Weil Schottlands Herz für die Freiheit schlägt - Bettina Reiter - E-Book

Weil Schottlands Herz für die Freiheit schlägt E-Book

Bettina Reiter

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Beschreibung

Elderslie/Schottland 1294: Ein dunkles Geheimnis überschattet das Leben der siebzehnjährigen Jodie Wallace. Als die grauenvolle Wahrheit ans Licht kommt, wird Jodie zum Erzfeind ihres Bruders William geschickt, um für ihr Land zu spionieren - denn es droht Krieg zwischen Schottland und England. Während William an vorderster Front kämpft, lebt Jodie in der ständigen Angst, dass man ihre wahre Identität aufdeckt. Doch unverhofft begegnet ihr die große Liebe - aber auch ihr erbittertster Feind …

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Bettina Reiter

Weil Schottlands Herz für die Freiheit schlägt

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Geschichtlicher Hintergrund:

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Epilog

Anmerkungen der Autorin

Zusammenfassung

Impressum neobooks

Vorwort

© Copyright der Neufassung 2017 Bettina Reiter

Lektorat/Titel: Edwin Sametz

Titelbilder: Fotolia

© korionov/Fotolia.com, © gdvcom/Fotolia.com und © arhar/Fotolia.com

Bilder Flaggen/Innenseite: © cmfotoworks/Fotolia.com

Titelbildgestaltung: © Bettina Reiter

Website der Autorin: www.bettinareiter.at

Alle Rechte liegen bei der Autorin.

Sämtliche Texte sowie das Cover sind urheberrechtlich geschützt.

Eine Nutzung in jeglicher Form (Fotokopie, Mikrofilm, Verbreitung, Textauszug, Vervielfältigung oder anderes)

ist ohne die schriftliche Genehmigung des Rechteinhabers/Urhebers nicht zulässig und daher strafbar!

„Ich habe den Mut zu glauben,

den Mut zu kämpfen,

aber vor allem habe ich den Mut zu sterben.“

Geschichtlicher Hintergrund:

Kampf um die Freiheit - Schottland gegen England

Im Jahr 1286 verunglückt König Alexander III. von Schottland. Da seinem Tod auch jener seiner Söhne vorausgegangen ist, gibt es keinen Nachfolger - nur seine dreijährige Enkelin, die ebenfalls verstirbt. Deshalb entbrennt ein Streit um die rechtmäßige Thronfolge und es gibt viele Anwärter. Unter ihnen Robert the Bruce und John Comyn III. - doch durch die Uneinigkeit im Land droht ein Bürgerkrieg. Um ihn abzuwenden, wird König Edward I. von England - auch bekannt als „Hammer der Schotten” und „Longshanks” (´Langbeinˋ, da er für damalige Zeiten eine stattliche Größe hatte) - mit der Schlichtung des Problems betraut. Dieser begrüßt die günstige Gelegenheit, um seine Macht auszuweiten, und spricht sich unter dem Aspekt der Erbfolge für John Balliol als König aus - der schlussendlich den Thron besteigt.

König Edward I. glaubt mit Balliol einen Verbündeten zu haben, da er ihn protegiert hat. Als der englische König jedoch einen Krieg gegen Frankreich anzettelt, verlangt er vom schottischen König Unterstützung. Diese Forderung ist u. a. der Auftakt zum Unabhängigkeitskrieg zwischen Schottland und England. Ein harter Kampf, bei dem insbesondere William Wallace und Andrew de Moray zu König Edwards I. größten Feinden werden. Aber auch Robert the Bruce spielt im Kampf um Schottlands Freiheit eine wesentliche Rolle.

Prolog

Elderslie, 11. September 1284

„Das Leben eurer Brut“, brüllte George von Mar, „oder deine Frau wird mir zu Willen sein, Wallace. Es ist deine Entscheidung.“

Margarete zitterte am ganzen Leib. Fünf Männer standen ihr mit brennenden Fackeln gegenüber und taxierten ihren Körper mit glasigen Augen. „Kriecht in die Hölle zurück, aus der ihr gekommen seid! Allesamt“, stieß sie wutentbrannt aus. „Besonders du, George!“

Grinsend trat der verhasste Mann einen Schritt auf sie zu. Die Hitze der Fackel brannte in Margaretes Gesicht, doch das war nichts gegen die Abscheu, die seine Gegenwart in ihr hervorrief. „Seit wann so kratzbürstig?“, säuselte er mit alkoholgeschwängertem Atem. „Früher warst du entgegenkommender - oder besser gesagt - Wachs in meinen erfahrenen Händen. Erinnerst du dich? Damals, als du noch Margarete de Crauford genannt wurdest.“

„Wag es ja nicht, meine Frau anzurühren!“ Drohend hob Margaretes Mann die Faust. „Du Schwein hast ihr schon genug angetan.“

„Angetan?“, wiederholte George und lachte dreckig. „Ach Alan, siehst du nicht, dass sie sich geradezu nach mir verzehrt?“ Das Knistern der Fackel verstärkte die bedrohliche Situation. Angstvoll blickte Margarete zum Haus. Hinter den Fenstern war es dunkel. Lediglich aus der weit offenen Eingangstür fiel schwaches Licht heraus. Bitte, lieber Gott, lass meine Kinder schlafen, flehte sie innerlich.„Aber langsam reißt mir die Geduld“, wurde George ungehalten. „Ich muss nicht betteln. Wir sind in der Überzahl und in Zeiten wie diesen fragt niemand danach, weshalb euer Haus niedergebrannt wurde, warum eure Kinder an Stricken baumeln und ihr wie Vieh aufgeschlitzt darunter liegt.“

„Komm schon, George“, wandte sein Busenfreund Patrick the Bruce ein. „Die Hure ist das Gerede nicht wert. Erledigen wir die Sache und verschwinden. Mitternacht ist längst vorbei. Also, worauf wartest du?“

„Darauf, dass meine offene Rechnung beglichen wird. Wallace hat mir etwas gestohlen“, wetterte George. Alarmiert starrte Margarete auf das Licht, das plötzlich hinter Jodies Zimmerfenster aufflammte. Ihr Zittern verstärkte sich. „Ich will dich nicht zurück, Margarete“, sprach George weiter, „selbst wenn du darum betteln würdest. Aber wenn ich mit dir fertig bin, wird dich dein Mann nie wieder berühren können, ohne dass du dabei an mich denkst.“

„Dann tu, wonach dir ist!“, rief Margarete panisch aus, weil sie Jodies kleine Gestalt die Treppe vom ersten Stock herunterkommen sah. „Aber nicht hier.“

„Margarete!“ Alan erstarrte. „Das ist nicht dein Ernst.“

Weinend deutete sie zur Pforte, wo jetzt ihre siebenjährige Tochter im dünnen Nachthemd stand. Die zarte Silhouette verschwamm vor Margaretes Augen. „Jodie“, flüsterte sie dann, „kümmere dich um sie.“

„Aber ich …“

„Bitte! Tu es einfach, Alan.“

„Jetzt geht es nicht um Jodie, sondern um dich!“, brüllte ihr Mann plötzlich.

„Himmel, was bist du nur für ein kaltschnäuziger Vater“, unterstellte George ihm und schüttelte den Kopf. „Und so einen Trottel hast du mir vorgezogen?“ Wie Schraubstöcke umschlossen Georges Finger Margaretes Oberarm. Kraftvoll zog er sie an sich. Nie würde sie den letzten Blick ihres Mannes vergessen, bevor sie in Richtung Stall geschubst wurde. Den Schrei ihrer Tochter, die zu ihr laufen wollte. Alans harte Worte, als er Jodie befahl, auf ihr Zimmer zu gehen, um sich dann auf einen der Männer zu stürzen. Kurz schloss sie die Augen. Hörte Alans schmerzvollen Ausruf, der ihr ins Herz schnitt. Spürte den einsetzenden Regen wie Nadelstiche auf ihrer Haut. Zischend verlöschten die Fackeln. Da war Jodies Wimmern. Ihr eigenes, angstvolles Keuchen. Dann hob sie die Lider. Ihr Blick war starr auf die Stalltür gerichtet. Auf das, was vor ihr lag. Sie wusste, nach diesem Opfer würde sie nicht mehr dieselbe sein, weil sie sich bereits jetzt wie eine Fremde in ihrem eigenen Körper fühlte …

1. Kapitel

Es roch modrig. Jodie kauerte wimmernd an der kalten Kellerwand. Völlige Dunkelheit umgab sie, denn es gab kein Fenster. Der Vater hatte sie hier eingesperrt, als sie zu ihrer Mutter laufen wollte. Noch immer schmerzten ihre Arme von seinem harten Griff.

Etwas raschelte. Jodie begann zu zittern und dachte an die Ratten, die hier unten hausten. An die lauten Rufe, die schon seit geraumer Zeit verstummt waren. Warum holte sie niemand? Wo waren ihre Brüder? Ihre Eltern? Und was hatten diese Männer mit ihrer Mutter getan? Wieso hatte sie der eine regelrecht zum Stall bugsiert?

Jodie schluchzte auf, weil ihr die Angst die Kehle zuschnürte. Die Angst, dass etwas Schreckliches geschehen war. Nie zuvor hatte sie ihren Vater so böse erlebt. Er war sogar auf die Männer losgegangen. Noch jetzt saß der Schock tief in ihren Gliedern, weil die Männer brutal auf ihn eingeschlagen hatten. Doch ihr Vater hatte sich losgerissen und war zu ihr gerannt. Und jetzt saß sie hier und hatte keine Ahnung, was los war. Gleichzeitig hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren.

