Ein gesegnetes Kind - Linn Ullmann - E-Book

Ein gesegnetes Kind E-Book

Linn Ullmann

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Beschreibung

Drei Frauen machen sich auf den Weg zu der kleinen schwedischen Insel Hammersö, wo sie als Kinder jedes Jahr unvergessliche Sommerferien verbrachten. Erika, Laura und Molly sind Schwestern, die unterschiedliche Mütter, aber denselben Vater haben: den berühmten, temperamentvollen, manchmal zärtlichen, manchmal aber auch unerträglichen Arzt Isak Lövenstad. Inzwischen ist Isak alt und einsam und hat sich in seine Ferienwohnung zurückgezogen. Und während seine drei Töchter nach fünfundzwanzig Jahren zum ersten Mal wieder nach Hammersö unterwegs sind, kehren die Erinnerungen an die Abenteuer und die Erlebnisse ihrer Kindheit mit Macht zurück, vor allem an den letzten, tragischen Sommer, nach dem alles anders war ...

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Linn Ullmann

Ein gesegnetes Kind

Roman

Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger

Zum Buch

Drei Frauen machen sich auf den Weg zu der kleinen schwedischen Insel Hammersö, wo sie als Kinder jedes Jahr unvergessliche Sommerferien verbrachten. Erika, Laura und Molly sind Schwestern, die unterschiedliche Mütter, aber denselben Vater haben: den berühmten, temperamentvollen, manchmal zärtlichen, manchmal aber auch unerträglichen Arzt Isak Lövenstad. Inzwischen ist Isak alt und einsam und hat sich in seine Ferienwohnung auf der Ostseeinsel zurückgezogen. Und während seine drei Töchter nach fünfundzwanzig Jahren zum ersten Mal wieder nach Hammersö unterwegs sind, kehren die Erinnerungen an die Abenteuer und Erlebnisse ihrer Kindheit mit Macht zurück, vor allem an den letzten, tragischen Sommer, nach dem alles anders war …

Zur Autorin

LINN ULLMANN wurde 1966 in Oslo geboren. Sie studierte Englische Literatur an der New York University und kehrte nach zehn Jahren nach Oslo zurück. Seit 1998 veröffentlichte Linn Ullmann mehrere Romane, die großen Anklang bei Presse und Lesern fanden und in 30 Sprachen übersetzt wurden. »Ein gesegnetes Kind« kam 2005 auf die Shortlist des renommierten norwegischen Brage-Preises, war 2008 bester übersetzter Roman in der britischen Zeitung »The Independent« und wurde 2009 für den International IMPAC Dublin Literary Award nominiert.

Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »Et velsignet barn« bei Forlaget Oktober, Oslo.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich daraufhin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage Genehmigte Taschenbuchausgabe Juli 2017 btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Copyright © der Originalausgabe 2005 Linn Ullmann Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München Umschlaggestaltung: semper smile, München nach einem Entwurf von ZERO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: © Getty Images CP ⋅ Herstellung: sc

eISBN 978-3-641-20054-1V001

www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlagBesuchen Sie auch unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de

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Für Halfdan

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorinCopyrightWidmungI - DER WEGII - DIE KOLONIEIII - DAS HAMMARSÖSCHAUSPIELIV - SOMMER UND WINTERV - DAS LICHT ÜBER DEM WASSER

I

DER WEG

Im Winter 2005 fuhr Erika zu ihrem Vater Isak Lövenstad. Die Reise kostete sie viel Zeit, sie dauerte länger, als Erika erwartet hatte, und obwohl sie versucht war, umzukehren und nach Oslo zurückzufahren, fuhr sie wie geplant weiter. Das Handy lag auf dem Beifahrersitz, sie konnte ihn jederzeit anrufen und sagen, dass nichts daraus würde. Dass sie nun doch nicht komme. Dass sie es auf ein andermal verschieben müssten. Sie würde sagen, das Wetter sei schuld, das anhaltende Schneetreiben. Eine große Woge der Erleichterung würde über sie beide hinwegspülen.

I sak war vierundachtzig und wohnte allein in einem weiße Kalksteinhaus auf Hammarsö, einer Insel an der schwedischen Ostküste. Er war Facharzt für Frauenheilkunde und als Pionier auf dem Gebiet des Ultraschalls bekannt. Mittlerweile war er im Ruhestand, sein Gesundheitszustand war gut, die Tage waren angenehm. Alles, was nötig war, um ihn am Leben zu erhalten, erledigte Simona, die ihr ganzes Leben auf Hammarsö verbracht hatte. Simona sorgte jeden Tag für ein warmes Mittag- und Abendessen, übernahm den wöchentlichen Hausputz, den täglichen Einkauf, das Staubwischen und Wäschewaschen, die jährliche Steuererklärung und die Zahlungen ans Finanzamt. Isak hatte noch alle Zähne, aber im Verlauf des letzten Jahres hatte er auf dem rechten Auge einen grauen Star bekommen.

Er sehe die Welt wie durch Wasser, sagte er.

Isak und Simona sprachen selten miteinander. Es war ihnen lieber so.

Nach einem langen Leben in Stockholm und Lund war Isak endgültig nach Hammarsö gezogen. Das Haus hatte zwölf Jahre lang leer gestanden, und Isak hatte mehrfach überlegt, es zu verkaufen. Als er endlich die Wohnungen in Stockholm und Lund verkauft hatte und Inselbewohner geworden war, bestand Simona darauf, dass sie sich jetzt, wo er Witwer war, um ihn kümmerte und ihm regelmäßig die Haare schnitt. Er wollte sie wachsen lassen. Es gab niemanden, für den er sie schneiden lassen musste, sagte er, aber damit die Stille zwischen ihnen, die sie beide wünschten, wieder einkehrte, gingen sie einen Kompromiss ein. Im Sommer war Isaks Schädel kahl, glänzend und blau wie der Globus, den er seinen Töchtern Erika, Laura und Molly jeweils zu ihrem fünften Geburtstag geschenkt hatte. Im Winter ließ er sich die Haare wachsen, das Resultat war eine strähnige grauweiße Mähne, die in Verbindung mit seinem schönen Greisengesicht an einen Tannenzapfen gemahnte.

Erika sah ihren Vater selten, Simona hatte ihr jedoch zwei Fotos geschickt. Eins von dem langhaarigen und eins von dem nahezu kahlköpfigen Isak. Erika mochte den langhaarigen lieber.

Sie strich mit dem Finger über das Bild und küsste es. Sie sah ihn vor sich am Steinstrand von Hammarsö, die Arme zum Himmel erhoben, flatternde Haare und ein langer falscher Bart.

»Papa«, sagte sie vor sich hin, bevor sie das Bild wieder in das alte Fotoalbum steckte, das normalerweise ganz hinten im Schlafzimmerschrank versteckt lag.

