ Sie machte, dass sie davonkam, bevor es sich ihr Mann anders überlegte. Heute hätte sie schwerere Geschütze aufgefahren, um ihn loszuwerden, da die Sache dringend war.

„Kannst du mir sagen, wo Pierre Langlois untergebracht ist?“, fragte sie ein blutjunges Dienstmädchen, das ihr im ersten Stock entgegeneilte.

„Natürlich. Bitte folgt mir.“

Kurz darauf klopfte Jeanne an Pierres Tür und trat ein.

Er saß vornübergebeugt auf dem Bett. Der Ärmelrock lag unordentlich daneben. Das zerknitterte Hemd hing über seine Hose, ein Stiefel stand neben seinem bestrumpften Fuß. Den anderen Stiefel hatte er noch an.

Sie ließ die Tür zufallen, aber selbst das riss ihn nicht aus seiner Haltung. „Pierre, du musst mir helfen.“

„Wobei?“, reagierte er endlich und hob den Kopf.

„Henriette ist schwanger.“

Pierre presste die Handflächen aneinander. „Und? Was habe ich damit zu tun?“

„Jede Menge, wir sollten ihr jetzt beistehen. Sie will das Kind.“ Zumindest ging sie davon aus. Immerhin kannte sie Henriette. Sie war kein kaltblütiger Mensch. Sicher, die Situation war mehr als unglücklich, aber letzten Endes würde sie das Richtige tun. Obwohl Jeanne zugeben musste, dass sie ihr eine Liebesnacht mit Luc nicht zugetraut hätte.

„Philippe wird sich über Nachwuchs freuen“, stellte Pierre sarkastisch fest.

„Luc ist der Vater.“

„Ihr Bruder?“ Ein entsetzter Ausdruck huschte über sein Gesicht.

„Genau der“, erwiderte Jeanne. „Fällt dir etwas ein?“

„Dazu fällt mir gar nichts mehr ein!“

„Hör auf, dich wie ein verschmähter Liebhaber aufzuführen.“ Jeanne ging vor ihm in die Hocke. Mitleid überkam sie. „Pierre, deine Traurigkeit trifft mich, aber du musst endlich einsehen, dass Henriette deine Gefühle nie erwidern wird. Noch dazu kennst du ihre wahre Geschichte.“

„Ich wünschte, du hättest sie mir nie erzählt.“

„Was ich nur getan habe, um dir vor Augen zu führen, wie aussichtslos deine Liebe ist. Insofern weißt du auch, dass die beiden keine Geschwister sind. Also tu nicht so entsetzt.“

„Das wissen wir, aber Henriette und dieser Luc nicht. Dennoch haben sie miteinander geschlafen.“ Seine Stimme klang, als würde er etwas kauen, wovor ihm graute. Jeanne erhob sich. „Gibt dir das nicht zu denken? Es würde mich zudem interessieren, ob du dich genauso für sie einsetzen würdest, wenn sie doch Bruder und Schwester wären.“ Mit wütender Miene zog er sich den zweiten Stiefel aus.

„Sie ist meine Freundin, die Frage stellt sich nicht. Ferner bringen uns diese Spekulationen ohnehin keinen Schritt weiter. Überleg dir lieber einen Plan, wie wir Philippe das Kind unterjubeln können.“

Er schaute sie an, als hätte sie den Verstand verloren. „Wie denn? Soll ich ihn niederschlagen, ins Bett verfrachten und die nackte Henriette dazu legen, die ihm am nächsten Tag versichert, dass sie die schönste Nacht ihres Lebens hatte?“

Jeanne klatschte begeistert in die Hände und sprang hoch. „Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann! Wo ist deine Arzttasche?“ Suchend blickte sie sich um und erspähte sie unter dem Walnusstisch. Schnell beförderte sie die Tasche auf das Bett und öffnete sie.