Jetzt raschelte es dicht neben ihr. Jodie rutschte beinahe hysterisch zur anderen Seite, bis sie an eine Kiste stieß. Darin lagerten Kartoffeln. Also musste sie sich in der Nähe der Tür befinden. Atemlos tastete sie über die Kisten. Auf einmal spürte sie etwas auf ihrer Haut. Spinnweben? Im nächsten Moment krabbelte etwas über ihre Hand. Panisch schlug sie um sich, rappelte sich hoch und stolperte im nächsten Moment über eine Kiste. Hart schlug sie am Boden auf, doch sofort war sie wieder auf den Beinen. Vorsichtig machte sie einen Schritt nach dem anderen und streckte einen Arm aus, bis sie ein Hindernis spürte. Ihre Hände glitten darüber. Die Tür. Da war die Tür!

„Papa“, rief sie, „hol mich hier raus!“ Sie klopfte gegen das sperrige Holz. Unzählige Male, bis sie irgendwann regelrecht dagegenhämmerte. Dazwischen horchte sie, doch es rührte sich nichts. Nur dieses Rascheln war zu hören. „Bitte“, flüsterte Jodie und ihr Kopf sank gegen die Tür. „Hol mich endlich aus dem Keller.“

Erschöpft setzte sie sich auf den Boden und weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte. Bisher war ihr Vater immer für sie dagewesen. Wieso kam er jetzt nicht? Schreckliche Bilder taten sich vor ihrem geistigen Auge auf. Sie sah ihren Vater am Boden liegen, voller Blut. „Nein“, hallte ihre eigene Stimme wider, „Papa holt mich bald und dann wird alles gut.“

Allmählich wurden Jodies Lider schwer. Sie schlief ein, bis sie von einem Schrei geweckt wurde, der ihr durch Mark und Bein ging. Es war der Schrei ihres Vaters. Wund, wie der eines Tieres.

Jemand nestelte am Schloss. Vielleicht waren Minuten vergangen. Vielleicht sogar Stunden. Jodie rieb sich über die brennenden Augen und konnte sich nicht bewegen. Unvermittelt traf sie die Tür ins Gesäß.

„Aua!“, rief sie aus und rieb sich die schmerzende Stelle.

„Warum liegst du auch hier herum?“ Ihr dreizehnjähriger Bruder Malcolm trat mit einer Kerze in der Hand herein. Jodie stand schnell auf.

„Vater hat mich eingesperrt.“ Sie eilte an ihm vorbei, denn sie wollte nichts als raus aus dem dunklen Verlies. Malcolm folgte ihr. „Sind die Männer fort? Hast du Vater gesehen? Oder Mutter?“

„Äh, nein. Aber von welchen Männern sprichst du?“

Die schrecklichen Bilder kamen zurück. „Von denen, die uns überfallen haben“, half Jodie ihm auf die Sprünge, während sie die Stufen hinaufeilte.

„Hast du etwas getrunken? Was für ein Überfall denn?“

„Heute waren Männer hier, Malcolm.“ Sie beschleunigte ihre Schritte. „Ich bin vom Geschrei wach geworden und nach draußen gegangen. Mutter …“ Jodie konnte nicht weitersprechen, weil sie oben war und vom Tageslicht geblendet wurde, das durch die offene Eingangstür fiel. Sie kniff die Augen zusammen und blieb stehen. Malcolm prallte gegen sie.

„Kannst du nicht aufpassen?“, schimpfte er. „Und von wegen Geschrei. Ich habe geschlafen wie ein Murmeltier.“

Jodie ließ ihn stehen und öffnete die Küchentür. Aus dem Topf über der Feuerstelle stieg dampfender Rauch in die Höhe.

„Wo sind Mutter und Mary?“

Malcolm blies die Kerze aus und zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Gerade waren sie noch da. Wie üblich wollte ich dich dann wecken, aber du warst nicht in deinem Bett. Deshalb habe ich dich gesucht. Aber wieso bist du denn so hysterisch?“

„Wo ist Vater?“, überging sie seine Frage und öffnete die Stubentür. Auch hier war niemand.

„Der ist in die Trinkstube gegangen“, hörte sie William hinter sich und wirbelte zu ihm herum. Blass stand er vor ihr und sah aus, als hätte er im Gegensatz zu Malcolm kein Auge zugetan. Aber das war im Augenblick nicht so wichtig wie die Erkenntnis, dass es ihrem Vater gut zu gehen schien.

„Um diese Zeit?“, wunderte sich Malcolm. „Langsam bin ich etwas verwirrt. Jodie spricht von einem Überfall, im ganzen Haus sind alle wie vom Erdboden verschluckt und Vater zieht es schon zur Morgenstunde in die Trinkstube. Was zum Teufel ist los?“

William ballte die Hände zu Fäusten. Seine Gesichtszüge wurden zu einer Grimasse. „Wir sind tatsächlich überfallen worden“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Diese Schweine!“

„Hat man uns beraubt?“, fragte Malcolm erschrocken und legte die Kerze auf den Esstisch.

„Nein“, antwortete William eisig.

„Gott sei Dank.“ Malcolm blickte zur Wand gegenüber dem Kamin. Dort hingen unzählige wertvolle Dolche, die der Vater im Laufe der Jahre gesammelt hatte. „Unser alter Herr hat sie vermutlich alle davongejagt.“

„Vater ist weit entfernt von dem Helden, für den wir ihn bisher gehalten haben.“ William lehnte sich gegen den Kamin, als hätte er keine Kraft mehr und suchte Jodies Blick, die ihn verwundert anstarrte. Nie zuvor hatte er so abwertend über den Vater gesprochen. „Du solltest zu Mutter gehen, damit sie weiß, dass du wohlauf bist.“

„Dazu müsste ich wissen, wo sie ist.“ Jodie ließ ihren Bruder nicht aus den Augen. William, den sie kannte wie ihre Westentasche, war ihr plötzlich fremd. Weil sie zum ersten Mal keine Ahnung hatte, was in ihm vorging.

„Sie liegt in ihrem Bett und ruht sich aus“, gab William Auskunft. „Die Sache hat sie ziemlich mitgenommen.“

Jodie zögerte, bevor sie auf dem Absatz kehrtmachte und die Stufen hinauflief. Das Elternzimmer lag neben ihrem. Ohne anzuklopfen öffnete sie die Tür und trat ein. Bei ihrem Erscheinen ließ Mary die Hand ihrer Mutter los und erhob sich von der Bettkante.

„Jodie“, wisperte die Mutter, deren Lächeln kläglich misslang. Die Augen waren rotgeweint, ihre Haut leichenblass. Sie sah furchtbar aus. Fragend schaute Jodie zu Mary hoch, die ebenfalls aussah, als hätte sie geweint.

„Eure Mutter braucht Euch jetzt, Jodie“, sagte die alte Köchin. „Kümmert Euch um sie und kommt dann zu mir in die Küche. Ich werde eine Hühnersuppe kochen, die Ihr Eurer Mutter nachher bringen könnt.“

Jodie nickte und während sie zum Bett trat, verließ Mary den Raum.

Tränen traten aus den Augen der Mutter, die ihr wortlos die Arme entgegenstreckte. Im nächsten Moment lag Jodie neben ihr im Bett und kuschelte sich an sie. Liebevoll strich ihr die Mutter über das Haar und barg ihr Gesicht darin. „Ich bin Gott unendlich dankbar, dass euch allen nichts geschehen ist“, flüsterte sie mit belegter Stimme.

„Vater hat mich in den Keller gesperrt.“ Jodie schluckte die Tränen hinunter. „Aber ich hatte keine Angst“, schwindelte sie, weil sie ihre Mutter nicht noch trauriger machen wollte.

„Da bin ich froh. Du musst nämlich wissen, dass dich dein Vater nicht bestrafen, sondern beschützen wollte. Aber das hat er dir bestimmt gesagt, als er dich wieder geholt hat.“

„Malcolm hat mich aus dem Keller geholt.“

„Malcolm?“ Jodie spürte, wie sich der Körper ihrer Mutter anspannte. „Aber wo ist dein Vater?“

„In der Trinkstube.“

Das Streicheln endete abrupt. Es dauerte, bis sie in ihrem Tun fortfuhr. „Wir werden das alle gemeinsam überstehen“, versprach sie plötzlich, als müsste sie sich selbst Mut machen.

„Warum waren die Männer hier, Mutter?“, fragte Jodie stotternd und rückte etwas von ihr weg, um sie ansehen zu können.

Die Lippen der Mutter begannen zu zittern. Blanke Angst stand in ihren grünen Augen. „Wir sind glimpflich davongekommen“, erwiderte sie und drückte Jodie fester an sich. „Das ist das Wichtigste. Alles andere wird sich weisen, denn niemandem wird es gelingen, uns auseinanderzubringen. Nicht einmal …“

Im nächsten Moment ließ die Mutter sie los, würgte einige Male, bevor sie sich zur Seite rollte und sich über die Bettkante erbrach.