Isaks zweite Frau und Lauras Mutter Rosa starb an einer schleichenden Muskelkrankheit Anfang der Neunzigerjahre. Rosas Tod war der Auslöser gewesen, weshalb sich Isak auf die Insel Hammarsö zurückzog. In den nahezu zwölf Jahren, die das Haus leer gestanden hatte, war nur Simona von Zeit zu Zeit da gewesen, hatte Staub gewischt, die Böden geputzt und die Insekten entfernt, die jeden Sommer hereinkamen und jeden Winter tot auf der Fensterbank lagen. Sie wechselte nach einem kleineren Einbruch das Schloss aus und wischte durch, als ein paar Rohre geplatzt waren und das Wasser über die Fußböden geströmt war. Gegen den Wasserschaden und die Fäulnis konnte sie nichts ausrichten, solange Isak keine Handwerker bezahlen wollte.

»Es verfällt, egal was ich mache«, sagte sie in einem ihrer kurzen Telefonate zu Isak. »Du musst es entweder verkaufen, renovieren oder wieder darin wohnen.«

»Noch nicht. Ich habe mich noch nicht entschieden«, sagte Isak.

Doch dann versagte Rosas Körper den Dienst, und obwohl ihr Herz stark war und nicht aufhören wollte zu schlagen, waren sich Isak und sein jüngerer Kollege, Dr. Jonas Larsson, einig, dass Rosa nicht länger leiden sollte. Nach der Beerdigung ließ Isak den Töchtern Erika, Laura und Molly gegenüber durchblicken, dass er vorhabe, sich das Leben zu nehmen. Die Pillen waren besorgt, das Vorgehen genau geplant. Dennoch zog er zurück in das Haus.

Molly wurde gegen Isaks Willen im Sommer 1974 geboren. Als Mollys Mutter, die Ruth hieß, in einem Krankenhaus in Oslo niederkam, drohte Rosa damit, Isak zu verlassen. Sie packte zwei Koffer, bestellte ein Taxi vom Festland, nahm Laura an die Hand und sagte: »Solange du mit allem, was einen Rock hat, ins Bett steigst und dabei Kinder zeugst, habe ich in deinem Leben nichts mehr zu suchen. Oder in diesem Haus. Ich gehe jetzt, und unsere Tochter nehme ich mit.«

Das war im Juli 1974, nur zwei Wochen vor der Premiere des alljährlichen Laienschauspiels auf Hammarsö, geschrieben und inszeniert von Palle Quist. Das Hammarsöschauspiel war auf der Insel Tradition, Touristen und Inselbewohner trugen auf verschiedene Weise dazu bei, und die Aufführungen waren mehrmals in der Lokalzeitung besprochen worden, wenn auch nicht immer in lobenden Tönen.

Bei Rosas Wutausbruch, dem einzigen, den sie in Erikas Erinnerung jemals gehabt hatte, weinte Laura und sagte, sie wolle hier nicht weg. Erika weinte auch, weil sie vor Augen hatte, wie sie die restlichen Sommerferien allein mit dem Vater in dem Haus verbrachte, und dieser war so groß und stark, dass sie nicht für ihn kochen und ihn auch nicht allein trösten konnte.

Ruth rief zweimal an. Das erste Mal, um mitzuteilen, dass die Abstände zwischen den Wehen fünf Minuten betrugen. Zweiunddreißig Stunden später rief sie an, um zu sagen, sie habe eine Tochter geboren. Sie habe sofort gewusst, dass das Mädchen Molly heißen müsse. Das würde Isak wohl auf jeden Fall wissen wollen, dachte sie. (Nicht? Dann zur Hölle mit ihm.)

Beide Male rief sie von einem Münzfernsprecher aus dem Krankenhausflur an.

Isak selbst benötigte die zweiunddreißig Stunden, um Rosa zu beruhigen und davon abzuhalten, dass sie ihn verließ. Das Taxi, das draußen wartete, wurde weggeschickt, Stunden später jedoch wieder herbeitelefoniert, um erneut weggeschickt zu werden.

Isak könne ohne Rosa nicht leben, sagte er. Das mit Ruth sei ein einziges großes Missverständnis.

Mehrmals musste Isak Erika und Laura aus der Küche jagen.

Die Mädchen kamen ständig mit neuen Ausflüchten an, um zu stören: Sie hatten Durst, waren hungrig, sie suchten ihren Ball, und zum Schluss brüllte Isak sie an und sagte, er würde ihnen die Ohren abschneiden, wenn sie ihn und Rosa nicht in Ruhe miteinander reden ließen. Daraufhin verzogen sich die Schwestern hinter die Tür und lauschten. Am Abend, als Isak und Rosa glaubten, sie würden schlafen, standen sie abermals hinter der Tür, eingewickelt in ihre Bettdecken.

In der Nacht hatte Isak Rosa beinahe so weit, dass sie das Wort »Missverständnis« akzeptierte, ohne dass er näher darauf eingehen musste, wer etwas missverstanden hatte – Rosa, Ruth oder Isak selbst – und auf welche Weise es zu dem Missverständnis gekommen war.

Isak war neun Monate zuvor auf einer Tagung in Oslo gewesen, ja.

Er kannte Ruth (die damals nicht die Mutter von Molly war, nur eine hübsche, blonde Hebamme, die Isak bewunderte), ja.

Er hatte sporadisch Kontakt zu ihr gehabt, vor und nach der Tagung, ja.

Aber Isak konnte keineswegs erklären, warum und wieso Ruth in diesem Augenblick in einem Krankenhaus in Oslo lag, ihr erstes Kind gebar und ihn als Vater angegeben hatte.

Hier müsse ein Missverständnis vorliegen, meinte Isak.

Nach stundenlanger Diskussion, Türenknallen und Gemurmel kochte Rosa Tee für sich und Isak. Die zwei blauen Koffer, die sie für sich und Laura gepackt hatte, standen nach wie vor mitten im Zimmer. Das Letzte, was Erika von ihrem Versteck hinter der Tür aus sehen konnte, waren Vater und Rosa, die sich am Küchentisch unter der großen Lampe – auch sie war blau – gegenübersaßen, jeder mit einer Tasse Tee in der Hand. Beide starrten aus dem Fernster. Es war noch immer dunkel.

Als Ruth tags darauf frühmorgens anrief, um Isak mitzuteilen, dass er eine gesunde Tochter bekommen habe, 3400 Gramm und 49 cm, und dass die Geburt im Übrigen gut verlaufen sei, schmiss er das Telefon auf den Boden und rief: »VERDAMMTER MIST!« Rosa, die in einem gepunkteten Nachthemd mit langen zerzausten Haaren direkt hinter ihm stand, hob das Telefon auf, hielt den Hörer ans Ohr und hörte sich an, was am anderen Ende gesagt wurde. Sie nickte, sagte etwas, nickte erneut.

Erika und Laura, die vom Telefonklingeln und Vaters VERDAMMTER MIST geweckt worden waren, sprangen aus den Betten zu ihrem Versteck hinter der Tür. Sie konnten nicht hören, was Rosa sagte. Diese sprach sehr leise. Das Telefon war rot in der Form eines kleinen Periskops gehalten, die Wählscheibe war ganz unten, und es gab eine lange Schnur, sodass man es im ganzen Haus mit sich herumtragen konnte.

Als Rosa das Gespräch beendet hatte, zog sie die Schnur heran und stellte das Telefon auf den Tisch in der Diele, wo es hingehörte. Sie ging wieder in die Küche und schloss Isak, der mitten im Zimmer neben den Koffern stand, in die Arme. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er legte den Kopf auf ihre Schulter. So blieben sie lange stehen.