„Das war ein Witz!“, stellte er klar. „Und das ist meine Arzttasche.“ Pierre wollte danach greifen, doch sie rückte ein Stück von ihm weg. „Was suchst du überhaupt?“

„Schlafpulver. Ihn niederzuschlagen wäre zu hart.“

„Du willst Philippe tatsächlich hereinlegen?“ Sie nickte und schlug dann beschämt die Augen nieder. Diesem Blick konnte keiner widerstehen. „Dann lass mich mal nachsehen“, gab er sich geschlagen und kam an ihre Seite. Widerstandslos überließ sie ihm die Tasche. „Wie hast du dir das überhaupt vorgestellt?“

„Ganz einfach.“ Ihre Wangen glühten, in Gedanken klopfte sie sich selbst auf die Schultern. „Wir organisieren einen Kartenabend. Nur du, Henriette, Philippe und ich. Bei dieser Gelegenheit mischen wir das Schlafpulver in sein Getränk. Ehe wir uns versehen, schläft er ein. Danach halten wir uns an deinen Vorschlag. Ab ins Bett mit ihm und am Morgen wacht er neben der nackten Henriette auf.“

„Und weil er sich an nichts erinnern kann, fällt er sofort über sie her, weil er die vermeintliche Liebesnacht in vollem Bewusstsein erleben möchte. Was für ein …“ Er verstummte und machte eine hilflose Geste. „Sag einfach Bescheid, wann das Ganze über die Bühne gehen soll.“

Jeanne legte ihm die Hand auf den Rücken. „Ich weiß, wie schwer dir das fällt. Du bist ein aufrechter Mann. Noch dazu liebst du Henriette von Herzen. Umso mehr bin ich davon überzeugt, dass du ihr sogar helfen würdest, wären Luc und sie tatsächlich Geschwister.

„Schwachsinn“, winkte er ab. „Ich tue es um unserer Freundschaft willen, nicht für sie. Obwohl ich zunehmend verblüfft bin, zu welchen Mitteln du greifst, wenn du etwas willst.“

Sein Vorwurf überraschte und verletzte sie gleichzeitig, vor allem da seine Kritik berechtigt war. In jeder Beziehung. „Du tust es ebenso für Henriette“, überspielte sie ihre Gefühle. „Als Louis und sie Étiolles verlassen haben, wolltest du ihr nach dem ersten Schreck hinterherreiten, um ihr zu helfen. Zu diesem Zeitpunkt kanntest du die Wahrheit noch gar nicht.“

„Was ändert das schon, du hast mich ohnehin zurückgehalten.“

„Weil sie mit keinem Mann glücklich wäre und unabhängig von Luc: Henriette ist eine Prinzessin. Du hättest so oder so keine Chance gehabt.“ Jeanne strich sich eine Locke zurück.

„Das ist mir klar, aber diesen Punkt kann ich wenigstens nachvollziehen. Beim Rest fällt es mir schwer und auch deine Rolle in dem Ganzen ist mir suspekt. Einerseits hilfst du ihr, andererseits trägst du Mitschuld an dem Dilemma, das du mit wenigen Sätzen aus der Welt schaffen könntest.“

Niedergeschlagen betrachtete Jeanne ihre rechte Hand. Der weiße Streifen am Ringfinger war beinahe verblasst. Vor einem Monat hatte sie den Ehering abgelegt. „Glaub mir, es vergeht kein Tag, an dem ich mir das nicht vor Augen halte. Ich liebe Henriette wie eine Schwester und würde alles für sie tun. Doch das, wonach sie sich am meisten sehnt, nehme ich ihr. Ob sie mir je verzeihen kann, ist fraglich.“

„Und deine irrwitzigen Pläne sind es wert, dass du das alles aufgibst? Charles und Henriette lieben dich aus tiefstem Herzen. Aber ausgerechnet sie opferst du für ein Vorhaben, von dem du nicht einmal weißt, ob es überhaupt gelingt.“

„Ich will nichts beschönigen. Henriette bewundert mich für meinen Mut, ohne zu wissen, wie feige ich bin. In Wirklichkeit ist sie die Stärkere, denn sie würde keine Sekunde zögern und mir die Wahrheit sagen, wäre sie an meiner Stelle. Auch wenn es bedeuten würde, dass sie damit ihre eigene Zukunft zerstört.“

„Da wunderst du dich, dass ich mich unsterblich in sie verliebt habe.“ Pierre zog ein säuerliches Gesicht. „Ich hoffe, dass das kein böses Erwachen für dich gibt, Jeanne.“

„Immerhin bin ich für Henriette da und stehe ihr bei, wann immer sie mich braucht.“

„Das macht es nicht besser.“

„Aber sobald ich an Ludwigs Seite bin, werde ich ihr die Wahrheit sagen.“

„Bis dahin ist sie eine verheiratete Frau und zieht heimlich Lucs Kind auf.“

„Wozu gibt es Scheidungen?“

„Du legst dir alles so zurecht, wie du es brauchst. Bist du eigentlich je auf den Gedanken gekommen, dass es für die Wahrheit irgendwann zu spät sein könnte? Was, wenn Luc an der Front fällt? Oder Henriette etwas zustößt? Was, wenn du es ihr sagst, aber Luc nichts mehr von ihr wissen will, weil er sich einer anderen zugewendet hat? Oder es ist umgekehrt. Dreh und wende es wie du möchtest, doch Henriette wird dir nie verzeihen. Ich könnte es auch nicht.“

