EIN FRANKFURTER AUS AFRIKA - Jean Claude Diallo - E-Book

EIN FRANKFURTER AUS AFRIKA E-Book

Jean Claude Diallo

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Beschreibung

"Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Würde, und ohne Unabhängigkeit keine freien Menschen." Patrice Lumumba Unaufgeregt erzählt und mit Fotos illustriert, voller Leben, Bewunderung und Empathie für den Familienvater, Freund und politischen Weggefährten erhält der Leser Einblicke in die Persönlichkeit Jean Claude Diallos. Zugleich ist der Band eine Zeitreise in die bundesrepublikanische und guineische Geschichte der achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Davon zeugen vor allem die Texte von Jean Claude Diallo selbst, in denen er sich kritisch mit Kolonial- und westlicher Dominanzkultur auseinandersetzt. Immer schwingt seine Auseinandersetzung mit dem Zusammenspiel von Kultur und Identität mit. Viele seiner Gedanken spiegeln sich in der aktuellen Debatte jüngerer afrikanischer Intellektueller, die fordern, dass Afrika über seine Zukunft selbst bestimmen und sich stärker auf seine vorkoloniale Geschichte und Philosophie beziehen muss.

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Dieses Buch widme ich meinen Enkelkindern. Sie wurden geboren, als ihr Großvater Jean Claude schon gestorben war. Vielleicht hilft es ihnen, ihre afrikanischen Wurzeln zu entdecken und ohne Vorurteile mit anderen eine gute Zukunft aufzubauen.

Für die freundliche Unterstützung danken wir:

1. Auflage 2020

© Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2020

Alle Rechte vorbehalten

Buchgestaltung:

Leni Diallo und Stefanie Adler-Diallo

Frankfurt am Main

Titelfoto und Fotos auf den Innenseiten: Privat

Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza

ISBN 978-3-939816-70-6

eISBN 978-3-939816-71-3

www.nomen-verlag.de

Jean Claude Diallo

Ein Frankfurteraus Afrika

Barbara Gressert-Diallo (Hrsg.)

Inhalt

Vorwort

I. Erinnerungen an Jean Claude Diallo

Wie konnte er nur?!

Freweini Zeral

Ein neuer Lebensabschnitt beginnt

Die kurze Zeit einer Hoffnung

Christoph Busch

Im Hier und Jetzt

Wichtige Entscheidungen für eine unklare Zukunft

Ansoumane Camara

Der lange Arm des Diktators Touré

Meine erste Reise nach Guinea

Jean Claude zwischen Frankfurt und Conakry

Über meinen Freund

Malte Rauch

Erstes Familientreffen in Conakry

Weihnacht in Guinea?

Maria Stroh

Abschied aus Frankfurt und Aufbruch nach Conakry

Unser neues Leben in Conakry

Afrikabesuch in der Villa Makeba

Viktor Pfaff

Gastfreundschaft und Selbstbedienung

Guinea 1984-1986 – Chronik einer politischen Mission

Bernard Vatrican

Ausreise mit Komplikationen – und was uns in Deutschland erwartet

Sonntagsgespräche

Abdoulaye Diallo

Immer im Gespräch

»Ich kann die Arbeit schon machen, die Frage ist, ob ich sie gut mache.«

Regine Wolfart

Erinnerungen an meinen Mann

Sprache als Raum der Begegnung

Ingeborg Nordmann

Der Chef

Angelika Berghofer-Sierra

Spurensuche

Mein Bruder

Paul Rongier

Symbol für eine Politik der Multikulturalität

Jutta Ebeling

Unser Vater

David Diallo

Rituale

Nachwort

II. Texte von Jean Claude Diallo

Vom »kulturellen Universum« und »ganz gewöhnlichen Kolonialverhältnissen«

Conelia Wilß

Afrikaner, kennst Du Deine Identität?

Gesellschaft, Kultur, kulturelle Identität … und was ich darüber denke

Der Mann aus der Zelle 18

Wem passt die Anpassung?