Erika hörte, wie er sagte: »Sie hätte das Kind nie bekommen dürfen.«

In den darauf folgenden Tagen diskutierten Erika und Laura, was es heißen sollte, dass sie das Kind nie hätte bekommen dürfen. Sie begriffen sehr wohl, dass die Ursache für all die Unruhe in den letzten vierundzwanzig Stunden eine norwegische Frau war, die Ruth hieß und ein Kind zur Welt gebracht hatte. Laura sagte, der Vater, der mehr über Geburten wusste als die meisten anderen, sei böse gewesen, weil die norwegische Frau nicht gewartet habe, bis er da war, um ihr zu helfen.

»Bei was denn helfen?«, fragte Erika.

»Beim Herausholen«, sagte Laura.

Erika sagte, das glaube sie nicht. Vater habe klar und deutlich gesagt, dass er das Kind nicht haben wolle, weshalb sollte er also dabei helfen?

Laura sagte, er hätte vielleicht helfen können, es wieder in die Mutter zurückzuschieben.

Das ginge nicht, sagte Erika.

Das wisse sie auch, sagte Laura, sie mache nur Spaß.

Heute, mehr als dreißig Jahre später, sagte Isak am Telefon gern, er würde jeden Abend für seine Töchter Kerzen anzünden. Eine Kerze für Erika, eine Kerze für Laura und eine Kerze für Molly, sagte er. Er war sehr darauf bedacht, es Erika so oft wie möglich zu sagen. Erika glaubte, er wollte, dass sie es Molly weitersagte, die, auch wenn sie im Alter von acht Jahren ihre Mutter bei einem Autounfall verlor und bei ihrer Großmutter wohnen musste und nicht bei Isak, niemals aufgehört hatte, ihn zu lieben.

I sak war ein schmächtiger Mann mit schmalen Händen, schmalen Füßen und einem großen Kopf. Erika glaubte nicht, dass sein Äußeres die vielen Frauen angelockt hatte. Es war sein Verstand. Isak hatte einen glänzenden Verstand. Das stand am 10. September 1965 in der amerikanischen Zeitschrift LIFE zu lesen. Unter einem Foto von Isak stand schwarz auf weiß, Professor Lövenstad habe einen glänzenden Verstand. Das Foto von ihm war in funkelndem Sonnenlicht aufgenommen, und er blinzelte in die Kamera, was zur Folge hatte, dass man seine Augen nicht sah und auch sein Gesicht nicht besonders deutlich, nur den großen, runden Kopf mit den dichten blonden Locken. In dem langen Artikel stand, der schwedische Professor und Forscher stehe zusammen mit Professoren und Forschern aus Dublin, New York und Moskau im Begriff, eines der Geheimnisse des Lebens zu knacken, was sie zu Herren über Leben und Tod machen könnte. Es stand zu lesen, sie spielten im Vorhof Gottes.

Als Erika im Sommer 1972 zum ersten Mal ihre Ferien auf Hammarsö verbrachte, nahm Laura sie bei der Hand, führte sie in die Stube und zeigte auf den Artikel, der eingerahmt an der Wand hing.

Erika war nicht schlecht in der Schule und konnte recht gut Englisch. Das Bild des Vaters mit dem großen Kopf, den blonden Locken und dem glänzenden Verstand trug sie seitdem stets in sich, das ganze Medizinstudium hindurch und auch später bei ihrer Arbeit als Gynäkologin.

Lange bevor Isak endgültig nach Hammarsö zog und zum Inselgreis wurde, liefen Erika und Isak Arm in Arm über den Strandvägen in Stockholm. Das taten sie hin und wieder. Seit ihrer Kindheit hatte Erika versucht, Isak Folgendes auf Norwegisch beizubringen: Und eins und zwei und drei und vier, ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm. Doch obwohl er mit einer Norwegerin verheiratet gewesen war (Erikas Mutter Elisabeth) und mindestens eine norwegische Geliebte hatte (Mollys Mutter Ruth), konnte er nicht zufrieden stellend Und eins und zwei und drei und vier, ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm sagen. Es schneite, aber es war nicht kalt. Sie waren auf dem Weg zu einem Restaurant in der Birger Jarlsgatan, wo sie sich mit Laura zum Essen verabredet hatten. Da fiel Erikas Blick auf eine kleine grauhaarige Frau, die hinkend die Straße überquerte. Im Licht der Straßenlaternen sah Erika eine schmächtige Gestalt, umkränzt von all dem herabrieselnden Weiß. Die Frau trug einen braunen Mantel, braune Halbschuhe und eine braune Wollmütze, und unter dem Mützenrand ragte die eine oder andere graue Locke hervor. Das fiel Erika auf, die Locken, die unter der Mütze hervorlugten und das Gesicht verzauberten. Dafür, dass sie so alt war, ganz sicher fünfundsiebzig, war sie überraschend gut zu Fuß.

»Isak!«, rief die Frau. »Isak Lövenstad! Bist du’s?«

Isak blieb stehen und drehte sich um. Die Frau kam auf Erika und ihren Vater zu, stellte sich vor ihn hin und streckte sich zu ihrer vollen Größe. Sie war winzig klein, er überragte sie deutlich. Isak musste sich wie der Riese im Märchen herabbeugen, um ihr in die Augen zu schauen.

»Jaaa!«, sagte er. »Und wer sind Sie?« Erika hatte ihn niemals zuvor jemanden mit Sie anreden hören, wusste nicht, ob er höflich sein wollte oder ob er sie verspottete. Die alte Frau öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Überlegte es sich dann aber anders, hob die Hand und versetzte ihm eine Ohrfeige. Isak wich zurück und hielt sich die Wange. Sie sagte:

»Darauf hatte ich schon ganz lange Lust, Isak! Du verdammter Mistkerl!««

»Aahh«, sagte Isak. Er hielt sich immer noch die Wange. Erika erhaschte einen Blick auf seine Augen, seinen Mund. Ein gekränkter kleiner Junge, dachte sie. Die alte Frau stellte sich auf die Zehenspitzen.

»Und hier kriegst du noch eine!«, sagte sie und ohrfeigte ihn auf die andere Wange.

»Nein, jetzt ist es aber wirklich …!«, rief Isak.

Er packte sie am Handgelenk, aber sie befreite sich und humpelte davon.

Erika und Isak schauten hinter ihr her. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verschwand sie um die Ecke.

Erika wusste nicht, was sie sagen sollte, also fragte sie:

»Hat es wehgetan?«

Isak gab keine Antwort. Erika versuchte es noch einmal:

»Papa, hat es wehgetan? Sollen wir …«

»Ich weiß, wer das war«, unterbrach er sie. Er rieb sich die Wangen und starrte auf die Straße. Dort waren nur noch die Spuren ihrer Schuhe im Neuschnee.