„Sei nicht so pessimistisch. Es wird sich alles fügen.“

„Ich wünsche es dir.“ Er suchte ihren Blick. „Das tu ich wirklich.“ Pierre setzte sich neben die Arzttasche. „Und jetzt würde ich gerne alleine sein.“

„Natürlich.“ Leise verließ sie sein Zimmer und während sie durch die Gänge eilte, dachte sie an seine Worte. Nie zuvor hatte er so offen mit ihr gesprochen. Seine Meinung traf sie tief, obwohl er in jeder Beziehung recht hatte.

Als sie ihr Schlafzimmer betrat, lag Charles bereits im Bett. Einige Kerzen brannten auf der Kommode neben dem Spiegeltisch, vor den sie sich müde hinsetzte. Sich selbst zu betrachten schmerzte plötzlich und sie dachte an ihre Kindheit. An die Ängste und die Einsamkeit. Die Sehnsucht nach dem Vater und den Tag, als Henriette ihr zum ersten Mal begegnet war. Ein Mensch, wie sie ihn nie wieder finden würde.

Seufzend schaute Jeanne zu Charles. Im nächsten Moment holte sie ein Taschentuch aus ihrem Dekolleté, schlich zur Tür und legte das Tuch davor nieder. Hoffentlich kannten die Zofen die Bedeutung dieser Geste … aber sie brauchte jetzt Liebe und Zärtlichkeit. Die Bestätigung, kein abgrundtief schlechter Mensch zu sein und das Wissen, dass sie geliebt wurde.

Als sie sich ausgezogen hatte, schlüpfte sie nackt unter die Decke. Mit der Hand tastete sie über Charles’ warmen Körper. Er öffnete die Augen, zog sie an sich und dann ließen sie ihren Gefühlen freien Lauf. Heute Nacht wollte sie ihm alles geben, das sie zu geben vermochte, denn es musste für sein ganzes restliches Leben reichen.

2. Kapitel

Strasbourg

Unschlüssig stand Luc vor dem zweistöckigen Haus mit den schmückenden Andreaskreuzen und Reliefs im Fachwerk. Bereits zweimal hatte er an das grüne Portal geklopft, doch niemand öffnete ihm. Ob er sich irrte und Hermann in einem der Nebengebäude wohnte?

Luc trat einige Schritte zurück und blickte über die Fassade. Dabei rieb er seine Hände aneinander, weil ihm eiskalt war. Bereits jetzt am frühen Nachmittag klirrte die Luft vor Kälte und hinter ihm lag eine regelrechte Tortur, seitdem er Paris verlassen hatte. Nicht nur mental.

Für den Weg hatte er aufgrund der frostigen Temperaturen fast doppelt so lange gebraucht, da er die meisten Nächte in Gaststätten verbracht hatte. Es war nicht immer einfach gewesen, eine zu finden, noch dazu mit einem Stall für seinen Araber. Aber sonst wären sie vermutlich erfroren.

Sein Hengst scharrte mit den Vorderhufen und zog an den Zügeln, die er um einen Pfosten gebunden hatte. Hinter ihnen plätscherte die zum Teil zugefrorene Ill. Ein durchdringender Verwesungsgeruch verpestete die Luft. Sie befanden sich im Gerbereiviertel der Stadt, die ansonsten mit der malerischen Häuserkulisse, den engen Gassen und Weiden ganz passabel aussah.

„Luc?“ Er blickte hoch. Hermann streckte seinen Kopf aus dem Dachfenster. „Mit dir habe ich ja gar nicht mehr gerechnet.“

„Wieso? Hast du mich irgendwo erfroren liegen gesehen?“

„Eher dachte ich, dass du auf dem Weg nach Amerika bist“, kam es sarkastisch von oben. „Du hast dir ziemlich Zeit gelassen. Oder hat es dir in meinem Pariser Stadthaus so gut gefallen?“

„Auch, aber meine Verspätung liegt am Wetter“, griff Luc zur halben Wahrheit. „Könnten wir uns drinnen unterhalten, bevor ich zum Eiszapfen werde?“

„Sicher, ich bin gleich unten.“

Luc stellte sich vor die Pforte, an der es keinen Türklopfer gab. Beim Nebengebäude zeigte sich jedoch das typisch aufgerissene Löwenmaul mit dem Ring im Rachen.