Die Rolle der Eliten im Demokratisierungsprozess

»White man cannot jump – oder ich habe keine Vorurteile«

»Das Fremde«

Afrikanische Erfolgsgeschichten – Afrikas Umgang mit Migranten und Flüchtlingen

Menschen auf der Flucht

Werdegang

Überblick zur politischen Geschichte Guineas seit der Unabhängigkeit

Abdourahmane Diallo

Danksagung

»Egal wie lange ein Baumstamm im Wasser liegt, er wird nie ein Krokodil.«

Sprichwort Westafrika und Sudan

Vorwort

Jean Claude Diallo war 62 Jahre alt, als er, für uns alle vollkommen unerwartet, starb. Sein Hausarzt hatte ihm auf Grund einer Herzschwäche, beruflicher Überbelastung und seines Übergewichts eine Kur verordnet, die er nach einer längeren Auseinandersetzung mit den zuständigen Behörden im März 2008 antrat. Ich wusste, er war müde, und wir waren überzeugt, dass eine längere Pause seinem Allgemeinzustand guttun würde, damit er das letzte halbe Jahr vor Beginn seiner Ruhephase der Altersteilzeit mit ausreichender Kraft zu Ende bringen konnte. Eine Woche nach Beginn der Reha brach er nach einer medizinischen Kontrolle zusammen.

Uns, seine vier Kinder, seine und meine Verwandten, seine Freunde, seine politischen Weggefährten und mich, seine Frau, traf sein Tod so unvorbereitet, dass es uns in einen Schockzustand versetzte. Irgendwann aber führte die Tatsache, dass »alles weiter geht«, dazu, dass sich mein Leben und das Leben unserer Kinder neu regelte; es blieb nicht stehen, wie wir anfangs glaubten, es nahm uns mit!

In dieser Zeit entstanden der Wunsch und die Idee, über Jean Claude zu schreiben, ihm ein kleines Denkmal zu setzen und anderen zu vermitteln, warum er für uns alle so wichtig war. Aus unserer kleinen Truppe »Freundeskreis Jean Claude Diallo« haben einzelne Mitglieder eigene Texte zum Buch beigetragen. Sie unterstützten und berieten mich bei der Planung, Entwicklung und Durchführung des Buches; auch meine Kinder waren mir dabei eine sehr große Hilfe. Unterschiedliche Menschen, die mit JC, so sein Kürzel in diesem Buch, freundschaftlich, politisch, beruflich und familiär verbunden waren und es noch immer sind, haben Texte geschrieben. Mein Anliegen war es, Personen zu finden, die ein Stück des Weges beschreiben, den sie gemeinsam gegangen sind, und was sie mit ihm verband. Um die einzelnen Fragmente zusammenzufügen und einen Gesamteindruck zu vermitteln, habe ich Geschichten und Erlebnisse aus unserem Familienleben eingefügt, so dass ein chronologischer Ablauf entsteht. JC führte ausführliche Arbeitskalender während seiner Zeit als Psychologe, Leiter einer Beratungs- und Therapieeinrichtung in Düsseldorf und Frankfurt sowie als Leiter eines Fachbereichs im Evangelischen Regionalverband Frankfurt. Diese Kalender habe ich benutzt, um mit Hilfe seiner Einträge meine Erinnerungen wachzurufen – Erinnerungen an Reisen, Erinnerungen an offizielle und private Ereignisse, Erinnerungen an aufregende Zeiten und alltäglichen Gleichklang.

Im ersten Teil des Buches erzählen Familienmitglieder, Freund*innen, Kolleg*innen und politische Weggefährt*innen von gemeinsam erlebten Zeiten mit Jean Claude Diallo. Die Kapitel, die im Inhaltsverzeichnis kursiv geschrieben sind, wurden von mir, Barbara Gressert-Diallo, der Herausgeberin des Buches geschrieben.

Jean Claude Diallo kommt im zweiten Teil des Buches mit Texten aus seinem beruflichen und politischen Wirken zu Wort, viele seiner Sichtweisen, Eindrücke und politischen Statements haben noch heute Gültigkeit. Seine Texte entstanden zwischen 1980 und 2005. Bis heute hinterlässt er Spuren, sowohl in der Frankfurter Stadtgesellschaft als auch in Guinea. Als Afrikaner in Frankfurt kämpfte er für eine Gesellschaft ohne Vorurteile, wo jeder und jede ihren Platz finden kann. Als Guineer kämpfte er für eine bessere Zukunft seines Landes. Wieviel er in beiden Gesellschaften erreicht hat, kann man nicht messen oder durch Zahlen belegen, aber dass er sein ganzes Leben für diese Ideale gekämpft hat, macht ihn zu einem besonderen Vorbild.