»Ich weiß, wer das war! Ich weiß, wer das war. Wir waren gerade einmal zweiundzwanzig! Wir waren verlobt. Sie war schwanger, dann hat sie es verloren.«

Es gab vieles, was Erika von Isak nicht wusste, und er erzählte ihr fast nichts. Hin und wieder begann er zu erzählen, doch dann verstummte er. Er sprach leise, Erika musste ganz dicht an ihn herangehen, damit sie hören konnte, was er sagte. Wenn er wütend war, brüllte er: kurz, abgehackt einsilbig, eigens ausgewählte Wörter. Aber wenn er etwas erzählen oder eine Frage beantworten sollte (die Erika sich vorher überlegt hatte), schien es, als versagte ihm die Stimme, die Pausen wurden länger, und sie wartete auf die Fortsetzung, die nicht kam. Und weil er so leise sprach, weil Erika jedes Mal, wenn er etwas sagte, ganz dicht an ihn herangehen (oder sich an den Telefonhörer klammern) und sich konzentrieren musste, wie bei der Weitergabe einer Kerze oder einer Schüssel Wasser, und weil sie nicht sicher sein konnte, dass sie die ganze Geschichte zu hören bekäme, verlieh eine Unterhaltung mit Isak ihr das Gefühl von Eingeweihtheit.

Auf dem Papier war Erika nach wie vor mit Tomas verheiratet, aber Tomas hatte sie verlassen. Tomas war ihr zweiter Ehemann. Erika glaubte, er würde zurückkehren. Sie wusste nicht, wann, glaubte aber ganz fest daran, dass er zurückkehren würde.

Tomas war ein eigenes Kapitel. Viel könnte auch über Erikas ersten Mann, Sundt, gesagt werden, den Vater ihrer beiden Kinder, aber allem voran konnte man sagen, dass er geizig war.

Isak hatte Erika einmal darauf aufmerksam gemacht, dass sie von Sundt immer in der Vergangenheit sprach, obwohl er im höchsten Maße lebendig war. Sundt war nicht tot. Er hatte einen Vornamen, aber Erika hatte ihn immer nur Sundt genannt.

Für Sundt wäre es übrigens besser, wenn er tot wäre, meinte Erika. Billiger. Tot sein kostete nichts. Nachdem das Erbe verteilt war und das Begräbnis, der Grabstein, die Blumen und die Schnittchen mit Krabben, Lachs und Roastbeef bezahlt waren, kostete es nichts mehr, tot zu sein, und für Sundt wäre dies zweifellos besser, wenn er nur nicht so viel Angst davor hätte.

Sundt lag nachts wach, horchte auf Unregelmäßigkeiten im Körper und dachte darüber nach, was alles passieren könnte.

»Ein Geizhals hat seine eigene Art zu zählen«, sagte Erika am Telefon zu Isak.

»Sagen wir mal«, fuhr sie fort, »ich hätte von Sundt zehnzu bekommen, sagen wir mal, Sundt würde mir zehn schulden, dann würde er im Nu zehn in vier verwandeln, ohne dass ich begreifen würde, wie, aber wenn Sundt zehn von mir zu bekommen hätte, würde er ohne Probleme argumentieren, dass zehn eigentlich sechzehn seien, und er würde problemlos sechzehn von mir nehmen, und es würde nichts nützen zu sagen: Jetzt gebe ich dir meine letzten sechzehn, wir hatten uns auf zehn geeinigt, aber hier bekommst du meine letzten sechzehn – denn dann bin plötzlich ich diejenige, die geizig ist.«

»Ja«, sagte Isak.

»Die Geizigen gewinnen immer«, sagte Erika. »Die Geizigen haben die ganze Macht. Die Geizigen haben keine Freunde. Anfangs haben sie viele Freunde, dann werden es weniger, und am Ende haben sie keine Freunde mehr. Es ist nicht klar, ob es sie betrübt. Glaubst du, es betrübt sie?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Isak.

»Glaubst du, sie denken darüber nach, wenn sie nachts in ihren Betten liegen und auf die Unregelmäßigkeiten ihres Körpers horchen und Angst davor haben zu sterben?«

»Ich weiß es nicht«, wiederholte Isak.

»Der Ehepartner eines Geizhalses, in diesem Falle ich, kann niemals gegen einen Geizhals gewinnen«, fuhr Erika fort.

»Das stimmt«, sagte Isak.

»Aber!«, sagte Erika.

»Was aber?«, fragte Isak.

»Eines Abends beschloss ich, den Kampf aufzunehmen«, sagte Erika. »Eines Abends schlug ich gegen ein Glas, legte den Kopf auf die schmale Schulter meines Mannes und sagte: Heute Abend bezahlt Sundt! Trinkt Champagner! Esst Austern! Darauf hat Sundt sich schon gefreut! Und unsere Freunde wussten genau, was ich tat, sie waren dabei, es war ein Staatsstreich gegen Sundt, ein Attentatsversuch, eine vorübergehende Machtübernahme, und unsere Freunde schwelgten auf Sundts Kosten in Champagner und Austern, während sie das Leid genossen, das sie verursachten, sie sahen, wie er schwitzte, wie er den Mund immer mehr zusammenkniff, sie hörten die hilflosen Andeutungen, ob man das Dessert nicht vielleicht weglassen könne. Und das war noch nicht das Ende. Ich fing an zu prassen, Papa. Ich sagte. Sieh mal, Sundt, sieh dir an, was ich gekauft habe. Ich führte ihm neue Kleider vor, entrollte neue Teppiche, packte neue Bücher und eine neue Stereoanlage aus, sperrte mit neuen Jalousien das Licht aus. Nichts davon konnten wir uns leisten, verstehst du? Nichts! Ich putzte mich heraus, lachte und kam abends spät nach Hause.«

Und in der Nacht, als Sundt neben Erika im Bett lag und auf die Unregelmäßigkeiten seines Körpers horchte (eine Schwellung im rechten Bein, einen stechenden Schmerz in der Brust, eine Gewebeveränderung im Zahnfleisch, vielleicht ein Symptom von Mundfäule?), schloss sie ihn nicht in die Arme, um ihn zu trösten, wie sie es getan hatte, als sie frisch vermählt waren, nein, sie sagte, in ihren Augen sei er ein Jammerlappen, ein Weichei, eine lächerliche Figur. Er sei ein falscher Fuffziger, und dann wickelte sie sich in ihre Bettdecke und schlief die ganze Nacht, ohne einen weiteren Gedanken an ihn zu verschwenden. Mit Sundt war sie fertig.

Die Straßen waren aufgeweicht, und es bestand Glättegefahr, aber am schwierigsten fand Erika die Verkehrskreisel und die Beschilderung, wenn man Oslo verließ. Sie landete immer in einem Tunnel, der sie ganz woandershin brachte, als sie wollte.

»Es ist nicht schwer«, sagte Laura am Telefon. »Die ganze Strecke nach Stockholm ist ausgeschildert. Man muss nur den Schildern folgen.«

Für Laura war das leicht. Für Erika war es schwierig. Erika tat immer aus Gründen, die sie selbst nicht verstand, das Gegenteil von dem, was auf den Schildern stand. Zeigte der Pfeil nach rechts, bog sie nach links. Im Laufe ihrer acht Jahre am Lenkrad hatte sie viele Beinaheunfälle verursacht und oft Strafzettel bekommen, genau wie ihre Mutter, die, wenn überhaupt möglich, eine noch schlechtere Fahrerin war.