Schwungvoll wurde die Tür aufgerissen. „Wie schön, dass du da bist. Ehrlich gesagt habe ich mir ziemliche Sorgen gemacht.“ Stolz hielt er Luc vor sich.

„Die sind auch berechtigt, wenn du mich länger hier draußen stehen lässt.“

„Ach so, natürlich.“ Hermann zog ihn ins Haus und warf die Tür ins Schloss.

Anheimelnde Wärme herrschte im Inneren. Luc folgte seinem Freund in einen Salon. Im flackernden Kamin brannten einige Holzscheite. Davor standen ausrangierte Armsessel und ein kniehoher Tisch, dessen Holz an einigen Stellen gesplittert war. Der löchrige Teppich wies Flecken auf und viele lose Fäden hingen heraus. Ein paar Bücher, einige Bilder an den Wänden, Pelze auf einem Sessel sowie bestickte Kissen werteten den kargen Raum kaum auf, der dem Vergleich mit Schloss Chambord nicht im Geringsten standhielt.

„Setz dich und tau in Ruhe auf. Ich bringe deinen Araber in den Stall, hole dein Gepäck und braue uns danach einen Gewürzwein.“

„Du machst das alles selbst? Ist dein Personal wieder krank?“, scherzte Luc.

„Hier gibt es kein Dienstpersonal.“ Hermanns Lächeln verschwand. „Auch keine Reichtümer, wie du unschwer erkennen kannst. Meine Mündel sind stur wie du.“

„Wie? Was heißt Mündel?“

„Das erkläre ich dir später.“ Sein Freund eilte hinaus.

Luc befreite sich von seinem roten Umhang mit dem Pelzfutter, legte ihn über die Lehne des Stuhles neben dem Kamin und setzte sich. Gedankenverloren nahm er das Feuereisen und stocherte in der Glut herum. Funken stoben in die Höhe. Unweigerlich musste er an Henriette denken. Was tat sie gerade? Waren ihre Gedanken ebenfalls bei ihm?

Es hatte gedauert, bis er Paris verlassen konnte. Fast jede Nacht hatte er im Schutz der Dunkelheit vor dem Elternhaus gestanden. Mit der bohrenden Frage in sich, ob er hineingehen und Henriette holen sollte. Wie oft er kurz davor gewesen war, konnte er nicht mehr sagen. Doch schließlich hatte die Vernunft gesiegt. Ihre Liebeserklärung würde er für immer im Herzen bewahren, doch da waren ihre Narben gewesen. Die Verzweiflung. Wie hätte er so egoistisch sein und sie aus dem Leben reißen können, hinein in eine ungewisse Zukunft? Dafür liebte er sie zu sehr und es hatte ihn unmenschliche Kraft gekostet, sie nicht sofort mitzunehmen, denn die Nacht mit ihr war wie ein Traum gewesen. Umso mehr kamen ihm seit seiner Abreise aus Paris immer wieder Bedenken, ob er tatsächlich richtig entschieden hatte. Vielleicht wäre Henriette besser damit umgegangen als angenommen und er hatte womöglich den größten Fehler seines Lebens begangen. Es fühlte sich ohnehin so an.

Hinter ihm öffnete sich die Tür.

„Das ging ja schnell“, sagte Luc und lehnte den Schürhaken an die Wand neben dem Kamin. Da es still blieb, drehte er sich um und sprang im selben Moment auf. Eine junge Frau stand vor ihm und blickte ihn argwöhnisch an. Wie ein scheues Reh, das bei der geringsten Bewegung davonlaufen würde. Ihren Kopf schmückte eine weiße Pelzkappe, ihren Hals ein Cape. Der Barchentmantel glich dem Stoff des Armsessels und im linken klobigen Lederschuh klaffte ein Loch. Das zarte Weiß ihrer großen Zehe schimmerte heraus.

„Wo ist Hermann?“, erkundigte sie sich. „Holt Ihr uns jetzt?“ Sie zitterte plötzlich am ganzen Körper. Luc wollte einen Schritt auf sie zugehen, doch sie wich entsetzt zurück. Dabei blickte sie um sich, als würde sie nach einer Waffe suchen, um sich im Notfall zu verteidigen. Ob die Frau eine von Hermanns Mündel war?