Barbara Gressert-Diallo, im September 2020

Mitglieder des »Freundeskreises Jean Claude Diallo« vor der für ihn gepflanzten Zeder in der Rose-Schlösinger-Anlage am Nußberg

I. Erinnerungen an

Jean Claude Diallo

JC beim Dreh des Filmes »FRANKFURT – CONAKRY Rückkehr ins Land des Elephanten«

FREWEINI ZERAI

Freweini Zerai aus Eritrea erinnert sich 2018 an ihren Freund Jean Claude.

JC mit seinem Patenkind Natti – Sohn von Freweini Zerai

Aus politischen Gründen flüchtete sie 1980 aus Eritrea nach Deutschland. Sie lernte Jean Claude bei ihrer Bewerbung für eine Stelle im Regenbogen – Internationale Stadtteilarbeit am Bügel kennen. Seit dieser Zeit waren sie eng befreundet. Sie leitete die Einrichtung des Evangelischen Regionalverbandes Frankfurt am Main bis 1992, ab1993 das Fachkräfteprogramm Eritrea bei der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). 1996 kehrte sie nach Eritrea zurück und arbeitete im Ministerium für Arbeit und Soziale Wohlfahrt, danach beim United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA) und für Ärzte ohne Grenzen. 2004 musste sie ein zweites Mal flüchten. Seit einigen Jahren lebt sie in München, wo sie als Geschäftsführerin beim Verband binationaler Familien und Partnerschaften e. V. arbeitet.

Wie konnte er nur?!

Das ist der Satz, der mir immer einfällt, wenn ich mit dir reden möchte und feststelle, dass du nicht mehr da bist! Über die Jahre habe ich sehr viele enge Freunde verloren. Freunde, mit denen ich längere Abschnitte meines Lebens verbracht habe. Sie sind jung gestorben. Das tat und tut weh. Sie taten mir sehr leid. Ich war jedes Mal sehr traurig. Bei dir, Jean Claude, war und bin ich immer wütend. Ich fühle mich verlassen. Und ich weiß, nicht nur mir geht es so! Wie konntest du nur?

Nicht nur mir … Dass andere dich auch als besten Freund haben, wurde mir erst bei der Feier zu deinem 60. Geburtstag bewusst! Bis dahin dachte ich in meiner Naivität, ich wäre die einzige Nummer Eins! Jetzt wusste ich, dass doch sehr viele die Nummer Eins waren. Es kamen noch mehr hinzu. Wie hast du es nur geschafft?

Ich weiß nicht mehr, wann wir uns kennengelernt haben. Wenn ich zurückdenke – du warst immer da! Ich kann auch nicht sagen, dass uns nur eine Sache verbunden hat. Politik? Exilerfahrung? Arbeit? Gesellschaft? Du warst einfach mein Freund! Bei dir hatte ich keine Bedenken, Falsches laut auszusprechen. Ich konnte mich fallen lassen. Ich war weder Afrikanerin noch Flüchtling noch Irgendwas. Ich war einfach Weini!

Du konntest laut und engagiert diskutieren. Ja, laut warst du! Weißt du, hier in Deutschland ist es mir nicht so aufgefallen, dass du laut bist – weil für mich die meisten hier laut sind. Und groß! Aber in Asmara! Asmara – bei meiner Mutter: Fischgericht! »Das Beste, was ich je gegessen habe« – hast du immer wieder gesagt. Und dann nimmst du dir sogar Zeit, dich wie ein Kolonialherr beim Barbier rasieren zu lassen. Mir warst du immer gut für Überraschungen.

Mein Freund, mein Mentor, mein Spiegel, Patenonkel meines Sohnes. – Ach, wie schade, viele Einzelheiten unserer gemeinsamen Zeit verblassen. Aber das Gefühl zu dir und mit dir ist immer noch stark. Ich glaube, ich habe nicht mehr so laut und herzlich auf Deutsch gelacht wie mit dir! Das gelingt mir eher auf Tigrinia1. Sogar über deine direkte Kritik konnte ich lachen! Lob – naja, das war nicht so dein Ding!