Das und ihre Worte verfolgten Jodie den restlichen Tag. Weil sie nichts damit anfangen konnte. Ihre Mutter hatte zwar wiederholt beteuert, dass alles in Ordnung sei, doch ihr Zustand sprach keineswegs dafür und die Aussagen verwirrten sie mehr, als dass sie Klarheit schafften. William schien es anders zu gehen, dem sich Jodie am Nachmittag anvertraute. Er wirkte nicht durcheinander. Eher wie jemand, der mehr wusste. Aber trotz hartnäckigem Fragen blieb ihr auch er eine Erklärung schuldig und ging schließlich mit Malcolm zur Jagd. Nur John - der jüngste ihrer Brüder - saß mit ihr am Esszimmertisch, während sie auf den Vater wartete. Doch sie schwiegen sich an. John war anders als Malcolm und William. Deshalb tat sie sich schwer, ihm genauso nahe zu sein. Vielleicht auch deshalb, weil John eifersüchtig auf sie war. In seinen Augen war sie der Liebling ihres Vaters. Ein wenig mochte er damit recht haben, das musste sie zugeben. Wenn sie sich mit den Brüdern zankte, half der Vater meistens zu ihr und nahm sie öfter als die Brüder in seine Arme.

„Jodie ist ein Mädchen und Mädchen behandelt man anders“, pflegte der Vater zu sagen. „Ihr hingegen seid Burschen, die zu harten Männern heranwachsen sollen. Das schafft man aber nicht auf dem Schoß des Vaters, sondern indem man gefordert wird.“ Der Vater lehrte den Brüdern vieles. Wie gern wäre Jodie manchmal zur Jagd mitgegangen, hätte Bogenschießen gelernt oder den Umgang mit dem Schwert. Nur zum Holzhacken nahm der Vater meistens sie mit. Anfangs hatte sie ihm nur zugeschaut, inzwischen durfte sie mit einer zweiten Axt mithelfen. Doch mit dem Ausschluss von der Jagd und anderen Dingen konnte sie besser umgehen als mit der Tatsache, dass Bildung fast ausschließlich den Männern vorbehalten war. Aber es gab Ausnahmen und man hörte immer wieder, dass in manchen Familien auch Mädchen Lesen und Schreiben lernen durften. Doch ihre Eltern hielten am alten Denkmuster fest. So gesehen hätte sie ebenfalls eifersüchtig sein können und zugegeben, sie war es auch ab und an.

Als die Dämmerung hereinbrach, saß Jodie alleine in der Stube. John war auf sein Zimmer gegangen. Ängstlich fixierte sie den Kerzenstumpen. Bald würde die Flamme verlöschen. Mit der herannahenden Dunkelheit kamen die Stunden im Keller zurück. Schatten tanzten über die Wände. Plötzlich glaubte sie ein Rascheln zu hören und schaute auf den Boden, obwohl sie wusste, dass es Einbildung war. Genauso wie die Schreie, die durch ihren Kopf hallten. Ob die der Männer oder des Vaters. Trotzdem hatte sie eine Gänsehaut und versuchte an ihre Mutter zu denken. Am Nachmittag hatte sie immer wieder bei ihr nach dem Rechten geschaut. Die Hühnersuppe hatte sie nicht angerührt. Aber wenigstens schlief sie, obwohl sie sich unruhig hin und her gewälzt, manchmal sogar gewimmert und unverständliche Worte gemurmelt hatte.

Stimmen näherten sich. Jodie sprang von ihrem Platz hoch und eilte in die Halle hinaus. Die Tür öffnete sich. William und Malcolm stapften herein.

„Vater ist immer noch nicht da“, beklagte sich Jodie sofort bei ihnen.

„Wir freuen uns auch, dich zu sehen“, amüsierte sich Malcolm und warf seinen grauen Umhang auf den Stuhl neben der Esszimmertür.

„Macht ihr euch keine Sorgen?“, schimpfte Jodie. Manchmal waren ihre Brüder wie Gesteinsbrocken.

„Gönn ihm die Abwechslung.“ Malcolm drückte sie an sich. Sofort vergaß sie das mit den Gesteinsbrocken. „Vater wird schon kommen und du solltest dich fürs Bett fertig machen, Lowland.“

„Nenn mich nicht immer so“, beschwerte sich Jodie gespielt böse. „Ich bin kein kleines Mädchen mehr.“

„Das halte ich für ein Gerücht, du Zwerg“, mischte sich William ein. Er war zwei Jahre jünger als Malcolm, überragte ihn jedoch bereits um fast zwei Köpfe. Aus William würde ein Riese werden, wenn er nicht aufhörte zu wachsen. Doch wie es aussah, hatte ihm der Jagdausflug gutgetan, obwohl sie wie üblich mit leeren Händen zurückgekommen waren. „Aber Malcolm hat recht. Wir müssen alle etwas zur Ruhe kommen. Du solltest wirklich ins Bett gehen.“

„Ich möchte auf Vater warten“, beharrte sie.

„Bis zu seiner Heimkehr kann es noch Stunden dauern.“ Malcolm ließ sie los. „Ich gehe in die Küche. Die Jagd hat mich hungrig gemacht. Kommst du mit?“, erkundigte er sich an William gewandt, der den Kopf schüttelte.

„Ich werde unsere Schwester nach oben bringen. Ich schätze, sie braucht nach der Nacht im Keller jemanden, der ihre Hand hält.“ William legte seinen Arm um Jodies Schultern. Keiner kannte sie besser als er.

Seite an Seite stiegen sie über die Treppe hinauf. Als Jodie wenig später im Bett lag, saß William im Stuhl neben ihr und schnarchte. Die dunkelbraunen Locken fielen ihm in die Stirn. Er hatte abstehende Ohren, am Kinn eine Kerbe in der Größe eines Pennys, eine Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen und wie es aussah, einen gesunden Schlaf.

Sie beneidete ihn, denn sie bekam kein Auge zu. Irgendwann hörte sie plötzlich lautes Poltern über die Stiege herauf. Dann näherte sich jemand hustend ihrem Zimmer. Ihr Vater war zurück! Erleichtert verließ Jodie das Bett und sauste voller Vorfreude in den Gang hinaus.

Mit torkelnden Schritten kam ihr der Vater entgegen. Die Laterne in seiner Hand baumelte. Jodie wurde unsicher, weil sie ihn in diesem Zustand noch nie gesehen hatte, und blieb stehen. Als er fast bei ihr war, bemerkte sie Blessuren in seinem Gesicht. „Ich bin so froh, dass du wieder da bist, Papa“, wisperte sie und klammerte sich an ihn.

„Lass mich los, Jodie“, lallte er und hielt die Arme etwas vom Körper weg, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Verletzt löste sie sich von ihm und trat einen Schritt zurück, weil er bedenklich schwankte.

„Was ist mit dir?“

Ihr Vater sank an die Wand. „Was mit mir ist?“, höhnte er und lachte plötzlich unkontrolliert. „Nichts“, meinte er, „was soll schon mit mir sein?“ Er neigte sich etwas zur Seite. Jodie befürchtete, dass er hinfallen würde. Mit beiden Händen fasste sie nach seinem Arm, um ihn notfalls zu halten.

„Du sollst mich loslassen!“, herrschte er sie an und schüttelte sie ab wie ein lästiges Insekt. Jodie stand wie vom Donner gerührt vor ihm. Seine Gestalt verschwamm vor ihren Augen. „Ich schlafe unten“, fügte er ruhiger hinzu und machte kehrt. Sie blickte ihm schluchzend hinterher, als sich plötzlich eine warme Hand auf ihre Schulter legte.

„Geh wieder ins Bett“, hörte sie William sagen. „Und lass Vater seinen Rausch ausschlafen. Morgen ist er wieder ganz der Alte, du wirst sehen.“

In den folgenden Tagen bekam Jodie ihren Vater kaum zu Gesicht, weil die Trinkstube sein zweites Zuhause wurde. Und wenn sie ihm begegnete, war er so sturzbetrunken, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Manchmal wurden sogar Malcolm oder William geholt, um ihn nach Hause zu bringen. Meistens legten sie ihn dann auf die harte Bank in der Stube, die vor dem Fenster stand.

Die Mutter hingegen erholte sich von Tag zu Tag mehr. Zumindest körperlich. Aber dieser Überfall schien auch sie verändert zu haben. Sie, die immer gern gelacht hatte, brachte kaum noch ein Lächeln zustande. Zwar verrichtete sie ihre gewohnten Tätigkeiten, aber jeder Handstrich wirkte kraftlos. So, als würde sie lediglich funktionieren.

Jodie war völlig überfordert und hatte keine Ahnung, wie sie mit der veränderten Situation umgehen sollte. Es lag eine seltsame Spannung in der Luft. Nur ein falscher Laut, und alles würde über ihren Köpfen zusammenstürzen. Und dass der Vater auf einmal so kühl war, machte ihr zusätzlich zu schaffen.

„Komm schon, Lowland. Sei kein Mädchen!“, rief Malcolm zu ihr herüber. Sie saß auf den Stufen der Burg. „Wer schneller oben ist.“

„Es ist der falsche Baum“, wiederholte sie zum dritten Mal und bewunderte ihren Bruder, der behände von einem Ast zum anderen kletterte. Obwohl sie ansonsten jede Wette annahm, die morsche Eiche neben der Familienkapelle war ihr nicht ganz geheuer.

„Angsthase“, zog Malcolm sie auf und verschwand in den dichten Zweigen. „Du hast keine Ahnung, was du versäumst.“

„Ich kann es mir lebhaft vorstellen“, rief sie abwesend und blickte zum Dorf hinunter. Die Burg ihrer Eltern befand sich auf einer kleinen Anhöhe. Der Old Patrick plätscherte daran vorbei, hohe kahle Bäume umsäumten das Grundstück, zu dem auch einige Ländereien in der Umgebung gehörten. Das Dorf lag am Fuße des Hügels. Oft beobachtete sie die Menschen, wie sie im Herbst durch erdige Straßen eilten oder sich am Brunnen trafen. Im Winter emsige Schritte im Schnee hinterließen und im Frühjahr ihre Gesichter lachend der Sonne zuwandten. Der Sommer schien alle endgültig aus dem Haus zu treiben. Besonders in den Vormittagsstunden wirkte das Dorf häufig wie ein Ameisenhaufen. Oft spielten ihre Brüder und sie mit den Kindern bis die Sonne unterging. Beim Gedanken daran musste sie lächeln.