„Hermann hat mir angeboten, die Wintermonate in seinem Haus zu verbringen“, setzte Luc zu einer Erklärung an.

Ein erleichtertes Lächeln erhellte ihr Gesicht. Die rehbraunen Augen blieben trotzdem fluchtbereit. „Ihr seid Luc Daniele I. de Bourbon, Prinz von Conti?“

„Wenn Ihr es so förmlich haben wollt, dann bin ich der wohl.“ Er verbeugte sich, was sie mit einem verlegenen Augenaufschlag quittierte.

„Ah, wie ich sehe, hast du unser Nesthäkchen bereits kennengelernt.“ Hinter Hermann kamen ein Mann mittleren Alters und eine Frau mit einem Tablett herein, auf dem sich fünf dampfende Tassen befanden. „Darf ich vorstellen?“, fragte Hermann mit stolzgeschwellter Brust. „Das sind André und mein Mündel Angelina. Die beiden sind seit drei Jahren verheiratet.“ Offen lächelten sie Luc an. Er fand sie auf Anhieb sympathisch. „Diese Kleine da ist mein zweites Mündel, Cassandra.“ Hermann schob sie vor sich. Die Röte in ihrem Gesicht verstärkte sich. Ein hübscher Name. „Setzen wir uns“, schlug er dann vor. Im Nu kamen alle seiner Aufforderung nach. Auch Angelina, die zuvor die Tassen auf dem Tisch verteilt hatte. Mit dem Tablett in der Hand nahm sie Platz. Luc spürte Cassandras Blick, die ihm gegenüber saß.

„Da du ziemlich erfroren bist, haben wir den Gewürzwein heißer als sonst gemacht.“ Hermann reichte ihm eine Tasse und teilte auch die restlichen aus. „Gut, dass Angelina rechtzeitig kam. Leider konnte sie nicht allzu viel retten, aber meine Zutaten haben es in sich.“ Er lehnte sich zufrieden zurück. So entspannt hatte er Hermann selten gesehen, auch nie so glücklich. Seine Augen leuchteten richtiggehend.

„Nennst du mir die Mischung vorher, falls ich daran sterbe?“, machte Luc einen Witz, allerdings lächelte nur Cassandra

Hermann stellte seine Tasse zurück. „Gewürznelken, Majoran, Muskatnuss, Ingwer, Zimt, ein wenig Pfeffer, Rosenwasser, Orangenblüten und was war da noch gleich?“ Er kratzte sich im Haar. „Ah ja, Kardamon.“

Angelina lachte aus vollem Herzen und warf ihr brünettes Haar zurück. Die fast schwarzen Augen erstrahlten, die vollen Lippen zeigten eine Reihe perfekt sitzender Zähne. „Rosenwasser statt Orangenblüten“, rügte sie ihn, nachdem sie sich beruhigt hatte, „und auch sonst sind die Gewürze variabel. Man muss sie nicht allesamt in einen Topf werfen, wie du es tust. Dafür sind sie viel zu teuer.“

„Da muss ich Angelina recht geben.“ André blies in seine blaue Tasse mit dem zerbrochenen Henkel. Sein blondes Haar war auf der linken Seite länger als auf der rechten. Blaue Äderchen schimmerten an den Wangen und er hatte eine Hasenscharte.

Luc roch an seiner Tasse. Zimtaroma stieg ihm in die Nase. Unweigerlich dachte er an vergangene Weihnachtsfeste. Es war lange her, dass er im Kreis seiner Familie etwas gefeiert hatte und das würde wohl für immer so bleiben. Betrübt kostete er vom Gewürzwein. „Das schmeckt gut“, stellte er dann fest. „Allerdings ist er tatsächlich stark gewürzt.“

„Siehst du“, triumphierte Angelina. „Weniger ist manchmal mehr.“

„Komisch“, meinte Luc, „sonst lebst du ja auch nach dieser Devise.“ Er blickte zu André. „Ihr solltet mal sein Schlösschen sehen.“

André grinste. „Gut, dass Ihr gekommen seid. Nun bin ich wenigstens nicht mehr der Einzige, der Hermann in die Schranken weist. Meine Mädchen reißen sich ja förmlich ein Bein aus, um ihm alles recht zu machen. Noch dazu sehen sie ihm alles nach.“

„So schlimm bin ich auch wieder nicht“, verteidigte sich Hermann lachend.