Dein Lieblingsthema – Vodoo – wir Eritreer kennen das nicht. Was für viele Europäer nicht nachvollziehbar ist. Durch dich bin ich ein Stück näher zu Afrika gekommen. Durch deine Geschichten konnte ich oft die Klischees verstehen und gleichzeitig durch deine Biografie, die in keine Schublade passt – widerlegen.

Das Hier und Jetzt voll erleben und leben… das hast du vollkommen beherrscht. Bis heute – wenn ich mich hetze und merke, dass ich am Rande eines Stuhls sitze, muss ich sofort an dich denken und in die Mitte rutschen. Ja, die Mitte! Ist es dir bis zum Schluss gelungen, in der Mitte zu sein? Ich habe dich ja in den letzten Jahren nicht so oft gesehen. Du hattest mir versprochen, mich nach Frankfurt zu holen … dazu sollte es wohl nicht kommen. Aber mir geht es gut, Jean Claude! Wie hast du immer zu mir gesagt: »Bei dir wird es wohl nie langweilig.« Bei dir auch nicht, Jean Claude.

Ich stelle mir dich vor – wie du irgendwo sitzt, ganz bequem, du hörst und siehst mein Verzweifeln, was ich hier schreiben soll – und sagst: »Oh Weini, jetzt musst du alleine durch, ich will mich entspannen und meine Ruhe haben.« So kenne ich dich nicht, Jean Claude. Wie kannst du nur?!

1980 Beginn der Kalenderaufzeichnungen und Erinnerungen an unser gemeinsames Leben in Frankfurt am Main.

Unsere Hochzeit im Standesamt von Königstein i. T., schwarz-weiß einmal umgekehrt (1978)

Ein neuer Lebensabschnitt beginnt

Seit 1977 lebte und arbeitete ich in Königstein / Falkenstein als Ergotherapeutin und wohnte in einem sehr, sehr kleinen Häuschen in Falkenstein. Jean Claude kam 1978 aus Marokko, und wir begnügten uns mit dieser minimalistischen Wohnsituation. Wir heirateten, ich wurde schwanger, und wir zogen nach Eschborn.

Durch einen glücklichen Zufall erfuhr Jean Claude 1980 über eine Nachricht im Radio, dass das Diakonische Werk in Hessen und Nassau einen afrikanischen Psychologen für Beratung und Therapie afrikanischer Flüchtlinge im Psychosozialen Zentrum für ausländische Flüchtlinge in Frankfurt am Main suchte. Es war gerade die Zeit, als viele Geflüchtete aus Eritrea in Deutschland eintrafen. JC bewarb sich und bekam die Stelle.

Wir wohnten seit einem Jahr in Eschborn in einer schönen Dachwohnung, in die wir nach langem Suchen hatten einziehen können. Ein freundlicher, weltoffener Hausbesitzer nahm uns damals auf, in seiner Anzeige stand der seltsame Satz: »Vermiete Dreizimmerwohnung an junge Familie möglichst mit Kind.« Wo gibt es so etwas noch? Als wir – ich hochschwanger, er dunkelhäutig – vor der Haustür standen, um die Wohnung zu besichtigen, fürchteten wir die nächste Absage. Wir hatten in Königstein und Umgebung schon viele Vermieter gehört oder gesehen, die, sobald sie hörten, dass wir ein Kind bekommen und dass der Vater auch noch schwarz ist, alle nur möglichen Ausreden fanden, um uns die zu vermietende Wohnung nicht zu geben. Bei Ali und Heidrun war es anders. Wir bekamen die Wohnung, wurden mit offenen Armen aufgenommen und blieben fünf Jahre. Erst als unser drittes Kind kam, benötigten wir mehr Platz und zogen nach Frankfurt. Auch hier hatten wir Glück. Die Evangelische Kirche besaß ein leerstehendes Pfarrhaus im Frankfurter Stadtteil Bockenheim mit einem wunderbaren großen Garten, und 1982 zogen wir dort ein. Wir hatten genug Platz, um Jean Claudes Bruder Gérard, der gerade aus Conakry kommend bei uns gelandet war – Dauer des Aufenthalts unbekannt –, und meine Schwester Gabi, die ebenfalls einen neuen Lebensabschnitt begann, bei uns aufzunehmen.