Es kam vor, dass Leute mitten auf einer Kreuzung Erikas Autotür aufrissen und Erika anschrien. Der Unterschied zwischen Erika und ihrer Mutter war, dass Erika sich entschuldigte, während ihre Mutter zurückschrie.

Laura war der Meinung, dass es sich bei Erikas Verhalten am Steuer, das in direktem Widerspruch zu Erikas Verhalten in anderen Bereichen stand, um eine tiefe Persönlichkeitsspaltung handelte, eine unausgesprochene Wut. Erika selbst glaubte nicht daran. Sie hielt es für eine Art Dyslexie, die Unfähigkeit, einzelne Zeichen und Symbole zu lesen und zu verstehen und Abstände einzuschätzen.

Bevor sie sich ins Auto setzte und losfuhr, rief sie Laura an und sagte:

»Kannst du dir nicht auch freinehmen und Überstunden abfeiern? Kannst du nicht mitkommen?«

»Ich feiere heute schon Überstunden ab«, antwortete Laura.

Erika hörte, wie sie Kaffee schlürfte, und stellte sich vor, dass Laura vor dem PC saß und im Internet surfte und dass sie einen Morgenmantel trug, obwohl es auf elf zuging. Erika sagte:

»Ich meine, kannst du nicht die ganze Woche freimachen und mit nach Hammarsö kommen? Dann kannst du fahren«, fügte sie hinzu.

»Nein!«, sagte Laura. »Es ist nicht so einfach, eine Vertretung zu finden. Es gibt nämlich niemanden, der in meiner Klasse unterrichten will.«

»Kannst du am Wochenende kommen? Isak will uns sicher beide sehen.«

»Nein!«, sagte Laura.

»Betrachte es als ein Abenteuer«, sagte Erika.

»Nein«, wiederholte Laura. »Ich will nicht. Jesper ist erkältet. Alle sind überarbeitet. Alles fällt auseinander. Das Letzte, was ich will oder kann oder woran ich auch nur denke, ist, nach Hammarsö zu fahren, um Isak zu besuchen.«

Erika würde es wieder versuchen. Das wusste Laura sicher.

Erika würde sich nicht geschlagen geben.

Es war kein Problem, eine Vertretung zu finden. Laura klagte immer über ihre Klasse, aber eigentlich wollte sie sie niemandem überlassen, sie mochte es nicht, wenn andere ihre Arbeit machten. Niemand machte sie gut genug, fand sie. Es sind meine Kinder, sagte sie gern von ihren Schülern. Ich bin für sie zuständig.

Erika sagte:

»Vielleicht stirbt Isak, während ich dort bin?«

Laura lachte laut auf und sagte:

»Ich glaube, damit brauchst du nicht zu rechnen, Erika! Der Alte überlebt uns alle.«

Von 1972 bis 1979 flog Erika jeden Sommer allein mit dem Flugzeug von Oslo nach Stockholm und mit einem kleineren Flugzeug weiter in die Hafenstadt an der Ostsee, der vorletzten Station ihrer Reise. Sie hatte eine große blaue Plastikhülle um den Hals, und in der Plastikhülle befanden sich ihre Flugzeugtickets, ihr Pass und ein Formular, das ihre Mutter ausgefüllt hatte: Wer sie in Oslo begleitete, wer sie in der Hafenstadt abholte, wie sie hieß, wie alt sie war und so weiter.

»Für den Fall, dass dich die Stewardess verpasst, wenn du in Stockholm zwischenlandest«, sagte die Mutter zu Erika, hielt ihr ein großgeblümtes Taschentuch unter die Nase und forderte sie auf, sich zu schnäuzen. Kräftig.

»Alles muss raus, bevor du ins Flugzeug steigst. Isak will kein erkältetes Kind zu Besuch haben.«

Elisabeth hatte lange rötliche Haare, wohl geformte, kräftige Beine und hochhackige, rotzgrüne Pumps. Erika war ihr einziges Kind.

»Und falls die Stewardess dich unglücklicherweise verlieren sollte, suchst du dir eine andere Stewardess und zeigst ihr diesen Zettel«, sagte sie.

»Hörst du, was ich gesagt habe, Erika? Schaffst du das? Du zeigst ihr nur diesen Zettel.«

Auf dem Flughafen in der Hafenstadt standen Rosa und Laura und erwarteten sie. Die Fahrt nach Hammarsö im Auto dauerte anderthalb Stunden, aber manchmal mussten sie sich in eine lange Schlange einreihen, um mit einer der zwei Fähren mitzukommen, die die Bewohner und die Touristen zwischen Festland und Insel beförderten. Dann konnte es zweieinhalb oder dreieinhalb Stunden dauern oder noch länger.

Für Erika war das eine kleine Ewigkeit. Nach Hammarsö fuhr sie jeden Sommer, Isak hatte sie dann seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Sie saß neben Laura auf dem Rücksitz, las die Verkehrsschilder und sagte, jetzt sind es nur noch fünfzig Kilometer, jetzt nur noch vierzig, jetzt fahren wir an der Eiche auf halber Strecke vorbei und jetzt sind es nur noch zwanzig Kilometer. Rosa! Rosa! Ist es noch weit? Können wir nicht schneller fahren?

»Nein!«, sagte Rosa. »Dann bauen wir einen Unfall, und die Polizei muss kommen und unsere Körperteile aus dem Wrack holen.«

Erika sah Laura an, die jetzt für einen Monat ihre Schwester sein würde, und lachte.

Ein Kilometer ist gleich eine Minute.

Zehn Kilometer sind gleich zehn Minuten.

Rosa sagte, die Mädchen könnten die Kilometerschilder selber lesen und selbst ausrechnen, wie lange es noch dauern würde, und aufhören, sie zu ärgern.

Es war nicht nur die Erwartung, Isak wieder zu sehen, die die Fahrt vom Flughafen wie eine kleine Ewigkeit erscheinen ließ. Es war alles zusammen. Es war das weiße Kalksteinhaus und ihr Zimmer mit der geblümten Tapete. Es war ihre Halbschwester Laura und allmählich auch die kleine Molly. Und Ragnar.

Als Erika älter wurde, freute sie sich vor allem darauf, ihre Sommerfreundinnen zu sehen, Frida, Emily und Marion. Das heißt, sie freute sich und fürchtete sich zugleich davor, Frida, Emily und Marion zu sehen.

Es war Hammarsö selbst, Erikas Platz auf Erden, mit seinen platten Ebenen und knorrigen Bäumen, den unebenen Fossilien, dunklen Binnenseen und dem feuerroten Mohn. Es waren das silbergraue Meer und die Klippe, auf der sich die Mädchen sonnten und Radio Luxemburg hörten oder Marions Kassetten. Es war der Duft von alledem wie eine endgültige Bestätigung, dass Jetzt!, Jetzt Sommer ist!

Die Sommer auf Hammarsö waren die eigentliche Ewigkeit.

Die Autofahrt war eine kleine Ewigkeit auf dem Weg zur eigentlichen Ewigkeit.

Erika fuhr langsam und sprach laut mit sich selbst. Laut mit sich selbst zu sprechen, hatte sie von ihrem Fahrlehrer Leif gelernt.