Luc entspannte sich allmählich und blickte abwesend zu Cassandra. Himmel, sie trug ja noch immer ihre Wintermontur! Die Frau würde bald Feuer fangen, da der Kamin geballte Hitze abgab. Doch auf ihrer glatten Stirn zeigte sich kein Glanz.

„Sie mag Wärme“, erklärte Angelina, die scheinbar seinem Blick gefolgt war. Cassandra senkte den Kopf und Luc fragte sich, was sich unter der Haube und dem Mantel befand.

„Wie war deine Reise, mein Junge?“ Hermann stützte sich mit den Ellenbogen auf die Stuhllehnen auf. Dabei hielt er die Tasse in beiden Händen.

„Anstrengend.“

„Konntest du in Paris alles erledigen?“ Sofort durchschaute er Hermanns Doppeldeutigkeit.

„Ich denke ja.“ Von Anfang an hatte er geahnt, dass Hermann ihn nicht wegen des Auftrages dorthin schickte, den jeder hätte ausführen können. Vielmehr wollte er ihm vermutlich die Chance geben, mit sich selbst ins Reine zu kommen. „Strasbourg ist übrigens eine faszinierende Stadt“, schlug Luc einen weiten Bogen und streckte die Füße aus, um sich irgendwie zu betätigen. „Nur dieses Viertel ist gewöhnungsbedürftig.“ Kaum ausgesprochen, hätte er die Worte am liebsten wieder zurückgenommen. Das war gedankenlos gewesen!

„Wir würden sofort umziehen, wenn wir könnten. Aber hier arbeiten und leben wir.“ André machte nicht den Anschein, als dass er beleidigt wäre. „Ich bin übrigens Löher in einer Gerberei, zwei Gassen weiter.“ Stolz schwang in seinen Worten mit, obwohl diese Arbeit einen ziemlich schlechten Ruf hatte, da sie als anrüchig galt. Aber jede Arbeit musste von irgendjemand gemacht werden. „Voriges Jahr litt ich an Milzbrand und habe überlebt. Seitdem übertrug man mir eine anspruchsvollere Arbeit. Ich bekomme sogar mehr Lohn.“ Luc nickte anerkennend.

„Diese Krankheit überstehen die wenigsten.“ Angelina warf ihrem Mann einen bewundernden Blick zu. „Aber diejenigen, die es tun, werden besser behandelt und sogar wie Helden bewundert.“ André lächelte. Er schien ein ambitionierter Mann zu sein.

„Seid Ihr hier in Strasbourg geboren und aufgewachsen?“ Luc spürte die Wärme des Feuers an seiner rechten Wange und lehnte sich zurück. Dabei fragte er sich, wieso ihm Hermann bisher die Existenz der drei verschwiegen hatte.

„Ja“, kam es zögernd von Angelina.

„Und? Wie lebt es sich hier?“

„Es gibt einflussreiche Familien, die viele hohe Ämter bekleiden“, gab Hermann Auskunft. „Die Müllenheims und Zorns. Sie geben den Ton an und setzten sogar durch, dass es im Rathaus zwei eigene Eingänge für jede Familie gibt. Auch am Ufer der Ill findet sich ein Quai Müllenheim und ein Quai Zorn. Klingt alles ziemlich erlesen, doch im Grunde sind die Familien grober als jeder Bauer. Nicht selten prügeln sie sich auf offener Straße.“

Was das mit seiner Frage zu tun hatte, war Luc schleierhaft. „Strasbourg scheint ein gefährliches Pflaster zu sein“, äußerte er sich, um irgendetwas zu sagen. Als er seine Tasse auf den Tisch stellte, fing er Cassandras Blick auf. Ihre Augen funkelten angriffslustig.

„Ihr wollt wissen, wie es sich hier lebt? Die Juden werden verfolgt“, stieß sie unvermittelt aus, „während sich andere hier breitmachen und glauben, sie könnten über alles und jeden bestimmen.“ Ihre Stimme war energischer als sie aussah. Aber das Thema schien sie aufzuwühlen. „Wie Verbrecher werden Juden zur Schau gestellt, verbrannt oder aus der Stadt gejagt.“

„Warum trifft Euch das so?“

Sie schaute Luc an, als würde sie ihm gleich ins Gesicht springen. „Weil ich diese Ungerechtigkeit nicht verstehen kann, die wir hier Tag für Tag erleben. Den Juden droht sogar die Todesstrafe, wenn sie sich nach zehn Uhr abends noch innerhalb der Stadtmauern aufhalten. Ist das zu fassen?“ Der Gewürzwein schwappte über ihre Finger.