„Sieh an, dir scheinen zur Abwechslung angenehme Gedanken durch den Kopf zu gehen.“ William schlenderte auf sie zu. Mit einem geschulterten Leinenbeutel, den er knapp vor Jodies Füßen auf den Boden hievte. Vermutlich war er wieder im Stall gewesen, wie so oft in letzter Zeit. Oder in der Familienkapelle, die sich gleich daneben befand. „Sieht schwerer aus als er ist“, meinte er grinsend.

„Hast du Malcolm eingepackt, um ihn beim Markt zu verkaufen?“

William lachte schallend und auch Jodie musste lachen. Es tat so gut, obwohl sie sich auf Malcolms Kosten amüsierten. Aber da der älteste Bruder selbst gerne austeilte, würde er es verschmerzen können.

„Dein Witz wird mir fehlen, Jodie.“

Ihr Lachen endete und sie blickte in Williams ernstes Gesicht. „Du willst fort?“ Es war weniger eine Frage als eine Feststellung.

William blickte an ihr vorbei. „Aye. Ich muss raus hier.“

Es war, als würde eine eiskalte Hand nach ihrem Herzen greifen. „Das geht nicht“, entfuhr es Jodie und sie erhob sich langsam. „Du kannst mich nicht alleinlassen, William. Was soll ich ohne dich tun?“

„Malcolm und John sind auch noch da.“

„Aber sie sind nicht du“, flüsterte sie.

Nun schaute er ihr in die Augen. „Ich komme bald zurück, versprochen. Aber ich brauche etwas Abstand.“ Ehe sie sich’s versah, nahm er ihre Hände. „Warte bitte bis ich fort bin, bevor du unseren Eltern Bescheid sagst.“

„Du willst dich nicht von ihnen verabschieden?“

„Nein.“ Seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich. „Vater würde es in seinem derzeitigen Zustand ohnehin kaum mitbekommen, und Mutter, na ja, du kennst ihre Überredungskunst.“

„Was ist mit deiner Ausbildung?“

„Von Anfang an hat sie mir keine Freude bereitet. Aus mir wird nie ein Geistlicher werden, Jodie.“, bekannte William mit gesenktem Kopf. „Das ist mir in den letzten Tagen klargeworden. Denn wenn es einen Gott geben würde, hätte er niemals zugelassen, dass … ach, das ist jetzt auch egal.“

„Nein, das ist es nicht“, brach es aus Jodie heraus. „Obwohl Mutter behauptet, dass wir glimpflich davongekommen sind, ist sie ein völlig anderer Mensch geworden. Mit Vater ist dasselbe geschehen und bei dir ist es nicht anders. Doch niemand spricht mit mir darüber oder beantwortet meine Fragen. Auch du weißt mehr als du zugibst“, unterstellte sie ihm. „Was ist wirklich geschehen, William?“

„Glaub mir, manchmal ist es besser, einiges nicht zu wissen. Ich wäre gern an deiner Stelle, Lowland.“ Nie würde sie Williams Blick vergessen, der voller Schmerz war, aber auch voller Hass. „Ich bin der Falsche für dieses Gespräch.“ William küsste sie ins Haar, dann nahm er den Beutel und ging mit ausladenden Schritten Richtung Wald - als könnte er es nicht erwarten, endlich fort zu sein. Am liebsten wäre sie ihm hinterhergelaufen.

In den darauffolgenden Nächten weinte sich Jodie oft in den Schlaf, weil sie William so vermisste. Weil die Mutter weiterhin jeder Frage auswich. Aber am schlimmsten war es, dass der Vater - dessen Besuche in der Trinkstube von heute auf morgen aufgehört hatten - sie wie eine Aussätzige behandelte, wenn sie sich wie früher an ihn schmiegen wollte.

„Hier, damit du nicht so alleine bist.“ Malcolm war unbemerkt in die Kapelle hereingekommen und hielt Jodie eine Holzfigur unter die Nase. Verwundert schaute sie darauf, erhob sich und machte das Kreuzzeichen. „Sie heißt Molly. Ich habe sie selbst geschnitzt.“ Malcolm lächelte stolz und schien neben John der einzige zu sein, der nach wie vor der Alte geblieben war.

„Danke.“ Jodie nahm die Holzfigur und betrachtete sie. Ihr Bruder hatte ihr sogar ein lachendes Gesicht gemalt. „Molly sieht lustig aus“, bemerkte sie und erwiderte Malcolms Lächeln, obwohl ihr Herz von einer seltsamen Wehmut erfüllt war.

„Das wird schon wieder, Jodie.“

„So ähnlich hat William geklungen, bevor er fortgegangen ist.“ Prüfend schaute sie ihm ins Gesicht.

„Mach dir keine Sorgen, Jodie. Ich werde immer bei dir bleiben.“ Unbeholfen klopfte er ihr auf die Schulter, bevor er sie wieder alleine ließ. Fest drückte sie Molly an sich, kniete sich erneut vor die Heilige Madonna nieder und weinte still vor sich hin.

Die Wochen vergingen. Bald färbten sich die Blätter auf den Bäumen. Nebel zog über die Wiesen und Felder. Manchmal regnete es tagelang, begleitet von böigem Wind. An einem dieser tristen Tage hatte Malcolm das Elternhaus verlassen.

John war es, der Jodie darüber informierte und bekam unschuldigerweise ihren ganzen Zorn zu spüren. Sie schrie ihn sogar an und schleuderte Molly von sich. Wie hatte Malcolm das tun können? Obwohl er das Gegenteil versprochen hatte? Sogar in einer Kapelle? War ihm denn gar nichts heilig? Nie zuvor hatte sich Jodie verlassener gefühlt. Wen hatte sie jetzt noch? Keinem schien sie wichtig genug, und alle waren mit sich selbst beschäftigt. Gingen ihre eigenen Wege, so wie William und Malcolm.

Beim Abendessen schaute sie ständig auf die leeren Stühle, während ihr Vater und John darüber diskutierten, wohin Malcolm gegangen sein könnte. Die Mutter saß schweigend daneben und stocherte in ihrem Getreidebrei herum. Erst als sich der Vater enttäuscht über Williams abgebrochene Ausbildung äußerte, schien Leben in sie zu kommen.

„Die beiden sind alt genug, um selbst über ihre Zukunft zu entscheiden“, hielt sie dem Vater entgegen.

„Das mag für Malcolm gelten, aber nicht für William. Immerhin habe ich ein halbes Vermögen für seine Ausbildung ausgegeben.“

„Er hat von klein auf gesagt, dass er eines Tages nur einer Instanz dienen möchte: Seiner Heimat Schottland. William wird unserer Familie auf andere Weise Ehre machen, sei unbesorgt.“

Daraufhin erhob sich der Vater und verließ das Esszimmer. Auch die Mutter zog sich zurück. Jodie und John aßen schweigend zu Ende.

„Mein Ausbruch heute Nachmittag tut mir leid“, entschuldigte sich Jodie.

Johns überraschter Blick streifte sie. „Schon gut, ich bin auch zornig gewesen. Wenigstens von mir hätten sie sich verabschieden können. Aber ich war sowieso immer nur der Kleine.“

„Dann sind wir schon zwei.“

„Stimmt.“ John spielte mit dem Löffel. „Eigentlich bewundere ich die beiden. Nie hätte ich mich das getraut. Doch eines Tages werde ich so mutig sein wie sie. Vor allem wie William.“ Unverhohlene Bewunderung sprach aus seinen Worten. „Bis dahin sollten wir zusammenhalten, Jodie.“ Er wurde verlegen. „Mir ist klar, dass ich es nie mit unseren Brüdern aufnehmen kann, aber ich will mein Bestes versuchen. Wenn du also jemanden zum Reden brauchst, bin ich für dich da. Auch wenn ich nur schmale Schultern habe.“

Jodie fasste gerührt nach seiner Hand. „Danke.“

Mit etwas mehr Zuversicht ging sie ins Bett. Trotzdem konnte sie nicht einschlafen. Wie einige Male zuvor schlich sie sich mit Molly in der Hand in die Stube. Ihr Vater verbrachte die Nächte nach wie vor auf der Bank. Leise setzte sie sich auf den Stuhl ihm gegenüber und zog sich das Tuch enger um ihre Schultern. Mit ängstlichem Blick auf den Vater. Jeder geringste Laut riss ihn aus dem Schlaf. Das wollte sie vermeiden. Zu kostbar waren diese Momente, in denen sie ihn für sich alleine hatte. Nur für sich. Und auch in dieser Nacht starrte sie auf seine starken Hände und flehte Gott an, ihr zu helfen. Denn nach nichts sehnte sie sich mehr, als dass ihr der Vater wieder über den Kopf streichen würde, so wie früher.

Er rührte sich. Jodie hielt den Atem an, als er die Augen aufschlug.

„Jodie“, raunte er verschlafen. Wie sanft seine Stimme klang. Auch sein Blick war liebevoll. „Habe ich dir nicht gesagt, dass ich es nicht mag, wenn du mich im Schlaf beobachtest?“ Als kämen mit dem Wachwerden unliebsame Erinnerungen zurück, runzelte er die Stirn.