Erika wusste, dass sie eigentlich hätte durchfallen müssen, als sie vor acht Jahren zur Führerscheinprüfung antrat (einen Tag vor ihrem dreißigsten Geburtstag), und als sie nicht durchfiel, hätte sie sich weigern müssen, den Führerschein anzunehmen, oder hätte ihn freiwillig zurückgeben müssen.

»Du bist kein Freund des Straßenverkehrs«, sagte Leif.

»Ich bin niemandes Freund«, sagte Erika.

»Ich auch nicht«, sagte Leif. »Aber wenn du Auto fahren willst, musst du dich mit dem Straßenverkehr anfreunden. So ist es nun mal.«

Erika hatte eigentlich nie vorgehabt, den Führerschein zu machen. Aber als Sundt und sie sich scheiden ließen, beschloss sie, Autofahren zu lernen, und so lernte sie Leif kennen. Er war ein weißhaariger, trauriger und schweigsamer Mann, der aber, wenn er erst einmal den Mund aufmachte, mit spöttischen, auf den Verkehr bezogenen Selbstverständlichkeiten aufwartete. Erika fuhr monatelang mit Leif durch Oslo, sie bezahlte für hundertvierunddreißig Fahrstunden.

»Je älter man ist, desto mehr Fahrstunden braucht man«, sagte Leif.

Frisch Geschiedene hängen sich zuweilen an wunderliche Geschöpfe, und Erika hängte sich an Leif. Sie sah in ihm einen klugen Mann, einen Mentor, einen, der in Rätseln sprach. Wann immer er etwas von sich gab, zum Beispiel eine seiner spöttischen Selbstverständlichkeiten wie, dass ein Stoppschild Stopp bedeutete, sah sie darin eine tiefere Bedeutung.

Sowohl Laura als auch Isak und sogar Molly sagten damals, dass Erika Leif zu viel Platz in ihrem Leben einräume. Aber sie lernte zumindest, laut mit sich selbst zu sprechen, wenn sie am Lenkrad saß. Damit sie nicht die Konzentration verlor und die Aufmerksamkeit auf das Fahren richtete:

Jetzt fahre ich in den Kreisverkehr hinein.

Jetzt halte ich vor der roten Ampel.

Jetzt fahre ich auf die Autobahn.

Jetzt richte ich den Blick fest auf die Mitte der Straße.

Es war Winter, sie war auf dem Weg nach Hammarsö, sie fuhr Auto. Sie kam an einem Gasthaus vorbei. Sie wollte noch nicht anhalten. Sie war hungrig, wollte aber noch nicht anhalten.

Jedes Mal, wenn Erika mit Isak telefonierte, und das tat sie oft, sah sie ihn folgendermaßen vor sich: Er sitzt auf einem der beiden Lehnstühle im Wohnzimmer des weißen Kalksteinhauses, die Füße auf einem Puff, eine große rechteckige Brille auf der Nase. Er hört sich etwas von Schubert an, vielleicht den langsamen Satz aus dem C-Dur-Quintett. Auf dem Tisch neben dem Lehnstuhl steht ein schwarzer Kassettenrekorder, den er mit sich im Haus herumträgt. Erika ist zwölf, Laura zehn. Sie liegen nebeneinander auf dem weißen Holzboden und lesen oder hören mit ihm zusammen Musik. Das dürfen sie, wenn sie still sind. Die Beine auf dem Puff sind streichholzdürr und stecken in einer alten braunen Kordhose. Er hatte sich eines Tages mehrere Kordhosen im gleichen Schnitt und in der gleichen Größe gekauft. Seitdem wurden die Hosen von Rosa geflickt, genäht und gepflegt.

Er hatte sicher noch dieselben alten Hosen, dachte Erika, aber jetzt war es Simona, die sie flickte und nähte. An den Füßen ein paar warme Schafslederstiefel. Isak fror oft an den Füßen. Auf dem Tisch neben dem Lehnstuhl drei Zeitungen, zwei überregionale, eine lokale.

Es war Jahre her, seit Erika Isak zuletzt gesehen hatte. Das letzte Mal in Stockholm, bei einem der Abendessen, zu denen er sie und Laura gern einlud. Anfangs hatte er auch Molly eingeladen, aber da sie selten kam, hatte er aufgehört, sie einzuladen.

Erika folgte den Schildern, wie Laura es ihr empfohlen hatte. Es ging gut. Sie war jetzt auf dem Weg. Sie überlegte, dass sich Isak seit dem letzten Mal sicher nicht sehr verändert hatte. Sie glaubte nicht, dass sie einen Schock bekommen würde, wenn sie ihn oder das Haus oder Hammarsö sehen würde, obwohl sie seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr dort gewesen war. Er hatte an der Einrichtung nichts verändert. Er hatte keine neuen Kleider gekauft. Er aß zwei dünne Scheiben Toastbrot zum Frühstück, mittags eine Schale Kefir mit Bananen, abends kleine Fleischbällchen mit Kartoffeln und brauner Soße. Das war dienstags. Montags und mittwochs bekam er Fisch und am Samstag Hühnereintopf. Sein Abendessen wurde von Simona zubereitet, so wie es vorher von Rosa zubereitet worden war. Nachdem sie ihm das Essen serviert hatte, ging Simona nach Hause. Das alles hatte er Erika am Telefon erzählt, und hin und wieder sprach Erika mit Simona, um zu hören, wie es ihrem Vater ging. War er zum Beispiel dem Tod nahe, ohne dass die Töchter davon wussten?

»Er wird niemals sterben«, sagte Simona.

Sein Gesicht hatte bestimmt mehr Falten und Haarbüschel und dunkle Flecken bekommen. Aber es war noch das gleiche Gesicht. Die gleichen Augen, dachte sie, vermochte die Augen des Vaters jedoch nicht vor sich zu sehen. Sie wusste nicht einmal, welche Farbe sie hatten. Sie hatte niemals über die Augen ihres Vaters als Augen nachgedacht. Isaks Augen waren Blicke, und Erika befand sich in diesen Blicken oder nicht. Er war schon sehr lange alt. Er war seit fünfundzwanzig Jahren alt. Einmal sagte er am Telefon, er habe sich seit Rosas Tod verändert. Isak Lövenstads prägende Jahre waren ihm zufolge zwischen zweiundsiebzig und vierundachtzig gewesen.

»Ist das wahr?«, fragte Erika. »Inwiefern? Ich meine, inwiefern hast du dich verändert?«

Erika starrte auf die Scheibenwischer, die sich hin- und herbewegten, ohne dass es viel nützte. Der Schnee fiel in dicken Flocken. Das Fahren war mühsam.

Als sie mit ihm telefonierte, sagte er:

»Ich werde reifer.«

»Du wirst reifer?«

»Ja.«

»Was heißt das, du wirst reifer?«

»Ich lese Swedenborg.«

»Ja?«

»Und Swedenborg schreibt, wenn du das Gefühl hast, zu lange zu leben, und das kann man in meinem Fall ja wohl sagen, meinst du nicht auch, dann liegt es daran, dass du die Aufgabe hast, reifer zu werden.«

»So, das tust du also?«

»Ja.«

»Aber Papa, was bedeutet das? Ich verstehe nicht, was du meinst.«

»Ich verstehe die Dinge besser.«

»Was zum Beispiel?«

»Dass ich mich niemals um andere Menschen gekümmert habe. Ich war gleichgültig.«

»Das glaube ich nicht«, sagte sie.