„Menschen können grausam sein.“ Natürlich waren ihm Judenverfolgungen nicht fremd, doch bislang hatte er sich nicht ernsthaft damit auseinandergesetzt, obwohl er jegliche Form von Diskriminierung verurteilte. Sich so leidenschaftlich für dieses Volk einzusetzen wie Hermanns Schützling es tat, wäre ihm jedoch nie in den Sinn gekommen.

„Wie ist Eure Meinung zu Juden?“ Cassandras Hände umspannten die Tasse. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor. Gleich würde die Tasse in tausend Teile springen.

„Luc ist einer von den Guten“, stellte sich Hermann schützend vor ihn und trank die Tasse aus. Mit Nachdruck stellte er sie anschließend auf den Tisch. „Ich hätte ihn nie eingeladen, wenn er intolerant wäre wie viele andere. Außerdem vertraue ich ihm blind.“

„Hermann“, Luc hatte auf einmal ein eigentümliches Gefühl. „Weshalb bin ich wirklich hier?“ Vier Augenpaare fixierten ihn, bis Hermann etwas aus seiner Hosentasche zog und auf den Tisch warf. Einen Davidstern …

„Du erwägst eine Engelmacherin, aber unseren Plan findest du haarsträubend?“ Jeanne plumpste in den Stuhl hinter dem Sekretär. In aller Herrgottsfrühe war sie in Henriettes Appartement gerauscht.

„Ich glaube kaum, dass es auch Pierres Plan ist und es widerstrebt mir, ihn in die Sache hineinzuziehen“, wehrte sich Henriette dagegen. „Von Philippe ganz abgesehen.“

Jeanne zog einen Schmollmund. „Dein Einwand wegen Pierre ist nachvollziehbar, aber er will uns helfen. Das ist die Hauptsache. Dass du wegen Philippe Bedenken hast, kann ich jedoch nicht verstehen. Ich dachte, dir liegt nichts an ihm?“

„So ist es auch, trotzdem. Das tut man niemandem an. Selbst ihm nicht.“ Henriette zog den Gürtel ihres blauen Seidenmorgenmantels enger. Schon wieder war ihr flau im Magen.

„Ich sage es ungern, doch wenn du das Kind behalten willst, gibt es keine andere Möglichkeit. Zumindest fällt mir keine ein.“

„Aber es wäre ein ewiges Versteckspiel.“

„Du tust es ja für dein Kind. Das sollte den Aufwand wert sein.“

„Das ist nicht fair, Jeanne, und damit drängst du mich in eine Ecke.“ Nachdem sie den Entschluss gefasst hatte, das Kind in jedem Fall zu behalten, musste sie sich nun mit Jeannes verrücktem Plan auseinandersetzen. Aber war er tatsächlich so verrückt? Oder Philippe es wert, Rücksicht auf ihn zu nehmen? Immerhin hatte sie ihre Begegnung auf Schloss Ussé noch deutlich vor Augen. Seine kalten Worte nach Dianas Tod. Nicht zu vergessen, wie er sich beim Abendessen seinem Vater gegenüber verhalten hatte. Wenn sie schon diese Ehe eingehen musste, dann durfte sie auch einiges vom Schicksal einfordern. Oder etwa nicht? „Na gut. Wie sieht dein Plan konkret aus?“

„Endlich nimmst du Vernunft an. Also, wenn Philippe …“ Über Henriette ergoss sich ein Redeschwall, dem sie kaum folgen konnte. Danach saß sie den ganzen Vormittag über wie auf Nadeln. Beim Mittagessen suchte sie öfter Pierres Blick, der einsilbig neben Jeanne saß und kein einziges Mal in ihre Richtung schaute. So viel dazu, dass er helfen wollte. Wer wusste, womit Jeanne ihn dazu genötigt hatte!