CHRISTOPH BUSCH

Christoph Busch, ein engagierter Pfarrer, und seine Frau Veronika waren unsere Nachbarn. Wir wurden Freunde. Chistoph war und ist engagiert in der Flüchtlingsarbeit, sodass Jean Claude und er nicht nur viele Berührungspunkte privat, sondern auch im beruflichen Alltag hatten. Sie führten auch einige gemeinsame Projekte durch. Über eines dieser Projekte schrieb Chistoph 2018/19 diesen Text.

Christoph Busch und JC

Seit 1970 evangelischer Pfarrer. Von Anfang 1980 bis zu seiner Pensionierung war er Pfarrer in der Evangelischen St. Jakobs-Gemeinde in Frankfurt-Bockenheim.

Die kurze Zeit einer Hoffnung

Mit Jean Claude Diallo in Bosnien

Bei einer der Fahrten von Frankfurt nach Sanski Most haben Jean Claude und ich auch einmal über den Tod geredet. Ich habe damals gelacht: »Jean Claude, ich bin Jahre älter als Du! Du überlebst mich! Bestimmt! Viele Jahre!«

Es ist anders gekommen.

Wir kannten uns bereits seit mehr als zehn Jahren. Jean Claude und ich hatten mehrere Jahre mit unseren Familien in guter Nachbarschaft Haus an Haus gewohnt. Wir hatten uns angefreundet. Barbara und Veronika, unsere Ehefrauen, gehörten selbstverständlich in diese Freundschaft. Unsere Familien auch. Jean Claude und ich hatten beruflich das ein oder andere auf die Beine gestellt, er als leitender Repräsentant der kirchlichen Ausländerarbeit, ich als Gemeindepfarrer. So haben wir zum Beispiel Seminare zu Afrika gehalten oder Veranstaltungen zum Thema Flucht organisiert. Sogar ein Besuch bei den Diallos in Conakry war möglich geworden. Und dann tauchte Ende der 1990er Jahre das Projekt auf – »Sanski Most«!

Sanski Most ist eine Stadt im westlichen Bosnien. Sie wurde – wie alle Städte in Bosnien – von den Kriegshandlungen zwischen 1992 und 1995 tief getroffen und schwer gezeichnet. Hier wollte der Evangelische Regionalverband Frankfurt am Main (ERV) ein mit EU-Geldern finanziertes Aufbauprojekt organisieren. Ein Begegnungszentrum mitten in der Stadt sollte errichtet werden. Jean Claude war Initiator und Organisator dieses ungewöhnlichen Projektes. Ungewöhnlich, weil so gut wie alles an diesem Projekt für jede und jeden der Beteiligten neu war – nicht nur für uns Frankfurter, die wir uns in diesem Projekt engagiert hatten, ungewöhnlich war es auch für die bosnische Seite: ein Begegnungszentrum – wie sollte das gehen in der mehrheitlich muslimischen Stadt, die noch mitten dabei war, sich neu zu finden nach dem heftigen Krieg!? Jean Claude hatte eine kleine Gruppe zusammengestellt, die jeweils mit besonderen Aufgaben in dem Projekt tätig wurde: Zwei Mitarbeiter der Sozialberatung waren dabei, ebenso eine Psychologin des Psychosozialen Zentrums, auch ein Mitarbeiter der kirchlichen Öffentlichkeitsarbeit und die Geschäftsführerin des Fachbereichs in Jean Claude Diallos Büro. Der Hessische Rundfunk konnte als Medienpartner des Projektes gewonnen werden. Esther Gebhardt, Vorstandsvorsitzende des ERV11, hatte sich eigens Zeit genommen, bei einer der Fahrten nach Sanski Most mit dabei zu sein und sich vor Ort selbst ein Bild von der Situation zu verschaffen.

Ich war in der Zeit als Religionslehrer in einer Frankfurter Schule tätig, einer Schule, die von zahlreichen Kindern aus Familien von Kriegsflüchtlingen aus Ex-Jugoslawien besucht wurde. So erhielt ich die Aufgabe, eine Schulpartnerschaft zwischen dieser Frankfurter Schule und dem Gymnasium in Sanski Most aufzubauen.

Kriegsflüchtlinge aus dem Jugoslawienkrieg – sie waren der Grund für Jean Claude, sich für dieses Projekt zu engagieren. Viele der Geflüchteten hatten eine erste Unterkunft und Betreuung in evangelischen Kirchengemeinden gefunden. Notunterkünfte für sie gab es in Gemeindezentren, manchmal sogar auf der Empore einer evangelischen Kirche.

Begegnungszentrum für Sanski Most – eine Idee der Verständigung und des Dialogs

Der Evangelische Regionalverband wollte nun mit diesem Projekt den Geflüchteten den Gedanken an eine Rückkehr in ihr Blickfeld rücken. Denn die Rückkehr der Geflüchteten gestaltete sich zögerlicher als erwartet. Nur wenige von ihnen konnten sich ein Herz fassen und in ihre alte, durch den Krieg zerstörte Heimat wieder zurückkehren. In dieser Situation sollte das Begegnungszentrum in Sanski Most für die Flüchtlinge ein Hoffnungszeichen werden für einen Neuanfang nach dem brutalen Krieg.

Jean Claude verkörperte diese Hoffnung in seiner Person. Vielleicht hat er die Rolle so gradlinig und wie selbstverständlich übernehmen können, weil er selbst eine vergleichbare Hoffnung in sich trug: einmal wieder zurückkehren zu können in die Republik Guinea, seine ursprüngliche Heimat.

Aber brauchte und wollte man in Sanski Most überhaupt ein »Begegnungszentrum«? Das war von Anfang an keineswegs klar. Denn niemand wusste, wie es weitergehen sollte nach den ethnischen Säuberungen im Bosnienkrieg.

Allein das Wort »Ethnie«?! Man hatte doch zusammengelebt in Bosnien! Im gleichen Ort, nachbarschaftlich, die Kinder sind doch gemeinsam zur Schule gegangen! Aber dann – erst schleichend, schließlich plötzlich und höchst explosiv – Anfang der 1990er Jahre hat es begonnen und so geschah es im Bosnienkrieg. Die Kroaten wurden von den Serben gejagt, die Muslime von den Kroaten, und die Bosnier waren schließlich auch nicht nur Opfer. Sie wurden in diesem unfasslichen Krieg ebenfalls zu Tätern. Häuser der einen wurden von den anderen regelrecht in die Luft gesprengt. Ganze Dörfer sind im Zuge dieser mit allen Formen der Brutalität durchgesetzten ethnischen Säuberungen vernichtet worden – mitsamt der Bevölkerung.

Und am Ende? Am Ende zerfiel das alte Jugoslawien. Jetzt wollten Kroaten nur noch mit Kroaten in ihrem Kroatien zusammenleben, Serben nur noch mit Serben in Serbien. Selbst die gemeinsame serbokroatische Sprache wurde neu definiert. Ihre Sprache hieß nun Kroatisch oder Serbisch. Und was würde aus Bosnien werden? In diesem kleinsten der jugoslawischen Teilstaaten gab es bosnische Serben, es gab kroatische Bosnier und schließlich gab es dort die bosnischen Muslime. Tatsächlich war das weitere Zusammenleben in Bosnien nach dem Krieg Ende der 1990er Jahre eine offene Frage. Und genau darum entstand die Idee, ein Begegnungszentrum zu errichten für offene, menschliche Begegnungen. Sanski Most schien für diese Idee ein geeigneter Ort zu sein. Die Stadt liegt genau an der Grenze zwischen den Bevölkerungsgruppen. Die nächste Stadt – Prijedor – ist serbisch. War ein friedliches Zusammenleben trotz aller erlebten Zerstörungen und Schrecken vielleicht doch wieder möglich? Der Evangelische Regionalverband Frankfurt am Main stand mit solchen Überlegungen nicht allein. Vielmehr traten in Bosnien zahlreiche internationale Hilfsorganisationen auf den Plan. In Deutschland war es der CDU-Politiker Schwarz-Schilling aus Hessen, der sich für einen Dialog der unterschiedlichen Gruppen in Bosnien engagierte. »Hessen hilft« nannte er seine Hilfsaktion. Der Plan des ERV11 war in diesem Zusammenhang ein Baustein der Hilfsbereitschaft. Und Jean Claude Diallo hat das in dieser Situation zu seiner Sache gemacht. War Jean Claude der spiritus rector der einen Seite, so stand ihm auf der anderen Seite der Bürgermeister von Sanski Most gegenüber, Mehmed Alagic. Alagic war im Jugoslawienkrieg General der bosnisch-muslimischen Armee gewesen. Und kurz vor dem von den USA durchgesetzten Friedensabkommen von Dayton hatte General Alagic in einer militärischen Blitzaktion die Stadt Sanski Most und das umliegende Gebiet für die bosnische Armee eingenommen. Sodass Sanski Most schließlich – anders als ursprünglich vorgesehen – dem muslimischen Teil Bosniens zufiel. Dafür war ihm die Bevölkerung von Sanski Most für immer dankbar. Sie hat ihn wegen dieser »Heldentat« verehrt wie einen Heiligen. Es gibt einen Film, der Mehmed Alagic später zeigt, im Jahr 2003, als er verstorben war. Da sieht man Alagic im Sarg aufgebahrt auf dem zentralen Platz. Die Bevölkerung steht in langen Reihen. Jede und jeder tritt an den offenen Sarg; viele küssen den von ihnen verehrten Toten. Als ich diese Bilder sah, habe ich begriffen, wie sehr Mehmed Alagic von den Menschen in Sanski Most verehrt worden war.

Der Plan, mitten in Sanski Most einen Ort neuer Begegnung zu schaffen, – das war das hoffnungsgeladene Angebot. Niemand wusste, was daraus werden würde. Jean Claude ging damit trotzdem selbstbewusst nach vorne. Und so kamen wir in Sanski Most an. Noch während wir im Hotel Sanus beim Frühstück saßen, kamen die ersten Männer und die wenigen Frauen, unsere Gesprächspartner der bosnischen Seite. Jean Claude war bereits ein- oder zweimal vor Ort gewesen. Jetzt begrüßten sie sich wie alte Freunde – lachend, laut, herzlich und mit einer Umarmung. Und schon saßen alle zusammen, um zu reden, zu erzählen, in den Tag hinein zu planen.

Wie hat Jean Claude das gemacht: nicht einfach nur höflich und freundlich zu sein, sondern tatsächlich eine Atmosphäre von Freundschaft entstehen zu lassen, die alle zu ergreifen schien! Auch in dieser unvertrauten, fremden Umgebung?!

Wenig später verließen wir das Hotel. Die gesamte bosnisch-deutsche Gruppe schritt über die alte Brücke und ging dann rechter Hand zum Ufer des Flusses Sana. Dort am Ufer der Sana sollte das Begegnungszentrum einmal errichtet werden. Ein junger Architekt und seine Frau – selbst Kriegsflüchtlinge aus Sanski Most, inzwischen in Wien lebend – standen bei diesem Planungsgespräch im Mittelpunkt. Sie hatten einen ersten Plan ausgearbeitet und präsentierten nun ihre Vorstellungen. Alle hörten ihnen zu, alle versuchten, in die Skizzen und Zeichnungen hineinzuschauen. Auf der Seite der Bosnier waren das: der Arzt, der perfekt Deutsch sprach, der leitende Mitarbeiter einer Firma für Baustoffe, ein Schriftsteller auch und etliche Mitarbeiter der Stadtverwaltung, einige weitere Personen und schließlich Lehrerinnen und Lehrer des Gymnasiums, unter ihnen der Schulleiter und sein Stellvertreter.

Bereits bei der Vorstellung des ersten Planes kamen zentrale Punkte des Projektes zur Sprache. Jean Claude stand dabei immer wieder in der Mitte – zuhörend, fragend, argumentierend, anregend, werbend für die Idee der Verständigung und des Dialogs. Genau das sollte in dem geplanten Begegnungszentrum einen Ort finden. Jean Claude stellte noch einmal allen vor Augen, was sie ohnehin sahen: die im Moment vom Krieg versehrte, aber doch tatsächliche Schönheit dieses Teils von Sanski Most. Aber schon ging es weiter – Fragen, Befürchtungen, Statements: Wem soll das Haus gehören? Und wie soll das überhaupt gehen – ein offenes Haus für alle! Auch für Jugendliche? Was ist das eigentlich: ein Dialog zwischen den Religionen? Und wie könnte das Gespräch zwischen ehemals Verfeindeten verlaufen? Wäre beispielsweise eine Begegnung mit Tanzen nicht besser? Und wenn ja, wäre denn dafür im Plan überhaupt ein großer Saal vorgesehen? Immer neue Gesichtspunkte kamen ins Gespräch. Jean Claude Diallo erzählte wieder von Frankfurt. Er erzählte von der Christus Immanuel Kirche, dem vielseitigen Begegnungs- und Veranstaltungsort für Kirchengemeinden aus unterschiedlichen Nationen. Und er berichtete vom Zusammenleben der Menschen aus vielen Nationen in der Stadt am Main. Die neuen bosnischen Freunde hörten interessiert zu, fragten nach und brachten ihre eigenen Vorstellungen ein. Auch praktische Fragen wurden schon jetzt angesprochen: Was soll das Ganze eigentlich kosten? Was bekommt der Architekt, wer bezahlt ihn? Und: Wer übernimmt die laufenden Kosten, wenn das Begegnungszentrum erst einmal steht?

Begegnung mit Mehmed Alagić

Einer war bei diesem und weiteren Gesprächen nicht persönlich anwesend und schwebte doch über allem: Mehmed Alagić, der Bürgermeister und ehemalige General. Er empfing seine Besucher in seinem Amtszimmer im Rathaus. Doch erst ließ er uns vor der Tür warten (»Der Bürgermeister hat noch ein wichtiges Telefonat, er hat gleich Zeit für Sie!«). Schließlich durften wir eintreten. Das Amtszimmer war voll mit Emblemen und Erinnerungen an den Jugoslawienkrieg – Fotos von Soldaten und der ehemalige General stets im Mittelpunkt. Pläne hingen an den Wänden, in die erfolgreiche Vormärsche eingezeichnet waren. Und es »zierten« sage und schreibe zwei Handgranaten den Schreibtisch im Amtszimmer. Die bosnischen Gesprächspartner saßen mit in der Runde. Sie waren es ja, die das Projekt Begegnungszentrum bereits zu ihrer Sache gemacht hatten. Sie unterstützten den Plan mit ihrem persönlichen Engagement und mit belebender Fantasie. So hatten sie bereits eine »udruzenja gradana« gegründet, eine Bürgervereinigung. Für diese hatten sie einen pathetischen Namen gefunden »Neue Vision – Nova vizija«. Über das alles war der Bürgermeister inzwischen informiert, und jetzt im Gespräch in seinem Amtszimmer lobte er die bosnisch-deutsche Zusammenarbeit an diesem Projekt in höchsten Tönen. Abends zogen dann alle in eines der nahen Restaurants – mit Alagic an der Spitze. Dort erhoben sich die anwesenden Gäste, einige machten eiligst Platz. Dann wurde aufgefahren, was die Küche hergab, und der Wein floss in Strömen. Jean Claude Diallo schien selbst diese Inszenierungen zu genießen. Er redete und lachte, er hörte und fragte, aß und trank mit sichtlicher Freude. Und ließ sich doch nicht blenden.

Ich habe das bewundert: Jean Claude blieb stets auf Augenhöhe. Es ging um ein Begegnungszentrum in Sanski Most! Das war sein Ziel, ein Ort der Völkerverständigung und des Dialogs. Er selbst war von diesem Projekt überzeugt, und nun war er hier und wollte Mehmed Alagic und all die anderen auch davon überzeugen. Jean Claude, so habe ich ihn in diesen Situationen erlebt, stand dem Bürgermeister mit dessen Machtallüren jederzeit souverän und kompetent gegenüber.

Aber auf seinem Terminkalender in Sanski Most standen nicht nur Gespräche mit wichtigen Personen. Er nutzte vielmehr die Zeit seines Aufenthaltes vor Ort, um neue Kontakte zu knüpfen. Ihn interessierten auch informelle Gespräche mit den unterschiedlichsten Menschen. Ihre Erfahrungen im Jugoslawienkrieg und in der Zeit danach versuchte er zu verstehen. Ich glaube, er wollte dabei auch herausfinden, auf wen er sich hier verlassen konnte.