»Was glaubst du nicht?«

»Dass du gleichgültig warst. Das glaube ich dir nicht. Es wäre zu einfach, es so zu formulieren.«

Ein kleiner Junge mit Zahnstocherbeinen und blutigen Knien lief durch sie hindurch, hinein ins Licht und wieder hinaus. Ab und zu drehte er sich um. Sie erinnerte sich daran, dass der Junge sagte: Wir müssen Isaks Schmerzpunkt finden, aber das wird schwierig werden. Erika umklammerte das Lenkrad, scherte aber trotzdem aus und fuhr gegen die Schneekante, bevor sie wieder die Kontrolle über den Wagen bekam. Sie hielt an der nächsten Tankstelle und holte sich einen Kaffee. Sie schloss für einige Minuten die Augen, bevor sie weiterfuhr.

»Auf diese Weise sterben Leute«, sagte sie laut in die Luft. »Sie fahren bei solchem Wetter Auto.«

»Ich habe ja gesagt, dass du nicht kommen sollst«, würde Isak sagen.

Elisabeth behauptete, es sei für eine Frau nicht leicht, Mutter und Vater zugleich zu sein. Sie behauptete, es erfordere mehr von einer Frau als von einem Mann. Sie sagte, als Frau müsse sie allein zurechtkommen. (Elisabeth sprach oft und lange in kursiv). Sie sagte, Frauen würden nicht im selben Maße gehört wie Männer, schlicht und einfach, weil sie Frauen seien. Deshalb spreche ich so deutlich, sagte sie. Um gehört zu werden. Um deine Aufmerksamkeit zu erlangen.

Im Frühjahr 1980 telefonierte Erika mit Isak. Er sagte, sie müsse Hammarsö in diesem Jahr vergessen. Es war das Jahr, in dem Erika fünfzehn wurde. Warum denn, fragte Erika. Warum soll ich Hammarsö dieses Jahr vergessen? Der Vater mochte Fragen, Forderungen, Vorwürfe und emotionale Erpressung nicht und schnipste deshalb mit den Fingern. Erika hörte ein leichtes Schnipsen weit weg in Stockholm oder Lund oder wo er sich gerade befand, und aus dem Telefonhörer sickerte Frost. Ja, der Hörer, an den sich Erika klammerte, gefror in ihren Händen zu Eis, und Erikas Hände, die der Vater gern küsste, gefroren ebenfalls zu Eis. Die Stuckrosetten an der Decke verwandelten sich in Eisgebilde, und Wasser rieselte an den Wänden herab und lief über den Boden. Die Junisonne verschwand hinter einer Wolke, und Schnee fiel in Klumpen vom Himmel herab und verwandelte die Oscarsgate in ein weißes stilles Himmelreich. So ist er, dachte Erika, und damit sie nicht anfing zu weinen, überlegte sie sich fünf Gründe, weshalb sie ihn liebte.

Sie musste Hammarsö in diesem Jahr vergessen. Sie würde nicht auf die Insel fahren, keiner von ihnen würde hinfahren. Isak wollte es nicht.

»Aber warum will er nicht?«, fragte Elisabeth. »Warum nicht, Erika?« Die Mutter stand im Wohnzimmer in der Oscarsgate mit ihren langen Beinen und fuhr sich mit der Hand durch das kräftige Haar. An den Füßen hatte sie ein Paar hochhackige fährgelbe Pumps von Yves Saint Laurent.

Elisabeth sagte: »Ich habe auf gar keinen Fall die Absicht, mir massenhaft Dinge auszudenken, die wir im Sommer unternehmen könnten. Du musst dich selbst beschäftigen.«

Sie sagte: »Ich werde arbeiten. Mein Kopf ist voll mit Dingen, die ich machen will. Voll! Dein Vater kann nicht einfach eine Regelung außer Kraft setzen, die seit 1972 gilt.«

Sie sagte: »Nur damit du es weißt, Erika, mein Kopf ist voll mit Dingen.«

Erika wusste das mit Elisabeths Kopf. Dieser war immer voll gewesen. Bald wurde Erika fünfzehn, aber als sie noch klein war, sagte die Mutter immer, ihre Nerven kräuselten sich. Erika tat die Mutter damals leid, weil sie diesen überfüllten, müden und schweren Kopf voller sich kräuselnder Nerven mit sich herumschleppen musste. Sie wusste nicht genau, was Nerven waren, stellte sich aber vor, sie seien eine Art Raupen. Sie stellte sich vor, dass Erikas schöner Kopf jederzeit explodieren oder sich öffnen könnte, um irgendetwas Großes und Ekliges zu gebären, jedenfalls, wenn sie, die kleine, unförmige Erika, mit ihrer bloßen Anwesenheit dazu beitrug, dass er sich noch mehr füllte.

Als Erika älter wurde, sagte die Mutter nicht länger, dass sich ihre Nerven kräuselten. Sie sagte nur noch: Ich bin heute nicht so recht froh, Erika.

Erika würde nicht nach Hammarsö fahren (Warum nicht? Warum nicht? Soll denn das Haus einfach leer stehen, Isak?), aber sie hatte einen Plan.

»Ich werde dich in Ruhe lassen, Mama. Das verspreche ich. Du wirst nicht merken, dass ich da bin.«

»Aber warum, Erika? Warum sollt ihr nicht nach Hammarsö fahren? Dort ist es doch so schön. Das grüne Meer und alles.«

»Grau«, sagte Erika.

»Was?«, fragte Elisabeth.

»Das Meer ist grau«, sagte Erika. »Nicht grün. Es sind verschiedene Grautöne.«

»Aber warum?«, fragte Elisabeth. »Warum sollst du nicht hinfahren? Warum soll niemand nach Hammarsö kommen?«

»Ich weiß es nicht, Mama.«

»Was wirst du denn machen? Die Zeitung austragen?«

»Ja, vielleicht.«

Erika hatte natürlich gewusst, dass Isak das sagen würde. Den ganzen langen Winter hindurch hatte sie es gewusst. Wie könnten sie weiter dort wohnen, als sei nichts geschehen? Wie könnte sie wieder auf die Insel fahren? Wie könnte er? Wie könnten Laura und Molly? Wie könnte Rosa, die ganz still unter der blauen Lampe in der Küche des weißen Kalksteinhauses gesessen hatte, wieder hinfahren? Nach Hammarsö. Zu den Ebenen und Stränden und den Mohnblumen und dem blaugrauen Meer, das ein erwachsener Mann einmal in ihrer Gegenwart Froschtümpel genannt hat. Der Mann hatte es abwertend gemeint. Aber Erika mochte die Vorstellung, ihr und Ragnars Meer sei ein Froschtümpel: still und fremdartig und lebendig und seicht, bevor er plötzlich abgrundtief und gefährlich wurde.

Ein Frosch, hatte Ragnar gesagt, lässt sich auf den Boden fallen und kann sich minutenlang tot stellen, wenn er angegriffen wird.