Bei der gemeinsamen Besichtigung der Galerie am Nachmittag verhielt sich Pierre keinen Deut besser. Erst als Maria beinahe einige Tassen vom Sims fegte, kam Leben in ihn. Er wollte der Kleinen behilflich sein, allerdings kam Philippe ihm zuvor. Freundlich wies er Maria darauf hin, etwas vorsichtiger zu sein. Dann nahm er sie an der Hand und zeigte ihr alles. Manchmal kicherte Maria und sogar bei Philippe deutete sich etwas Ähnliches wie ein Lachen an. Die beiden schienen sich königlich zu amüsieren, was man vom Rest nicht behaupten konnte. Die Großtante versprühte ihr übliches Gift, was heute besonders Charlotte abbekam. Der Duc trottete den Streithähnen hinterher. Kein Wunder, dass auch er ein verdrossenes Gesicht machte. Louis war schon am frühen Morgen abgereist. Angeblich wegen dringender Geschäfte. Ob gelogen oder nicht, es war Henriette egal.

Nun genossen sie ein vorzügliches Abendessen, bei dem sogar sie zulangte und das zarte Wachtelfleisch sowie den Reis förmlich verschlang. Allerdings mied sie die süße Buttersauce. Seltsam, dass sie plötzlich Dinge nicht mehr mochte, von denen sie vorher nie genug bekommen konnte. Sogar die Vanillecreme lehnte sie ab, die zum Dessert gereicht wurde.

„Wie wäre es mit einem Kartenspiel?“, fragte Jeanne in die Runde, nachdem fast alle ihr Besteck abgelegt hatten.

„Gern“, hielt sich Henriette möglichst kurz, während sie versuchte, ihrer Aufregung Herr zu werden. Was, wenn etwas schief ging? Oder wenn sich jemand verplapperte?

„Leistet Ihr uns Gesellschaft, Pierre und Philippe?“, lud Jeanne die Männer ein, bevor sich jemand Unerwünschtes anbot. Charles machte ein enttäuschtes Gesicht.

Philippe schaute verwirrt von seinem Teller hoch. „Ich?“

„Natürlich Ihr, oder nennt sich sonst noch jemand Philippe?“ Jeanne lächelte ihn freundlich an.

„Seid Ihr etwa auch damit einverstanden, dass ich mitspiele?“ Seine blaufunkelnden Augen richteten sich spöttisch auf Henriette. Vanillesauce tropfte von seinem Löffel, den er über den Teller hielt.

„Ich würde mich freuen“, bekräftigte sie.

„Seltsam“, erwiderte er von oben herab. „Bisher hatte ich eher den Eindruck, als würdet Ihr es mit mir gemeinsam in keinem Raum aushalten.“

„Wir sitzen doch gerade an einem Tisch. Wie kommt Ihr darauf?“ Dass sie ziemlich angriffslustig klang, ärgerte sie selbst. Sie war drauf und dran den Plan zu gefährden. Aber dieser Mann forderte sie regelrecht heraus.

„Na dann“, er verengte die Augen, „steht einem Kartenabend wohl nichts im Wege.“

„Wir ziehen uns ins Musikzimmer zurück, mein Sohn“, bestimmte Françoise, als wäre sie die Gastgeberin. Seitdem sie hier war, tat sie ohnehin ständig dergleichen. Der arme Duc.

„Ich muss in mein Arbeitszimmer und Liegengebliebenes aufarbeiten“, lehnte dieser prompt ab. Schweiß stand auf seiner Stirn.

„Jetzt? Du lieber Himmel, Junge, ich bin nicht ständig zu Besuch.“ Gott sei Dank! „Deswegen erwarte ich, dass du dir Zeit für mich nimmst.“ Die Großtante nahm einen Zahnstocher aus der kleinen Silberdose, hielt sich die Hand vor den Mund und stocherte darin herum.

„Ich kann nicht mein ganzes Leben umkrempeln, bloß weil du da bist.“ Der Duc zog an seinem Bartflaum.

„Bloß?“, regte sie sich auf. „Das Leben kann schneller vorbei sein als einem lieb ist. Schau dir deine Tante Lotti an. Wer weiß, wie lange sie noch hat?“ Ehrliche Anteilnahme klang anders und Henriette ahnte, dass die Großtante sie anschaute, doch sie blickte demonstrativ aus dem Fenster. Nach wie vor konnte sie nicht ohne Zorn an ihre Großmutter denken.

„Ist die italienische Luft tatsächlich gut für unsere Lungen, Monsieur Langlois?“, erkundigte sich der Duc.

„Wie meinen?“ Zerstreut blickte Pierre von einem zum anderen, als wüsste er nicht, wer die Frage gestellt hatte. Henriette sank tiefer in die weiche Goldbrokatunterlage des Stuhles.

Der Duc lächelte nachsichtig. „Vergesst es.“

„Auf eine dumme Frage gibt es eben keine Antwort“, mokierte sich Françoise.