„Entschuldige, Vater.“ Sie senkte den Kopf und schaute auf ihre Hände im Schoss, die Molly hielten. „Ich konnte nicht schlafen.“

„Weshalb du mich wecken musstest?“

Jodie wischte sich grob mit Tuch über die Augen, hob den Blick und flüsterte: „Ich war ganz leise, Papa.“

„Geh ins Bett“, forderte er und fuhr sich durch das zerzauste Haar. Sie starrte auf seine Hände und schluckte hart. Auf einmal öffnete sich die Tür. John kam verschlafen herein. Mit nassen Beinlingen. Fast jede Nacht nässte er ins Bett.

„Wieder einmal in die Hosen gemacht?“, fragte der Vater seufzend und erhob sich. „Na komm, lass uns Mutter Bescheid sagen.“ John schaute zu ihm auf, wie Jodie es tat.

„Ich könnte John helfen“, bot sie an. „Mutter schläft bestimmt schon.“

Der Blick ihres Vaters war nicht zu deuten. „Ach Jodie“, murmelte er und hob seine Hand, als ob er ihr über den Kopf streichen wollte. Doch bevor es dazu kam, verließ er mit John den Raum.

Es war Ende Oktober. Jodie schichtete hinter der Burg das Holz in der Remise auf. Trotz der Anstrengung waren ihre Finger klamm. Immer wieder pustete sie in ihre Hände, aber das half nicht viel. In den letzten Tagen hatte es unaufhörlich geschneit. Mit dem viel zu frühen Wintereinbruch war auch klirrende Kälte gekommen.

„Meine Güte, John“, schallte die Stimme des Vaters zu ihr. „Du sollst das Holz spalten und nicht streicheln. Weiß der Himmel, ob aus dir jemals ein richtiger Mann wird. Da hackt ja Jodie besser Holz als du.“

Sein Lob ging ihr runter wie Öl, weil sich an der Kluft zu ihrem Vater trotz der vielen Wochen nichts geändert hatte. Aber seit jenem Abend war sie nie wieder zu ihm in die Stube gegangen.

„Nein, so wird das nichts. Du darfst die Axt nicht wie einen Kamm halten, Junge.“ Vor kurzem hatte John seine Eitelkeit entdeckt und machte vor allem um seine Frisur viel Aufhebens. Sie kannte niemanden, bei dem sie so perfekt saß. „Jodie, komm her“, rief der Vater.

Sie ließ das Scheit fallen und eilte zu ihm. Als er ihr die Axt reichte, kam Stolz in ihr hoch. Obwohl es ihr an Ausdauer und Kraft fehlte, im Zielen war sie unschlagbar. Jodie hob die Axt in die Höhe, ließ sie nach unten sausen und spaltete das Scheit mit einem Schlag.

Der Vater nahm die zwei Hälften und warf sie auf den bereits ansehnlichen Haufen. „Siehst du, John, genauso macht man das.“

Jodie lächelte ihren Vater an, aber seine Miene blieb starr. Doch als er ihr die Axt aus der Hand nahm, legte er seine Hand kurz auf ihre Schulter.

„Kein Wunder, dass Jodie zuschlägt wie ein Mann“, meldete sich John zu Wort und schniefte. Seit Tagen kämpfte er mit einem hartnäckigen Schnupfen. „Sie durfte dir ja ständig helfen.“

„Eifersüchtig?“, belustigte sich der Vater.

John machte ein Gesicht, als hätte er sich in die Zunge gebissen. „Ich bin doch keine Frau.“

„Dein Wort in Gottes Ohr.“ Jetzt lächelte der Vater, und Jodie fühlte die Kälte nicht mehr. Zuversicht erfüllte sie, dass Malcolm recht gehabt haben könnte. Vielleicht würde tatsächlich alles gut werden.

„Du lernst es sicher noch“, sprach sie John Mut zu. „Ich konnte es auch nicht von einem Tag auf den anderen.“

„Siehst du“, wandte sich John an den Vater. „Kein Meister fällt vom Himmel.“

„Schon gut, Sohn.“ Er tätschelte Johns Wange. „Wie weit bist du eigentlich in der Remise, Jodie?“ Der Vater rieb seine Hände aneinander.

„Fast fertig.“

„Dann lass es gut sein für heute. Den Rest können wir morgen erledigen. Es wird Zeit, dass wir etwas zwischen die Zähne bekommen.“

Einträchtig wateten sie durch den Schnee und saßen kurz darauf am Küchentisch. Zu Mittag aßen sie manchmal hier. Vor allem im Winter, weil kein Raum so warm war wie die Küche. Mary goss Suppe in die Schüsseln und stellte eine nach der anderen vor sie hin. Fast gleichzeitig griffen sie zu ihren Löffeln und begannen zu essen. Dabei schielte Jodie immer wieder zu ihrem Vater. Manchmal fing sie seinen nachdenklichen Blick auf, doch er senkte ihn sofort.

„Falls noch jemand Hunger hat, es ist genügend da.“ Mary schaute wohlwollend von einem zum anderen.

„Ich könnte einen weiteren Happen vertragen.“ Der Vater deutete auf die fast leere Schüssel. „Du hast dich wieder einmal selbst übertroffen, Mary.“

Die Köchin grinste. Kurz danach stellte sie die aufgefüllte Schüssel auf den Tisch.

Der Vater schob sie näher zu sich und widmete sich seiner zweiten Portion. „Wo ist eigentlich Margarete?“, erkundigte er sich zwischen zwei Bissen.

„Sie hat sich in ihr Zimmer zurückgezogen, Sir“, unterrichtete Mary ihn. „Soviel ich weiß schreibt sie einen Brief an Euren Schwager Ronald.“

Jodie spürte wieder den Wunsch in sich, lesen und schreiben zu können. Ob sie die Mutter fragen sollte? Abgesehen von der Bildung würden sie endlich mehr Zeit miteinander verbringen, so wie sie es beim Holzhacken mit dem Vater tat. Irgendwie schien er gelöster und ihr ging es ebenfalls besser. Außerdem schadete es keinem Mädchen, wenn es mehr konnte als von ihm erwartet wurde.

„Was ist mit Euch, Kinder? Mögt Ihr Nachschlag?“ Mary stemmte die Hände in die Hüften. Johns und Jodies Schüssel waren inzwischen leer.

„Für eine zweite Ladung habe ich keine Zeit“, lehnte John ab.

„Wieso? Möchtest du weiter Holz hacken?“ Der Vater lachte verhalten, bevor er sich den Löffel in den Mund schob. Dann schluckte er und ließ den Löffel sinken. „In letzter Zeit habe ich mich ziemlich gehen lassen.“ Mit jedem Wort war der Vater leiser geworden, bevor er den Blick hob und Jodie ansah. Fast so wie früher. Nur mit dem Unterschied, dass Bedauern in seinen braunen Augen lag.

„Hier riecht es nach Schweiß“, meldete sich John zu Wort und vertrieb diesen schönen Moment. „Ob das Jodie ist? Außerdem würde es mich nicht wundern, wenn sie Läuse hätte. Bei dem verfilzten Haar.“

„Wieso bist du so gemein?“, patzte sie ihn an, obwohl sie den Grund für seine Beleidigung ahnte. Es passte ihm vermutlich nicht, dass der Vater bei seiner Aussage nur sie angesehen hatte.

„Wer hart arbeitet, riecht nach Schweiß. Warum du nach Rosenblüten duftest, solltest du umgehend hinterfragen, Junge.“ Der Vater tauchte den Löffel in die Suppe. Sein Goldring am kleinen Finger blitzte auf. „Und Läuse hattest du öfter als deine Geschwister, wenn ich dich daran erinnern darf.“

„Immer hilfst du zu Jodie“, maulte John und sandte ihr einen grimmigen Blick.

„Das stimmt nicht. Ich helfe dem, der ungerecht behandelt wird. Und wiederum muss ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen: Wie oft habe ich Malcolm und William ausgeschimpft, weil sie sich einen Spaß mit dir erlaubt haben?“

John nahm eine gerade Haltung an. „Die zwei haben alles zurückbekommen“, behauptete er, aber alle am Tisch wussten es besser.

Zwischen den Brüdern war es regelmäßig zu Raufereien gekommen, aus denen John chancenlos hervorging. Andererseits hatten sich auch Malcolm und William nichts geschenkt, weil sich Malcolm oft darüber geärgert hatte, dass William der Größere und Stärkere war. Dann wiederum waren die zwei wie Pech und Schwefel gewesen. John hatte es schwer, seinen Platz unter den Brüdern zu finden. Kein Wunder, dass er sich anderen Dingen zuwandte. Trotzdem hatte Jodie keine Lust, dass er seine schlechte Laune an ihr ausließ.

„Alan.“ Plötzlich stand die Mutter mit aschfahlem Gesicht in der offenen Tür. Auf die übliche Haube hatte sie verzichtet. Strähnen lösten sich aus ihrem hochgesteckten kastanienbraunen Haar. „Könntest du bitte kommen?“

Der Vater legte den Löffel ab und stand auf. „Ist etwas geschehen?“

Statt zu antworten, drehte sie sich um und ging davon. Der Vater eilte ihr nach. John und Jodie sahen sich fragend an.

Mary sandte einen Blick nach oben. „Herr im Himmel, lass diesen Kelch an uns vorübergehen“, sprach sie inbrünstig aus. „Kredenze ihn jedem anderen, nur nicht uns.“

„Was redest du da für dummes Zeug?“, fragte John kopfschüttelnd.

Marys Blick war undefinierbar. „Ich bete immer, wenn ich das Gefühl habe, dass sich über diesem Haus etwas zusammenbraut.“

„Was soll sich denn …“

„Du bist was?“, wurde John vom Gebrüll des Vaters unterbrochen.

„Jesus Maria“, Mary machte das Kreuzzeichen. „Als hätte ich es geahnt.“

Jodie hielt nichts mehr in ihrem Stuhl. Als sie in die Halle kam, standen sich die Eltern wie Kampfhähne vor der Kellertreppe gegenüber.

„Wie konnte das geschehen?“, brüllte der Vater.

Die Mutter schluchzte auf. „Bitte quäle mich nicht weiter, Alan.“

„Wer hier wohl wen quält“, höhnte er. „Dabei habe ich gedacht, dass wir das Schlimmste hinter uns hätten.“

„Du bist so selbstgerecht!“ Die Mutter schlug sich die Hände vor das Gesicht und weinte hemmungslos.

Jodie lief zu ihr hin, legte einen Arm um ihre Taille und schaute zum Vater hoch. „Bitte, Papa, hört auf zu streiten“, bettelte sie.

„Misch dich gefälligst nicht ein.“ Der Vater fasste nach Jodies Arm. „Mach, dass du in dein Zimmer kommst. Das hier geht nur deine Mutter und mich etwas an!“ Heftig zerrte er sie von der Mutter weg, als Jodie plötzlich stolperte und im nächsten Augenblick polternd über die Kellertreppe hinunterfiel. Unten krachte sie gegen die Tür. Ein greller Schmerz fuhr durch ihre Beine und ihren Rücken.

„Was hast du getan, Vater?“, hörte sie John rufen.

Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

2. Kapitel

Dezember, 1294 - zehn Jahre später

„Verdammt!“ König Edward schlug mit der Faust auf den wuchtigen Schreibtisch. Papierrollen fielen auf den Boden. Das Tintenfass kippte um. Sein Bruder Edmund, der ihm gegenüber saß, sank tiefer in den Sitz. „Verflucht sollst du sein!“, steigerte sich Edward weiter in seinen Jähzorn gegen Frankreich hinein und ahnte gleichzeitig, dass sein Bruder den Ausbruch auf sich selbst münzen würde.

„Es tut mir leid, dass ich dir keine bessere Nachricht überbringen konnte.“ Edmunds mitfühlende Stimme machte ihn noch wütender.

„Ich verabscheue die Franzosen.“ Edwards Stimme überschlug sich fast. „Wie viel Energie habe ich darauf verwendet, Aquitanien und vor allem die Gascogne aus dem Lehnverhältnis zu lösen. Ich könnte unseren Vater erwürgen, wäre er nicht schon längst tot. Wie konnte er die Ländereien dem französischen König überlassen? Ausgerechnet ihm?“ Wieder traf seine Faust den Schreibtisch. „Den monatelangen Aufenthalt in der Gascogne hätte ich mir sparen können!“

„Du sprichst, als wäre alles umsonst gewesen. Vergiss nicht, dass du durch deine Anwesenheit zumindest deine Stellung festigen konntest“, zwitscherte Edmund wie ein besänftigendes Vöglein.

„Hör auf. Wir wissen beide, dass ich wieder ganz am Anfang stehe.“ Edward stöhnte unwillig auf. „Ich wünschte, Eleonore wäre jetzt hier.“ Seine Frau war vor vier Jahren gestorben. Mit ihr eine kluge Beraterin und treue Gefährtin. Ihr Tod hatte ihm zugesetzt, und erst vor einigen Monaten hatte er sich dazu durchgerungen, wieder zu heiraten. Blanche von Frankreich sollte es sein. Nicht nur aufgrund ihrer vielgerühmten Schönheit, auch politisch konnte er bei dieser Verbindung aus dem Vollen schöpfen. Blanches Halbbruder Philipp hatte sich einverstanden erklärt, sich aber zwei Rechte vorbehalten: Die Gascogne sollte vollständig in französische Hände gegeben werden, und ein Waffenstillstand wurde gefordert. Natürlich hatte er dem vorerst zugestimmt, dann war sein Bruder Edmund nach Frankreich gereist, um Blanche zu holen.

„Niemand konnte ahnen“, fuhr Edmund fort, „dass man uns Blanche schmackhaft macht, obwohl sie Rudolf von Böhmen versprochen ist.“ Er verzog das Gesicht, bevor er sich vorsichtig zurücklehnte. Vermutlich die üblichen Rückenschmerzen. Sein zinnoberrotes Überkleid hatte schon bessere Tage gesehen. Schweiß stand auf seiner wächsernen Stirn. Sie hatten nur das gewellte schulterlange Haar gemeinsam, den Vollbart und die dunklen Augen. Ansonsten waren sie grundverschieden wie ihre Beinamen: Edmund wurde seit seiner Beteiligung am Kreuzzug ´Crouchbackˋ genannt, er aufgrund seiner imposanten Körpergröße ´Longshanksˋ. Etwas, worauf Edward stolz war. Im Gegensatz zu seinem linken Oberlid, das nach unten hing und seine Sicht einschränkte.

„Zu allem Überfluss bieten sie mir Margarethe an.“ Edward konnte es immer noch nicht fassen und stieß ein trockenes Lachen aus. „Eine Zwölfjährige! Sie mag im heiratsfähigen Alter sein, aber sie ist in Frankreich aufgewachsen und vermutlich völlig unreif. Die dortige Erziehung ist mit der unseren nicht zu vergleichen. Blanche hätte dieser Kleinen wenigstens Liebreiz vorausgehabt.“ Das mittägliche Rindfleisch mit Kräuterbrei lag ihm plötzlich schwer im Magen. „Also was soll ich mit ihr? Spielen? Sie erziehen? Ich bin über fünfzig und will eine Frau. Mit Kindern bin ich dank Eleonore zur Genüge gesegnet.“

„Möchtest du meinen Rat hören?“

„Lass mich raten: Ich soll mich mit Frankreichs lächerlicher zweiter Wahl zufriedengeben und den Schwanz einziehen?“

„Ob Blanche oder Margarethe, in beiden Fällen hättest du Vorteile“, sprach Edmund ihm ins Gewissen. „Außerdem soll Margarethe ihrer Schwester in nichts nachstehen, weder in Schönheit noch in Reife. Man nennt sie sogar die ´Blume von Frankreichˋ.“

„Und wenn schon. Die Franzosen neigen seit jeher zu maßloser Übertreibung.“ Der Stuhl flog nach hinten, als sich Edward erhob. „Vermutlich ist Margarethe hässlich wie die Nacht. Oder hast du sie gesehen und kannst das Kompliment bestätigen?“

Jetzt wirkte Edmund wie ein Häufchen Elend. „Nur von Weitem konnte ich einen Blick auf sie erhaschen … allerdings trug sie einen Schleier vor dem Gesicht.“

„Einen Schleier?“, erboste sich Edward. „Und trotzdem willst du sie mir schmackhaft machen? Du bist ein elender Dummkopf!“ Speicheltröpfchen besprenkelten den Tisch. Sein Bruder wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Edward zog herrisch an seinem roten Umhang, auf den er gestiegen war. Auf einmal war ihm heiß, gleichzeitig fror er. Fluchend durchmaß er mit kraftvollen Schritten den düsteren Raum. „Ich wünsche, dass du ein Schreiben verfasst.“ Edward baute sich vor dem großen Fenster auf und verschränkte die Arme im Rücken. „Mit folgendem Inhalt: Der König von England lehnt nicht nur eine Verlobung mit Margarethe ab, sondern erklärt Frankreich hiermit den Krieg.“ Der tiefe Atemzug seines Bruders verunsicherte ihn kurz. „Der Brief soll umgehend aufgesetzt werden. Je eher dem französischen König klar wird, mit wem er sich angelegt hat, desto besser. Danach wirst du den königlichen Rat informieren. Ich erwarte die Lords im Ratssaal.“

„Obwohl ich deinen Ärger verstehe, bitte überlege dir diesen Schritt. Du weißt um die Finanzen unseres Haushalts. Zu viele Kriege haben bereits ein großes Loch in Englands Staatskasse gerissen.“

„Zerbrich dir nicht meinen Kopf“, fuhr Edward ihm über den Mund. „Ich habe vor, die Zölle zu erheben, insbesondere jene der Wolle. Außerdem wird künftig die Hälfte aller kirchlichen Einnahmen in die königliche Schatzkammer fließen. Der Reichtum unserer Obrigkeiten ist ohnehin kaum zu ertragen.“

„Der Papst wird dem nicht zustimmen.“

„Wer braucht den Papst? Der Klerus wird mir aus der Hand fressen, sobald ich bei Nichtbefolgung mit Ächtung drohe.“

„Du wagst dich weit hinaus, Bruder. Aber dein Wort in Gottes Ohr.“

„So sei es. Ach ja, noch etwas: Lass Schottlands König Balliol herzitieren. Vordergründig, um mir über die Steuern Rechenschaft abzulegen. Sobald er hier ist, werde ich ihm von der Wendung mit Frankreich berichten. Der schottische König soll an meiner Seite kämpfen.“

„Was, wenn sich Balliol sträubt? Wie dir bekannt sein dürfte, ist er dir längst nicht mehr so wohlgesonnen wie bei seiner Thronübernahme. Es brodelt in Schottland.“

„Wie dir bekannt sein sollte, ist es im Tower kaum auszuhalten. Solltest du mich also weiterhin mit Nebensächlichkeiten plagen, kannst du dir einen Kerker mit Balliol teilen.“.

Edmunds Stuhl knarzte über den Marmor. Als Edward das leise Schließen der Tür hörte, entspannte er sich. Der Blick auf seinen sandfarbenen Palast tat sein Übriges. Majestätisch erhob sich das Schloss auf Thorney Island, wie er das Gebiet noch immer nannte, obwohl es inzwischen als Westminster bekannt war. Früher ein Sumpfgebiet, durch das sich die Themse schlängelte.

Unwillkürlich dachte Edward an die rauschenden Feste in der Westminster Hall, an die vielen Siege, die er dort gefeiert hatte. Auch Frankreich würde er besiegen und die Schotten weiterhin in Schach halten, deren König vor acht Jahren bei einem Sturm in Kinghorn ums Leben gekommen war. Zuvor waren alle seine Kinder verstorben. Vielleicht ahnte der König seinen baldigen Tod voraus, denn zwei Jahre zuvor hatte er durchgesetzt, dass ihm seine Enkelin auf den Thron folgen sollte. Mit drei Jahren war sie schließlich zum Oberhaupt Schottlands ernannt worden, als Siebenjährige hatte man sie in ihr neues Herrschaftsgebiet geschickt. Bei der Überfahrt erlag sie nahe den Orkney-Inseln jedoch einer schweren Krankheit.

Diese Abdankung erzürnte Edward noch jetzt, weil sie das Scheitern eines perfekten Plans bedeutet hatte. Es war ihm nämlich gelungen, die Hochzeit zwischen seinem Sohn und der schottischen Thronerbin zu arrangieren. Doch es gab andere Mittel und Wege, um sich dieses Land anzueignen. Immerhin hatte man ihn bereits zu Lebzeiten der Thronerbin in Schottlands Interessen eingebunden, und da es vierzehn Anwärter auf den Thron abgesehen hatten, war er mit der Schlichtung betraut worden. Glücklicherweise stand Balliol gemäß der Erbfolge an erster Stelle, ein Verbündeter Englands. Aber selbst dieser Trottel ahnte nicht, dass er bei Weitem mehr wollte, als nur uneingeschränkter Lehnherr von Schottland zu sein. Das Volk war scheinbar schlauer als dessen König, denn die Widerstände gegen England mehrten sich. Aber das war eher amüsant als beunruhigend. Sein Vasall Balliol würde Schottland zu Englands Vasall machen, ob die Schotten wollten oder nicht. Und wieder einmal würde er bekommen, wonach ihm der Sinn stand. Balliol tanzte nach seiner Fiedel. Ebenso wie Robert the Bruce, der Zeter und Mordio geschrien hatte und Balliols ärgster Widersacher in der Streitfrage um den Thron war. Wie ein kleines Kind fühlte sich Bruce übergangen und war ihm bei kleineren Aufständen einige Male in den Rücken gefallen. Um ihn mundtot zu machen, hatte er ihn nach Irland geschickt sowie sämtliche Schulden erlassen. Einzig Comyn bereitete ihm Kopfzerbrechen, der manchen Aufstand initiiert hatte. Selbst Anwärter auf den Thron, verfolgte Comyn dieses Ziel jedoch nur halbherzig. Allerdings engagierte er sich sehr für König Balliol. Sicherlich auch, weil er mit ihm verwandt war. Doch Balliol würde den lästigen Comyn im Bedarfsfall sicher zur Raison bringen können.

„Störe ich?“

Edward fuhr herum. „Was für eine überflüssige Frage, Elizabeth.“ Und ob du störst!

Kaum ausgesprochen, trat sie ein. Lieber hätte er weiter an seine Erfolge gedacht, als sich zu unterhalten. Doch Elizabeth war die Tochter des Earls von Ulster, der zu seinen engsten Vertrauten gehörte. Wohl oder übel musste er sich ihr deshalb widmen, da der Earl einer der reichsten und mächtigsten Männer Englands war und hin und wieder seine Privatschatulle füllte.

Elizabeth verbeugte sich und erlaubte einen tiefen Einblick in ihr Dekolleté. Die milchige Haut wölbte sich an pikanter Stelle hervor. Das, und die scharlachrote Farbe des seidenen Stoffes, verlieh ihr etwas Verruchtes.

„Habt Ihr Euch Eurem Vater zuliebe in Rot gekleidet?“, erkundigte sich Edward mehr aus Höflichkeit, als dass es ihn interessiert hätte. „Wie geht es meinem Freund, dem Roten Earl?“

„Gut, soweit mir bekannt ist, Sire. Leider komme ich kaum dazu, seine Briefe zu lesen.“ Sie näherte sich und Edward fragte sich im selben Atemzug, womit sie wohl beschäftigt war? Mit dem Nichtstun? Man tuschelte im Allgemeinen, dass sie bis mittags schlafen und sich gerne den einen oder anderen Becher Wein gönnen würde. Allerdings war sie bisher in seinem Beisein nicht durch Trunkenheit aufgefallen. „Welchem Umstand verdanke ich die Ehre Eures Besuchs?“ Edward stellte sich hinter seinen Schreibtisch.

„Robert the Bruce.“ Sie zog einen Schmollmund. „Wann kehrt er endlich zurück?“

Edward taxierte sie. Elizabeth war eine Frau, vor der man sich in Acht nehmen musste. Vor allem, wenn sie etwas wollte. Und wie es schien wollte sie Robert the Bruce, um jeden Preis. Was dieser Zwanzigjährige an sich hatte, dass ihm die Frauen in Scharen hinterherliefen, wusste er nicht. Doch Elizabeths Absicht kam ihm gelegen. Einen derartigen Machthunger hatte er selten bei einer Frau erlebt. Ihr verlockender Busen, der arrogante Ausdruck in den blauen Augen und ihr aristokratisch anmutendes Gesicht regten ihn zusätzlich an. Vom hüftlangen Blondhaar ganz zu schweigen. Eine makellose Schönheit, und nicht zum ersten Mal dachte Edward darüber nach, sie in sein Bett zu zitieren. Aber da sie momentan nur Augen für Bruce hatte, wäre ein Befehl dieser Art unklug gewesen. Elizabeth ließ sich ungern zu etwas zwingen und er brauchte sie noch.

„Was hat Bruce, das ich nicht habe?“, konnte sich Edward die Frage dennoch nicht verkneifen.

„Darauf wollt Ihr nicht wirklich eine Antwort.“

„Weshalb? Habt Ihr Angst um Euren schönen Kopf?“

Elizabeths Augen verengten sich. „Womöglich.“

„Also muss ich annehmen, dass Eure Antwort wenig schmeichelhaft für mich wäre?“

„Ihr kennt das ja selbst, mein König. Alles Neue hat seinen Reiz. Wir beide hingegen sind uns zu vertraut.“

„Gut gelogen, Elizabeth.“ Ihr Augenaufschlag hatte etwas Laszives. „Ich werde Robert the Bruce Eure Vorzüge wärmstens empfehlen“, versprach Edward mit Doppelsinn. „Und wenn er mich das nächste Mal aufsucht, sorge ich dafür, dass Ihr eine Weile mit ihm allein seid. Aber Ihr kennt die Hürde, die Ihr ohne meine Hilfe schaffen müsst.“

„Seid unbesorgt, ich nehme es mit jeder Frau auf.“

„Das glaube ich Euch aufs Wort. Als Lohn für meinen Einsatz hoffe ich, dass Ihr Robert in meine Richtung lenken werdet. Ein Feind weniger käme mir mehr als gelegen.“ Ihr Lächeln vertiefte sich und ihm zeigten sich strahlend weiße Zähne. „Wenn das alles war, Elizabeth, ich muss in den Robing Room.“

„Habt Ihr eine Sitzung mit dem Kronrat einberufen?“, erkundigte sie sich und nun wurde ihr Lächeln spöttisch. „Zieht England in den Krieg? Gegen die Schotten?“ Ihre Überheblichkeit, die in den Worten lag und die auch ihr Gesicht beherrschte, stieß ihn ab wie sie ihn gleichzeitig anzog. Keine Frau am Hof war so wie sie.

„Weder das eine noch das andere“, wiegelte Edward härter als gewollt ab. „Statt Euch um Englands Interessen zu kümmern, solltet Ihr lieber darüber nachdenken, wie Ihr Robert nachhaltig becircen wollt. Übrigens, ich rechne jeden Tag mit ihm.“

Bei jedem Schritt knirschte der Schnee unter Jodies Füßen. Schneidender Wind fuhr durch die Schichten ihrer Kleider, während sie auf die Eingangspforte ihres Elternhauses zuging. Wie jeden Nachmittag hatte sie einen Spaziergang durch den Park gemacht und über vieles nachgedacht. Über ihr Leben, das keines war, woran ihr Hinken sie bis ans Ende ihrer Tage erinnern würde. Auch bei Malcolm waren ihre Gedanken wieder gewesen, der bei einer Schlacht am ´Loudon Hillˋ in East Ayrshire vor zwei Jahren gefallen war. Niemand hatte geahnt, dass er sich schottischen Truppen anschließen würde. Ich werde immer bei dir bleiben. Heute wusste Jodie, was ihr damals entgangen war. Malcolm hatte sein Versprechen gehalten. Er war bei ihr geblieben, auf seine Art. Deswegen hatte er Molly für sie geschnitzt.

Tränen traten aus ihren Augen. Wie sehr sie Malcolm vermisste! William nicht weniger. Er war damals zwar nach einem Jahr nach Hause zurückgekehrt, doch lange hatte er es nicht ausgehalten. Zum einen hatte es ständig Streit mit dem Vater gegeben, zum anderen wollte William Schottland bereisen, was er in den letzten Jahren ausgiebig tat.

Ein knarrendes Geräusch schreckte Jodie hoch.

Die Mutter trat aus dem Haus und zog sich das graue Tuch enger um die Schultern. „Komm endlich herein, sonst erfrierst du noch.“

„Gleich“, erwiderte Jodie und fühlte sich wieder um dieses bisschen Freiheit beraubt. Seit Jahren kettete die Mutter sie regelrecht ans Haus. Inzwischen hatte sie das Gefühl, das Leben einer Einsiedlerin zu führen, sofern man von ihrer Familie und dem Personal absah.

„Nicht gleich, sondern jetzt“, beharrte die Mutter und fuhr sich ordnend über das inzwischen ergraute Haar. „Nun mach schon, Kind“, fügte sie sanfter hinzu.

„John darf in die Trinkstube und William durch Schottland ziehen, ich hingegen nicht einmal vor das Haus“, murrte Jodie und setzte sich in Bewegung.

„Das stimmt nicht ganz. Du bist draußen. Außerdem ist es nur zu deinem Besten.“

„Ja, ich weiß.“ Missmutig stieg Jodie die fünf vereisten Treppen hoch. „Du meinst es nur gut.“

„Jodie Wallace, reiß dich zusammen. Du hast keinen Grund zur Klage.“

„Was diskutiert ihr hier draußen herum?“ Der Vater tauchte hinter ihrer Mutter auf. „Geh hinein, Margarete. Du solltest inzwischen wissen, dass jegliches Diskutieren mit deiner Tochter zwecklos ist.“ Deiner Tochter. Verletzt hielt Jodie seinem Blick stand, während die Mutter ins Haus ging.

Sie standen sich gegenüber. Ihr Vater überragte Jodie um einen halben Kopf. Das kinnlange Silberhaar kräuselte sich an den Spitzen. Wie immer wirkte sein faltiges, bartloses Gesicht verkniffen. „Du bist undankbar“, warf er ihr vor und blickte zum Stall hinüber. Seine Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen, bevor er sich wieder auf sie konzentrierte. Plötzlich fühlte sich Jodie wie das kleine Mädchen von damals, das in der Eingangspforte stand und hilflos dabei zusehen musste, wie dieser Mann ihre Mutter Richtung Stall bugsierte. Im nächsten Moment wähnte sie sich wieder im Keller. Sah sich selbst, wie sehr sie um die Liebe des Vaters bettelte oder sich in den Schlaf weinte.

„Du hast deine Mutter gehört. Also komm ins Haus“, holte der Vater sie in die Wirklichkeit zurück.

„Ich musste gerade an den Überfall denken“, entfuhr es Jodie, bevor sie es verhindern konnte.

Seine Züge froren ein. „Wie oft denn noch? Deine Mutter und ich wollen nicht darüber reden. Kannst du das nicht endlich respektieren?“ Mit gespreizten Fingern fuhr er sich durch das Haar. „Was genau willst du denn hören, Jodie? Wie die Sache abgelaufen ist? Meine Güte, wir könnten genauso gut alle tot sein. So gesehen sind wir glimpflich davongekommen, was dir deine Mutter schon tausendmal versichert hat. Es gibt deshalb keinen Grund, die Sache aufzuwärmen. Nebenbei gesagt wundere ich mich immer wieder darüber, wie viele Flausen dir William in den Kopf gesetzt hat.“

„Er hat nichts damit zu tun.“

„Dass ich nicht lache! Mein Sohn hat sich schon immer in Dinge eingemischt, die ihn nichts angehen und war bereits als Halbwüchsiger ein Rebell.“ Immerhin nannte er ihn seinen Sohn. „Im Augenblick stehst du William in nichts nach. Wo ist bloß die kleine Jodie geblieben, die sich mit dem zufrieden gab, was man ihr zugestand?“

Jodie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Und wo ist der Vater geblieben, der mich geliebt hat?“, flüsterte sie und schluckte hart. „Seit diesem unseligen Überfall vermisse ich ihn mehr als du ahnst. Sogar nach meinem Treppensturz hast du mich wie Luft behandelt.“ Sie zögerte. „Wieso kannst du mich nicht mehr lieben, Papa?“

„Hör auf“, kam es schmerzerfüllt zurück, als würde sie an einer Wunde reißen.

Tränenblind starrte sie ihn an. „Das kann ich nicht. Weil ich kein Kind mehr bin, sondern eine erwachsene Frau.“ Als stünde William hinter ihr, straffte Jodie ihre Schultern. „William hat mich nie gegen dich aufgehetzt. Aber er weiß etwas, soviel ist sicher, allerdings behielt er es all die Jahre für sich. Vermutlich vertraut er darauf, dass ihr das Richtige tun werdet, du und Mutter. Dass ihr mir erzählt, weshalb du mich wie eine Schuldige ansiehst und mich Mutter vom Rest der Welt abschottet. Was habe ich verbrochen?“

Seine schallende Ohrfeige traf sie unvermittelt. Jodie taumelte zurück. Entsetzt blickte sie den Vater an, der seine Hand anstarrte, als gehöre sie nicht zu ihm.

„Immerhin“, presste Jodie voller Bitterkeit hervor und lehnte sich erschöpft gegen die Wand, „hast du mich endlich wahrgenommen.“ Plötzlich sah sie Tränen in seinen Augen. Im selben Augenblick wurde ihr klar, dass sie in seiner Welt tatsächlich schuldig war. Welchen Verbrechens auch immer, es musste so schwerwiegend sein, dass er es nicht schaffte, sein eigen Fleisch und Blut zu lieben.

Eine halbe Stunde später stand Jodie immer noch wie versteinert am selben Platz. Ihr Vater war längst ins Haus gegangen. Ohne ein weiteres Wort. Etwas kitzelte in ihrem Gesicht. Erst jetzt bemerkte sie, dass es zu schneien begonnen hatte und sie völlig durchgefroren war. Als sie die Pforte hinter sich schloss, atmete sie tief ein. Es roch wie üblich nach Sandelholz, auch nach Weihrauch, den besonders die Mutter zu dieser Jahreszeit liebte.

Wie still es war. Unsagbar still.

Ihr Frösteln verstärkte sich. Schnell ging sie in die Stube, die sie leer vorfand. Aber wenigstens war es warm im Raum, der gleichzeitig als Esszimmer diente und als einziger beheizt wurde. Die Flammen fraßen sich knisternd durch die Holzscheite.

Sie blickte zu den Dolchen an der Wand. Eine Stelle war heller, die Form der fehlenden Waffe deutlich zu erkennen. William hatte den Dolch mitgenommen. Ob er tatsächlich damit tötete, wie es ihm nachgesagt wurde? ´Outlawˋ wurde ihr Bruder von allen genannt, auf den ein hohes Kopfgeld ausgesetzt war. Aber sollte er die Gräueltaten tatsächlich getan haben, musste es in Notwehr geschehen sein. Ansonsten hätte sie William nie gekannt.

Das Klappern von Töpfen war aus der Küche zu hören. Jodie beschloss hinüberzugehen, weil dieses Alleinsein erdrückend war. Wenige Augenblicke später nickte sie der siebzehnjährigen Muriel zu, bevor sie sich an den zerfurchten Küchentisch setzte. In der Mitte lag frischgebackenes Brot in einem geflochtenen Korb.

„Warst du heute auf dem Markt?“, fragte Jodie, um die Stille zu vertreiben.

„Wer sonst?“, kam es schnippisch von Muriel zurück, die das beschlagene Fenster öffnete. Im Nu erkaltete der dampfige Raum. „Bei diesem Wetter jagt man keinen Hund vors Haus, es sei denn er heißt Muriel Healy. Unsere Mary hat es sich derweil in der Küche gemütlich gemacht und ihren fetten Hintern am Feuer gewärmt.“

Die alte Köchin und Muriel verstanden sich nicht gut. Vielleicht, weil Mary schon seit über zwanzig Jahren für die Eltern arbeitete, Muriel erst seit einem halben Jahr. Obwohl die Magd entgegen ihrer sonstigen Art vor Mary kuschte, fühlte sich diese offenkundig in ihrem Terrain bedroht und führte ein umso strengeres Regiment. Außerdem war Muriel sehr gesprächig, während Mary Klatsch nicht ausstehen konnte.

„Aber bevor Ihr fragt, es gibt kaum Neues.“ Wie ein Dieb blickte Muriel zur Tür. „Der Bauernmarkt war schlecht besucht und die wenigen, die gekommen sind, hatten bei den eisigen Temperaturen sowieso keine Lust zum Plaudern.“ Muriel kam zum Tisch. „Nur die alte Stuart wusste zu berichten, dass eine Todeswelle auf uns zurollt.“

Jodie brach sich ein Stück Brot ab und schob sich den Bissen in den Mund. „Wird es zum Krieg mit England kommen?“, fragte sie kauend und musste an Malcolm denken.

„Der käme mir gelegener als die Hiobsbotschaft der Stuart. Grausige Seuchen sollen im Anmarsch sein.“ Muriel nahm ein Leinentuch vom Wäschestapel auf dem Stuhl neben sich und breitete es auf dem Tisch aus. Sie waren im selben Alter, doch die Magd hatte ihr viel voraus. Vor allem die Möglichkeit, sich frei bewegen zu können.

Jodie schluckte den Bissen. „Was würde ich darum geben, an deiner Stelle zu sein.“ Sie lehnte sich zurück und spürte die harte Stuhlkante in ihrem Rücken.