Meeresströmungen führten Dinge aus den baltischen Staaten und Polen mit sich und schwemmten sie an den Steinstrand unterhalb von Isaks Haus: aufgeweichte Waschpulver- und Zigarettenschachteln, Shampooflaschen, Treibholz und Flaschen, die Säure enthalten konnten und vielleicht lebensgefährlich waren (Fasst nicht an, was an den Strand gespült wird!), oder auch eine Nachricht aus dem verriegelten Kontinent auf der anderen Seite des Horizonts, dem Kommunistenreich im Osten, aus Ländern, in denen Menschen erschossen oder ins Gefängnis geworfen wurden, wenn sie versuchten, Grenzen zu überqueren oder zu fliehen. Auf den Kartons und Shampooflaschen standen fremde Wörter in fremden Buchstaben, PRIMA und STOLICHNAYA, und Ragnar und Erika versuchten, die Wörter PRIMA und STOLICHNAYA zu verstehen, und bauten sie in ihre eigene Geheimsprache ein. Und sie sammelten die Gegenstände in Plastiktüten vom Laden und nahmen sie mit in ihre verborgene Hütte tief im Wald.

Nie mehr. Nie mehr. Es sollten viele Jahre vergehen. Erika wurde erwachsen und heiratete Sundt und bekam ein Mädchen und einen Jungen. Sie zwängten sich aus ihr heraus, fingen an zu atmen und suchten ihre Brust, und jetzt, in diesem Winter, war ihr Sohn so alt wie Ragnar 1979.

Erika und Ragnar hatten am selben Tag Geburtstag. Sie waren exakt gleich alt und waren sogar fast gleichzeitig zur Welt gekommen. Erika wurde nachts um fünf nach drei geboren, Ragnar viertel nach. Sie erinnerte sich an seine Freude, als ihm das mit den Geburtstagen klar wurde. Wir sind Zwillinge, sagte er. Jahre später sagte er: Wir sind enge Freunde. Geliebte. Seelenverwandte und haben das gleiche Blut im Körper.

Der Koffer lag im Kofferraum. Erika saß am Steuer. Sie hatte bis jetzt noch keinen einzigen Fehler gemacht. Es wurde allmählich dunkel. Es war noch nicht vier Uhr, und schon wurde es dunkel. Der Schnee fiel dichter. Sie wollte bis nach Örebro kommen, dort hatte sie im Stora Hotel, das Laura ihr empfohlen hatte, weil es dort so nett war, ein Zimmer reserviert, und sie wollte nicht schon in Karlstad halten müssen. Dann hätte sie am nächsten Tag noch sehr weit zu fahren. Erika sagte laut:

»Ich fahre langsam. Ich denke daran, alle fünf Sekunden in den Rückspiegel zu schauen. Ich habe die Kontrolle über das Auto. Ich will nach Örebro.«

Ihren Kindern ging es gut. Magnus war auf Klassenfahrt in Polen. Die Klasse sollte die Konzentrationslager besichtigen, Auschwitz und Birkenau natürlich und noch ein oder zwei weitere, deren Namen Erika nicht mehr einfielen. Heute war er in Krakau. Er hatte ihr eine SMS geschickt und geschrieben, er habe sich eine Jacke und eine Hose gekauft, es sei dort billiger als zu Hause. Über die Lager schrieb er nichts. Ane kam allein klar, sie wohnte bei einer Freundin. Ane hatte ihr eine SMS geschickt, in der stand: Hallo Mama. Gute Fahrt :-) Fahr vorsichtig. Ist ok wenn ich bei N übernachte statt bei B? :-) Papa sagt ok.

Erika dachte an die große Wohnung in Grünerløkka, gegenüber vom Sofienbergpark, wo sie mit ihren Kindern wohnte. Jetzt war sie leer. Sie war leer, weil Erika beschlossen hatte, zu ihrem Vater zu fahren, der Inselgreis auf Hammarsö geworden war.

Nach Hammarsö zu fahren, wo sie seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gewesen war.

Zu Isak zu fahren, mit dem sie für gewöhnlich nur telefonierte.

Seine Stimme war beim letzten Telefonat so schwach gewesen.

»Wie geht es dir eigentlich, Isak?«

Er antwortete:

»Das Ganze hat etwas von Epilog, Erika.«

»Ich kann dich ja besuchen kommen.«

Sie bedauerte es sofort.

»Du wolltest nie hierher kommen«, sagte Isak.

»Nein, aber jetzt will ich es«, sagte Erika.

»Du warst nicht mehr hier, seit du … wie alt warst? Fünfzehn? Sechzehn?«

»Vierzehn. Ich bin nicht mehr auf Hammarsö gewesen, seit ich vierzehn war«, sagte Erika.

»Vierzehn! Verdammt aber auch! Du bist nicht mehr hier gewesen seit …! Wie alt bist du jetzt?«

»Neununddreißig«, sagte Erika.

Isak schwieg, dann:

»Du bist neununddreißig?«

»Ja.«

»Dann bist ja nicht gerade mehr jung«, sagte er.

»Nein, Isak. Du auch nicht!«

»Und wie alt ist Laura?«

»Laura ist siebenunddreißig.«

Isak sagte nichts, aber Erika fügte hinzu:

»Und falls du es wissen willst, Molly ist dreißig.«

Isak sagte:

»Du bist seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr hier gewesen. Ich sehe keinen Grund dafür, warum du jetzt kommen solltest.«

»Vielleicht ist es an der Zeit.«

»Aber jetzt? Willst du jetzt kommen? Das Wetter ist schlecht. Es ist ein Schneesturm vorhergesagt. Kein Mensch will hier sein, wenn es stürmt.«

»Uns wird schon etwas einfallen«, sagte Erika.

»Mir wird nichts mehr einfallen. Ich bin fast neunzig.«

»Du bist vierundachtzig«, sagte Erika. »Wir können uns DVDs anschauen. Ich bringe Filme mit. Hast du einen DVD-Player?«

»Nein.«

»Gut. Dann bringe ich Videokassetten mit.«

»Komm nicht, Erika. Wir sind dann nur den ganzen Tag höflich zueinander, und das ist in meinem Alter verdammt anstrengend.«

»Das stört mich nicht. Ich komme dich besuchen«, sagte Erika.

Sie bereute es. Sie wollte dies nicht. Sie wollte ihn nicht sehen. Sie ertrug seine physische Anwesenheit nicht. Das Telefon reichte dicke aus. Aber sie ließ sich verleiten. Das kleine Mädchen ließ sich verleiten. Eine schwache Greisenstimme am Telefon. Die Vorstellung eines Lebens ohne Papa. Das Ganze hat etwas von Epilog, Erika.

Es gibt ein Foto: Zwei kleine Schwestern mit langen blonden Haaren geben sich die Hand: förmlich, höflich, ernst, wie zwei Staatschefs aus ihrem jeweiligen Liliputland.

Jeden Sommer von 1972 bis 1979 flog Erika allein mit dem Flugzeug von Norwegen nach Schweden, damit Elisabeths Kopf Ruhe bekam und sie die Nerven, die sich im Laufe des langen Winters und Frühjahrs gekräuselt hatten, wieder strecken konnte. Erika stimmte ihrer Mutter zu, dass es an der Zeit wäre, dass der große Isak Lövenstad zur Abwechslung einmal etwas Verantwortung übernahm.

Elisabeth sagte: